Der andere Mann - Winfried Wolf - E-Book

Der andere Mann E-Book

Winfried Wolf

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  • Herausgeber: epubli
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2017
Beschreibung

Der Gymnasiallehrer Rudolf Prager soll seine Frau umgebracht haben. Angeblich wurde er von zwei Zeugen in der Nähe des Tatorts gesehen. Bald stellt sich jedoch heraus, dass er es nicht gewesen sein kann. Prager verbeißt sich in die Idee, dass ein Doppelgänger sein übles Spiel mit ihm treibt. Die Vorstellung, dass feindliche Mächte hinter seinem Rücken einen geheimen Plan ausführen, nimmt bald obsessive Züge an.

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Seitenzahl: 151

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Der andere Mann

Titel Seite1. Kapitel: Restaurant am Waldsee2. Kapitel: Pragers Villa3. Kapitel: Frau Prager geht aus4. Kapitel: Die unsichtbare Präsenz5. Kapitel: Eine ganz normale Observation6. Kapitel: Prager trifft seinen Kollegen Leber7. Kapitel: Kommissar Meier ermittelt8. Kapitel: Im Modehaus Adèle9. Kapitel: Keine neuen Erkenntnisse10. Pragers Befragung11. Kapitel: Die zweite Dienstbesprechung12. Kapitel: Bald im Ruhestand13. Kapitel: Ein erster Hinweis14. Kapitel: Unter Verdacht15. Kapitel: Pragers Alibi16. Kapitel: Begegnung im Kaufhaus17. Kapitel: Richtungswechsel18. Kapitel: Herbst19. Kapitel: Eine seltsame Begegnung20. Kapitel: Termin bei Dr. Fuchs21. Kapitel: In den Weinbergen22. Kapitel: Ein erster Untersuchungsbefund23. Kapitel: Handwerker im Haus24. Kapitel: Gerlinde hat Absichten25. Kapitel: Pragers letzter Termin26. Kapitel: Späte Aufklärung27. Kapitel: Eine Zeitungsnotiz

1. Kapitel: Restaurant am Waldsee

Ping, eine Nachricht von Esther auf WhatsApp:Lade dich heute zum Essen ein, es gibt was zu feiern! Wir treffen uns nach der Arbeit im Restaurant am Waldsee. Tisch ist für 18.00 Uhr reserviert, Kuss.Christoph Fuchs, der diese Mitteilung seiner Frau in der Mittagspause erhielt, war nicht wenig erstaunt. Mitten in der Woche zum Essen in ein feines Restaurant gehen, das war ungewöhnlich. Was gibt es denn zu feiern, hatte er vielleicht einen wichtigen Termin vergessen? War Esther etwa ..., nein, das hätte er gemerkt. Na gut, warum nicht. Er schickte ein Selfie mit gerecktem Daumen als Antwort zurück. Blöd war nur, dass er mit dem Rad da war; er entschloss sich, den Drahtesel in der Klinik zu lassen und den Weg zum Waldsee mit der Straßenbahn zurückzulegen, der kleine Fußweg am Schluss würde ihm nicht schaden.

Christoph Fuchs musste nicht lange vor dem Restaurant warten, schon brauste Esther mit ihrem grauen Skoda die Straße herauf, stellte den Wagen ab und kam lachend auf ihn zu. Eigentlich hätte ich mich für dich etwas zurecht machen müssen, aber dafür war heute keine Zeit! Für mich bist du sowieso die Schönste, empfing Christoph Fuchs seine Frau. Er legte seine Arme auf ihre Schultern, zog sie an sich und drückte ihr einen dicken Kuss auf den Mund. Arm in Arm und bester Laune strebte das junge Ärztepaar dem Restaurant zu. Ihr Tisch mit Blick auf Terrasse und See lag am Fenster. Draußen war es an diesem Herbsttag schon dunkel geworden aber man konnte die Lichter der Uferpromenade im See glitzern sehen.

