Friedrich Melchior Grimm, ein Aufklärer aus Regensburg - Winfried Wolf - E-Book

Friedrich Melchior Grimm, ein Aufklärer aus Regensburg E-Book

Winfried Wolf

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Beschreibung

Friedrich Melchior Grimm, der Sohn eines Predigers aus Regensburg, trug im 18. Jahrhundert mit seiner Correspondance littéraire die Gedanken der Aufklärung an alle Höfe Europas. Als Literatur-, Musik-, Kunst- und Theaterkritiker gibt uns Grimm Einblick in das aufregende Kulturleben seiner Zeit, als Journalist lässt er uns am Gesellschaftsleben seines Jahrhunderts teilnehmen. Als Freund und Berater der Höfe hatte er Zugang zu den Mächtigen, als Freund der Enzyklopädisten verfolgte und förderte er den Fortgang der Wissenschaften. Grimm war ein unabhängiger Geist, seine Correspondance littéraire ließ er sich von niemandem diktieren, für seine Zeit, ein fast unmögliches Unterfangen.

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Winfried Wolf

Friedrich Melchior Grimm, ein Aufklärer aus Regensburg

Winfried Wolf

Friedrich Melchior Grimm, ein Aufklärer aus Regensburg

1723 - 1807

Impressum

Texte: © 2020 Copyright by Winfried Wolf

Umschlag:© 2020 Copyright by A. E. Treitinger

Verantwortlich

für den Inhalt:Winfried Wolf

Scharnhorststraße 26

93049 Regensburg

[email protected]

Druck:epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin

Inhaltsverzeichnis

Friedrich Melchior Grimm

Vorwort

Hast du schon von diesem Grimm gehört?

Zwei Brüder – zwei Welten – Was kann aus Pfarrerskindern werden?

Das protestantische Pfarrhaus als Pflanzstätte

Auf der Poetenschule in Regensburg – erste literarische Versuche

Studium in Leipzig

Exkurs: Lessing und Grimm

Im Haus des kursächsischen Gesandten

Grimm in Paris

Paris zu Grimms und Reichards Zeiten

Grimm kam nicht als Tourist nach Paris

Grimm ist ehrgeizig

Grimm trifft Rousseau beim Erbprinzen von Gotha

Ein lustiges Trio

Grimm trifft Diderot – eine Freundschaft fürs Leben

Grimm bedient sich des „Salons“

Grimms Kritik am Salonleben

Die Männer der Aufklärung

Grimm gewinnt an Profil

Grimm macht sich bekannt

Der Buffonistenstreit - Rousseaus Dorfwahrsager und der kleine Prophet

Das schöne Fräulein Fel

Grimm lernt Frau von Épinay kennen und wird Netzwerker

Grimms Freundin, Frau von Épinay.

Grimm behauptet das Feld

Grimm und Holbach verreisen

Grimms Freund, Baron Holbach.

Grimms Freund, Denis Diderot.

Grimm macht sich selbständig

Grimms Correspondance littéraire

Die Correspondance littéraire ist keine Erfindung Grimms

Grimms Correspondance littéraire ist etwas Besonderes

Grimms Correspondance littéraire ist ein Sprachrohr der Philosophenpartei

Die Correspondance littéraire und die kritische Öffentlichkeit als Mittel der Aufklärung

Die Correspondance littéraire – Modell einer esoterischen Wissenskommunikation

Exkurs: Der Abbé Laurens – ein Literat zweiter Garnitur

Schlechter Geschmack ist unverzeihlich

Die Correspondance littéraire ganz ohne Struktur und Ordnung? Der Eindruck täuscht.

Die Abonnenten von Grimms Correspondance littéraire und Grimms Kampf um die Unabhängigkeit seines Periodikums

Grimms engste Mitarbeiter

Das Autorengespann Diderot und Épinay

Exkurs: Wer ist der Autor?

Ein Spiel mit Masken

Gemeinsame Zielsetzung von Encyclopédie und Correspondance littéraire

Die Correspondance littéraire: Zusammenfassung

Correspondance konkret

Programm und journalistisches Ethos der Correspondance littéraire

Beiträge aus den Jahren 1754 und 1755

Die Abhandlungen über die Empfindungen

D’Alemberts Aufnahme in die Académie Francaise

Die Kunst des Meinungsstreits

Der Discours sur les Sciences et les Arts

Gibt es einen Fortschritt?

Katechismus für Kinder

Zum Tod von Montesquieu

Die Kollonaden des Louvre

Vom Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen

Grimm als Journalist, Kritiker und Schriftsteller

Grimms Predigt zu Neujahr

Galiani – Ratgeber in Kleiderfragen

Grimm als Kritiker und Philosoph

Witz und Ironie – Grimms Mittel der Kritik

Vielfalt der Themen

Grimm arrangiert sich

A Tyran le blanc

Grimms Briefe aus dem Feldlager

Exkurs zum Siebenjährigen Krieg

Die Affäre Rousseau

Rousseau und die Comtesse d’Houdetot

Vorhaltungen der Freunde

Die Ereignisse noch einmal in geraffter Form

Die Bekenntnisse und die Memoiren der Frau von Épinay – zwei verschiedene Perspektiven

Glückliche Momente – neue Pflichten

Frau von Épinay und Diderot kommen sich näher

Politische Verstrickungen

Frau von Épinay richtet sich neu ein

Briefe aus Moskau und Sankt Petersburg

Diderots Salonberichte und die Grenzen der Kunst

Der Salon: Kunstausstellung und Genre

Der Salon im Dialog

Klatsch und Tratsch im Salon

Weitere Beiträge aus der Correspondance littéraire

Grimm als Literatur- und Theaterkritiker

Der natürliche Sohn

Der Hausvater

Rousseaus Neue Héloise

Der Literaturkritiker Grimm über Voltaire

Voltaire, die Galionsfigur der Aufklärung

Voltaires episches und historisches Werk

Voltaires Satiren Candide und L’Ingénu

Grimms Würdigung der deutschen Literatur

Grimm und die Religion

Grimm und Mozart

Von Rameau bis Gluck

Mozart kommt zum dritten Mal nach Paris

Grimm als Journalist und Erzähler von Anekdoten

Wenn Freigeister auf Frömmler treffen

Treffen sich ein Abbé und ein Rabbiner

Bleiben Sie bei Gewitter bitte zu Hause

Wie man den Teufel malt

Der Witz Pirons

Wie man auf einen Lehrstuhl für Theologie kommt

Starke Argumente

Friedrich II. schickt einen Hirtenbrief

Ein Bauchredner versetzt in Angst und Schrecken

Geschichten über Voltaire, Rousseau, Diderot und andere bekannte Zeitgenossen

Ein Schiff auf den Namen Voltaire

Baron von Gleichen

Diderot im Schlafrock

Piron – die Epigramm-Maschine

Voltaire

Fragonard

Von Dummköpfen und komischen Menschen – Geschichten und Anekdoten aus dem Salon

Die Kranken nehmen überhand

Brief an einen Soldaten

Lorenziana

Lange Messer, kurze Schwänke

Ein adeliger Versager

Der Elefant

Treffen sich zwei Lebensmüde auf einer Brücke...

Künstliche Anatomien

Falconets Peter der Große

Haare eines Genies

Unter den Talaren – Muff von 1000 Jahren

Die Correspondance littéraire am Puls der Zeit

Nachruf auf Helvétius

Nachruf auf Lespinasse

Nachruf auf Voltaire

Die Affäre Calas und ihr Reflex in der Correspondance littéraire

Beobachtungen aus dem Alltag – Grimm und Meister in der Rolle des Journalisten

Wirtschaft und Handel

Aus Naturwissenschaft und Technik

Der Schatz von Gotha: Grimms Vermächtnis in Briefen

Grimms neue Favoritin: Katharina II.

Die große Deutschlandreise

Grimm besucht auch seine Mutter in Regensburg

Die Reise nach London

Grimm kommt nach Sankt Petersburg

Der strahlende Stern des Nordens

Exkurs: Aufklärer und aufgeklärter Absolutismus

Grimms „Pilgerfahrt“

Grimm ist am Ziel seiner Träume

Diderot bei der Zarin

Der Höfling Grimm und der Streiter Diderot

Abschied von Sankt Petersburg

Die Correspondance littéraire geht in andere Hände – Frankreichs Agonie – Grimms neue Aufgaben – Frau von Épinay schreibt einen Erziehungsroman – Die Französische Revolution

Frankreich versinkt in Agonie

Neue Aufgaben für Grimm – Galiani macht sich Sorgen

Frau von Épinay hat einen Erziehungsroman geschrieben

Grimm wieder auf Reisen: zuerst Italien, dann Russland

Grimm: Agent, Briefpartner und Ratgeber Katharinas II.

Grimms Briefe: nur ein Geschwätz?

Exkurs: Grimm und die Reform des russischen Bildungswesens

Auch über politische Angelegenheiten wurde gesprochen

Grimm und Katharina hatten ein besonderes Verhältnis zueinander

Französische Revolution Grimm und Katharina II. werden konservativ.

Grimms skeptische Weltsicht

Letzte Jahre in Paris

Graf Falkenstein schaut nach dem Rechten und nach seiner Schwester

Frau von Épinay nimmt Opium

Voltaires letzte Aufführung

Zum Tode Rousseaus

Grimm und Diderot – Ende einer Freundschaft

Diderot und die Moral

Diderot schreibt sich etwas von der Seele

Abschied von Madame d’Épinay

Abschied von Diderot

Exkurs: Grimm und Diderot, eine außergewöhnliche Freundschaft

Gemeinsame Überzeugungen und Ansichten

Leben in unterschiedlichen Welten

Zusammenfassung

Abschied von Holbach

Abschied von Galiani

Grimm bekommt eine Familie . Flucht aus Frankreich – stille Tage in Gotha

Grimm kümmert sich um Frau von Épinays Enkelin Émilie

Graf von Oels kommt nach Paris

Prinz Heinrich, Kritiker seines Bruders

Heinrich besucht die Notablenversammlung

Jetzt geht man in den Club ...

Der Gothaer Heinrich August Ottokar Reichard in Paris

Die Französische Revolution erreicht Melchior Grimm

Flucht aus Frankreich

Ereignisse in Frankreich – Tod des Königs

Nach der Kanonade von Valmy – Treffen in Düsseldorf

Weiter nach Gotha ...

Verluste, Verluste ...

