Die Konferenz - Mats Strandberg - E-Book

Die Konferenz E-Book

Mats Strandberg

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Beschreibung

Spannend, blutig, unvergesslich: Der neue Horror-Thriller von Spiegel-Bestseller-Autor Mats Strandberg.  Es sind große Zeiten für die kleine Gemeinde: In Kolarängen soll ein prestigeträchtiges Einkaufszentrum gebaut werden. Am Tag vor der Grundsteinlegung treffen sich die Planer in einem idyllischen Hotel am See, um die letzten Dinge zu besprechen. Eine kleine Konferenz unter Kollegen, in entspannter Atmosphäre, nichts weiter. Doch nach und nach kommen Konflikte und Intrigen zum Vorschein - und als die Nacht hereinbricht, gibt es den ersten Toten. Bis zum Morgengrauen wird die Erde von Blut gesättigt sein, denn ein Mörder macht Jagd auf die Tagungsgäste. »Mats Strandberg ist der schwedische Stephen King.« Dagens Nyheter

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Seitenzahl: 498

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Mats Strandberg

Die Konferenz

Thriller

 

Aus dem Schwedischen von Nina Hoyer und Justus Carl

 

 

 

 

 

Über dieses Buch

 

 

Es sind große Zeiten für die kleine Gemeinde: In Kolarängen soll ein prestigeträchtiges Einkaufszentrum gebaut werden. Am Tag vor der Grundsteinlegung treffen sich die Planer in einem idyllischen Hotel am See, um die letzten Absprachen zu treffen. Eine kleine Konferenz unter Kollegen, in entspannter Atmosphäre, nichts weiter.

Doch nach und nach kommen Konflikte und Intrigen zum Vorschein - und als die Nacht hereinbricht, gibt es den ersten Toten. Bis zum Morgengrauen wird die Erde von Blut gesättigt sein, denn ein Mörder macht Jagd auf die Tagungsgäste.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Mats Strandbergs Horror-Debüt »Die Überfahrt« wurde in Schweden wie in Deutschland zum Überraschungsbestseller und machte ihn auf einen Schlag berühmt. Mit »Das Heim« und »Die Konferenz« hat sich Strandberg erneut auf alle skandinavischen Bestsellerlisten geschrieben.

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.tor-online.de und www.fischerverlage.de

Prolog

Es heißt, am Fuß des Berges, wo heute der Vorplatz des Tagungshotels liegt, hätten einst Birger Jarls Männer gegen ein Heer der Folkunger gekämpft. Metall schlug gegen Metall. Pferde wieherten panisch. Blut tränkte den Boden. Jetzt ist es gleich halb neun, an einem Septembermorgen 2019, und frisches Blut ist in die Erde gesickert, hat sich mit dem Regen der Nacht vermischt.

Das rot gestrichene dreigeschossige Haus steht hier seit zweihundert Jahren und ruht auf den Überresten eines noch älteren Gebäudes. In der Eingangshalle hängt die Kopie eines Dokuments aus dem 17. Jahrhundert an der Wand, das einen Gasthof namens Kålarsjöns krogh erwähnt. Die geblümte Tapete ist neu, aber auf Retro getrimmt.

Daneben hängen Schwarz-Weiß-Fotografien von Köhlern, aufgereiht vor ihren Meilern am Ufer des langgestreckten Sees, des Kolarsjön, stehend. Die Augen in ihren verrußten, faltigen Gesichtern scheinen zu glühen. Auf einigen Bildern sind die Männer nur als Silhouetten zu erahnen, eingehüllt in dicken Rauch.

Es schließen sich die ersten Aufnahmen aus den Glanzzeiten des Gasthofs an, als das alte Jahrhundert noch jung ist. Ein überbordendes Weihnachtsbuffet, rundherum ernst dreinblickende Kellnerinnen. Krocketpartien am See. Eine Gruppe Männer posiert in gestreiften Badeanzügen im Wasser. Ein Felsen im Hintergrund, der sanft zum See hin abfällt. Dicht stehendes Schilfrohr. Dampfschiffe auf dem Strömsholm-Kanal, auf ihrem Weg von den Bergwerken in Mittelschweden bis zum Mälaren westlich von Stockholm.