Die Sicht auf den See entschädigte für das etwas sterile Ambiente des neu restaurierten Innenraums. Also, sag schon, was gibt es heute zu feiern? Nix Besonderes, feixte Esther, ich wollte dich nur einmal aus deiner Routine reißen. Christoph Fuchs, der die Sparsamkeit seiner Schwäbin kannte, wusste ganz genau, dass es einen triftigeren Grund für ein Essen zu zweit geben musste. Nun sag schon, heute ist doch etwas Besonderes, bist du vielleicht befördert worden? Frau Fuchs lächelte und sah ihren Mann mit einem verschwörerischen Blick an. In ihren Augen blitzte ein Geheimnis. Das kann sie nicht lange verbergen, dachte Fuchs. Beförderung, ja, so könnte man es auch nennen, grinste sie. Der Ober brachte die Speisekarte und fragte nach den Getränken. Wie schnell lässt sich doch eine romantische Stimmung herstellen, dachte Christoph Fuchs, ein ungewöhnlicher Termin, ein gepflegtes Restaurant und eine hübsche Frau an meiner Seite, die auch noch ein Geheimnis hat.

Am Nachmittag noch volle Runde mit Oberarzt, Assistenten, Psychologen, Pfleger, Physiotherapeut, Ergotherapeut und Musiktherapeut. Die halbe Station wurde besprochen, Patient für Patient. Die Therapeutin mit dem Batikschal und dem Doppelnamen schilderte lautmalerisch ihre Erlebnisse mit der Patientengruppe beim Tonen und Töpfern. Dann nach vier mit dem jungen Heinrich eine Expositionsübung gemacht: „Wir verlassen zwangsfrei das Zimmer“. Wir verteilen persönliche Gegenstände, unterhalten uns über das Wetter und sammeln dann wieder die Gegenstände ein, kein Kontrollblick zurück, das hat gut geklappt, Herr Heinrich. Esther unterbrach seine gedankliche Abschweifung: Hallo, Dienstschluss, Herr Doktor! Was nimmst du?

Einzelne Spaziergänger waren draußen nur noch als Schattenrisse zu erkennen. Esther entschied sich zu Christophs Überraschung zuerst einmal, ohne den sonst üblichen Gesundheitscheck, für einen Prosecco. Den fragenden Blick ihres Mannes aufnehmend, fügte sie ihrer Bestellung mit schuldbewusster Miene noch ein Mineralwasser an. Also doch, eine Beförderung, obwohl, das konnte eigentlich nicht sein. Esther war als Ärztin nicht länger im Krankenhaus als er, beide hatten sie gemeinsam in Marburg Medizin studiert und sich dort auch kennengelernt. Die Laufbahn für junge Ärzte ist nach der Entscheidung für eine Fachrichtung vorhersehbar. Sie hatten sich für die Neurologie entschieden und waren beide im Raum Freiburg an verschiedenen Kliniken gelandet. Sie wird einen Forschungsauftrag an Land gezogen haben oder sie fährt zur Fortbildung nach Hamburg. Diese Gedanken hatte Christoph Fuchs im Kopf, als der Kellner nach der Essensbestellung fragte. Einen Augenblick noch, sagten beide fast gleichzeitig und mussten lachen. Esther entschied sich nach einigem Hin und Her für einen gemischten Salat mit Hühnchenbrust und Christoph wählte einen Zwiebelrostbraten. Ich glaube, heute brauche ich etwas Deftiges, lächelte er. Beim Weglegen der Speisekarte blieb sein Blick am Tisch gegenüber hängen an dem gerade zwei Herren Platz genommen hatten. Das ist doch nicht möglich, das gibt’s doch gar nicht, murmelte er und rückte mit seinem Stuhl etwas nach rechts, so dass ihm der Körper seiner Frau einen gewissen Blickschutz bieten konnte. Dreh dich nicht um, schräg hinter dir sitzt jemand, der eigentlich gar nicht hier sein dürfte. Was, von wem redest du? VomDoppelgänger, von diesem Prager, einem meiner ehemaligen Patienten. Hatte der nicht eine wahnhafte Störung, oder wie du immer sagst, eine schizophrene Psychose? Ja, ich hab‘ bei dem neben anderen Symptomen auch den alten Begriff „Doppelgängerwahn“ diagnostiziert, eine Bezeichnung, die man heute, wie mir Professor Bürger unter die Nase reiben musste, nur noch selten verwendet, aber bei dem drängte sich das irgendwie von selbst auf.