Ein Haus in Russland?

Grimm schreibt ein Testament

Grimm bekommt eine Entschädigung

Das Ende aller Sorgen naht ...

Grimm: Ministerresident in Hamburg

Zwei Jahre in Braunschweig

Zurück in Gotha

Frankreich gibt nun den Ton in Europa an

„Katinka“ und Baron von Bechtolsheim

Tod Friedrich Melchior Grimms

„Katinka“ kommt in die Oberpfalz

Melchior Grimm 1749 - 1807

Dank

Besondere Zugänge und Quellen

Friedrich Melchior Grimm

„Éclairer son siècle, c’est travailler pour les

Siècles a venir; quelle plus douce recompense

Pour le philosophe et la philosophie!”

Vorwort

Im September 2023 jährt sich der Geburtstag des Regensburger Pfarrersohns Friedrich Melchior Grimm zum 300. Mal. Grimm, 1723 in Regensburg geboren und 1807 in Gotha gestorben, war ein enger Freund von Denis Diderot und Jean Jacques Rousseau. Er gehörte zum Kreis der Enzyklopädisten um Diderot, d’Alembert und Holbach. Seine geheime „Correspondance littéraire“ verbreitete die Gedanken der Aufklärung in ganz Europa. Kaum ein Fürstenhof von Bedeutung, der nicht zu den Empfängern seiner „Newsletter“ gehörte.

Grimm war Gast beim preußischen König Friedrich II., mit der Zarin Katharina II. pflegte er über drei Jahrzehnte einen lebhaften Briefwechsel, er war der Freund des polnischen Königs Stanislaw Poniatowski und Vertrauter des Prinzen Heinrich von Preußen. Friedrich Melchior Grimm, dieser große Sohn der Stadt Regensburg, ist heute leider weitgehend in Vergessenheit geraten, zu Unrecht, denn es gibt kaum einen besseren Spiegel des 18. Jahrhunderts als seine bis zur Französischen Revolution geführte „Correspondance littéraire“, deren vollständigste Ausgabe heute in Gotha auf Schloss Friedenstein liegt. Als Literatur-, Musik-, Kunst- und Theaterkritiker gibt uns Grimm Einblick in das aufregende Kulturleben seiner Zeit, als Journalist lässt er uns am gesellschaftlichen und höfischen Leben des 18. Jahrhunderts teilnehmen. Als Freund und Berater der Höfe hatte er Zugang zu den Mächtigen, als Freund der Enzyklopädisten verfolgte und förderte er den Fortgang der Wissenschaften. Grimm war ein unabhängiger Geist, seine „Correspondance littéraire“ ließ er sich von niemanden diktieren, für seine Zeit, ein fast unmögliches Unterfangen. In Regensburg und Gotha kennt heute, von einigen Experten abgesehen, kaum jemand diesen bedeutenden und gleichsam verschwiegenen Wegbereiter der europäischen Aufklärung. Es ist endlich an der Zeit, Grimms Lebensgeschichte einem größeren Publikum zugänglich zu machen. Sein dreihundertster Geburtstag wäre dazu eine gute Gelegenheit.

Winfried Wolf

Hast du schon von diesem Grimm gehört?

1990 fuhr ich mit meinem Freund Willi nach Gotha. Willi, der leider viel zu früh an Krebs starb, war Lehrer am Gymnasium und unterrichtete die Fächer Deutsch und Geschichte. Ihm schwebte damals vor, einen Literaturführer über Regensburg zu schreiben.

Wir trafen uns jeden Dienstagabend in einem Regensburger Lokal zum „Herrenabend“. Wir redeten gewöhnlich über kulturelle und gesellschaftliche Ereignisse in der Stadt, sprachen über Unterrichtsprojekte und die aktuelle Lektüre und am Ende der Sommerferien wurde wie jedes Jahr darüber diskutiert, wohin wir unsere alljährliche Kulturreise unternehmen sollten. 1990 beschlossen wir, nach Weimar zu fahren. „Wir können bei dieser Gelegenheit auch einen Abstecher nach Gotha machen“, sagte Willi. Gotha? Ja warum nicht, dachte ich, sicher war auch Goethe dort, aber sonst ... ? „Dort ist Melchior Grimm begraben, du weißt schon, der Freund von Diderot, den du ja so verehrst. Die wenigsten Regensburger wissen von diesem berühmten Sohn der Stadt“, schmunzelte Willi und da wusste ich, dass er ein neues Projekt vorhatte.

Friedrich Melchior Grimms Grab fanden wir in Gotha nicht. Die Suche war aber auch nicht sehr intensiv, denn für größere Recherchen war damals wenig Zeit. Merkwürdig aber fanden wir doch, dass Melchior Grimm, der seine letzten Jahre in Gotha verbrachte, auch hier nicht bekannt war, kein Denkmal, kein Straßenname, keine Grabplatte erinnerte an ihn. Hätte die DDR nicht stolz auf diesen Mann der Aufklärung sein können?1

Zwei Brüder – zwei Welten – Was kann aus Pfarrerskindern werden?

Friedrich Melchior Grimmwurde am 26. September 1723 in Regensburg geboren. Sein Vater, Johann Melchior Grimm war hier Prediger, Mutter Sybille Margarete, geb. Koch kam ebenfalls aus einem protestantischen Pfarrhaus. Die Familie Grimm stammte aus Thüringen und ist ab 1680 in Regensburg nachzuweisen. Das Ehepaar Johann Melchior Grimm und Sybilla Margaretha Grimm hatte acht Kinder, zwei davon starben früh. Aus den sechs verbliebenen Brüdern wurden geachtete Bürger, einer von ihnen wurde gar zum Freiherrn ernannt. Der erstgeborene Sohn hieß Johann Ludwig (1714-1777) und brachte es zum Ratsherren und Hansgrafen in Regensburg. Ulrich Wilhelm (1716-1788) wurde Superintendent und erster Beisitzer des ev. Consistoriums in Regensburg. Aus Samuel Friedrich (1717-1750) wurde ein Handelsmann in Mannheim. Leopold Wilhelm (1720-1774) ging nach seiner Ausbildung in die Dienste des Herzogs von Sachsen-Gotha und verdiente später sein Geld als Kauf- und Handelsmann in Gera. Aus Friedrich Melchior (1723-1807) wurde ein Geheimer Rat und bevollmächtigter Minister des Herzogtums Sachsen-Gotha in Paris, später wurde der zum Baron nobilitierte Grimm kaiserlich-russischer bevollmächtigter Minister in Hamburg. Hyronimus David schließlich (1727-1801) brachte es, wie sein Bruder Ulrich Wilhelm, bis zum Superintendenten in Regensburg.2

Begabte Söhne aus protestantischen Pfarrhäusern machten im 18. Jahrhundert gewöhnlich Karriere in den Wissenschaften, traten in den Hofdienst oder verblieben im kirchlichen Bereich. Beispiele dafür sind Gottsched, Lessing, Wieland, Lichtenberg, Jean Paul oder die Brüder Schlegel – alle kamen sie aus einem Pfarrhaus.

Wir können nur mutmaßen, wie es bei den Grimms zuhause ausgesehen hat, wir haben keine Aufzeichnungen darüber, worüber bei Tisch im Kreise der Familie gesprochen wurde. Das herrschende geistige Klima erschließt sich aber rückblickend ganz gut über die Entwicklung der beiden Söhne Ulrich und Melchior und der stilbildenden Wirkung eines evangelischen Pfarrhauses. Aus dem älteren Bruder Ulrich Wilhelm wurde ein evangelischer Pfarrer, es entsprach vermutlich dem Familienplan, dass er einmal die Nachfolge seines Vaters antreten sollte. Er galt in seiner Heimatstadt als guter Pastor und Prediger, wurde Superintendent, erster Konsistorial Assessor und Scholarch. Melchior war am Ende seines Lebens Gesandter des Herzogs von Sachsen-Gotha am französischen Hof, Staatsrat der russischen Zarin Katharina II. und wurde durch seine Correspondance littéraire zu einem bedeutenden Vermittler der europäischen Aufklärung.

Aus aufgeweckten Pfarrerskindern werden entweder Katecheten oder Revolutionäre – bei den Brüdern Melchior und Ulrich Grimm sind solche leichtfertig verwendeten Bezeichnungen nicht angebracht, aber auf dem Zenit ihrer Karrieren hätte wohl niemand auf den Gedanken kommen können, dass sie aus ein und derselben Regensburger Pfarrersfamilie stammten. Aus dem einen wurde eine wichtige Figur des 18. Jahrhunderts und der französischen Aufklärung, aus dem anderen ein evangelischer Geistlicher, der sich in Regensburg als Superintendent einen Namen machte.

Das protestantische Pfarrhaus als Pflanzstätte

Melchiors Eltern besaßen in Regensburg ein stattliches Haus in der Krebsgasse.3 Ob hier in der Krebsgasse 6 auch Melchior geboren wurde, lässt sich nicht eindeutig bestimmen, aber er wird hier seine Kindheit verbracht haben. Im gleichen Haus wohnte von 1725 bis 1749 auch der kursächsische Gesandte beim Immerwährenden Reichstag, Johann Friedrich von Schönberg. Die Schönbergs sollten für Friedrich Melchior Grimm später noch besondere Bedeutung erlangen. Nachdem sein Bruder Ulrich Wilhelm 1743 die früh verwitwete Tochter von Hieronymus Löschenkohl, einem Regensburger Bankier und Handelsmann, geheiratet hatte, wohnte Friedrich Melchior einige Jahre bei seinem Bruder und seiner Schwägerin im Palais Löschenkohl. 1741 gab Grimm als Adresse noch die Mahlergasse an, vermutlich war damit die heutige Malergasse gemeint, die parallel zur Pfarrergasse verläuft.4 Ob er dort ein Zimmer besaß, konnte nicht geklärt werden. Die evangelischen Superintendenten Regensburgs wohnten im Haus Pfarrergasse 5. Nach dem Tod des Vaters im Jahr 1749 führte sein Bruder Ulrich Wilhelm den Grimmschen Haushalt weiter. Ihm folgte im Amt des Superintendenten dann Jakob Christian Schäffer. Mit ihm erlangte das Pfarrhaus in der Pfarrergasse einige Berühmtheit. Schäffer widmete sich nämlich neben seiner Tätigkeit als Pastor und Superintendent mit Leidenschaft botanischen, zoologischen, mineralogischen und physikalischen Studien. Er legte eine umfangreiche Sammlung von ausgestopften Vögeln, Insekten und Pflanzen an. Sein naturhistorisches Museum galt als eine Sehenswürdigkeit in Regensburg. Selbst Goethe der auf seiner Reise nach Italien 1786 nur wenige Stunden in der Stadt zubrachte, versäumte nicht, sich das Privatmuseum des gelehrten Pastors in der Pfarrergasse anzusehen.5 Hat er bei dieser Gelegenheit an seine Begegnung mit Melchior Grimm 1777 auf der Wartburg gedacht? War ihm das Haus in der Pfarrergasse (oder Mahlergasse) aus Grimms Erzählungen schon bekannt? Vermutlich hatte Grimm um dieses Zeit schon die Erinnerung an seine Heimatstadt weitgehend gelöscht und nicht mehr viel von Regensburg gesprochen.