Die bebilderte Zeitreise geht weiter. Eine Rosskastanie wächst mitten auf der Wiese heran, ein Feuerwerk aus hellen Blüten im Frühjahr. Im Spätsommer spielen Kinder mit den Früchten des Baums, giftige Schätze in stacheliger Hülle. Noch später im Jahr verwandeln sich die steilen Berghänge vor dem Gasthof in Skipisten, bedeckt von blendend weißem Schnee. Es ist Nachkriegszeit. Die Menschen vor den Kameras stehen nicht länger still, sie werden in der Bewegung eingefangen. Fahren nebeneinander auf Holzskiern, halten sich lachend an den Händen. Gleiten auf Schlittschuhen über den See. Kinder braten Würstchen über der Feuerstelle am Wasser, bauen einen Schneemann neben dem Spielhaus. Im Sommer tanzt man um die Mittsommerstange und trinkt Kaffee auf dem neu erbauten Balkon auf der Rückseite des Hauses. Er bietet einen herrlichen Ausblick über den großen Garten und den See, wo immer seltener Schiffe vorüberziehen. Züge und Autos haben inzwischen die Gütertransporte übernommen, und es ist die Rede davon, den Strömsholm-Kanal nicht mehr zu nutzen.

Doch die Gemeinden schließen sich zusammen und setzen ihn wieder ordentlich instand. Zu Beginn der Siebzigerjahre schippern Touristenboote statt Lastschiffen auf dem Kolarsjön vorbei. Und an einem Winterwochenende strömen über fünftausend Besucher auf die Skipisten. Die Besitzer des Gasthofs entschließen sich, aufs Ganze zu gehen. Sie fällen Bäume und entfernen das Haseldickicht entlang des Seeufers, auch das Schilf muss weichen. Am Wasser errichten sie dann neun stugor, kleine Schlafhütten, ebenfalls rot gestrichen mit weißen Hausecken und Fensterrahmen. Davor ein gemeinsames Holzdeck, das auf Pfeilern im Uferwasser steht. Ein Stück davon entfernt legt man einen einfachen Badesteg an. Zum ersten Mal erhält der Ort den Namen Kolarsjöns Stugby.

Dann kommen die Achtziger und mit ihnen solariumgebräunte Wintertouristen mit aufgebauschten Frisuren. Die Gäste werden immer weniger, was man auf den Bildern allerdings nicht sieht. Die Winter werden mit jedem Jahr unzuverlässiger, und die Besucher werden an andere Orte gelockt, mit größeren Pisten und Schneekanonen. Und hiermit enden die Fotografien.

Die Liftanlage schloss damals. Auf den Pisten breitete sich ungehemmt das Heidekraut aus. Auch die Sommertouristen kehrten dem Ort den Rücken, als an einem weniger abgelegenen See Wasserrutschen gebaut wurden. Ende der Neunzigerjahre wurde das Haus zu einem Jugendheim für schwererziehbare Mädchen. Böse Leserbriefe über »Rotzgören« und wie man Steuergelder für deren »Luxusleben« verschleudere, wurden verfasst. Kurz vor der Jahrtausendwende machte auch das Heim dicht. Gerüchte über sexuelle Übergriffe und andere Skandale machten die Runde, alles wurde heruntergespielt, aber nicht wirklich entkräftet. Bis die Leute irgendwann gar nicht mehr über den alten Gasthof am Kolarsjön sprachen.

Die Gebäude hatten fünf Jahre leer gestanden, als Stockholmer Investoren das Anwesen für sich entdeckten. Sie steckten Millionen in die Renovierung des Hauptgebäudes. Warfen alles hinaus, was an die ehemalige Erziehungsanstalt erinnerte. Legten alte Holzböden frei. Brachten die geblümte Tapete in der Eingangshalle an. Bestückten das Haus und die Hütten mit teuren Möbeln. Verlegten Teppichboden im Speiseraum und errichteten davor eine große Terrasse. Unterhalb des Gartens wurde ein kleiner Strandstreifen mit einem neuen, stabileren Steg geschaffen, und auch der Felsen erhielt ein kleines Holzdeck mit Sauna und Outdoor-Whirlpool. Ein Sternekoch wurde für das Restaurant eingestellt, das man auf den etwas altmodischen Namen Kolarsjöns Gästgifveri taufte. Die Besitzer hofften auf mindestens einen Michelin-Stern. Sie eröffneten mitten in der Finanzkrise und schlossen nach nicht einmal einem Jahr wieder. Die Möbel wurden als Teil der Konkursmasse verkauft.