Ich weiß gar nicht, wie ich jetzt reagieren soll, der Mann hat einfach die Therapie abgebrochen und ist von einem Tag auf den anderen verschwunden. Hast du nicht Monate später von ihm eine Karte aus Hamburg erhalten, fragte Esther. Ja, ganz komisch, er hat sich entschuldigt und irgendwie sagen wollen, dass er jetzt einen Weg für sich gefunden habe und dass ich mir keine Sorgen zu machen brauche. Ich hab‘ mir natürlich Sorgen gemacht, die Abrechnung mit der Krankenkasse stand ja noch aus! Esther kicherte, du denkst aber auch immer nur an das Eine! Der Mann, mit dem meinDoppelgängerplaudert, kommt mir übrigens bekannt vor. Du kennst den übrigens auch. Pass mal auf, bevor das Essen kommt, stehst du auf und gehst auf die Toilette, ich drehe mich dann etwas zur Seite und schaue zum Fenster raus. Der Prager kennt dich nicht und sein Gesprächspartner sitzt mit dem Rücken zu dir. Sag‘ mir, ob du den Mann beim Vorbeigehen erkennst, aber schau nicht so direkt hin.

Das verspricht ja ein spannender Abend zu werden, lachte Frau Fuchs, stand auf und ging, sich etwas „frisch machen“. Beim Zurückkommen nickte sie ihrem Mann schon von Weitem zu: Das ist der Immobilienmensch, die fette Visage habe ich mir gemerkt.Frau Doktor suchen ein Haus in Hanglage? Ach, Sie wollen nur mieten? Ja, das ist in Freiburg nicht ganz einfach!Na ja, letztlich ist die Wohnung, die wir über diesen Menschen gefunden haben, für uns genau das Richtige gewesen oder denkst du schon an etwas Größeres, fragte Fuchs? Damit schlug Christoph Fuchs ein Thema an, das ihm, bevor er seinen ehemaligen Patienten im Lokal entdeckt hatte, die ganze Zeit schon durch den Kopf gegangen und nur durch das Auftauchen Pragers kurz in den Hintergrund geraten war.

Also, bevor du mir erzählst, warum wir heute hier ganz gegen unsere Gewohnheit im Seerestaurant sitzen und auf unsere Bestellung warten, muss ich mich zwischen Pest und Cholera entscheiden. Was meinst du? Ich kann hier nicht sitzen und so tun, als ob ich den Prager nicht gesehen hätte, außerdem bin ich neugierig. Was macht der jetzt in Freiburg? Christoph Fuchs gab sich selbst die Antwort auf seine Frage: Aber klar, der will sein Haus verkaufen, darum sitzt er mit einem Immobilienmakler hier. Seine Frau besaß ja eine Villa in Littenweiler, ein Haus in Aussichtslage, mindestens eine Million wert. Er hat mich mal dorthin eingeladen, bin aber nicht hingefahren, das wäre mir zu nahe gewesen. War Prager nicht Lehrer an einem Freiburger Gymnasium? Ja, Deutsch und Geschichte am Friedrichgymnasium in der Jacobistraße. Er hat mir einmal von einem Gespräch mit seinem Direktor erzählt. Der hatte ihm nach dem Tod seiner Frau eine Auszeit vorgeschlagen. Villa und das Geld kamen ja von seiner Frau, einer geborenen Reitzenstein. Der alte Reitzenstein war Landgerichtspräsident oder so. Vielleicht sollte ich doch kurz mal rübergehen und guten Tag sagen, was meinst du? Ja, mach das, dann hast du die Initiative ergriffen. Sich jetzt weg zu ducken ist keine Alternative, Herr Doktor!

Christoph Fuchs wandte sich um. Die beiden Herren am Tisch schräg gegenüber sprachen miteinander. So weit man es von außen beurteilen konnte, waren beide in bestem Einvernehmen. Jetzt werden sie die Gläser erheben und auf ihre gerade getroffene Abmachung trinken, dachte Fuchs und genau das trat ein.