Wie können wir uns das Leben im Haus der Grimms um 1740 vorstellen? Was erzählen uns die Quellen? Die Quellenlage ist leider spärlich und beschränkt sich auf wenige Äußerungen von Melchior Grimm und dessen Bruder Ulrich. Wie sich der junge Gymnasiast in Regensburg fühlte, erfahren wir aus den Briefen an Johann Christoph Gottsched. Einen kleinen Blick auf das Familienleben der Grimms gewährt uns auch Johann Ludwig Grimm, der einen Lebenslauf seines Vaters Ulrich Wilhelm Grimm verfasst hat. Dieser Lebenslauf wurde nach der Trauerrede beim Begräbnis des Vaters verlesen.6

Uns liegt also keine Milieubeschreibung des Grimmschen Haushalts vor. Keiner der fünf Söhne hat nachweislich seine Lebenserinnerungen niedergeschrieben. Wir kommen jedoch der Person Friedrich Melchior Grimm etwas näher, wenn wir versuchen, uns zumindest eine ungefähre Vorstellung davon zu machen, wie ein Pfarrhaus im 18. Jahrhundert organisiert war.

Versuchen wir also das Wenige, was wir wissen mit dem für typisch Gehaltenen zu verbinden. Das Unterfangen dürfte im übrigen nicht allzu kühn sein, denn das protestantische Pfarrhaus ist ein Topos der deutschen Kulturgeschichte. Natürlich nahm alles bei Martin Luther seinen Anfang. Sein Haushalt wurde zum Prototyp des evangelischen Pfarrhauses und wir dürfen annehmen, dass bei den Grimms in der Freien Reichsstadt Regensburg das vorgegebene Muster zumindest in groben Zügen wiederzufinden war, wenn auch hier nicht die großzügigen Verhältnisse eines ehemaligen Klosters der Augustiner herrschten. Keine Frage, die konkrete Ausgestaltung des Grimmschen Haushalts hatte wenig mit Luthers „Großbetrieb“ zu tun, aber Luther hatte doch die Leitlinien für den evangelischen Pfarrhaushalt gesetzt.

Als Luther den Zölibat der Priester aufhob, stellte er sie mitsamt ihren Familien sozusagen ins Schaufenster der Gesellschaft. Der Lutherische Haushalt wurde zum Prototyp des evangelischen Pfarrhauses: Während Martin Predigten schrieb, lehrte und diskutierte, leitete Katharina einen Haushalt, der den Umfang eines mittelständischen Betriebes hatte. Jene Anwesen in Kleinstädten und auf dem Lande, in denen nach dem Rückzug des Katholizismus nicht mehr Priester und Haushälterinnen, sondern vielköpfige Pfarrersfamilien lebten, waren in der Regel bescheidener, aber sie waren nicht mehr nur Dienstgebäude, sondern Pflanzschulen der Gesellschaft. Hier wurde vorgelebt, vorgedacht und beschrieben, wie die Gesellschaft im Ganzen organisiert sein sollte. Dieses Grundgerüst des familiären Lebens im Pfarrhaus hat sich bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts erhalten.

Von den Pfarrersfamilien, die ja ein besonders gottgefälliges Leben vorleben sollten, bildete sich bekanntlich das protestantische Arbeitsethos heraus, eine der Grundlagen für den Siegeszug des Kapitalismus. Bescheidenheit und Zurückhaltung schützen vor den Versuchungen, sich Luxus zu erschwindeln. Die protestantische Arbeitsethik verheißt Fleiß und Pflichtgefühl. Fontane lässt einen preußischen Offizier im Stechlin sagen: „Was uns obliegt, ist nicht die Lust des Lebens, auch nicht einmal die Liebe, die wirkliche, sondern lediglich die Pflicht.“ Der protestantische Pastor war hart gegen sich wie gegen andere. Er gab nicht vor, dem lieben Gott zu dienen, um in Wahrheit die eigene Macht und Glorie zu mehren.

Das protestantische Pfarrhaus war auch eine Keimzelle der Bildung und in seiner Bibliothek begegnete den Pfarrersöhnen die Literatur von der Antike bis zur Gegenwart. Bildung wird groß geschrieben im evangelischen Pfarrhaus: aus den Kindern soll ja etwas werden.

Es gibt einige konkrete Beispiele für das Leben im evangelischen Pfarrhaus. Die jüngst im Deutschen Historischen Museum gezeigte Ausstellung „Leben nach Luther“ richtet ihre Scheinwerfer auf den Mythos des evangelischen Pfarrhauses. Doch was ist dran am Mythos eines Milieus, das deutsche Dichter und Erfinder, Gesinnungstäter und Spitzenpolitiker bis heute auf die Erfolgsspur bringt? Im Untergeschoss des Pei-Baus wird der praktische Sinn der protestantischen Geistlichkeit demonstriert. Wir können dort eine Waschmaschine aus dem 18. Jahrhundert bewundern, erfunden von dem Regensburger Superintendenten Jakob Christian Schäffer, dem Amtsnachfolger von Ulrich Wilhelm Grimm. Pfarrer Schäffer war allerdings nicht der Erfinder der Waschmaschine an sich; sein Verdienst lag vielmehr in der konstruktiven Weiterentwicklung eines bereits bestehenden Konzepts, aber er war wohl der erste, der ein gebrauchsfähiges Modell für den Privathaushalt herstellte und dieses einer breiteren Öffentlichkeit bekannt machte.7 Der Berliner Schriftsteller und Reisende Friedrich Nicolai, der Schäffers Museum fünf Jahre vor Goethe8 besuchte und sich für dessen Experimente interessierte, konnte bei Schäffer eine Papiermühle in Augenschein nehmen mit der man aus Pflanzenteilen, Abfallholz und sogar halbvermoderten alten Dachschindeln durch Kochen in Lauge und Kalkbrühe festes Papier herstellen konnte.9

Verweltlichung und Vergeistlichung:

Martin Greiffenhagen hat in seinem Vorwort zur Kultur- und Sozialgeschichte des evangelischen Pfarrhauses mit den Begriffen Verweltlichung und Vergeistlichung die zwei Seiten der reformatorischen Theologie herausgestellt, die für die protestantische Praxis von Bedeutung wurden.10 Die Kirche wendet sich den Zuständen und Dingen dieser Welt zu, das ist die Verweltlichung. Die Vergeistlichung kann nach Luther in jeder Tätigkeit eine theologische Dimension eröffnen. Der evangelische Christ lebt seinen Glauben in jeder Stunde und mit jeder Hantierung. Gott ist stets gegenwärtig mit seiner Frage: Vergeudest du deine Zeit nicht, nutzt du deine Gaben, gibt dein Leben Sinn im Blick auf das ewige Heil? Diese Grundorientierung wird auch Melchior Grimm in seinem Elternhaus erfahren haben. Im evangelischen Pfarrhaus war die gesamte Familie zu einem exemplarisch-christlichen Leben verpflichtet.

Der evangelische Geistliche als Hausvater:

Melchior muss sein Vaterhaus als Pfarrhaus vor allem deshalb erleben, weil der Beruf des Pfarrers ein häuslicher Beruf ist. Als Pfarrer kennt der Vater weder die strikte Trennung von Arbeitszeit und Freizeit noch die genaue Unterscheidung von Wohnhaus und Arbeitsstätte. Er wohnt nicht nur im Haus, sondern er arbeitet auch zuhause. Sein Beruf füllt das ganze Haus und das hat natürlich Konsequenzen für die Erziehung der Kinder. Melchior wird dieser Erziehung nicht entkommen sein.

Im Glashaus:

„Das Pfarrhaus ist ein Haus mit gläsernen Wänden“, schreibt Wolfgang Steck.11 Die Familie des Pfarrers ist zu einem Exempel praktischen Christentums verpflichtet. Die Bewohner des Pfarrhauses spielen anderen ihr privates Leben vor. Es ist als ob sie ihre Ehe für andere führten, als ob sie ihre Kinder für andere erzögen. Nichts geschieht im Verborgenen, alles spielt sich in der Öffentlichkeit ab, vor den Augen der anderen und unter ihrer Kontrolle.

Kinder: Produkte einer Pfarrhauserziehung.

Die exemplarische Funktion des Pfarrhauses spielt vor allem auch für die Erziehung der Kinder eine wichtige Rolle. Da das Pfarrhaus eine öffentliche Angelegenheit ist, muss auch in der „Kinderzucht“ ein Beispiel gegeben werden. Pfarrerskinder müssen so sein, wie jeder gute Familienvater seine eigenen gern hätte: bescheiden und gehorsam, wohlerzogen und erfolgreich in Schule und Beruf.12 Die Erziehung der Kinder gehörte schon vor dem „pädagogischen“ Jahrhundert zu den wichtigsten Aufgaben des Pfarrers, galt es doch vor allem deren unschuldige Seelen zu schützen. Wir wissen nicht, ob Johann Melchior Grimm ein liebender oder strenger Vater oder beides zugleich war. Melchiors „Freiheiten“ scheinen aber auf einen aufgeklärten, einen eher liberalen Vater hinzudeuten, einen Vater, der auf die Einsicht des Kindes setzt. Ein fortgesetzter Zwang zur Anpassung der Kinder in ihre Verhaltensrollen wird im Hause Grimm aber auch nicht notwendig gewesen sein, es genügte ja im alltäglichen Leben schon die Erziehung durch die dauernde, alltägliche Anschauung vorgeführter christlicher Praxis und überzeugender Sinnvermittlung.