Das Schilfrohr am Holzdeck vor den Hütten und an dem alten Badesteg schoss wieder in die Höhe. Die Rosskastanie auf der Wiese bekam die Bluterkrankheit, und aus den offenen Wunden in der Rinde troff eine rötlich braune Flüssigkeit. Zum Schluss wurde der Baum von dem Ehepaar gefällt, das den Gasthof im letzten Jahr kaufte und ihm wieder den Namen Kolarsjöns Stugby gab.

An diesem verregneten Morgen steht die Luft in der Eingangshalle vollkommen still. Es ist, als würde das Haus den Atem anhalten. Staubkörner schweben im Raum. Die Kristallkronleuchter im Speiseraum sind erloschen, aber das fahle Licht, das durch die Fenster hereinfällt, wird von den Spiegelscherben auf dem moosgrünen Teppichboden reflektiert. Die Scheiben der Terrassentür sind blutbespritzt. Draußen wird der Himmel von einem Drahtseil geteilt, das zwischen den Bäumen auf der gegenüberliegenden Seite des Sees verschwindet. Es ist die erste Etappe der neugebauten Zipline, einer V-förmigen Seilrutsche, die zweimal über das Wasser führt.

Im ersten Stock sind die Balkontüren einen Spaltbreit geöffnet. Ein leichter Windhauch dringt in den dahinter liegenden Konferenzraum. Einige Stühle liegen umgestoßen auf dem Boden. Auf dem Parkett eine eingetrocknete Blutlache. Nur das Prasseln des Regens ist zu hören. Ein Auto ist auf dem Weg hierher, doch der Motor ist leise, noch ist es weit entfernt.

Es ist ein Toyota, weiß und rein wie frisch gefallener Schnee, auf den Seiten prangt das Logo des Baukonzerns SBFF. Die Frau hinter dem Steuer heißt Wilma. Zur Mittagszeit soll sie etwa zehn Kilometer von hier entfernt an einer Zeremonie zum Baubeginn eines Einkaufszentrums in Kolarängen teilnehmen. Davor ist es ihre Aufgabe, auf einer Konferenz des kommunalen Erschließungsamts Enthusiasmus unter den Mitarbeitern zu verbreiten und ihnen ein Pressecoaching zu geben.

Wilma ist vor zweieinhalb Stunden in Stockholm losgefahren. Jetzt trinkt sie lauwarmen Kaffee aus einem Pappbecher und telefoniert über die Freisprechanlage des Wagens mit ihrem Chef. Hin und wieder wirft sie einen Blick auf die Zeitung, die aufgeschlagen auf dem Beifahrersitz liegt. Das Bild eines Mannes an einem Cafétisch nimmt eine ganze Seite ein. Er schaut nachdenklich aus einem Fenster, offensichtlich ein arrangiertes Foto. Das grau melierte Haar ist füllig und kurz geschnitten, seine Augen sind eisblau. »Sie haben mir meine gesamte Zukunft geraubt« lautet die Überschrift, ein Zitat des Mannes, der glaubt, den moralischen Anspruch auf das Grundstück zu besitzen, das jetzt SBFF gehört.

Es ist eindeutig zu erkennen, dass der Journalist auf seiner Seite steht, dass der Artikel für Leute geschrieben ist, die es ebenfalls tun. Wilma verabscheut die lächerlichen Ambitionen dieses talentfreien Schreiberlings, weiß aber, dass sie und der Konzern den Text nicht einfach ignorieren können.

Sie trinkt noch einen Schluck von dem Kaffee, den sie vor einer Viertelstunde an einer Tankstelle gekauft hat. Als sie den Wagen getankt hatte und gerade bezahlen wollte, war ihr das Foto des Bauern auf der Titelseite der Bergslagens Tidning ins Auge gestochen. Wilma legte die Zeitung auf den Tresen und nannte der Verkäuferin die Nummer der Zapfsäule. Die Dame war um die fünfzig, kaute mit offenem Mund ein Kaugummi und guckte aus dem Fenster; sie hielt abrupt mit dem Kauen inne, als sie die eckigen Großbuchstaben des SBFF-Logos auf Wilmas Autotür entdeckte. Sie verzog den Mund. Ein paar Kerle, allem Anschein nach Lkw-Fahrer, warfen Wilma böse Blicke zu, als sie wieder zur Tür hinausging. Das hatte ihr ein mulmiges Gefühl bereitet, doch sie hat nicht vor, ihren Chef etwas davon merken zu lassen. Stattdessen fragt sie, welche Strategie sie anwenden soll, falls Demonstranten die Zeremonie stören.