Fuchs erhob sich und ging auf den Nachbartisch zu. Als er dicht vor den beiden Herren stehen blieb, hoben beide gleichzeitig den Kopf und schauten ihn fragend an. In Pragers Gesicht zeigte sich kein Wiedererkennen. Grüß‘ Sie, Herr Prager, sagte Christoph Fuchs betont freundlich. Kennen Sie mich noch? Ich bin Dr. Fuchs, wir hatten vor einiger Zeit das Vergnügen. Ach, Herr Doktor, entschuldigen Sie, ich habe Sie nicht gleich erkannt. Ein gutes Zeichen, lachte Fuchs, und dachte gleichzeitig an das Gegenteil. Wie geht es Ihnen, Herr Prager? Ja, danke der Nachfrage. Ich bin nur kurze Zeit in Freiburg. Er wandte den Kopf zu seinem Tischnachbarn; der Immobilienhändler nickte bestätigend. Herr Feininger hilft mir, das Haus zu verkaufen. Sind Sie vielleicht interessiert? Was für eine Frage, Herr Prager, natürlich würde ich es kaufen, mir fehlt nur leider das nötige Kleingeld. Die beiden Herren am Tisch lachten. Nun, dann wünsche ich Ihnen einen potenten Kunden und Ihnen, Herr Prager, persönlich alles Gute und entschuldigen Sie, dass ich Sie hier einfach angesprochen habe. Nachdem ich Sie eben erst gesehen habe, wollte ich nur mal guten Tag sagen. Das ist sehr nett, Herr Doktor, vielleicht sieht man sich noch einmal, ich wünsche Ihnen und Ihrer Frau einen guten Abend. Ja dann, Fuchs verabschiedete sich und kehrte an seinen Tisch zurück.

Eine ungute Situation war das, er hatte den Fall Prager nicht zu Ende gebracht. Prager war freiwillig zu ihm in die ambulante Praxis gekommen und Prager hatte die Therapie abgebrochen, zu einem Zeitpunkt, als Dr. Fuchs noch gar kein Ende im Terminkalender vermerkt hatte. Er hatte bei seinem Patienten einen systematisierten Wahn diagnostiziert. Was ihm Prager vorlegte, war ein bizarres aber ein irgendwie in sich schlüssiges System. Aber es waren längst nicht alle relevanten Daten erhoben worden. Aus den Gesprächen mit seinem Patienten hatte ihm dieser einiges aus seinem Leben erzählt, aber Psychosen werden heutzutage nicht mehr analytisch erklärt. Neben der Biographie haben auch biologische und soziale Lebensumstände ihren Anteil an einer Psychose.

Das hat ja nicht lange gedauert, sagte Esther Fuchs zu ihrem Mann, als der an ihren Tisch zurückkehrte. Ja, wir haben uns eigentlich nur begrüßt. Prager will sein Haus verkaufen. Ich hatte den Eindruck, dass er nicht mit mir reden wollte und ich wollte nichts ansprechen, was den Makler nichts angeht. Irgendwie eine blöde Situation, ich hätte gern mehr erfahren wollen, aber nun ist es so, wie es ist. Wir sollten das Essen nicht kalt werden lassen. Wie schmeckts dir? Das Brot zum Salat war nicht mehr warm und die Salatsoße, naja. Bei mir waren die Rösti zu lange in der Pfanne, sagte Fuchs, aber es ist nicht das Essen, irgendwie hat mir die Begegnung mit dem Prager die Stimmung verdorben. Lass uns anstoßen und jetzt raus mit der Sprache, warum liebste Esther, sitzen wir heute Abend am Waldsee und nicht zuhause in unserem Wohnzimmer? Esther Fuchs lehnte sich zurück und maß ihren Mann mit einem langen Blick, den man durchaus als liebevoll bezeichnen konnte. Das sage ich dir später, im Bett.

Die Fahrt vom Waldsee nach Zähringen führte durch Freiburgs beste Wohnlage. Vorbei an schmucken Häusern am Hang ging es bergauf, bergab bis sie nach etwa zehn Minuten ihre WohnungAm Wiesenhangerreicht hatten. Während der Fahrt hatten sie kaum miteinander gesprochen, das „kaum“ beschränkte sich bei Dr. Fuchs auf einen einzigen Satz:Das war nicht Prager, das war sein Doppelgänger. Das war eher vor sich hingemurmelt und Frau Fuchs war zu müde, um es zu verstehen. Als Herr und Frau Fuchs später nebeneinander im Bett lagen und sich an den Händen haltend über den vergangenen Tag nachsannen und der Herbstwind ums Haus strich und einzelne Blätter gegen das Fenster trieb, fragte Herr Fuchs in die Stille hinein seine Frau: Wolltest du mir noch etwas sagen? Wir bekommen ein Kind, sagte sie. Fuchs drehte sich auf ihre Seite, fuhr mit dem Zeigefinger die Linien ihres Gesichtes nach, beugte sich über den Kopf seiner Frau, küsste sie auf Stirn und Mund und flüsterte ihr den Satz ins Ohr, zu dem es keine Alternative gibt: Ich liebe dich.

