Die Kinder sind Könige - Delphine Vigan - E-Book

Die Kinder sind Könige E-Book

Delphine Vigan

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Beschreibung

Wie, fragt sich die ermittelnde Polizeibeamtin Clara, soll man einen Verdächtigen ausmachen bei einem vermissten Kind, das Tausende Menschen kennen und mehrfach täglich sehen? Schnell begreift sie, dass ihre Ermittlungsmethoden in der virtuellen Welt vollkommen nutzlos sind. Einer Welt, von der sie bis zu diesem Fall so gut wie nichts wusste. Ihre Arbeit findet unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, und auch privat ist sie eine zurückgezogene Frau. Schon immer konnte sie mit ihrem Alleinsein umgehen. Mélanie dagegen kann ohne die Aufmerksamkeit ihrer Follower nicht leben. Alles, was sie ist und was sie erreicht hat, verdankt sie dem Netz. Nicht einen Moment kommt ihr der Gedanke, ihre Tochter könnte dieses Leben nicht lieben, könnte sich vielmehr danach sehnen, ein unbekanntes Mädchen zu sein. Den Vorwurf der Ausbeutung ihrer Kinder weist Mélanie verletzt von sich. Und doch wird sie Jahre nach Kimmys Verschwinden genau dessen angeklagt.

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Mélanie war als junges Mädchen ein großer Fan von Formaten wie ›Big Brother‹. Sie hatte stets davon geträumt, gesehen und berühmt zu werden. Jahre später, als Mutter zweier Kinder, ist es ihr gelungen: Sie ist eine erfolgreiche Youtuberin mit Tausenden von Followern. Objekt ihrer Videos und Posts sind ihre Kinder, die auf Schritt und Tritt gefilmt werden. Seit Kurzem kommt ihre kleine Tochter Kimmy dem Filmen jedoch immer unwilliger nach. Mélanie tut das als eine Laune ab. Denn wie könnte man die unendliche Liebe, die ihnen aus dem Netz entgegenkommt, als Last empfinden? Kurz darauf verschwindet Kimmy nach einem Versteckspiel spurlos.

Wie, fragt sich die ermittelnde Polizeibeamtin Clara, soll man einen Verdächtigen ausmachen bei einem vermissten Kind, das Tausende Menschen kennen und mehrfach täglich sehen? Schnell begreift sie, dass ihre Ermittlungsmethoden in der virtuellen Welt vollkommen nutzlos sind. Mit diesem Fall tritt Clara in eine Welt, von der sie so gut wie nichts wusste. Ihre Arbeit findet unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, und auch privat ist sie eine zurückgezogene Frau. Schon immer konnte sie mit ihrem Alleinsein umgehen. Mélanie dagegen kann ohne die Aufmerksamkeit ihrer Follower nicht leben. Alles, was sie ist und was sie erreicht hat, verdankt sie dem Netz. Nicht einen Moment kommt ihr der Gedanke, ihre Tochter könnte dieses Leben nicht lieben, könnte sich vielmehr danach sehnen, ein unbekanntes Mädchen zu sein. Den Vorwurf der Ausbeutung ihrer Kinder weist Mélanie verletzt von sich. Und doch wird sie Jahre nach Kimmys Verschwinden genau dessen angeklagt.

Die Ausbeutung von Kindern im Netz – aktueller kann ein Roman nicht sein!

© Delphine Jouandeau

Delphine de Vigan, geboren 1966, erreichte ihren endgültigen Durchbruch als Schriftstellerin mit dem Roman ›No & ich‹ (2007), für den sie mit dem Prix des Libraires und dem Prix Rotary International 2008 ausgezeichnet wurde. Ihr Roman ›Nach einer wahren Geschichte‹ (DuMont 2016) stand wochenlang auf der Bestsellerliste in Frankreich und erhielt 2015 den Prix Renaudot. Zuletzt erschienen bei DuMont ihre Romane ›Dankbarkeiten‹ (2019) und ›Das Lächeln meiner Mutter‹ (2021). Die Autorin lebt mit ihren Kindern in Paris.

Doris Heinemann, geboren 1957, studierte Romanistik und Germanistik in Köln und Montpellier, arbeitete als Sprachlehrerin, als Übersetzerin im Generalsekretariat des EG-Ministerrats und übersetzt seit 1997Literatur, u.a. von Christian Gailly, Gabriel Chevallier, Theresa Révay, Yann Queffélec, Jean-Claude Derey und Olivier Rolin.

Delphine de Vigan

DIE KINDERSIND KÖNIGE

Roman

Aus dem Französischenvon Doris Heinemann

Zitatnachweise

Stephen King, ›Das Leben und das Schreiben‹, © 2000 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH. Übersetzung: Andrea Fischer

Der Abdruck der Textstelle aus Annie Ernaux, ›Die Jahre‹ [1] erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp Verlags. Annie Ernaux, ›Die Jahre‹. Aus dem Französischen von Sonja Finck. © 2017 Suhrkamp Verlag, Berlin

Die französische Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel ›Les enfants sont rois‹ bei Gallimard, Paris.

© Éditions Gallimard, 2021

eBook 2022

© 2022 für die deutsche Ausgabe: DuMont Buchverlag, Köln

Alle Rechte vorbehalten

Übersetzung: Doris Heinemann

Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln

Umschlagabbildung: plainpicture/Pupa Neumann

Satz: Angelika Kudella, Köln

Gesetzt aus der Minion

eBook-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck

ISBN eBook 978-3-8321-7130-8

www.dumont-buchverlag.de

EINE ANDERE WELT

KRIMINALPOLIZEI – 2019VERMISSTES KIND KIMMY DIORE

Betr.:

Transkription und Auswertung der letzten von Mélanie Claux (verehelichte Diore) geposteten Instagram-Stories

STORY 1

ins Netz gestellt am 10.November um 16:35Uhr

Länge: 65 Sekunden

Das Video wird in einem Schuhgeschäft aufgenommen.

Mélanies Stimme: »Meine Lieben, wir sind jetzt im Run-Shop angekommen und wollen Kimmy neue Sneakers kaufen! Nicht wahr, meine Süße, du brauchst neue Sneakers, weil dir deine alten ein bisschen zu klein geworden sind!(Die Smartphone-Kamera wird auf das kleine Mädchen gerichtet, das erst nach einigen Sekunden wenig überzeugt nickt.)Also, dies sind die drei Paare, die Kimmy sich in Größe 32 ausgesucht hat.(Im Bild erscheinen die drei aufgereihten Paare.)Ich beschreibe sie euch genauer: ein paar Nike Air in Gold aus der neuen Kollektion, ein paar Adidas drei Streifen und ein No-Name-Paar mit roten Zehenkappen … Wir werden uns entscheiden müssen, und wie ihr wisst, hasst Kimmy solche Entscheidungen. Also, meine Lieben, wir verlassen uns ganz auf euch!«

Auf dem Bildschirm legt sich eine Mini-Instagram-Umfrage über das Bild:

Welche soll Kimmy nehmen?

A: die Nike Air

B: die Adidas

C: die Preisgünstigen

Mélanie dreht das Smartphone wieder in ihre Richtung und sagt abschließend: »Zum Glück haben wir euch, meine Lieben, und ihr entscheidet!«

ACHTZEHN JAHRE ZUVOR

Am 5.Juli 2001, dem Tag des Finales von Loft Story, saßen Mélanie Claux, ihre Eltern und ihre Schwester Sandra auf ihren angestammten Plätzen vor dem Fernseher. Seit dem Beginn der mit Big Brother verwandten Show am 26.April hatte sich Familie Claux keine Folge der donnerstags zur Primetime ausgestrahlten Sendung entgehen lassen.