Hat sich Melchiors Vater intensiv um den Unterricht seiner Söhne gekümmert, um ihnen den Weg zum Gymnasium, zur Universität zu ebnen, um sich Kosten zu ersparen? Wir können es annehmen, denn Melchior gehörte zu den guten Lateinschülern, das Lernen machte ihm Spaß, sein Interesse für die Literatur und das Theater werden in der kleinen Bibliothek des Elternhauses, im Gespräch mit dem Vater und dem älteren Bruder, eine Grundlage gefunden haben. Häuslicher Unterricht war bei fünf Söhnen wohl auch aus Kostengründen notwendig, ein Scheitern an Schule oder Universität wollte und konnte man sich nicht leisten. Eine Vorbereitung zuhause bringt Vorteile für Schule und Universität und studieren muss der Sohn, weil der Vater auch studiert hat. Ein Handwerk zu lernen kommt ja nicht infrage, dazu wäre ein Herr Pfarrer zu stolz gewesen.13

Anstöße für Dichtung, Literaturwissenschaft und Philosophie: Intensiver und individueller Unterricht im Pfarrhaus kann, das war damals nicht anders als heute, die Anlagen der Kinder zweifellos fördern. Die häusliche Unterweisung bewirkte vielfach wohl auch eine gewisse Frühreife der Pfarrerskinder. Melchiors selbstbewusster, manchmal schon altkluger Ton in den Briefen an Gottsched weist in diese Interpretationsrichtung. Der tägliche Umgang nicht nur mit der Bibel, sondern auch mit den alten Sprachen, die faktische Bilingualität und teilweise Multilingualität der Pfarrerskinder, war eine gute Grundlage für ihre hermeneutischen Fähigkeiten, ihre literarische Bildung und ihr Stilempfinden als Dichter.14 Dem Pfarrersohn Melchior Grimm hat die häusliche Anregung im Elternhaus offensichtlich nicht genügt; er suchte in seinen letzten Schuljahren für den starken Vater der Kindheit einen Nachfolgevater und fand ihn in einem anderen Pfarrerssohn, in Johann Christoph Gottsched, dem Professor für Weltweisheit in Leipzig. Er wird für die nächsten Jahre sein Idol, sein Bild soll im Zimmer hängen, sein Beitrag zur Literaturtheorie wird zum Maßstab für erste eigene dichterische Versuche.

Dass Melchior Grimm einmal zum Kreis der Enzyklopädisten gehören sollte, dass seine Correspondance littéraire, philosophique et critique dazu beitragen sollte die Ideen der Aufklärung über ganz Europa zu verbreiten – das war 1741 in seinem vorletzten Jahr am Gymnasium poeticum nicht vorherzusehen aber die Konstellation etwas zu werden, war günstig. In der Geschichte des Pfarrhauses begegnet man ungewöhnlich vielen Pfarrern, die wissenschaftliche und dichterische Neigungen kultivieren und die Neigungen der Väter blieben häufig nicht ohne Wirkung auf die Pfarrerskinder. Nicht alle waren erfolgreich in ihren Bemühungen, manche zerbrachen an eigenen und fremden Ansprüchen, andere aber wurden zu Lichtgestalten der gelehrten Welt. Wie unterschiedlich das Endprodukt einer Erziehung im Pfarrhaus ausfallen konnte, kann ein Hinweis auf bekannte Namen des 18. Jahrhunderts deutlich machen.15 Die Liste der Naturforscher, Erfinder und Konstrukteure, Philosophen, Musiker und Komponisten, Philanthropen, Systematiker und Mathematiker, Psychologen und Pädagogen, Theoretiker und Dichter, alles Pfarrer oder Söhne von Pfarrern, ist lang und zeigt, wie machtvoll das Pfarrhaus Kulturgeschichte geschrieben hat. „Das betrifft vor allem die Zeit nach 1740, in der die Aufklärungsdiskussion vollends das geistige Leben auch in Deutschland bestimmte. Die Philosophie der Aufklärung wird“, wie Christine Eichel, bezogen auf die Literatur aus dem Pfarrhaus, schreibt, „zur Matrix der dichtenden Söhne..., die in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts auf der literarischen Bühne erscheinen. Befeuert werden sie gleich doppelt: sie haben den Bildungswillen des Elternhauses erlebt, das Engagement im Namen des Seelenheils. Hinzu treten die Ziele der Aufklärung: die „sittliche Besserung des Menschen“ und Voltaires „Écrasez l’infame“, was sich mit den Zielen des Pfarrhauses durchaus verschränken lässt.16

Was wäre wohl aus dem begabten Melchior Grimm geworden, wenn er nicht frühzeitig Freunde beim Adel gefunden, nicht eine Reise nach Paris unternommen, nicht Rousseau und Diderot getroffen hätte? Hätte aus ihm ein Lessing werden können? Schwer vorstellbar, Grimm war nicht der rebellierende und freigeistige Pfarrersohn, seine Konflikte mit den Autoritäten sollten in geschmeidigeren Bahnen ausgetragen werden.17

Auf der Poetenschule in Regensburg – erste literarische Versuche

Friedrich Melchior Grimm erhielt seine Schulbildung auf dem protestantischen Gymnasium poeticum in Regensburg. Schon der Bruder hatte diese Schule „mit allgemeinem Beifall und Lob seiner verdienten Lehrer“ besucht.18 Was war das für eine Schule? Welchem Lehrplan folgte sie? In Regensburg gab es schon vor Melchiors Zeit zwei bedeutende Schulen, das katholische Jesuitengymnasium St. Paul und das evangelisch-reichsstädtische Gymnasium poeticum. Letzteres fand sich in der Gesandtenstraße und war im 16. Jahrhundert gegründet worden. Nachdem sich die Sympathien der Reichsstadt mit der Lehre Luthers verstärkt hatten, geriet die junge Poetenschule bald ins protestantische Fahrwasser. 1530 erbat der Rat der Stadt auf dem Augsburger Reichstag mit Erfolg eine Empfehlung des berühmten Melanchton um angesehene Lehrer nach Regensburg zu bringen.19 1655 wird ein eigenes Schultheater mit Orchesterraum und ansteigenden Sitzreihen erwähnt. Wir wissen nicht, ob dieses Theater noch bestand oder genutzt wurde, als Melchior Grimm die Schule besuchte. Er, der in seinen letzten Schuljahren ein Trauerspiel20 verfasste, hätte sich vermutlich als hauseigener Autor über eine geeignete Spielstätte in Regensburg gefreut.

Als Melchior Grimm die Poetenschule in Regensburg besuchte, waren die Schülerzahlen im Vergleich zum vorangegangenen Jahrhundert stark zurückgegangen. Um 1601 wurden 266 Schüler unterrichtet, für das 18. Jahrhundert rechnet man durchschnittlich mit nicht mehr als 80. Die Klassen, die gebildet wurden, waren anfangs keine Jahrgangsklassen, sondern Leistungsgruppen. Daher umfasste beispielsweise eine erste Klasse Kinder im Alter zwischen 5 und 14 Jahren. Zu Melchiors Zeit gab es vor dem Eintritt in das Gymnasium so etwas wie eine Vorschule auf der man die Grundzüge des Lesens und Schreibens lernen konnte. Es liegen keine Angaben darüber vor, mit wie viel Jahren Melchior Grimm in die erste Klasse kam. Wenn er mit fünf Jahren eintrat und die Schule 1741 beendete, beläuft sich seine Schulzeit auf 13 Jahre. Vater Melchior Johann Grimm ließ seinen Kindern jedenfalls eine gute Schulbildung zukommen und Melchior fand großes Gefallen an den Lateinübungen und der Beschäftigung mit der Literatur.21 Die Ausbildung der Kinder wird dem Grimm’schen Haushalt einiges gekostet haben, Melchior hatte noch vier Brüder22, die alle die Schulzeit an einer ordentlichen Schule durchlaufen mussten. Mit irdischen Gütern war die Familie nicht gesegnet. Melchior schildert seinen Ausgangspunkt später mit den Worten, er sei ohne Vermögen auf die Welt gekommen. So übel kann es aber dem jungen Grimm nicht ergangen sein. Als Sohn eines Pastors gehörte er immerhin zu den wenigen, die überhaupt eine höhere Lehranstalt besuchen konnten. Im Pfarrhaus gab es außerdem Bücher und die Auseinandersetzungen mit dem studierten Bruder, der auch für den erwünschten Lesestoff sorgen konnte, waren wichtige Anregungen.

Das Gymnasium poeticum wurde von Kindern besucht, deren Eltern der städtischen Oberschicht entstammten oder aus Pastorenfamilien kamen. Aber auch angesehene Handwerker schickten ihre Kinder auf diese Schule. Begabte Schüler aus sozial schwächeren Schichten konnten über Stipendien wohlhabender Bürger oder des Rates der Stadt einen Schulplatz erhalten. Regensburgs Poetenschule, darauf weist schon der Titel hin, folgte einer sprachlich-literarischen Ausrichtung, sie wird zum Grundstein zu Grimms philologischer Bildung. Natürlich stand von Anfang an die im Protestantismus verbreitete Idee der Glaubensfestigung durch die Schule Pate. „Zur größeren Ehre Gottes, zur Fortsetzung der Reformation, zum Ruhme und Wohlstand der Stadt, zum Besten der Kirche und des Staates“, so hätte es über dem Schulportal stehen können. 23 Man sah nicht nur die Ideen des Humanismus grundgelegt, sondern es spielte auch das Bedürfnis nach qualifizierten Theologen und Verwaltungsbeamten eine wesentliche Rolle.24 Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass die Schule durch einen städtischen Ausschuss, das sogenannte Scholarchat, das unmittelbar dem Rat unterstellt war, verwaltet wurde. Melchiors Bruder, Ulrich Wilhelm Grimm trug u. a. den Titel eines Scholarchs.25 Lehrer und Rektoren waren gleichzeitig auch protestantische Geistliche, Melchiors Neffe Johann Ludwig Grimm war Professor am Gymnasium poeticum. „So zieht sich“, wie Diethard Schmid in seinem Aufriss der Regensburger Schulgeschichte schreibt, „durch die Entwicklung des Gymnasium poeticum von Anfang an der Geist des Humanismus gepaart mit dem eher sachlichen Protestantismus, der gezwungen war, mit dem in Regensburg nach wie vor mächtigen katholischen Partner und dessen wachsendem Einfluss zu leben.“26