2. Kapitel: Pragers Villa

Als er den Mann das erste Mal sah, wusste er sofort, das ist die Lösung. Wenn ich er bin und er ich, dann bin ich aus dem Schneider, dachte er. Aber bis es soweit ist, ist noch eine Menge zu tun und es blieb ihm nicht so viel Zeit. Er war dem Mann bis zur Buchhandlung Rombach gefolgt, dort lag in der Abholung ein Buch für ihn bereit. Er hörte, wie ihn die Buchhändlerin am Tresen begrüßte. Wir hätten Ihnen das Buch auch zugeschickt, Herr Prager. Die Adresse Gärtnerstraße 5 stimmt noch? Er konnte es kaum fassen. So schnell war er selten an brauchbare Informationen herangekommen. Das war ein Geschenk des Himmels. Ach so ja, er glaubte nicht an himmlische Mächte, das war ihm von den Genossen in der Spezialabteilung der NVA gründlich ausgetrieben worden. Nun musste er die Gunst der Stunde nutzen.

Herr Prager verließ mit seinem Buch, ohne sich weiter umzusehen, die Buchhandlung. Er sah ihn durch die Scheibe in Richtung Bertolsbrunnen davoneilen. Er lief hinter ihm her, machte es genau so, wie man das vom Fernsehen kennt und wie er es einmal gelernt hatte. Er hielt immer genügend Abstand, war aber stets darauf gefasst, dass unvermutet ein anderer Weg eingeschlagen werden musste. Er war etwas aus der Übung, aber der Mann, den man in der Buchhandlung mit Prager angesprochen hatte, war kein Gegner für ihn. Trotzdem verlor er ihn am Augustinerplatz kurz aus den Augen. Er war nur einen Augenblick unaufmerksam gewesen, hatte sich von einer Passantin, die im Wege stand, ablenken lassen.

Beim Naturkundemuseums bog Prager, so konnte er ihn ja jetzt nennen, nach links ab, querte die Straße und steuerte den Biergarten der Hausbrauerei Feierling an. Im Biergarten wurde er von einer Frau angesprochen, sie hatte hier offenbar auf ihn gewartet. So wie sie sich begrüßten, war es wohl die Ehefrau, eine hübsche Frau Mitte vierzig, halb langes, blondes Haar, hinten mit einer Spange gebändigt. Das geblümte Sommerkleid stand ihr gut. Er liebte es, wenn schöne Frauen die runden Oberarme zeigten. Er verzog den Mund zu einem leichten Grinsen, die Frau gefiel ihm, aber ohne Frau wäre es ihm lieber gewesen.

Das Paar suchte sich einen Tisch am Zaun. Der Biergarten bot um diese frühe Nachmittagsstunde noch reichlich Platz und so konnte er einen geeigneten Beobachtungsposten am Nebentisch beziehen. Er verstand nur wenig von dem, was die beiden miteinander besprachen, aber er wusste die Sprache der Gesten zu deuten. Sie zeigte ihrem Mann, was sie gekauft hatte, zog jedoch das Kleidungsstück nicht aus der Tasche, welche die Aufschrift eines Freiburger Modehauses mit dem Namen „Adèle“ trug. Sie ließ ihn nur einen Blick hineinwerfen. Herr Prager nickte anerkennend, schmunzelte, schien aber nicht wirklich interessiert zu sein. Er bestellte ein Bier, seine Frau bevorzugte eine Weinschorle. Frau Prager war, wie man unschwer erkennen konnte, eine lebhafte Person. Sie strich ihrem Mann mehrmals mit der Hand über den Unterarm, sah ihn zwischendurch forschend an, sprach eindringlich auf ihn ein, lachte über seine Erwiderungen und warf immer wieder neugierige Blicke auf die anderen Gäste des Biergartens. Das ist eine Frau, die sich nichts entgehen lässt und sie gibt den Ton an, dachte er. Wenn sie den Kopf hob und herübersah, senkte er den Blick oder drehte den Kopf in eine andere Richtung. Das Modehaus, dessen Logo die geschwungenen Buchstaben eines französischen Mädchennamens zeigte, war sicher eine gute Adresse, vielleicht war sie dort Stammkundin, das könnte ihm evtl. helfen, wenn sich das mit der Buchhandlung als ein Flop erweisen sollte. Er zahlte, blieb aber auf seinem Platz, bis das Paar den Biergarten verließ. Mit seinem Handy hatte er schnell herausgefunden, dass die Gärtnerstraße in Littenweiler lag, einem Freiburger Vorort im Südosten der Stadt.