Nachdem sie siebzig Tage an einem von der Außenwelt abgeschlossenen Ort – in einem Fertigbauhaus mit künstlichem Garten und echtem Hühnerstall – verbracht hatten, waren die letzten vier Kandidaten nun, wenige Minuten vor ihrer Befreiung, im großen Wohnzimmer versammelt worden; die beiden Jungs saßen dicht nebeneinander auf dem weißen Sofa, die beiden Mädchen auf den passenden Sesseln rechts und links davon. Der Moderator, dessen Karriere eine ebenso fantastische wie unerwartete Wendung genommen hatte, verkündete aufgeregt, der so sehr herbeigesehnte entscheidende Augenblick sei – endlich – da: »Ich zähle jetzt von zehn aus abwärts, und bei null seid ihr draußen!« Er fragte ein letztes Mal, ob das Publikum bereit sei zum Mitzählen, dann begann er, unterstützt von einem mächtigen und folgsamen Chor, mit dem Countdown »zehn, neun, acht, sieben, sechs, fünf«, die Kandidaten schoben sich mit ihren Koffern zum Ausgang, »vier, drei, zwei eins, null!« Unter Beifallsgeschrei flog die Tür auf.

Jetzt musste der Moderator brüllen, um den Lärm der draußen versammelten Menge und den Tumult des ungeduldigen Publikums zu übertönen, das schon länger als eine Stunde im Studio ausgeharrt hatte. »Sie sind draußen! Sie kommen! Nach siebzig Tagen kehren Laure, Loana, Christophe und Jean-Édouard auf die Erde zurück!« Während die letzten vier Kandidaten über den eigens für sie ausgelegten roten Teppich gingen, wurde mehrmals in der Totalen gezeigt, wie auf dem Dach des Gebäudes, das viele Wochen lang ihr Zuhause gewesen war, ein Feuerwerk abgebrannt wurde.

Ja, sie waren draußen, aber in einem Draußen, das seltsame Ähnlichkeit mit einem Drinnen hatte. Hinter Absperrungen drängte sich eine überreizte Menge, Fotografen versuchten sich zu nähern, ihnen völlig fremde Menschen bettelten um Autogramme, Journalisten hielten ihnen Mikros hin. Manche Leute schwenkten Spruchbänder oder Schilder mit ihren Vornamen, andere filmten sie mit kleinen Kameras. (Handys waren damals noch sehr simple Geräte, die ausschließlich zum Telefonieren taugten.)

Was man ihnen versprochen hatte, war eingetreten. Sie waren binnen weniger Wochen berühmt geworden.

Von Leibwächtern eskortiert, schritten sie durch die Menge ihrer Fans, während der Moderator weiterhin alles genauestens beschrieb, »jetzt sind sie nur noch wenige Meter vom Studio entfernt, Achtung, sie gehen die Treppe hoch«. Dass Bild und Kommentar weitgehend dieselben Informationen lieferten, tat der dramatischen Spannung keinerlei Abbruch, sondern verlieh ihr im Gegenteil plötzlich eine Dimension des Noch-nie-Dagewesenen, Verblüffenden – ein Vorgehen, das einige Jahrzehnte lang in allen Formen durchdekliniert werden sollte. Die Schreie wurden noch lauter, ein schwarzer Vorhang öffnete sich, um sie einzulassen. Als sie das Studio betraten, wo sie von ihren Familien und den neun anderen Kandidaten, die das Spiel entweder freiwillig verlassen hatten oder in den vergangenen Wochen ausgeschlossen worden waren, erwartet wurden, stieg die Spannung weiter an. In der angeheizten Atmosphäre und dem zunehmenden Chaos begann die Menge einen Namen zu skandieren: »Loana! Loana!«

Genau wie das Publikum wünschten ihr auch alle Mitglieder der Familie Claux den Sieg. Mélanie fand sie wunderschön (die korrigierten Brüste, der flache Bauch, die gebräunte Haut), Sandra, die zwei Jahre älter war als Mélanie, war ergriffen von ihrer Einsamkeit und ihrem melancholischen Aussehen. (Loana war anfangs wegen ihrer Kleidung von den anderen Kandidaten ausgegrenzt worden und später, obwohl scheinbar integriert, die Hauptzielscheibe von Gerüchten und Tuscheleien geblieben.) Madame Claux bedauerte zwar, dass Julie, eine sympathische, fröhliche junge Kandidatin, die sie allen anderen bei Weitem vorzog, aus dem Spiel hatte ausscheiden müssen, hatte sich aber dennoch von Loanas in der Boulevardpresse enthüllten Geschichte – die schwierige Kindheit, die in eine Pflegefamilie gegebene kleine Tochter – rühren lassen. Was Mélanies Vater anging, Richard, der hatte sowieso nur Augen für die schöne Blondine. Die Bilder von Loana in Shorts, Minirock, Neckholder oder Badeanzug und ihr resigniertes Lächeln verfolgten ihn bis tief in die Nacht und manchmal sogar bis in den Vormittag des folgenden Tages. Die ganze Familie war einhellig gegen Laure, die sie zu großbürgerlich fanden, und auch gegen Jean-Édouard, dieses dumme, leichtfertige und verwöhnte Kind.

Ein wenig später, als die Fernsehzuschauer die Sieger bestimmt hatten und sich alle an den geheimen Ort begaben, an dem die Feier fortgesetzt werden sollte, verließ ein Korso schwarzer Limousinen, gefolgt von filmenden Motorradfahrern, La Plaine Saint-Denis. Der technische Aufwand wäre einer Tour de France würdig gewesen. Wenn sie bei Rot anhalten mussten, streckte man den Siegern durch die offenen Fenster Mikros hin, um ihre Eindrücke aufzuzeichnen.

»Es erinnert mich an die Wahl von Chirac!« Die Schminke konnte die Erschöpfung des Moderators nicht mehr verbergen.

In der Nähe der Place de l’Étoile bildete sich ein Stau. Aus sämtlichen Seitenstraßen strömte die Menge auf die Avenue de la Grande-Armée, und manche Leute ließen ihr Auto einfach stehen, um näher heranzukommen. Vor dem Eingang der Disco wurden die lofteurs von Hunderten Neugierigen erwartet.

»Alle lieben uns, es ist toll!«, erklärte Christophe, einer der beiden Gewinner, der dort postierten Moderatorin.

Loana, bekleidet mit einem knappen blassrosa Oberteil im Häkel-Look und einer ausgewaschenen Jeans, entstieg dem Wagen. Sie brachte ihren spektakulären Körper auf den hohen Keilabsätzen in die Senkrechte und sah sich um. In ihren Augen entdeckten manche Leute eine Art Abwesenheit. Oder Verblüffung. Oder die Vorboten eines tragischen Geschicks.

Mélanie Claux war damals siebzehn und hatte gerade die letzte Klasse im literarischen Zweig des Lycée Saint-François-d’Assise in La Roche-sur-Yon abgeschlossen. Sie war eher introvertiert und hatte wenig Freunde. Obwohl sie nie wirklich angenommen hatte, ihre Zukunft könne, wie auch immer, mit der ungewissen Fortsetzung ihrer Ausbildung zusammenhängen, war sie fleißig und erzielte ordentliche Noten. Mehr als alles andere liebte sie das Fernsehen. Denn das Gefühl einer Leere, das sie empfand, ohne es beschreiben zu können, vielleicht eine Art Unruhe oder die Angst, ihr Leben entgleite ihr, ein Gefühl, das sich manchmal in ihrem Bauch bildete wie ein enger, aber bodenloser Brunnenschacht, ließ nur nach, wenn sie sich vor den Fernseher setzte.