Wir wissen nicht genau nach welchem Stundenplan Melchior Grimmunterrichtet wurde. In der Lateinschule alter Prägung wurde Grammatik, Rhetorik und Dialektik gelehrt. Hier sei ein Seitenblick auf Friedrich Schiller gestattet, der 1767 noch mit der Vorstellung später einmal Theologie zu studieren, in die Lateinschule von Ludwigsburg eintrat. Der Besuch der Lateinschule ist in dieser Zeit u. a. Voraussetzung dafür, in ein Predigerseminar mit anschließendem Theologiestudium aufgenommen zu werden. Dass das Curriculum eine „kirchlich erzwungene Einseitigkeit“ aufweist27, ergibt sich zwangsläufig aus der dem Schultyp zugewiesenen Funktion. An Schillers Schule in Ludwigsburg beginnt der Unterricht im Sommer um sieben und im Winter um acht Uhr. Mit einer längeren Mittagspause dauert der Unterricht sieben Stunden wochentags, zuzüglich verpflichtend der sonntägliche Kirchenbesuch mit anschließender Katechisation, einer Religionsübung, bei der meistens nur das Glaubensbekenntnis, allerlei Bibeltexte und zahllose Kirchenlieder auswendig gelernt werden. Latein ist das mit Abstand wichtigste Fach, das unterrichtet wird. Die Schüler übersetzen hier Texte aus dem Lateinischen ins Deutsche und umgekehrt, sie üben sich in lateinischem Stil, verfassen lateinische Dialoge und erhöhen so ihre lateinische Rede- und Ausdrucksfähigkeit. In Latein spielen die Schüler Theater, damit wird Latein fast zur lebenden Sprache. Friedrich Schiller gehört zu den besten Lateinern seiner Schule, er beherrscht das Lateinische so gut, dass er Jahre später die Schwestern Lengefeld mit der Dichtung Vergils bekannt machen kann, indem er ihnen vom Blatt weg vom Lateinischen ins Deutsche übersetzt.28 Der Unterricht von Altgriechisch ist verglichen mit Latein nicht so umfassend, zielt aber mit seinen Grammatikübungen und dem eingehenden Vokabellernen darauf, die Schüler zu eigenständigen Übersetzungen des Neuen Testaments zu befähigen. Hebräisch spielt dagegen nur eine marginale Rolle und für die Musik und Mathematik hat man gerade mal eine einzige Unterrichtsstunde pro Woche übrig.

Einen detaillierten Tagesablauf kennen wir aus der Fürstenschule St. Afra, diese Schule besuchte Gotthold Ephraim Lessing, der spätere Gegenspieler von Grimms Übervater Gottsched. Zu Lessings Zeit umfasste jeder Schultag in St. Afra zehn Unterrichts- und Arbeitsstunden. Den Schwerpunkt bilden Religion und Latein mit insgesamt 40 Wochenstunden. Es folgen Griechisch mit vier, Hebräisch mit drei Wochenstunden, Französisch, Rhetorik, Mathematik, Geschichte und Erdkunde mit zwei Wochenstunden. In Privatstunden können sich Schüler mit neuesten Tendenzen in der Philosophie und Naturforschung sowie dem Englischen vertraut machen. Zwei Monate des Jahres bleiben den Schülern zum Selbststudium. Ferien gibt es nicht, nur zwei Wochen Urlaub alle zwei Jahre.29

Im Ganzen gesehen ist das Unterrichtsgeschehen in der Lateinschule von einer Lernkultur geprägt, die man, auch wenn es einzelne Ausnahmen geben mochte, mit Katharina Rutschky wertend als schwarze Pädagogik bezeichnen kann.30 Physische und psychische Gewaltanwendung seitens der Lehrer ist noch etwas ganz Normales und so gehört es einfach dazu, dass die Schüler bei mangelnden Leistungen und kleineren Disziplinverstößen eingeschüchtert, verprügelt oder zeitweise eingekerkert werden. Melchior Grimmscheint seine Schulzeit aber unbeschadet an Körper und Geist zugebracht zu haben. Laut Schulordnung von 1610 sollen Lehrer am Gymnasium poeticum in Regensburg ohne Zorn auf „unfleiß oder boßheit“ der Schüler mit wohlmeinenden Ermahnungen reagieren und nur, wenn das nicht hilft, mit Ruten strafen. Untersagt sind Schläge auf den Kopf, die Nase oder die Backe des Schülers. Verboten ist den Lehrern auch, die Schüler an den Haaren zu reißen oder Beulen zu schlagen. Lehrer sollen sich auch beim Strafen so verhalten, „daß discipuli sie lieb haben“.31

Über die Schulverhältnisse in der Reichsstadt Regensburg und die wechselnden Stundentafeln am Gymnasium poeticum wissen wir einigermaßen gut Bescheid. Wie die katholischen Schulordnungen hoben auch die evangelischen besonders das religiös-sittliche Prinzip hervor. Für das um 1537 entstandene städtische Gymnasium poeticum kann die lateinische Schulordnung in der Fassung von 1654 herangezogen werden. Diese Schulordnung besagte auch, dass die deutsche Schule in zwei Schularten aufgeteilt wird: in die Extraordinari- oder Wachtschule32 und in die Ordinari-Schule.33 In diesen Schulen erlernten die Regensburger Kinder das Lesen, Schreiben und Rechnen. Nach der Organisationsregelung von 1658 wurde zur Vorschrift gemacht, dass man vor Eintritt in das lateinische Gymnasium poeticum den Besuch beider Schule schaffen musste, die Beherrschung von Lesen und Schreiben war Voraussetzung für den Übertritt. Auch Melchior Grimm besuchte wie seine älteren Brüder Johann Ludwig und Ulrich Wilhelm den Unterricht in den öffentlichen Schulen der Stadt.34

Das Gymnasium führte zur Zeit Melchior Grimms sechs Klassen. Der tägliche Unterricht begann im Sommer wie im Winter um 7 Uhr. Die Zahl der wöchentlichen Pflichtstunden betrug im 18. Jahrhundert 28 bis 30 Stunden, hinzu kamen Privatstunden. Den Großteil der Stunden nahm der Unterricht in Latein ein. 1615 werden in der 2. und 3. Klasse 20 von 28 Wochenstunden dafür angesetzt. In den oberen Klassen wurde der Lateinunterricht zugunsten des Griechischen eingeschränkt. Bei der Stundenübersicht von 1656 ist Griechisch in den Klassen 3 bis 6 mit zusammen 16 Stunden vertreten. Die Sachfächer Geschichte und Arithmetik werden je einstündig gegeben. Zu Beginn der Stundentafel erscheint stets das Fach Religion von der 2. bis zur 6. Klasse mit insgesamt 13 Wochenstunden. In der letzten Klasse kommt das Fach Ethik hinzu. Als bemerkenswert stabil erweist sich über den Wechsel der Stundentafeln hinweg das Fach Musik. Ihm wurden vier Wochenstunden zugewiesen.

Etwas Besonderes wurde den Schülern mit dem Auditorium geboten. Aus einzelnen Privatvorlesungen, die von Professoren des Gymnasiums poeticum gehalten wurden, entstand 1664 das sog. Auditorium. Hier konnten sich die älteren Schüler auf den Wechsel an eine Universität vorbereiten. Das Auditorium bot Vorlesungen in Theologie, Philosophie, Mathematik, Physik, Astronomie, Geschichte und Geographie aber auch in den orientalischen Sprachen und der klassischen Philologie an. Das war eine gute Einrichtung, dadurch konnte man auch den kostspieligen Studienaufenthalt in einer fremden Stadt verkürzen helfen.35 Ob Melchior in den beiden letzten Schuljahren „Anweisungen in den ersten Grundsätzen der Rechtsgelehrsamkeit“ wie sein Bruder Johann Ludwig von dessen Taufpaten, Herrn Mylius, erhalten hat, wissen wir nicht.

Auch Melchior Grimm wird zunächst, ähnlich wie Schiller oder Lessing, die Schule als Vorbereitung auf ein Universitätsstudium gesehen haben. Danach konnte dann vielleicht bei entsprechenden Verbindungen zu den höheren Kreisen eine Hofmeisterstelle, eine Assessoren- oder Sekretärsstelle folgen. Anders als der Bruder jedoch, der schon in früher Jugend eine besondere Lust und Neigung zur Theologie zeigte, beschäftigte sich Melchior in den oberen Klassen mit ersten literarischen Versuchen, die er zur Beurteilung an den großen Reformer der deutschen Sprache und Literatur Johann Christoph Gottsched nach Leipzig sandte. In einem Brief an Gottsched beschreibt sich der 17 jährige Melchior so: „Ich bin ein junger Mensch, welcher erst in anderthalb Jahren die hohe Schule zu Leipzig besuchen wird. Außer dem, dass ich auf dem hiesigen Gymnasio die lateinische Sprache, und andere freye Künste treibe, habe ich meine größte Lust in Sittenschriften, und anderen überhaupt nach meiner Einsicht wohlgeschriebenen Büchern gefunden.“36

Der junge Gymnasiast aus Regensburg breitet dem hochverehrten Gottsched selbstbewusst seine Leselektüre aus und kokettiert ein wenig mit seinem Leben in der Provinz. „Ich habe den Patrioten37 zu meiner großen Erbauung gelesen“, teilt er mit. „Ich habe die vernünftigen Tadlerinnen38 nicht minder mit dem größten Nutzen und Vergnügen meistentheils durchgeblättert. Den Biedermann39 aber habe ich nie zu Gesichte bekommen können. Oefters bedaure ich, dass unser Regensburg so unglücklich ist, keinen rechten Buchladen zu haben. So habe ich z. E. niemalen ein Buch, von Ew Hochedelgebohren Magnificenz unvergleichlichen Schriften, zu sehen bekommen.“40 Vom Bruder Ulrich erhielt er Gottscheds Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen und De la manière d’enseigner et d’étudier les belles-lettres. Melchior hat diese Bücher mit großem Vergnügen gelesen und dabei sein Urteilsvermögen schulen können. Selbstkritisch gesteht er ein, schon auf manche Scheingelehrtheit hereingefallen zu sein und er zeigt sich dankbar denjenigen gegenüber, die ihm wie Gottsched durch kluge Betrachtungen die Augen öffnen können. Seinem Briefpartner Gottsched weiß er geschickt, aus heutiger Sicht stark übertrieben, zu schmeicheln, indem er dessen Verdienste um die Geschmacksbildung der Deutschen herausstellt. Der junge Melchior gibt in seinem ersten Brief an Gottsched vollmundig und etwas altklug seiner Hoffnung Ausdruck, noch die Zeit erleben zu können, in der die Deutschen es einmal dem Ausland so richtig zeigen können. Ihm, Gottsched wird die Rolle des Mittlers und Vordenkers zugewiesen, ihm wird es dereinst zu danken sein, dass die Deutschen „zur edlen Nachfolge der alten Griechen und Römer und neuern Franzosen“ werden.41 Vor allem den Franzosen zollt Melchior seine Bewunderung, vergisst dabei aber nicht dann doch seinem Leipziger Idol allein die Strahlenkrone aufzusetzen: „Frankreich hat es weit gebracht: Wir können aber gegen einen Boileau, Rollin, Fontenelle, Fenelon, Voltaire und kurz gegen alle große Lichter dieses Reiches unsern Gottsched setzen.“42 Auch Frauen sind unter den großen Lichtern zu finden. Melchior gibt Beispiele: Italien kann mit seiner Bassi43 prahlen, Frankreich mit seiner Dacier44 und die Deutschen können stolz auf ihre Kulmus45 sein. Das ist kühn gesprochen und Melchior muss schauen, dass er wieder auf sein eigentliches Anliegen zu sprechen kommen kann.