Keine Antwort aus den Lautsprechern. Nur der Regen, der auf das Autodach trommelt. Das leichte Quietschen der Scheibenwischer. Das Knirschen der geschotterten Straße unter den Reifen.

»Hallo?« Wilma schaut auf das Display im Armaturenbrett. Kein Empfang. Sie schlägt mit der Faust aufs Lenkrad. Richtet einen anklagenden Blick auf den Berghang, der sich rechts der Straße steil nach oben erstreckt. Zwischen den vielen Nadelbäumen leuchten die herbstlich gefärbten Blätter vereinzelter Birken und Eschen hervor. Auf der linken Seite des Autos rückt der Kolarsjön hinter den Stämmen immer näher. Wilma versucht, ihren Chef zurückzurufen, doch es kommt keine Verbindung zustande. Sie schaltet das Radio ein. Laute, alberne Stimmen reden von einem Schulstreik für das Klima. Aber Wilma hört nicht zu. Sie gibt Gas und denkt an den Projektleiter der Gemeinde. Der ihr versichert hatte, die öffentliche Meinung in der Gegend habe sich gewandelt.

Jetzt geht es einen Hügel hinauf. Ein paar Angelschnüre, die quer über die Straße gespannt sind, reißen beim Kontakt mit der Karosserie, aber Wilma merkt nichts davon. Der Regen ist viel zu laut. Sie fährt weiter, während sich der See zwischen die Bäume zurückzieht. Die Straße macht eine scharfe Linkskurve, und als sie wieder geradeaus führt, sieht Wilma ein paar hundert Meter entfernt das Hauptgebäude der Hotelanlage. Sie bremst ab.

Vor ihr ist ein alter weinroter SUV im Graben gelandet. Er liegt halb auf der Seite, die Räder auf der Fahrerseite berühren die Straße noch. Im blassen Morgenlicht kann sie nicht erkennen, ob die Frontscheinwerfer leuchten oder ob das nur eine optische Täuschung ist.

Wilma wird immer unbehaglicher zumute, während sie sich auf der engen Straße langsam dem Gebäude nähert. Sie hält auf gleicher Höhe mit dem anderen Auto, aber niemand ist darin zu sehen. Hinter dem Graben erstreckt sich eine Wiese bis zum See hinunter. Die immer noch weißen Blüten der Schafgarbe wogen an langen Stängeln im Wind. Wilma zögert, ehe sie wieder aufs Gaspedal tritt.

Sie fährt auf den Parkplatz, der bis auf einen dunkelblauen Kleinbus mit dem Aufkleber einer örtlichen Autovermietung auf der Heckscheibe leer steht. Wilma stellt ihren Wagen daneben ab. Lässt die Scheibenwischer weiterlaufen, während ihr Blick auf den von Linden gesäumten Kiesweg fällt, der zu den Schlafhütten führt. Zwischen den Stämmen funkeln auf niedrigen Pfosten dieselben Lampen, die auch den Parkplatz umgeben.

Die Stimmen aus den Lautsprechern verstummen unvermittelt, als sie den Motor ausschaltet. Sie beugt sich zur Rückbank und greift nach ihrer Aktentasche und dem Regenschirm. Öffnet die Tür und spannt ihn auf, bevor sie aussteigt. Während sie über den Parkplatz eilt, prasseln die Regentropfen auf den Schirm ein, als wollten sie ihn durchlöchern. Als Wilma die Straße überquert, schaut sie zurück. Sieht, dass die Rücklichter des SUVs eingeschaltet sind. Zögert wieder.

Da ist heute Nacht wohl jemand betrunken gefahren. Man weiß ja, wie es auf solchen Veranstaltungen zugehen kann.