In einigen Hundert Kilometern Entfernung, in Bagneux in der Pariser Banlieue, schaute sich Clara Roussel, allein und im Geheimen, das Finale von Loft an. Sie war damals in der zehnten Klasse. Ihre Begabung und das sehr mittelmäßige Niveau ihres Gymnasiums ermöglichten es ihr, relativ gute Noten zu bekommen, obwohl sie zu Hause absolut nichts für die Schule tat. Sie interessierte sich vor allem für Jungs, besonders für solche mit kurzem, blondem Haar – eine Nische, in der sie mit weniger Konkurrenz rechnete, denn düstere Dunkelhaarige lagen eindeutig im Trend. Ihre für ihr Alter ungewöhnliche Ausdrucksweise – sie wurde oft wegen ihres ausgesuchten Vokabulars und ihrer Neigung zum Bau komplizierter Sätze geneckt – erwies sich als Trumpf in Sachen Verführung. Ihre Eltern, ein Lehrerehepaar, das sich politisch und lokalpolitisch stark engagierte, gehörte seit dessen Gründung zum Kollektiv »Souriez, vous êtes filmés«, Bitte lächeln, Sie werden gefilmt, einer Organisation von Menschen, die nicht in einer von repressiver Technologie geprägten Gesellschaft untergehen wollten und jede Form von Videoüberwachung aktiv bekämpften. Dieses Kollektiv hatte die Fernsehzuschauer dazu aufgerufen, die Sendung zu boykottieren und – bei einer Demonstration einige Wochen vor dem Loft-Finale – ihre Mülleimer vor dem Firmensitz des Senders M6 auszuleeren. An jenem Tag war mit Eiern, Joghurts, Tomaten und sehr viel Abfall geworfen worden. Natürlich hatten sich Claras Eltern an dieser Aktion beteiligt, und danach noch an einer anderen großen Veranstaltung, die von Zaléa TV geleitet wurde, einem alternativen Sender, der Anfang des 21.Jahrhunderts auf völlig neue Art mit freiem Fernsehen experimentierte. Nicht weniger als zweihundertfünfzig Demonstranten war es gelungen, sich dem Loft zu nähern, um die Kandidaten zu befreien. Sie hatten sogar schon eine erste Schutzwand überwunden. Philippe, Claras Vater, war in einem kurzen Bericht in den Nachrichten in France 2 aufgetaucht.

»Das Rote Kreuz hat Zutritt zu Gefangenenlagern, wir verlangen das gleiche Recht! Sie sind unterernährt, erschöpft, dem Scheinwerferlicht ausgesetzt und ständig in Tränen aufgelöst, lasst die Geiseln frei!«, hatte er in das Mikro eines Journalisten gesagt.

»Lasst die Hühner frei«, hatten alle im Chor gerufen, während eine Kette von Polizisten sie am weiteren Vordringen hinderte.

Claras Eltern, die am Abend des Finales an einer Versammlung des Kollektivs zu dem Thema »In welcher Gesellschaft wollen wir leben?« teilnahmen, wären also wenig erbaut davon gewesen, dass ihre gerade einmal fünfzehnjährige Tochter ihre Abwesenheit nutzte, um sich aufs Sofa zu fläzen und diese teuflische Sendung zu sehen, dieses eindeutige Krankheitssymptom einer Welt, in der alles zur Ware geworden war und die vom Kult ums Ego regiert wurde.

Elf Millionen Zuschauer verfolgten an jenem Abend das Finale von Loft Story. Noch nie hatte eine Fernsehsendung derart leidenschaftliches Interesse erregt. Die Printmedien hatten das Auftauchen dieses Formats in Frankreich zunächst ausführlich kommentiert und sich dann im Laufe der Enthüllungen und dramatischen Wendungen mit in dieses Spiel ziehen lassen und ihm Platz auf den Titelseiten, in Kommentaren und Debatten eingeräumt. Über Wochen hinweg hatten Soziologen, Anthropologen, Psychologen, Psychiater, Psychoanalytiker, Journalisten, Leitartikler, Schriftsteller und Essayisten die Sendung und ihren Erfolg minutiös analysiert.

»Es wird ein Vorher und ein Nachher geben«, hieß es hier und da.

Sie wollten ins Fernsehen kommen, um bekannt zu werden. Jetzt waren sie bekannt, weil sie im Fernsehen gewesen waren. Sie würden für immer die Ersten sein. Die Pioniere.

Noch zwanzig Jahre später würden Kult-Momente – beispielsweise die berühmte sogenannte »Schwimmbadszene« mit Loana und Jean-Édouard oder der Einzug der Kandidaten in das Haus sowie das gesamte Finale – auf YouTube aufrufbar sein. Der allererste Kommentar eines Internetnutzers zu einem dieser Videos klang wie ein Orakel: »Die Epoche, in der die Tore zur Hölle aufgetan wurden.«

Vielleicht war es tatsächlich so, dass alles während dieser wenigen Wochen begonnen hatte. Diese Durchlässigkeit des Bildschirms. Dieser nun mögliche Übergang vom Sehen zum Gesehenwerden. Dieses Gesehen-, Erkannt- und Bewundertwerden-Wollen. Dieser Gedanke, es sei für alle und für jeden erreichbar. Man musste nichts herstellen, schaffen oder erfinden, um ein Recht auf seine »fünfzehn Minuten Ruhm« zu haben. Es reichte, wenn man sich zeigte und im Mittelpunkt oder vor dem Objektiv blieb.

Das Aufkommen neuer Medien würde dieses Phänomen bald vorantreiben. Von nun an existierte jeder durch die exponentiell wachsende Anzahl seiner eigenen Spuren in Form von Bildern oder Kommentaren, Spuren, die, wie sich bald erweisen sollte, nicht mehr zu löschen waren. Internet und soziale Netzwerke waren allen zugänglich, sie würden bald an die Stelle des Fernsehens treten und sehr viel mehr Möglichkeiten bieten. Sich zeigen, draußen und drinnen und bis ins kleinste Detail. Leben, um gesehen zu werden, oder vertretungsweise leben. Reality-TV und seine unterschiedlichsten Arten des Protokollierens würden sich nach und nach auf zahlreiche Gebiete ausweiten und für lange Zeit deren Codes, Vokabular und Narrative bestimmen.

Ja, damals hat alles angefangen.

Wenn Mélanies Mutter mit ihrer Tochter sprach, fing sie ihre Sätze gewöhnlich mit einem »Du« an, das es ihr ersparte, ihre eigenen Gefühle klar auszudrücken, und das sofort von einer Verneinung gefolgt wurde. Du tust nie etwas, du änderst dich auch nie, du hast mir nichts davon gesagt, du hast die Spülmaschine nicht ausgeräumt, du wirst doch so nicht aus dem Haus gehen wollen. »Du« und ein »nicht« oder »nie« waren unzertrennlich. Als Mélanie sich nach einem nicht sonderlich gut, aber doch auf Anhieb bestandenen Abitur zu einem Englischstudium entschloss, sagte ihre Mutter: »Du glaubst doch nicht, dass wir dir zehn Jahre Studium bezahlen?« Studieren, Karriere machen, das war etwas für Jungs (Madame Claux hatte zu ihrem großen Leidwesen keinen Sohn), Mädchen sollten sich vor allem darum kümmern, einen guten Mann zu finden. Sie selbst hatte sich ganz der Erziehung ihrer Töchter gewidmet und verstand überhaupt nicht, dass Mélanie weggehen wollte, eine Entscheidung, hinter der sie so etwas wie Snobismus witterte. »Pass auf, man sollte sich hüten, zu große Töne zu spucken«, fügte sie hinzu und ließ dabei ausnahmsweise die »Du«-Regel außer Acht. Trotz dieser Warnung packte Mélanie nach ihrem Abitur die Koffer und zog nach Paris. Anfangs wohnte sie im VII.Arrondissement in einer Mansarde mit Toilette und Waschbecken auf dem Flur, wofür sie an vier Abenden pro Woche auf die Kinder der Vermieter aufpasste, dann mietete sie ein winziges Apartment im XV.Arrondissement. (Sie hatte einen Job in einem Reisebüro gefunden, und ihr Vater schickte ihr jeden Monat 200Euro.)

Wie es dazu gekommen war, dass sie das Studium aufgab und Vollzeit im Reisebüro zu arbeiten begann, hätte sie nicht zu sagen gewusst, höchstens, dass ihr manchmal alles, ob Erfolg oder Scheitern, vorherbestimmt zu sein schien und dass sie kein Zeichen erhalten hatte, das für eine Fortsetzung des Studiums gesprochen hätte: Ihre Noten waren in Ordnung, aber andere Studenten sprachen bereits akzentfrei und schrieben makellose englische Texte. Vor allem aber sah sie, wenn sie sich vom present continuous in die Zukunft zu projizieren versuchte, nichts. Gar nichts. Als im Reisebüro eine Stelle frei wurde, bot ihr die Zweigstellenleiterin diesen Posten als Assistentin an, bei dem es sowohl um menschliche als auch um administrative Aspekte ging, und Mélanie sagte Ja. Die Tage vergingen schnell, und sie hatte das Gefühl, am rechten Platz zu sein. Abends kehrte sie in ihr kleines Apartment in der Rue Violet zurück, das sie inzwischen allein finanzierte, machte sich ein Essenstablett zurecht und sah sich sämtliche Reality-TV-Sendungen an. Mit Abstand am liebsten waren ihr L’Île de la tentation, obwohl ihr diese Insel der Versuchung ein bisschen zu unmoralisch war, und die romantischere Show Bachelor. An den Wochenenden ging sie mit ihrer Freundin Jess aus, die sie auf dem Collège kennengelernt hatte und die ebenfalls nach Paris gezogen war, und trank mit ihr Bier in einer Bar oder Wodka-Orange in einer Disco.