Grimm preist Gottsched und dessen erste Ehefrau, Luise Adelgunde Victoire Kulmus in den höchsten Tönen, sein Werben ist jedoch nicht ohne Eigennutz. Er will ein Lob von erster Stelle und er hat konkrete Wünsche vorzubringen. Er und sein Schulfreund Gottlob Ludwig von Schönberg46 dürsten nach einem Bildnis der Kulmus, ein Wunsch, der durch die Lektüre ihrer Schrift Triumpf der Weltweisheit angeregt worden war. Ein Bild von Gottsched besaß Melchior bereits in einem Buch, nun verlangt ihn danach, einen Abriss derjenigen zu besitzen, welche dem Vaterland in seinen Augen so viel Ruhm machte. Die Gymnasiasten Grimm und Schönberg werden wohl in dieser Hinsicht nicht anders gewesen sein, als viele Jugendliche heute, die ihre Idole auf Plakaten in ihren Zimmern hängen haben. Melchior sollte schneller als gedacht in den Besitz eines Kupferstiches der Kulmus kommen; er hatte seinen Brief an Gottsched noch nicht gesiegelt, da schickte ihm der Buchhändler den vierzehnten Teil der Zuverlässigen Nachrichten47 mit dem gewünschten Bildnis darauf.

Melchiors erster Brief an Gottsched, den er mit „heftiger Begierde“ schreibt, enthält aber mehr als nur Lobpreisungen auf den großen Meister und die Bitte um ein Bild von dessen Freundin, der Kulmus. Melchior hat vor allem auch das Bedürfnis, sich selbst ins rechte Licht zu rücken, er will schon als Gymnasiast mit eigenen Werken glänzen. Dem großen Gottsched gegenüber aber muss er sich klein machen und es wäre ja auch unklug sich schon auf die gleiche Stufe stellen zu wollen. Melchior legt seinem Brief zwei eigene Werke bei, die er zwar als Stümperei bezeichnet, von deren Gültigkeit er aber, wie er schreibt, vollkommen überzeugt ist. Es handelt sich um eine Ode und um die Satire wider die Verächter der Weltweisheit. Die Ode hebt schmeichlerisch Gottscheds Verdienste hervor:

„So ist auch die Beredsamkeit seit kurzen prächtig gnug gestiegen, So sehen wir die Weltweisheitauch nimmer in dem Staube liegen.Warum? Ein großer Gottsched wacht,Der ist auf Deutschlands Ruhm bedacht,Der lehret uns vernünftig schreiben,Der zeiget uns, was Unverstandfür albre Tollheitsfrucht erfand,Und wie man müsse Künste treiben.“48

In seiner Ode geht Melchior auch auf die prahlerischen Franzosen ein und schreibt:

„So pralt, ihr Franzen, immerfort,Daß euerm Boileau49 keiner gleichet.Seht! Leipzig ist der Musenort,Da wohnt Apoll, der ihn erreichet.Ja was Racine50, Rousseau, Voltaireund andre große Helden mehrEuch iemals wichtiges erwiesen:In unserm Gottsched: Ja allhierWird noch weit mehr in ihm gepriesen.“

Als Melchior Grimm acht Jahre später auf einer Gesellschaft des Baron von Thun Rousseau kennen und schätzen lernte, wird er ihm wohl nichts über seine schwärmerische Jugendphase und die Herabwürdigung der „Franzen“ erzählt haben.

Melchior scheint sich auf seiner Schule in Regensburg recht gelangweilt zu haben oder ist es jugendlicher Überschwang, der ihn in seinem Brief vom 28. August 1741 die Feder diktiert: „Ich muss noch ein ganzes Jahr in Regensburg bleiben, und, was das ärgste ist, meine Zeit noch dazu müßig zuzubringen. Wir haben einen Lehrer der Weltweisheit, welcher wohl selbst nicht weiß, was sie ist. Seine Kunst besteht darinnen, daß er den Hugo Grotius, Leibnitzen, Wolfen und andern, welchen die gelehrte Welt soviel zu danken hat, für Leute ausschreyet, welche gefährliche Meynungen hätten, da er doch ihre Grundsätze weder weis noch versteht. Der Rektor ist zwar ein sehr fein gelehrter und in den freyen Künsten wohlgeübter Mann, aber er ist kein Philosoph. Mit hin bleibet diese so nützliche als nothwendige Wissenschaft liegen... Ich bringe also meine Zeit mit Lesung nützlicher Bücher zu.“51

Die Briefe Friedrich Melchior Grimms werden als die frühesten erhaltenen Texte des deutschen Pfarrersohns aus Regensburg angesehen. In seinem Nachwort zu den Briefen an Johann Christoph Gottsched geht Jochen Schlobach auf die Bedeutung dieser Korrespondenz auf Grimms späteren Werdegang ein: „Der besondere Wert der Briefe Grimms an Gottsched und seine Frau besteht darin, dass sich in ihnen sein Weg vom Gymnasium in Regensburg auf die große Bühne der europäischen Kulturhauptstadt Paris und der europäischen Höfe nachzeichnen lässt. Schon vor dem Studium ist Grimm in höchstem Maß an Literatur interessiert und leidet unter dem Mangel an intellektuellem Austausch in den engen Regensburger Verhältnissen.“52 Im August des Jahres 1741 muss er zu seinem Leidwesen noch ein ganzes Jahr in Regensburg bleiben. Stadt und Schule werden ihm zu eng und er fühlt sich unterfordert. Den Lehrern am Gymnasium poeticum fehlt es nach Meinung des jungen Gymnasiasten an Gelehrsamkeit und Philosophie.

Ein Jahr vor seinem Studium in Leipzig schreibt Grimm ein weiteres Lobgedicht auf Gottsched. Er ist voller Hoffnung und platzt geradezu vor Neugier auf sein Studium an der von der Aufklärung geprägten Universität in Leipzig:

„Wer Gottscheds Schriften liest, wird schon so sehr entzückt,Wie wird erst diesem seyn, den dessen Umgang schmückt.“53

Und schon in seiner Satire wider die Verächter der Weltweisheit wird sein Engagement für die Philosophie der frühen Aufklärung deutlich:

„Thalia, schweigst du noch, da alle Stümper nunIn der gelehrten Welt verzweifelt windig thun?Ein ieder will sich selbst zum großen Helden krönen,Ein ieder sich ia nach vielen Titeln sehnen:Obgleich die Wissenschaft im Kopfe rostig ist,Obgleich der Wurm im Haupt schon längst am Hirne frißt.“54

Gottsched scheint das junge Talent aus Regensburg ernst genommen zu haben, denn er hat ihn zu weiteren literarischen Produktionen ermuntert.55 Grimms Tragödie Banise wird von Gottsched korrigiert und später in der Deutschen Schaubühne publiziert.

Für einen Gymnasiasten des 18. Jahrhundert ist es durchaus nicht ungewöhnlich sich als Dichter zu versuchen. Auch Lessings erste schriftstellerische Versuche reichen in die Schulzeit zurück. Melchior Grimm legt seinen Briefen an Gottsched des Öfteren Werke aus der eigenen Feder bei und hofft damit die Aufmerksamkeit des großen Meisters auf sich zu ziehen. Einer möglichen Missachtung baut er vor, indem er die eigene Dichtkunst als „Stümperey“56 oder „Geschmiere“ bezeichnet, gleichwohl hofft er auf Lob und Anerkennung. Bei Gottsched war Grimm an der richtigen Adresse, denn dieser ermunterte geradezu junge Dichter, mit neuen Stücken zur „Rettung des deutschen Witzes und Namens“ beizutragen, wie er 1741 in der Vorrede zum zweiten Band der „Deutschen Schaubühne“ schreibt.