Seine Vermutung bestätigte sich. Die Pragers hatten ihr Auto in der Nähe geparkt. Sie liefen zur Schlossberggarage, keine 100 Meter entfernt. Wenn er sich jetzt beeilte, könnte er vor ihnen in Littenweiler sein. Wenn es dann doch nicht die Gärtnerstraße sein sollte, müsste er noch einmal in die Stadt zurück, kein Vergnügen bei dem Feierabendverkehr am Freitagnachmittag.

Keine 10 Minuten später meldete ihm die sympathische Stimme seines Navigationsgeräts:Sie haben ihr Ziel erreicht. Er fuhr am stattlichen Anwesen mit der Hausnummer 5 vorbei. Er stieß einen anerkennenden Pfiff aus. Wenn er sich nicht irrte, bewohnten die Pragers eine ansehnliche Villa in einer gut bürgerlichen Gegend. Wie sagt man: Lage mit Aussicht. Das große Haus lag etwas zurückgesetzt an einer leicht ansteigenden Straße und musste von seinen Fenstern aus einen herrlichen Blick auf die Laubwälder zwischen Littenweiler und Günterstal gewähren.

Er parkte sein Auto 20 Meter weiter auf der Straßenseite der Villa. Im Rückspiegel konnte er beobachten, wer die Straße heraufkam; er musste nicht lange warten. Der schwarze Audi Q3 der Pragers hielt vor dem Haus. Frau Prager stieg aus und lief mit ihren Einkaufstüten zur Haustür, ihr Mann brachte das Auto in einer Doppelgarage unter. Er konnte es nicht genau sehen, aber es schien ihm, dass dort schon ein kleiner Wagen untergestellt war. Er war mit sich zufrieden, heute würden die Pragers das Haus vielleicht nicht mehr verlassen. Er fuhr jetzt in die Stadt zurück, zurück in seine kleine Wohnung in der Frank-Kohlhepp-Straße. Seine Zweizimmerwohnung lag in einem Wohnblock für neunzig Parteien.

Seit zwei Jahren wohnte er hier. Er hätte sich eine größere Wohnung durchaus leisten können, immerhin bekleidete er den Rang eines Majors, aber der Posten bei der Güteprüfstelle der Bundeswehr in Freiburg sollte der letzte in seiner beruflichen Laufbahn sein. Die Beschaffungsbehörde hatte ihn von Koblenz nach Freiburg entsorgt, er war ein Auslaufmodell. Dabei hätte er einmal Karriere machen können aber das hatte sich mit der Auflösung der Nationalen Volksarmee erledigt. Damals wurde ein Drittel der Aktenbestände vernichtet, die Weisung kam von ganz oben, von Rainer Eppelmann, dem damaligen Minister für Abrüstung und Verteidigung der Deutschen Demokratischen Republik. Es ist schon ein Witz der Geschichte, meiner Geschichte, dachte er, dass die noch vorhandenen Materialien gerade in Freiburg eingelagert wurden, hier, wo ich in zwei Monaten in meinen Vorruhestand gehe. Was sagte Maywald zu ihm? Deine besondere Altersgrenze ist die Vollendung des 59. Lebensjahres. Ist doch viel zu früh, meinte der Kollege im Amt. Das stimmt, ich bin noch ganz gut beieinander, aber jetzt ist es an der Zeit, mein drittes Leben in Angriff zunehmen.

3. Kapitel: Frau Prager geht aus