Sie läuft weiter über den großen Vorplatz auf das Tagungshotel zu. Eine durchnässte Flagge hängt schlaff an dem Fahnenmast herab, der inmitten eines Steingartens, in dem noch Platterbsen und Bergminze blühen, in die Höhe ragt. Wilma bemerkt die Pflanzen nicht, nimmt auch die Töpfe mit Heidekraut, die auf der Treppe zur Eingangstür stehen, kaum wahr.

Sie drückt die Klinke herunter. Abgeschlossen. Ein Messingschild teilt mit, dass das Hauptgebäude zwischen 1 und 6 Uhr nachts geschlossen ist. Wilma schaut auf ihr Handy. 8.48 Uhr. Und immer noch kein Empfang.

Als sie die Klingel betätigt, ist aus dem Haus eine fröhlich bimmelnde Melodie zu hören. Sie lauscht nach Schritten, aber niemand kommt an die Tür. Sie klingelt noch einmal. Dreht sich auf der Steintreppe um. Lässt den Blick über den Spielplatz gleiten, der zur Hälfte hinter Bäumen versteckt auf der anderen Seite des Vorplatzes liegt. Ein Metallgestell mit drei Schaukeln, ein Karussell und ein abgedeckter Sandkasten, umgeben von einem niedrigen Holzzaun. Ein Schild mit einer weißen Aufschrift, die sie nicht entziffern kann, weist in Richtung Wald.

Die Uhr springt um auf 8.49 Uhr, und Wilma geht die Treppe wieder hinunter, tritt auf den Vorplatz. Sie blickt an der Hausfassade hoch. Kalte Tropfen fallen auf ihr Gesicht. Von dem Zipline-Seil hoch über dem Hausdach nimmt sie kaum Notiz. Die Spiegelung des Himmels und der bewaldeten Berghänge in den Fensterscheiben wird von weißen Holzsprossen gebrochen. Wilma sieht Spitzengardinen und Geranien, doch die Zimmer wirken leer.

Andere Tagungshotels kann es hier draußen doch eigentlich nicht geben, oder?, denkt sie, und ihr fällt ein, dass sie ohne Empfang nicht einmal danach googeln kann. Frustriert sieht sie auf ihr Handy. Wider besseres Wissen wählt sie die Nummer des Projektleiters der Gemeinde. Wieder kein Signal, ihr Telefon bleibt stumm. Doch die Stille scheint mit irgendetwas gefüllt zu sein. Mit einer Art elektrischem Knistern, so als würde man gleich einen Schlag abbekommen.

Wilma lässt das Handy sinken und blickt die Straße hinunter, zu dem SUV im Straßengraben. Seit ihrer Kindheit hat sie keine Angst mehr vor der Dunkelheit gespürt, aber jetzt ist das Gefühl zurück, so als wäre es nie fort gewesen – und das, obwohl helllichter Tag ist. Sie will nur noch weg von hier, aber der Gedanke ist absurd. Was sollte sie ihrem Chef sagen? Und all den Leuten von der Gemeinde, die auf sie warten?

Aber das ist es ja, sie sind nicht hier.

Irgendetwas stimmt hier nicht.

Es ist, als wäre sie der letzte lebende Mensch auf der Welt. Wilma läuft es eiskalt den Rücken herunter. Sie wirft einen sehnsüchtigen Blick zu ihrem Firmenwagen auf dem Parkplatz.

Dafür gibt es sicher eine logische Erklärung. Die haben bestimmt alle einen Kater und liegen noch in den Federn.

Sie zwingt sich, auf den gepflasterten Gehweg abzubiegen, der um die Hausecke führt. Auch in den Giebelfenstern des Hauptgebäudes ist niemand zu sehen. Noch immer trommelt der Regen auf den Schirm, das Geräusch hüllt sie ein. Sie schaut über den Rasen bis zum See. Noch mehr erleuchtete Lampen markieren einen weiteren Gehweg entlang des Ufers, vom Felsen bis zu den kleinen Hütten. Auf der ihr zugewandten Seite haben sie keine Fenster. Die Türen sind geschlossen. Und trotzdem beschleicht sie das Gefühl, von jemandem beobachtet zu werden.