Einige Jahre später machte das Reisebüro, das Mélanie den Einstieg ins Berufsleben ermöglicht hatte, wegen der zunehmenden Online-Buchungen eine schwierige Phase durch und stand kurz vor dem Konkurs.

Als Mélanie sich eines Abends durch eine auf die Rekrutierung von Reality-TV-Kandidaten spezialisierte Website klickte (sie hatte sich nämlich im Laufe der Zeit auf mehrere Anzeigen hin beworben, war aber nie angefragt worden), stieß sie auf ein neues Angebot. Man musste bloß zwischen zwanzig und dreißig Jahre alt und Single sein und die üblicherweise verlangten beiden Fotos schicken: ein Porträt und eine Ganzkörperaufnahme, möglichst im Body oder Bikini. Nun ja, dachte sie, ein paar Tage Hoffnung, ein paar Tage seliges Träumen, allein dafür lohnte es schon. In der Woche darauf wurde sie kontaktiert. Eine junge Stimme, der sie erst nach mehreren Minuten ein Geschlecht zuordnen konnte, stellte ihr etwa zwanzig Fragen nach ihren Vorlieben, ihrem Aussehen und ihren Beweggründen. Über einige wenige Details log sie und gab sich insgesamt kesser, als sie war. Sie musste originell wirken, wenn sie eine Chance haben wollte. Sie bekam einen Vorstellungstermin in der darauffolgenden Woche.

Als es so weit war, brauchte sie länger als eine Stunde, um die passende Kleidung auszusuchen. Ihr war bewusst, dass sie einen Stil zeigen musste, einen zugleich erkennbaren und beeindruckenden Stil, der auf den ersten Blick einen wichtigen Aspekt ihrer Persönlichkeit betonte. Das Problem war nur, dass sie sich jeden Tag ziemlich gleich anzog – Jeans, Bluse, Pulli – und dass sie bei genauerem Nachdenken nicht sicher war, irgendeine Persönlichkeit zu haben, die sie hätte zeigen können.

Mélanie Claux träumte davon, ein strahlender, eindrucksvoller Mensch zu sein; doch sie blieb diese verschlossene, zurückhaltend wirkende Frau, die sie verabscheute.

Schließlich entschied sie sich für ihre engste Hose (trotz des elastischen Stoffs musste sie sich auf den Boden legen, um den Reißverschluss hochzuziehen) und ein Werbe-T-Shirt von Nestlé (in diesem Unternehmen war ihr Vater gerade zum leitenden Angestellten ernannt worden), das sie unterhalb der Brust abschnitt, sodass das Logo verschwand. Dann zog sie Turnschuhe an und betrachtete sich im Spiegel. Mit der Schere war sie ein wenig zu forsch ans Werk gegangen: Es war ziemlich viel von ihrem BH zu sehen, aber das ergab unleugbar einen Stil. Sie war für achtzehn Uhr bestellt worden. Um sicher zu sein, dass sie nicht zu spät kam, hatte sie sich den Nachmittag freigenommen.

Sie kam fünf Minuten vor der Zeit in der Verwaltung der Produktionsgesellschaft an. Ihre Fingernägel waren hellrosa lackiert, und ihr Make-up – nur ganz wenig Rouge und ganz leicht getuschte Wimpern – ließ sie jugendlich wirken. Sie wurde in einen rechteckigen großen Raum gebracht, in dem eine Kamera auf einem Stativ und ein Hocker standen. Der junge Mann, der sie wortlos durch ein Labyrinth von Gängen geführt hatte, ließ sie allein. Mélanie wartete. Es vergingen einige Minuten, dann eine Viertelstunde, dann eine halbe Stunde. Da sie sicher war, dass sie heimlich von der Kamera gefilmt wurde, erlaubte sie sich nicht das kleinste Zeichen von Ungeduld oder Verärgerung. Geduld war ganz sicher eine der Eigenschaften, die von einem guten Kandidaten für eine Reality-TV-Show verlangt wurden, also wartete sie weiter, völlig sicher, dass es sich um eine Art Test handle.

Nach einer Stunde platzte eine wütende Frau in den Raum.

»Konnten Sie denn nicht sagen, dass Sie da sind? Ich kann das doch nicht erraten, wenn mir niemand Bescheid sagt!«

»Ich … Tut mir leid. Ich dachte, Sie … wüssten es …«

Wenn sich Mélanie aufregte, bekam sie plötzlich nur noch sehr wenig Luft, sodass ihre Stimme ganz leise wurde.

Die Frau wurde freundlicher.

»Sie müssen mehr Lärm machen, wenn Sie gehört werden wollen. Wie alt sind Sie?«

»Sechsundzwanzig«, antwortete Mélanie kaum lauter.

Die Frau bat sie, sich vor die Kamera zu stellen. Von vorn, dann im Profil, danach mit dem Rücken zur Kamera, dann wieder im Profil. Sie forderte sie auf, zu gehen. Zu lachen und sich ins Haar zu greifen. Sie stellte ihr eine ganze Reihe von Fragen – wie viel sie wiege, welche guten Eigenschaften sie habe, was ihr an ihrem Aussehen besonders gefalle, was sie im Gegenteil an sich hasse, was ihr am häufigsten vorgeworfen werde, ob sie Komplexe habe, wie ihr Idealmann beschaffen sei, ob sie imstande sei, aus Liebe ihren Look, ihre Haltung oder ihren Körper zu verändern –, die Mélanie so gut wie irgend möglich zu beantworten versuchte. Sie finde sich ein bisschen zu mollig, aber ansonsten okay, sie sei direkt und eher fröhlich, sie erträume sich die große Liebe mit einem zärtlichen und zugewandten Mann, sie wolle Kinder, mindestens zwei, ja, aus Liebe sei sie zu vielem fähig, aber nicht zu allem.

Die Frau zeigte zwar ihre Gereiztheit, beendete das Gespräch jedoch nicht. Sie war von Alexia Laroche-Joubert geschult worden, einer der führenden Reality-TV-Produzentinnen in Frankreich, die immer gesagt hatte: »Ein guter Kandidat verführt Sie oder geht Ihnen auf die Nerven, aber wenn er Sie ankotzt, lassen Sie’s sein.« Und Mélanie tötete ihr wirklich den Nerv. Vielleicht lag es an der piepsigen Stimme, die in der Aufregung schrill wurde, oder auch an den großen Augen, die durchaus Ähnlichkeit mit denen von Kühen in Zeichentrickfilmen hatten. Schon lange begnügten sich die sogenannten Container-Shows nicht mehr damit, rund um die Uhr die abgrundtiefe Langeweile einer Gruppe junger Versuchskaninchen zu filmen. Dem Grundprinzip des Zurschaustellens mussten weitere Zutaten hinzugefügt werden: vorgeschriebene Skripte, Enthemmungen, übersteigerte Sexualität. Die Körper hatten sich mit den – echten oder angenommenen – Vornamen verändert. Dylan, Carmelo, Kellya, Kris, Beverly und Shana hatten Christophe, Philippe, Laure und Julie ersetzt.