Im Sommer des Jahres 1741 hat sich Melchior Grimm als junger Dichter an eine Arbeit gemacht, die ihm, wie er vorauszusehen vorgibt, nicht allzu viel Ehre einbringen wird. Nach der Lektüre des zweiten Teils der Deutschen Schaubühne, kam ihm in den Sinn selbst ein Trauerspiel zu verfassen. Er geriet auf die Banise, die er vermutlich etliche Jahre vorher schon auf der Komödiantenbühne in Regensburg gesehen hatte.57 So wie er das Trauerspiel als Zuschauer erlebte, sollte es bei ihm nicht werden. Er will sich daher mit Bedacht an die Arbeit machen und vorher sorgfältig die Argumentationslinien der Critischen Dichtkunst58 durchlesen. Grimm hofft, die bearbeitete Banise seinem Meister in Leipzig bald zur Beurteilung vorlegen zu dürfen. Im Dezember schickt Grimm einen ersten Vorbericht an seinen Mentor. Zwar versucht er den Vorgaben des Meisters zu entsprechen, schränkt aber bescheiden ein, eine Banise verfertigt zu haben „deren Kräfte sich nicht weiter, als ihres Verfassers, erstrecken.“ Weiter schreibt Grimm „Die Verbesserungen, welche ich hier gehorsamst überschicke, sind aus meiner Feder, ohne, dass ich deswegen von jemand wäre erinnert worden, geflossen. Denn ich weiß dermalen in ganz Regensburg niemanden, welcher nur einige Kenntnis von der Schaubühne59 hat. Mein Bruder, der mir vielleicht an die Hand gehen könnte, befindet sich in Frankfurt beym Wahltage. Und also habe ich außer der critischen Dichtkunst keine Anweisung.“60

Grimms Banise ist eine Dramatisierung des Barockromans Die Asiatische Banise oder Das bluthig-doch muthige Pegu (Erstdruck 1689). Der Roman war im 18. Jahrhundert noch sehr populär, stammte von Heinrich Anshelm Ziegler und Kliphausen und war mehrfach umgeformt oder als Vorlage für Opernlibretti benutzt worden.61 Grimm hat auf Anraten Gottscheds in den folgenden Jahren immer wieder Korrekturen am Text seines Trauerspiels vorgenommen, es sollte das einzige des späteren europäischen Kulturkorrespondenten bleiben. Der veröffentlichten Fassung von Grimms Banise im vierten Teil der Deutschen Schaubühne ist also eine von Gottsched veranlasste grundlegende Revision durch den Autor vorausgegangen. Grimms Banise ist schon bei den Zeitgenossen auf heftige Kritik gestoßen. In Schützes Hamburgischer Theater-Geschichte sind die kontroversen Meinungen zusammengetragen worden.62 Wir lesen u. a.: „Herr Grimm (hat) ein elendes Trauerspiel zusammengeleimt“... Immerhin hebt Belouin, ein anderer Kritiker, drei frühaufklärerische Trauerspiele hervor, eines davon ist die Banise von Grimm; es sei „“avec un peu de bonne volonté“ und könne durchaus an die Seite von Goethes Iphigenie gestellt werden.

Um was geht es in Grimms Trauerspiel? Grimm beschreibt in Übereinstimmung mit der Romanvorlage die Befreiung der Prinzessin Banise aus den Händen des Tyrannen Chaumigrem und dessen Tötung durch den Prinzen Balazin. Doch eins nach dem anderen: Kaiser Chaumigrem will Banise, Tochter des ermordeten Vorgängers, heiraten. Bedrängt wird sie auch vom lasterhaften Oberpriester Rolim. Banise, die mit Balazin, dem König von Arakan verlobt ist, weist diese Anträge zurück und soll deshalb dem Gott Karkovit geopfert werden. Der Plan ihres Bruders Xemin, ihr als verkleideter Priester zu helfen, schlägt fehl und deshalb tötet er sich selbst, bevor man ihn ermordet. Balazin, der sich ebenfalls als Priester einschleicht, tötet Chaumigrem und befreit so Banise und Pegu vom Tyrannen.

In Grimms Trauerspiel Banise steht der Gegensatz von positiver und negativer Figur im Mittelpunkt des Geschehens. Auf der einen Seite die tugendsame, aufrechte und standhafte Banise, auf der anderen Seite der lasterhafte und illegitime Tyrann Chaumigrem. Banise zeichnet sich durch ihre hohe sittliche Qualität aus, sie wird einerseits im Affekt dargestellt (Erkennung des Bruders), andererseits auch in einer schwankenden Situation gezeigt (widerwillige Zustimmung zur Flucht) und erst am Ende findet sie zu einer angemessenen Haltung, indem sie sich der göttlichen Führung unterordnet. Chaumigrem trägt ebenfalls mehrere Konflikte aus. Entweder schlägt er aus eigenem Antrieb falsche Wege ein (Negierung der göttlichen Weltordnung) oder er lässt sich von seinem intriganten Oberpriester zu einer sittlichen Fehlentscheidung verleiten. In den Protagonisten des Stücks stehen sich Tugend und Laster gegenüber und Grimm bemüht sich nachvollziehbar um eine begründete und problematisierende Darstellung der beiden Rollen. Die übrigen Figuren erhalten kein markantes Persönlichkeitsprofil.

Grimm arbeitet besonders die Opferrolle seiner Hauptfigur Banise heraus, sie gilt es, dem Gottsched’schen Affekt-Modell folgend, als Instrument zur Rührung der Zuschauer einzusetzen. Die Teilhabe am Schicksal der Banise soll beim Publikum Mitleid und Bewunderung hervorrufen. Beide Affekte erreichen ihren Höhepunkt in den Schlussszenen, als die Opferung Banises unmittelbar bevorsteht: Die stoische Gefasstheit, mit der Banise als weltliche Märtyrerin ihr Schicksal erträgt, nötigt Bewunderung ab, ihr gänzlich unverschuldetes Leiden ruft Mitleid hervor. Der Dichter soll an dieser Stelle selbst zu Wort kommen:

Banise.Nein, so weit soll mich nicht mein Ungemach verleiten,Vermessentlich das Recht der Götter zu bestreiten.Ich ehre, was sie thun: was ihr Verhängniß fügt,Scheint unbegreiflich zwar: jedoch ich bin vergnügt,Und kann mich wohlgefaßt auf ihren Wink bequemen.

Der Opferpriester:Stirb mit dergleichen Muth, du bist bewundernswerth.Gieb keinem Bilde Raum, das dich hierinnen stört!Sey standhaft!

(...)Banise (zu Abaxar).Mein Freund, dein Redlichseyn hat viel für mich gewagt;Nur das Verhängniß hat uns alles Glück versagt,Und endlich seinen Zweck an mir hinaus geführet.Erzähls dem Balazin, ich weis, er wird gerühret.63

Mit dem Schema der belohnten Tugend (der Opferpriester ist in Wahrheit Prinz Balazin, Banises Verlobter und Befreier) und des bestraften Lasters (der Tyrann wird getötet) erfüllt Grimm das Lehrsatz-Konzept Gottscheds. Die vernünftige Weltordnung bestätigt sich und erweist ihre Gültigkeit sogar für den Fall, dass der einzelne situationsbedingt ihre Wirksamkeit nicht erkennen kann. Es verschließt sich dem intellektuellen Vermögen des Menschen, sein Schicksal selbst zu gestalten und sich über die göttliche Allgewalt zu erheben, die – trotz aller Herausforderungen und Prüfungen – schon im Diesseits die ethische Grundordnung zur Geltung bringt.64 In Chaumigrem zeigt Grimm einen tyrannischen Herrscher, der dem aufgeklärt-absolutistischen Staatsideal in jeder Hinsicht widerspricht. Damit ist nun durchaus keine Kritik am zeitgenössischen Absolutismus ausgesprochen. Beim jungen Grimm geht es noch nicht darum, ein ideales Herrschaftsverhältnis zu diskutieren, in Grimms Banise steht vielmehr die Liebesthematik im Vordergrund:

Abaxar.Doch, Freund, denkt Balazin wohl seine Braut zu retten?Sie ist seit Monatsfrist in unglücksvollen Ketten:Der Schluß ist auch gemacht, daß sie heut sterben soll.Mich dünkt, es wisse dieß der König alles wohl;Denn ihrentwegen ist der Krieg ja unternommen,Und ihr allein ist er zur Rettung angekommen.65

Mein Martong, glaube mir, du kennst die Liebe nicht,Die zwischen diesem Paar die zarten Myrthen flicht.Nein, ich versichre dich: bloß um Banisens wegenWird Balzin das Schwerdt nicht eher niederlegen,Als bis er sie erhält. Er suchet seinen RuhmIn seiner Braut Besitz, und nicht das Kaiserthum.66

Die politische Dimension fehlt aber in Grimms Trauerspiel trotzdem nicht ganz: Der gestürzte und ermordete Xemindo wird abstrakt als „beste(r) Kaiser“ apostrophiert und Chaumigrem als „Afterkaiser“ abgewertet. Der Tyrann Chaumigrem negiert die absolutistische Herrschaftslegitimation, indem er sich über die Götter erhebt und seine Machtposition ausschließlich individualistisch-triebhaft rechtfertigt. Auf ihn häuft Grimm alle nur erdenklichen Abscheulichkeiten: Zorn, Wollust, Rachgier, Mordgier, Grausamkeit. Im Verlauf des Stücks begrenzen sich diese Affekte mitunter wechselseitig: Die Wollust, die durch die schöne Banise immer wieder neue Nahrung erhält, lässt den Tyrannen zögern, seiner Wut zu folgen und sie zur Opferung freizugeben. Banises anhaltende Verweigerung bringt ihn schließlich zum völligen Kontrollverlust: „Ich knirsche schon vor Grimm, ich rase vor Entsetzen.“67 Am Beispiel des sinnlich-lasterhaften Chaumigrem wird dann die verhängnisvolle Wirkung der fehlenden Affektkontrolle vorgeführt.

Im Gegensatz dazu unterwirft sich Banise widerspruchslos der göttlichen Macht. Sie zeigt eine erfolgreiche Affektkontrolle, die letzlich ja auch belohnt wird. Banises Tugend ist stark religiös geprägt: Gelassenheit, Frömmigkeit, Ergebung in die göttliche Fügung, Bereitschaft zu sterben, Verzicht auf weltliches Glück etc. Sie findet Trost in den Gebeten an die Götter. Wie reagiert sie als ihr die Vertraute, Fylane, vorschlägt zum Schein auf Chaumigrems Drängen einzugehen? Banise weist diesen Vorschlag entrüstet zurück:

Die Tugend herrscht in mir. Es ist der Götter Wille,Den ich voll Großmuth auch im Sterben noch erfüll.Mehr kann ich selbst nicht thun. Ihr Götter, seyd gerecht;Und eurer Macht gefällts, daß heute mein GeschlechtMit mir vergehen soll. Wir mußten ja verderben!68

In Grimms Trauerspiel, das sich zwar mit der philosophischen Konzeption seines verehrten Lehrers Gottsched vermitteln lässt, bleiben theologische Elemente dominant. Das Stück gibt Beispiele vorbildlicher Affektbeherrschung bzw. völliger Affektverfallenheit ohne groß die Rolle der Vernunft zu thematisieren. Es sind vielmehr die christlichen Züge des Grimmschen Menschenbildes, die auffallen. Banise besitzt eine Tugend, die ihrer besonderen Frömmigkeit entspricht. Das ist noch ganz das Theater des Barock!

Wie wir aus den Briefen an Gottsched wissen, konnte es Melchior Grimm kaum erwarten nach Leipzig zu kommen. Leipzig muss ihm im Vergleich zum eher provinziell empfundenen Regensburg wie das Mekka des Geistes vorgekommen sein. Und in der Tat, die Universitätsstadt Leipzig hatte ja auch einiges zu bieten.