Mehrmals dachte die Casterin daran, das Gespräch einfach abzubrechen. Sie war nicht auf der Suche nach einem wohlerzogenen jungen Mädchen. Sie brauchte trashige, karikaturistische Leute, Lügen und Manipulation. Sie brauchte Gegensätze und Rivalitäten, die Fähigkeit zu treffenden Bemerkungen, die später beim Zappen immer wiederholt werden würden. Aber sie setzte das Gespräch fort. Ihr schoss der Gedanke durch den Kopf, dass sie eine weit gefährlichere Kandidatin vor sich habe, als man meinen könnte. Sollte sich etwa hinter dieser trügerischen Banalität der brutalste, wildeste und blindeste Ehrgeiz verbergen, den sie je erlebt hatte? Umso gefährlicher, als er völlig verborgen war? Dann löste sich dieser Gedanke auf, und sie sah wieder Mélanie Claux vor sich, eine etwas unscheinbare junge Frau, die von einem Fuß auf den anderen trat und nicht wusste, wohin mit ihren Händen.

Ein gutes Casting für eine Reality-TV-Show verlangte immer die gleichen Zutaten, die von den Profis so zusammengefasst wurden: eine Giftnudel + eine typische Blondine + ein Witzbold + ein hübscher Junge + ein kleiner Gockel. Dennoch zeigte die Erfahrung, dass auch eine weniger ausgeprägte Persönlichkeit nützlich sein konnte. Ein Sündenbock, ein Vermittler, eine dumme Gans oder ein Einfaltspinsel waren immer zu gebrauchen. Doch selbst für solche Rollen schien Mélanie allenfalls zweite Wahl zu sein.

Mit rotem Stift schrieb sie auf den vor ihr liegenden Block:

Miss Lambda. Antw.: Nein, danke.

»Wir rufen Sie an«, sagte sie fest und ging schon auf die Tür zu.

Mélanie holte ihre Handtasche, die sie auf dem Stuhl abgestellt hatte, und folgte ihr. Als sie die Arme hob, um ihre Jacke überzuziehen, schienen ihre Brüste, deren Üppigkeit der Casterin auf den ersten Blick aufgefallen war, aus dem T-Shirt zu wogen. Mélanie hatte wirklich sehr große Brüste, echte, geschmeidige und scheinbar weiche, die der rosa Spitzen-BH kaum halten zu können schien. Von einem Zweifel oder auch einer Intuition erfasst, hob sie die Hand, als das junge Mädchen gerade brav den Raum verlassen wollte.

»Sag mal, Mélanie, mit wie vielen Jungs bist du gegangen?«

»Was verstehen Sie unter gegangen?«, fragte Mélanie, der klar war, dass sie ihre letzte Karte ausspielte.

»Gut, ich werde deutlicher.« Die Casterin seufzte. »Mit wie vielen Jungs hast du geschlafen?«

Es folgte sekundenlange Stille, dann sah ihr Mélanie in die Augen.

»Mit keinem.«

Nachdem Mélanie gegangen war, schrieb die Casterin in Rot unter ihr Foto:

26Jahre.JUNGFRAU.

Sie unterstrich es drei Mal.

KRIMINALPOLIZEI – 2019 VERMISSTES KIND KIMMY DIORE

Betr.:

Transkription und Auswertung der letzten von Mélanie Claux (verehelichte Diore) geposteten Instagram-Stories

STORY 2

ins Netz gestellt am 10.November um 16:55Uhr

Länge: 38 Sekunden

Mélanie Claux sitzt in ihrem Wagen. Sie hält das Handy weit von sich weg und spricht in die Kamera. Oben links im Bild ist der Name des Filters zu sehen (»Rehaugen«).

Dann richtet sie das Handy auf ihre Kinder, die beide hinten im Fahrzeug sitzen. Sammy lächelt der Kamera zu, Kimmy lutscht am Daumen und streichelt sich die Nase mit einem Stoffkamel. Das Mädchen ignoriert das auf sie gehaltene Handy und lächelt nicht.

Mélanie: »Hallo, meine Lieben, tausend Dank! Ihr wart sehr, sehr viele, die abgestimmt haben, um uns zu helfen, und ihr habt für Kimmy die goldenen Nike Air ausgesucht! Natürlich sind wir wie immer eurem Rat gefolgt und haben genau die gekauft! Sie sind ein-fach-toll! Vielen Dank für eure Hilfe und eure Beteiligung. Gleich werde ich Bilder teilen, damit ihr sie an ihren Füßen sehen könnt. Sie stehen ihr ganz wunderbar!!!

Jetzt fahren wir nach Hause! Aber wir vergessen euch nicht! Bis ganz bald, meine Lieben!«

Clara Roussel war gerade dabei, an der Sorbonne ihre Licence in Jura abzuschließen, als sie beschloss, am nationalen Ausschreibungsverfahren für die Polizei teilzunehmen. Sie war vierundzwanzig Jahre alt. Sie vermochte nicht zu erklären, wie sie eines Morgens auf diesen Gedanken gekommen war, da es an den vorangegangenen Tagen keinerlei Vorzeichen für eine solche Wende in ihrem Leben gegeben hatte. Allenfalls konnte sie ein Bedürfnis nach Gerechtigkeit anführen, den Wunsch, sich nützlich zu fühlen, das Ideal, die Bürger zu schützen und zu verteidigen, alles banale Argumente, die in Wahrheit nur Vorwände waren. Denn sie konnte nicht, wie sie es später ohne jeden Skrupel und ohne jede Verlegenheit tun würde, sagen: Ich will das Blut, den Schrecken und das Böse von möglichst Nahem sehen. Dabei hatte sie nur wenige Kriminalromane gelesen (einmal abgesehen von ein paar Agatha Christies in einem verregneten Sommer in der Bretagne) und sah sich keine einzige einschlägige Serie an. Sie war bereits im Jugendlichenalter, als ihre Eltern einwilligten, einen Fernseher anzuschaffen, der jedoch nur für Dokumentationen und politische Sendungen angeschaltet werden durfte. Dennoch waren es zwei Filme – sie hatte sie im Kino gesehen –, die ihre Vorstellungskraft besonders bewegt hatten: Serpico von Sidney Lumet (für ihren Vater einer seiner Kultfilme) und Der Bulle von Paris von Maurice Pialat. (Ihr damaliger Freund war gerade an der Filmhochschule angenommen worden und wollte ihr das französische Kino nahebringen.)

Nach dem zweiten Studienjahr hatte Clara die elterliche Wohnung verlassen und war in eine Wohngemeinschaft im XIII.Arrondissement, ganz in der Nähe der Porte de Gentilly, gezogen. Die Miete war nicht hoch, und die Wohnung bereits möbliert. Sie waren zu dritt. Die beiden anderen waren offiziell ein Paar, was ihr jedoch wenig glaubwürdig schien: Nicht nur waren sie völlig gegensätzlich, es bestand auch nicht die geringste erotische Spannung zwischen ihnen. Mit Grund. Clara entdeckte bald, was man in ihrer Familie mit erklärter Freude an der Ironie »das große Geheimnis« nannte, dass nämlich beide eine echte Liebesbeziehung zu einem Menschen ihres eigenen Geschlechts unterhielten und ihr Zweckbündnis nur dazu diente, die etwas engstirnigen Eltern zu täuschen. Claras Eltern hingegen hätten kein Problem damit gehabt, wenn ihre Tochter lesbisch gewesen wäre, was jedoch nicht der Fall war. Aber sie hielten es zunächst für einen schlechten Witz, als Clara ihnen mitteilte, sie wolle am nationalen Auswahlverfahren für die Polizei teilnehmen.

»Bei der ersten Prüfung müssen wir einen Aufsatz schreiben, es geht um Allgemeinbildung«, fuhr Clara fort, nachdem sie ihnen erklärt hatte, dass das externe Auswahlverfahren für Polizeioffiziere Bewerbern vorbehalten war, die mindestens die Licence oder einen gleichwertigen Hochschulabschluss hatten. Wenn sie die Prüfung bestehe, würde sie unmittelbar nach dem Auswahlverfahren ihr Studium an der Polizeihochschule aufnehmen.

Angesichts dieser Details und des Tons seiner Tochter, der den zunächst vermuteten nachpubertären Scherz ausschloss, musste sich Claras Vater erst einmal setzen. Einige Minuten lang bekam er kaum Luft, und Clara dachte an den Ausdruck »Da bleibt einem die Luft weg«, den er häufig gebrauchte. Ihre Mutter, der die Hände zitterten, wich ihrem Blick aus.

»Darf man im Internet alles sagen?« war das Thema im Bereich Allgemeinbildung, das den Bewerbern in jenem Jahr gestellt wurde. Danach musste Clara in einer Prüfung anhand vorliegender behördlicher Akten einen praktischen Fall lösen, dann auf einem Fragebogen über allgemeines Verwaltungsrecht und über Bürgerrechte gegenüber dem Staat sowie auf einem weiteren Fragebogen zum Allgemeinwissen kurze Antworten geben und schließlich eine letzte Zugangsprüfung in Strafprozessrecht absolvieren. Danach wurde sie zu den Tests der körperlichen Eignung einbestellt: einem kardiorespiratorischen Ausdauertest und einem Sporttest zur Feststellung der motorischen Fähigkeiten. Ersteren bestand sie, Letzterer hinterließ bei ihr gemischte Gefühle. Clara war von kleiner Statur. »Ein süßer kleiner Temperamentsbolzen«, pflegte ihr Onkel Dédé zu sagen und brachte sie mit diesem Ausdruck jedes Mal in Wut. Als Kind hatte sie alle möglichen medizinischen Untersuchungen über sich ergehen lassen müssen, weil man herausfinden wollte, warum sie so klein war. Einige Monate lang war sogar von einer Behandlung mit Wachstumshormonen die Rede gewesen, doch dann hatten Réjane und Philippe in Absprache mit ihrer Tochter beschlossen, der Natur ihren Lauf zu lassen. Als sie erwachsen war, hatte Clara einen Meter vierundfünfzig erreicht. Sie war klein, aber bestens proportioniert. Sie war gelenkig und sportlich, verfügte über einige Ausdauer und hatte keine Angst vor der Prüfung. Doch an jenem Tag verlor sie nach einem vielversprechenden Anfang unter dem Blick von Commandant M.– einem blonden Mann in den Vierzigern, dessen gutes Aussehen und Anziehungskraft ihr nicht entgangen waren – auf dem Schwebebalken das Gleichgewicht, stürzte, stieg wieder auf und lief dann sehr rasch in die falsche Richtung.

In der Turnhalle wurde gelacht, und jemand sagte laut und ironisch: »Hier geht’s zum Ausgang.« Clara blieb stehen und nahm sich einige Sekunden Zeit, um ihre Atmung zu beruhigen. Sie sah dem Hauptkommissar in die Augen und versuchte aus seinem Gesicht herauszulesen, ob sie weitermachen durfte. Doch sein Gesichtsausdruck war nicht zu deuten. Stolz und schweigend setzte sie die Übung fort.

Als Clara nach Hause ging, überlegte sie, dass sie zwar keine allen Widrigkeiten trotzende motorische Geschicklichkeit an den Tag gelegt hatte, aber eine nicht zu leugnende Widerstandsfähigkeit gegenüber dem Gefühl der Lächerlichkeit, was bei der Polizei vermutlich nützlich sein konnte.

Eines Morgens um neun Uhr hatte Mélanie den Anruf bekommen. Man hatte sie für die allererste Staffel von Rendez-vous dans le noir angenommen! Sie war für dieses Rendezvous im Dunkeln für gut befunden, auserwählt, erkoren worden. Sie hüpfte vor Freude und sagte immer wieder »Ich fass es nicht! Ich fass es nicht!«, dann wurde ihr mit einem Mal furchtbar übel, und sie musste sich auf den Bauch legen. Danach rief sie ihre Mutter an, die zunächst glaubte, Mélanie habe sich das nur ausgedacht, und dann sagte: »Aber du setzt dir jetzt nicht irgendwelche Flausen in den Kopf!« Etwas später musste sie einen Antrag auf unbezahlten Urlaub ausfüllen, weil die Dreharbeiten mitten in der Woche stattfanden. Es war kein idealer Zeitpunkt, aber ihre Chefin hatte eingewilligt.

Als es so weit war, brachte sie ein für die Betreuung der Kandidaten zuständiger Assistent im Wagen nach Chambourcy, wo sich das für die Produktion gemietete Haus befand.

Es gibt auf Wikipedia noch einen Eintrag über die Show:

»Rendez-vous dans le noir ist eine auf TF1 vom 16.April 2010 bis zum 11.April 2014 (drei Staffeln) ausgestrahlte Sendung.«

Das Grundschema der Sendung wird dort knapp beschrieben:

»Werden sie die Liebe finden? Drei Frauen und drei Männer, alle ungebunden, werden in einem großen Haus versammelt, die Männer auf der einen Seite, die Frauen auf der anderen. Der einzige gemeinsame Raum ist ein mit Infrarotkameras ausgestattetes unbeleuchtetes Zimmer, in das sie gerufen werden, damit sie sich in völliger Dunkelheit kennenlernen. Dabei suchen sie sich einen Partner aus, mit dem sie sich danach zu zweit in dem dunklen Zimmer treffen. Am Ende der Sendung sehen sie die/den Auserwählte(n) zum ersten Mal bei Licht und müssen dann entscheiden, ob sie die Beziehung fortsetzen wollen oder nicht.

Wegen enttäuschender Zuschauerzahlen wurde die Sendung durch Qui veut épouser mon fils?, Wer will meinen Sohn heiraten?, ersetzt.«

Von den drei jungen Frauen kam Mélanie als Erste an. Im Kleiderschrank zeigte ein Etikett mit ihrem Vornamen, wo ihr Teil des Schrankes war, und sie räumte ihre Sachen an den zugewiesenen Platz. Sie hatte ihre auffälligsten Kleidungsstücke mitgenommen, obwohl man sie informiert hatte, dass die Produktionsgesellschaft ihr zu ihrem Stil und ihrer Persönlichkeit passende Kleidung zur Verfügung stellen werde, wenn man es für nötig halte. Ein anderer Kandidatenbetreuer steckte den Kopf durch die Tür und fragte, ob sie irgendetwas brauche, was sie verneinte, obwohl sie ausgehungert, verängstigt und völlig durchgefroren war (der Regisseur hatte vergessen, den Stecker des elektrischen Heizkörpers einzustecken). Er bat sie, ins Wohnzimmer zu gehen, weil die beiden anderen Kandidatinnen bald ankommen würden. Sie würde jetzt auf ihre Rivalinnen treffen. Natürlich würde man ihre jeweiligen Reaktionen filmen, während sie sich kennenlernten. Als sie auf dem rosa bezogenen großen Sofa saß, dachte Mélanie an Loana. Aber diesmal war sie es, Mélanie Claux, die vor der Kamera und auf der richtigen Seite des Bildschirms sein würde. Sie war es, die im Mittelpunkt stehen, bald von Millionen von Fernsehzuschauern gesehen, auf der Straße erkannt, verfolgt und angehimmelt werden würde. Sie wurde von ihren Gefühlen fast überwältigt, einige Momente lang sah sie sich aus einer Luxuslimousine aussteigen, während die Flut der mit Fotos und Heften ausgerüsteten und auf ein Autogramm hoffenden Fans anbrandete; sie konnte diese Woge der Liebe und Bewunderung und ihre Freude darüber körperlich spüren – ein Zustand der Gnade, eine endlich gefüllte seit Langem klaffende Leere –, doch Mélanie, die merkte, dass ihre Träumerei zu weit ging und in ihrem Hirn ein mächtiges Suchtmolekül freizusetzen begann, wischte diese Vision sehr schnell beiseite.