Bevor Grimm jedoch sein Studium in Leipzig beginnen und Gottsched persönlich kennenlernen kann, mussten in Regensburg noch einige Dinge erledigt werden. Grimm arbeitet weiter an seiner Banise, zwei Aufzüge sind bereits fertig. Über weitere Pläne berichtet er in seinem Brif vom 30. Juni 1742. Er dachte dabei an zwei Übersetzungen aus dem Französischen: an das Paradestück von Alexis Piron „Die Metromanie“ (1738), eine Komödie zum Ausbruch der Verswut bei einem französischen Zeitgenossen, geschrieben in klingenden Versen und dazu von Louis de Boissy „Das trügerischen Äußere oder der Mann des Tages“. In diesem Stück personifiziert die Hauptperson die geistige Frivolität und nichtssagende Höflichkeit der Leute von Welt.69 Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist, dass Grimm sich am Ende seiner Gymnasialzeit imstande sah, französische Literatur ins Deutsche zu übersetzen. Hatte er Privatunterricht in französischer Sprache bekommen? In der Stundentafel seiner Schule lässt sich ein solches Angebot nicht finden.

Grimm bietet auch noch ein eigenes Stück mit dem Titel „Der Schäfer“ an. Er wollte „darinnen vornehmlich zeigen, wie höchst töricht die Menschen beiderlei Geschlechts in ihrem Umgange öfters handeln.“70 Grimm berichtet in seinem Brief an Gottsched vom 30. Juli 1742 über einen Streit, den er mit Georg Heinrich Behr, einem Arzt aus Straßburg bekommen hatte. Es geht um Logogryphen oder Worträtsel.71 Behr hatte in den „Regensburger wöchentlichen Nachrichten von gelehrten Sachen“ mit Logogryphen glänzen wollen, war damit aber bei Grimm auf Ablehnung gestoßen: „Ich habe deßwegen mich in eben diesen Zeitungen darwider gereget, welchesich desto leichter thun konnte, weil ich ordentlich seit einiger Zeit daran arbeite und die italienischen und französischen Artikel darein verfertige. Ich habe sogar selbst eine Logogryphe gemacht, aus keiner andern Absicht, als dem D. Behr zu zeigen, wie schlecht und elend die Kunst sey, wovon er ein so großes Geschrey gemacht hatte. Das Hauptwort von meinem Worträthsel war Logogryphenschmiede. Ich nehme mir die Freyheit dasselbe gedruckt beyzulegen,72 wie wohl der Herausgeber es dort und danach seinem Dünkel verändert hat.“73

Melchior Grimm mit 19 Jahren selbstkritischer aber auch selbstbewusster Stückeschreiber, Theater- und Kunstkritiker, Kommentator in gelehrten Zeitschriften, belesen und sprachbegabt steht am Ende seiner Schulzeit bereit, die Welt zu erobern. Ausgerüstet mit einer klassischen Vorbildung, sind nun die Grundlagen für seine Entwicklung auf den Gebieten der Literaturkritik und Geschichte gelegt. Und schon in Regensburg sammelte er, so muss gesagt werden, einen entscheidenden Teil von Kenntnissen und Erfahrungen, ohne die er später nie in der Lage gewesen wäre, so sicher und schnell in den Gang der literarischen Entwicklung Europas einzugreifen, Zusammenhänge aufzudecken, Nachahmungen, schlechte Kopien und Plagiate zu entlarven. In Leipzig will er die Bühne der gelehrten Welt betreten. Vorher aber muss noch eine Abschiedsrede gehalten werden. Es ist in Regensburg Brauch, dass sich Gymnasiasten, die ihre Schule verlassen, um auf die Universität zu wechseln, sich mit einer wohlgesetzten Rede verabschieden, Grimm macht dies in deutschen Versen. Der Titel der Rede lautet zukunftsweisend: „Das Wachstum der deutschen Dichtkunst und Beredsamkeit in diesem Jahrhundert.“

Studium in Leipzig

„Von 1742 bis 1745 studierte Grimm an der Universität Leipzig Jura, Literatur und Philosophie. Einer seiner Lehrer wurde Johann August Ernesti. Letzterem verdankte er seine kritische Wertschätzung der klassischen Literatur.“ Diese kurze Würdigung von Grimms Studienzeit in Leipzig bei Wikipedia kann uns natürlich nicht zufriedenstellen, dumm nur, dass wir über die Leipziger Zeit von Grimms Seite her so wenig wissen. Aus der kleinen Biografie, die seiner französischen Korrespondenz vorangestellt wird, entnehmen wir, dass er in Leipzig studierte und „sich dort besonders auf Philosophie, Rechtswissenschaften, alte und neuere Literatur legte.“74 Des Weiteren erfahren wir, dass Grimm „eine tüchtige Philologie“ bei dem berühmten Ernesti erwarb. Die Einleitung von Kurt Schnelle zu „Paris zündet die Lichter an“ konkretisiert und hilft weiter: „1742 siedelte Grimm nach Leipzig über und wurde im Oktober an der Universität immatrikuliert. Grimms Lehrer waren Gottsched, der Altphilologe Ernesti und der Historiker und Staatsrechtler Johann Jakob Mascov Grimms Lehrer in Leipzig wurden also die Professoren Gottsched, Ernesti und Mascov. Das war ein sehr erlesener Kreis. In den „Nützlichen Nachrichten von denen Bemühungen derer Gelehrten und anderen Begebenheiten in Leipzig“ lässt sich eine Unmenge von Hinweisen auf die weit über die Universität reichende Wirkung und Tätigkeit der genannten Personen finden. Leipzig war zu Grimms Zeit ein „Mekka der Gesellschaftswissenschaften“.75 Der Herausgeber der „Nützlichen Nachrichten“ stellte in seiner Vorrede von 1739 die Stadt so vor: „Leipzig hat einen Vorzug vor vielen Städten, wegen der berühmten Universität, wegen der preißwürdigen Regierung, wegen der weisen Recht-sprechenden Kollegien, und wegen der florierenden Kaufmannschaft, ja, was noch mehr ist, wegen der reinen Religion.“76 Die Empfehlung von Gottscheds Freund Christian Gabriel Fischer hätte den angehenden Studenten Friedrich Melchior Grimm vermutlich noch mehr gefallen: „Der Ort gefällt mir sehr wol und ist von Agrement, Conversation und ungezwungener Manier zu leben der Beste in gantz Deutschland. Die Université floriet noch wol, sowohl mit guten Professoribus als auserlesenen Studiosis ... Der Societaeten in Leipzig ist eine große Zahl und dieses ist ein artiges Mittel die Gelehrte zu verbinden und zu poliren. Daher ist auch die Conduit der Leipziger Gelehrten in vielen Stücken besser als an andern Orten ... Jedoch darf man nicht denken, daß daselbst lauter Helden entspringen oder anwachsen. Es klebt auch diesem Ort die gewöhnliche Unvollkommenheit dieser Welt an, und fehlet es daselbst sowol als anderwärts an klugen Leuten, die verfallene Studia aufzurichten. Mehr als anderwärts hält man hier auf belles lettres und humanoria, welches die Studia unterhält, die zu Hall und Wittenberg bishero abgefallen. Die Station ist vor Studiosis nicht so theur als die Neben Depences, welche auff Soupiren und Spatziren ergehen. Wer darin sich zu retiriren weiß, findet in Leipzig einen Ort zu studiren, der seinesgleichen nicht hat ...“77

Wie Grimm in Leipzig gelebt hat, wo er wohnte, welche Wirts- und Kaffeehäuser er besucht hat, wie er sich kleidete, mit welchen Studenten er zusammen war, welche Ausflüge er ins Umland von Leipzig machte, darüber wissen wir so gut wie nichts. Anders als Goethe, der in Leipzig sein „Kunstwerk des Lebens“ zu gestalten begann, hat uns Grimm, wie es scheint, über seine Studienzeit fast nichts hinterlassen. Grimms Briefwechsel mit Gottsched deutet aber immerhin darauf hin, dass er auch in den Familienkreis des verehrten Meisters eintreten durfte. Leider haben sich von Grimms wissenschaftlichen Leistungen in Leipzig kaum Spuren erhalten. Ein wichtiges Ereignis aber, an dem auch Grimm beteiligt war, wird in den „Vernüftigen Nachrichten“ von 1743 erwähnt. Aus einem Bericht über die akademische Jubelfeier für Ernst Christoph, Reichsgraf von Manteuffel78 lässt sich entnehmen, dass Grimm eine Rede „in des Herrn Prof. Gottscheds Redner-Gesellschaft“ gehalten hat.79 Im Hause Gottscheds hat Grimm vermutlich auch die Grundlagen für seine spätere Tätigkeit als Musikkritiker erworben, denn hier hatte er reichlich Gelegenheit, sich mit Musik zu beschäftigen. Man darf wohl annehmen, dass Grimm in der Umgebung Gottscheds zu einer ernsthaften Auseinandersetzung mit der Musik angehalten wurde. „Das ergab sich... schon daraus, dass die Professoren der Rhetorik und Poesie für die Universitätsfeierlichkeiten die lateinischen oder deutschen Texte zu liefern hatten, die nach altem Brauch vom Universitätsmusikdirektor vertont wurden.“80

Zur schon erwähnten Jubelfeier für von Manteuffel wurde vom damaligen Musikdirektor Gottlieb Görner, der im Übrigen ewig mit Johann Sebastian Bach im Streit lag, eine Kantate instrumentiert, die am 12. August 1743 „mit Pauken und Trompeten“ aufgeführt wurde. Ein Komponist konnte damals auch kaum an der „Critischen Dichtkunst“ vorübergehen, wie die Musikforscher Walter Seruky und Hans Haase darlegen konnten, denn bei den „redenden“ Künsten konnten junge Musiker Sicherheit in Stil, Form und Ausdruck gewinnen. Wie weit das Vorbild Gottsched auch für die Musik gewirkt hatte, zeigte sich in der Schrift seines Schülers Scheibe, der ab 1737 den „Critischen Musikus“ herausgab. Grimm konnte also im Hause seines Meisters dessen Wirkungen auf Musiker und Musik hautnah erleben und auch ganz praktisch war einiges geboten: die Frau Gottscheds spielte vorzüglich Laute und Klavier und wurde von dem Bachschüler Krebs im Komponieren unterrichtet