Durch die bodentiefen Fenster sah sie eine blonde junge Frau, die einen großen Koffer hinter sich herzog, auf die Haustür zugehen. Sekundenlang konnte sie den Blick nicht von ihren Beinen lösen, endlose, schlanke und leicht gebräunte Beine, die von mindestens zehn Zentimeter hohen Absätzen noch verlängert wurden. Mélanie spürte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich und zu den Füßen floss. Es versprach ein harter Konkurrenzkampf zu werden. Savane trat ins Wohnzimmer und warf ihr einen Gruß zu, dessen arroganter Ton verriet, wie sehr ihr bewusst war, dass sie das männliche Fantasma verkörperte: eine sinnliche, erotische Überlegenheit, mit der nur wenige Frauen mithalten konnten. Sie trug eine Corsage mit Leopardenmuster und einen Minirock – man könnte auch sagen, einen Gürtel, dachte Mélanie – aus schwarzem Leder. Mélanie konnte ihre Angst kaum verbergen und ballte die Fäuste. Sie kaute schon seit Jahren nicht mehr an den Nägeln, aber manchmal überfiel sie, geradezu zwanghaft, die Lust dazu. Sie küssten sich auf die Wangen und tauschten unter den gierigen Kameraaugen Banalitäten aus. Die Reality-Shows verzichteten schon seit Langem auf Liveübertragungen, denen es einfach stark an dramatischer Spannung fehlte, dennoch wussten beide, dass jede Geste, jedes Wort beim Schnitt berücksichtigt werden konnte. Dann kam die dritte Kandidatin, ebenso brünett wie Savane blond war – und genauso vulgär, dachte Mélanie, die nichtsdestotrotz fasziniert war von ihrer Frisur (langes, glattes, glänzendes ebenholzschwarzes Haar) und ihren Jeansshorts, deren ausgefranster Stoff den unteren Teil der Pobacken erahnen ließ. Auch sie war schön, besaß diese überaus attraktive, sexuelle Schönheit, die Mélanie nie erlangen würde; mehr als um alles andere beneidete sie sie um diese Macht, andere in ihren Bann zu schlagen.

Nachdem sie sich miteinander bekannt gemacht hatten, wurden sie gebeten, ihre sexysten Kleidungsstücke anzuziehen und sich in die Maske zu begeben. Danach sollten sie ins Wohnzimmer zurückkehren. Mélanie fand auf ihrem Bett ein rückenloses Oberteil und einen kurzen Rock vor und zog beides an, ohne lange darüber nachzudenken. Dann übernahm es die Maskenbildnerin, sie frischer und gesünder aussehen zu lassen. Mélanie fand zwar, dass sehr viel Fond de teint aufgetragen wurde, doch der Betreuer beruhigte sie freundlich: Die Maskenbildnerinnen verstünden ihr Handwerk. Ein Friseur ging mit dem Glätteisen über ihr Haar und war entzückt von ihrer Haarfarbe: Einen so intensiven Kastanienton habe er selten gesehen. Es war draußen schon dunkel, als sie sich im Spiegel anschaute. Mélanie hatte das Gefühl, eine andere Version ihrer selbst zu sehen. Eine vergrößerte, raffiniertere Version, die jedoch nicht von Dauer sein konnte. Denn die Kutschen werden immer wieder zu Kürbissen, dachte sie, und die Ballkleider verwandeln sich in Lumpen.

Im Wohnzimmer servierte man ihnen einen ersten Cocktail. Der mit Sprudelwasser vermischte und mit einer Zitronenscheibe dekorierte blaue Likör, den Mélanie nicht kannte, entspannte nach und nach ihre Gliedmaßen, ihren Hals und ihre Schultern. Auf der anderen Seite des Hauses, in einem den Frauen nicht zugänglichen Gebäudeteil, waren auch die jungen Männer angekommen. Nach einigen Cocktails fingen die jungen Frauen an zu lachen, es herrschte eine angenehme Atmosphäre weiblicher Komplizenschaft. Die Stimme der Regie, die aus einem Lautsprecher über dem Sofa drang, gab den Gesprächen mehr oder weniger die Richtung vor. Sie bat die Kandidatinnen, den Typ Mann zu beschreiben, der ihnen gefiel, oder zu erklären, warum sie noch ungebunden waren. Vanessa und Savane liebten kräftige, muskulöse Männer, Mélanie hatte eine Schwäche für vollschlanke, etwas rundliche Männer. »Ein bisschen wie ein Teddybär«, erklärte sie, und sie brachen alle drei in Lachen aus. Savane hatte einen Sohn, den sie allein aufzog, Vanessa hatte sich gerade von einem eifersüchtigen Mann getrennt (ein flüchtiger Ausdruck von Schmerz huschte über ihr Gesicht), Mélanie verkündete, sie sei Romantikerin und warte noch auf ihre andere Hälfte, den Mann, mit dem sie eine Familie gründen könne.

Drei oder vier Cocktails später schraken sie zusammen, als die STIMME sie wieder unterbrach:

»Savane, Vanessa und Mélanie, ihr werdet in der Dunkelkammer erwartet …«

Mélanie hatte nicht damit gerechnet, dass es dort derart finster sein würde. Mit ausgestreckten Händen tastete sie sich vorwärts. Sie traf auf ein Hindernis, erkannte es als einen Sessel und setzte sich. Außer den Kontrollleuchten der Infrarotkameras in allen vier Ecken des Raums war nichts zu sehen. Savane und Vanessa traten nach ihr ein, und sie half ihnen, die beiden Sessel rechts und links von ihrem zu finden. Als alle Frauen saßen, ließ man die Männer herein. Sofort verbreitete sich im Zimmer ein starker moschusartiger Geruch.

Noch nie war ihr eine Dunkelheit so dunkel vorgekommen. Jeder sagte seinen Vornamen, erst die Frauen, dann die jungen Männer. Nachdem die üblichen Vorstellungsfloskeln absolviert waren, forderte die STIMME sie auf, die Sessel zu verlassen und sich auf handgreiflichere Art kennenzulernen.

»Ihr könnt euch berühren, betasten, entdecken! Ihr könnt euch nicht sehen, also müsst ihr all eure anderen Sinne einsetzen, um euch kennenzulernen.«

Einer der Jungs näherte sich Mélanie und fasste sie um die Taille. Ihr Körper wurde steif. Yoann bemerkte trotz allem, wie groß ihre Brüste waren, und drückte sie fester an sich, um sich noch einmal zu vergewissern. Als er seine Nase an ihren Hals drückte, um ihren Geruch aufzunehmen, konnte sie ein Zurückschrecken nicht unterdrücken.

»Oh, da ist aber jemand schüchtern!«, rief er ein bisschen zu laut.

Die STIMME schaltete sich ein.

»Mélanie, haben Sie keine Hemmungen, Bekanntschaft mit Ihren Verehrern zu schließen.«

Dicht neben sich hörte sie bedeutungsvolles Seufzen und Glucksen. Savane und Carmelo hatten sich entschieden angenähert.

Yoann, deutlich abgekühlt, ging an ihr vorbei zu Vanessa.

In der verbleibenden Zeit in der Dunkelkammer berührten, streichelten und beschnupperten sich die Mädchen und die Jungen. Die drei jungen Männer hatten sich um die beiden anderen Frauen geschart, neugierig und voller Sinnlichkeit wanderten die Hände über die Körper. Es ging darum, sich gegenseitig zu verführen und zu erobern, davon hing ihr Schicksal ab. Mélanie konnte die Wolken von Schweißgeruch ringsum wahrnehmen, in die sich unterschiedliche Duftnoten mischten; der starke, scharfe Geruch des Begehrens füllte allmählich den Raum. Nur wenige Minuten hatten genügt, um sie aus dem Spiel auszuschließen. Mehrmals forderte die STIMME die Männer auf, sich ihr zu nähern, was sie auch taten, aber ohne sie nochmals zu berühren.

Nach einer unendlich langen Zeit, deren Dauer sie nicht einschätzen konnte (im endgültigen Schnitt würde die Sequenz nur zehn Minuten dauern), befahl ihnen die STIMME, die Dunkelkammer zu verlassen und in ihre jeweiligen Wohnbereiche zurückzukehren.

Als später im Beichtstuhl jeder Mann vor der Kamera sagen sollte, mit welcher Frau er zu einem Tête-à-Tête zusammenkommen wolle, entschied sich keiner von ihnen für Mélanie.

Am nächsten Tag verließ sie das Spiel, ein Betreuer fuhr sie zurück. Man hatte ihr erlaubt, den Rock und das rückenfreie Oberteil zu behalten, und ihr feierlich ein Schminkset überreicht, ein Geschenk der Kosmetikfirma, die die Sendung sponserte.

Im Wagen weinte sie ein bisschen. Der Kandidatenbetreuer, der meinte, so sei es für sie beide am wenigsten peinlich, drehte das Autoradio lauter.

Mélanie sah die Bäume, Felder und Dörfer vorbeiziehen, dann, als sie sich Paris näherten, die Lagerhallen und Hochhauszeilen. Als sich der Wagen in den Verkehr auf dem Boulevard périphérique einfädelte, fiel ihr Blick auf ein riesiges Werbeplakat für den Color-Riche-Lippenstift von L’Oréal, das ganz oben an einem nagelneuen Gebäude hing. Einen Moment lang starrte sie auf die dunkle Farbe und die scheinbare Tiefe der Abbildung. Der Lippenstift ragte auf wie ein Monument, ein Penis oder eine Standarte. Und dahinter spiegelte sich auf Laetitia Castas Gesicht ein Licht aus dem Nirgendwo, als wäre es allein ihr vorbehalten. Da wurde mit einem Mal alles klar. Sie würde eine dieser Frauen sein. Sie wollte dieses warme Licht, die Schatten, die das Gesicht modellierten, die vollen Lippen. Noch einige Monate, dann würde das Reisebüro schließen und sie wäre arbeitslos, aber sie würde nicht nach La-Roche-sur-Yon zurückkehren. Nein. Sie würde hier bleiben, in Paris, denn hier spielte sich alles ab.

Sie würde hier bleiben und eines Tages berühmt werden.

KRIMINALPOLIZEI – 2019 VERMISSTES KIND KIMMY DIORE

Betr.:

Transkription und Auswertung der letzten von Mélanie Claux (verehelichte Diore) geposteten Instagram-Stories

STORY 3

ins Netz gestellt am 10.November um 17:18 Uhr

Länge: 42 Sekunden

Mélanie Claux steht vor der Kamera. Man sieht nur ihr Gesicht und ihren Oberkörper. Während des gesamten Videos werdenGIFs oder animierte Emoticons eingeblendet: Herzen in allen Farben, Arielle, die Meerjungfrau, und die Eiskönigin sowie eine weitere Disney-Figur (Bär?), die ein Schild mit einem klopfenden Herz schwenkt.

Mélanie: »Hallo, meine Lieben, wir sind gerade erst aus dem Einkaufszentrum zurück, und stellt euch vor: Kim und Sam sind schon wieder los! Der Durchhänger im Wagen hat nicht lange gedauert. Freunde von ihnen haben vor dem Haus gespielt, und sie sind gleich wieder zu ihnen runtergelaufen. Ich glaube, sie spielen Verstecken, und ich werde die Gelegenheit nutzen und meine Einkäufe wegräumen und den Crêpe-Teig für heute Abend vorbereiten. O ja! Ich sagte es euch ja schon heute Morgen, heute ist Mittwoch, und wie ihr wisst, haben wir einmal im Monat an einem Mittwochabend eine … Crêpe-Party! Natürlich gibt es dazu auch Nutella!(Ein animiertes Glas Nutella erscheint über dem Bild.)

Ihr kennt ja Sammy! Keine Crêpes ohne Nutella! Ich teile gleich das Rezept, für all diejenigen, die es noch nicht notiert haben.

Das wär’s erst mal, meine Lieben, aber wir vergessen euch nicht. Bis nachher!«

Das Bild wird von einem Regen bunter Herzen überlagert.

Jede Familie pflegt ihren Mythos. Oder doch wenigstens eine im Laufe der Zeit angereicherte epische Fassung ihrer Geschichte, der nach und nach Heldentaten, verrückte Zufälle, außergewöhnliche Details und sogar das ein oder andere Erdichtete hinzugefügt werden. Claras Familie – ihre Eltern, ihre Großeltern, ihre Onkel und Tanten und später ihre Vettern und Kusinen – erzählten gern von den Streiks, den Demos, den Versammlungen, kurzum, von den vielen mehr oder weniger friedlichen, mal gewonnenen, mal verlorenen Schlachten, die ihre Geschichte in einer weit zurückreichenden Tradition sozialer Kämpfe verankerten. Die Daten hatten ihre Bedeutung: Réjane und Philippe hatten sich im Juni 1985 auf dem großen Fest kennengelernt, das SOS Racisme auf der Place de la Concorde veranstaltet hatte. Clara war am Abend nach den Demonstrationen gegen Devaquets Gesetzesvorhaben zur Reformierung der Universitäten gezeugt worden, und ihre Eltern hatten – da war sie neun – einen Tag, nachdem der Juppé-Plan zur Reform der Finanzierung der Sozialversicherung und der Rentenversicherungssysteme zurückgezogen worden war, geheiratet.

Im Laufe der Jahre waren die Versionen romanhaft ausgestaltet worden, was manchmal zulasten der chronologischen Kohärenz ging. Bei näherer Betrachtung nämlich passten die Daten nicht immer zueinander. Wie zum Beispiel konnte Clara, die 1986 zur Welt gekommen war, im November desselben Jahres gezeugt worden sein?

Die glorreiche Streik- und Protestbewegung von 1995 hatte Clara allerdings noch sehr genau in Erinnerung. Ihr Vater, der damit befasst war, etwaige Entgleisungen am Ende des Protestzugs zu kanalisieren, hatte unglücklicherweise ihre Hand losgelassen. Statt, von der Menge weitergetragen, dem Zug zu folgen, hatte sie sich an die Seite spülen lassen (oder hatte sie sich der Menschenmenge aus eigenem Antrieb entzogen?) und dann auf dem Bürgersteig gestanden und auf ihren Vater gewartet. Erst nach einigen Minuten wurde ihr klar, dass er nicht mehr in ihrem Blickfeld auftauchen würde und dass sie verloren gegangen war. Die aus den Lautsprechern dröhnenden Slogans machten jeden Versuch, um Hilfe zu rufen, sinnlos. Sie setzte sich auf die Erde und sagte immer wieder einen der Sätze der Demonstranten, der ihr besonders gefiel, vor sich hin: »Wer Elend sät, wird Zorn ernten, wer Elend sät, wird Zorn ernten!« Nach und nach zogen die letzten Gruppen, Spruchbänder schwenkend und auf Töpfe schlagend, an ihr vorüber. Sie hatte keine Angst. Zwei oder drei Mal war ein netter Mensch stehen geblieben, um zu fragen, was sie denn da so ganz allein mache, und sie hatte jedes Mal brav dieselbe ruhige Antwort gegeben: Sie warte auf ihre Mutter, die zur Toilette gegangen sei. Tatsächlich aber hatte Réjane mit ihren Kollegen vom Collège Romain-Rolland in der Mitte des Zugs demonstrieren wollen und Philippe die Verantwortung für die Kleine überlassen. Clara wusste, dass sie auf keinen Fall und unter keinem Vorwand mit Fremden mitgehen durfte.

Sie kannte sich in Paris nicht gut aus, also blieb sie eine Zeit lang sitzen und betrachtete die Fassaden der Haussmann’schen Gebäude ringsum. Ihr wurde allmählich kalt, als sie zwei uniformierte Polizisten auf sich zukommen sah. Sie hatte immer gehört, dass man sich vor den Flics in Acht nehmen müsse. Sie sprang also auf und versuchte zu flüchten, wurde aber rasch von dem jüngeren Beamten eingeholt. Sie hätte nicht zu sagen gewusst, wie viel Zeit seit dem Verschwinden ihres Vaters vergangen war. In den ersten Versionen der Anekdote war von zwanzig Minuten die Rede, dann von dreißig, und in der halbwegs endgültigen Fassung der Geschichte betrug die Wartezeit zwei Stunden, was weniger wahrscheinlich, dafür aber sensationeller war.

Sicher ist jedenfalls, dass Clara kurz darauf im Kommissariat des XII.Arrondissements saß, während mehrere Polizeibeamte versuchten, ihre Mutter oder ihren Vater ans Telefon zu bekommen. Sie spielte mit einem jungen Praktikanten Schach, und ein Herr mit einem großen Schnäuzer, anscheinend der Chef, schenkte ihr einen Lutscher.