Sie geht weiter zur rückwärtigen Seite des ehemaligen Gasthofs. Betrachtet die weiß gestrichenen Holzpfeiler, die den Balkon im ersten Stock tragen. Auf der Terrasse darunter liegen Wachstücher auf den Tischen, die Sonnenschirme sind eingeklappt. Wilma entdeckt die Terrassentür, entschließt sich, dort zu klopfen. Sie geht auf die niedrige Terrassentreppe zu, während ihr Blick über weitere dunkle, leere Fensterscheiben gleitet. Ihr kommt der Zeitungsartikel über diesen Landwirt in den Sinn. An den Widerstand gegen das Bauvorhaben. Sie denkt an die Konferenz, die hier gestern angefangen hat, und dass alle, die jetzt hier sein sollten, in das Kolarängen-Projekt involviert sind. Und sie will kehrtmachen. Zum Auto zurückrennen. Von hier wegfahren. Doch sie geht weiter.

Die Treppe zur Terrasse besteht nur aus drei Stufen, und Wilma hat gerade den Fuß auf die zweite gesetzt, als sie die rotverschmierten Flecken auf den Fenstersprossen der Glastür bemerkt. Irgendetwas liegt auf dem Boden, und im ersten Moment denkt sie, es sei ein Haufen Schmutzwäsche.

Erst als sie die Terrasse betritt, beginnt ihr Gehirn zu verstehen. Tatsächlich zu begreifen. Wilma hält inne, muss sich mit einer Hand am Geländer festhalten. Starrt auf den Haufen. Kann sich nicht rühren.

Dort liegt ein menschlicher Körper. Das sieht sie jetzt ganz deutlich. Aber er ist so falsch. Die Kapuze der Regenjacke scheint aufgestellt gewesen zu sein. Doch der halbe Kopf fehlt. Oberhalb der zerfetzten Zahnreihe des Unterkiefers ist nichts mehr übrig. Der Regen hat das Blut weggespült, und Wilma kann die Zunge erkennen. Sie sieht aus wie ein Meerestier, dem sein schützender Panzer abhandengekommen ist.

Wenn sie könnte, würde sie schreien, aber ihre Kehle ist wie zugeschnürt. Der erstickte Laut, den sie herausbringt, ist kaum hörbar. Sie schaut wieder zur Tür, auf das Dunkel hinter der Scheibe.

Ist jemand dort drinnen? Jemand, der mich beobachtet?

Sie hastet die Treppe nach unten und rennt den gepflasterten Weg zurück. Aus dem Augenwinkel bemerkt sie eine plötzliche Bewegung, und ein Wimmern dringt aus ihrer Kehle, als sie sich zum See dreht und sieht, wie eine der Hüttentüren geöffnet wird.

Die Person, die heraustritt, hat heute Nacht hier am Kolarsjön getötet.

Bergslagens Tidning

4. September 2019

»Sie haben mir meine gesamte Zukunft geraubt«

Heute wird bei einer pompösen Zeremonie der Grundstein für das neue Einkaufszentrum in Kolarängen gelegt. Für einen ist dieses Ereignis jedoch kein Grund zum Feiern: Der Landwirt Lars-Erik »Lappå« Pålsson hat den Kampf um seinen Grund und Boden verloren.

 

Es ist ein großer, breitschultriger und ein wenig rastlos wirkender Mann, der sich da gerade eine üppige Portion Zucker in den Kaffee schüttet. Wenn man die vielen Bilder und Fernsehreportagen über den Hof der Familie Pålsson in Kolarängen kennt, wirkt es sonderbar, Lappå in einem Café in der Stadt sitzen zu sehen. Wie er sagt, kann er sich nur schwer daran gewöhnen, nicht mehr jeden Tag mit dem ersten Hahnenschrei aufstehen zu müssen.

Ab und an kommen Menschen zu ihm und sagen hallo. Drücken ihr Bedauern darüber aus, was passiert ist. Eigentlich ist er es leid, darüber zu reden, sagt er und beschreibt die letzten Jahre als einen Kampf wie David gegen Goliath. Nur dass David diesmal gegen den Riesen verloren hat. Wie geht es für ihn weiter? Was macht er jetzt?

»Wenn ich das nur wüsste«, sagt Lappå mit einem Seufzen. »Früher musste ich mir über solche Dinge keine Gedanken machen. Ich war zu beschäftigt mit der Arbeit auf dem Hof. Sicher, es waren lange Tage, aber ich hatte alles, was ich mir nur wünschen konnte.«

 

»Der Hof war mein Leben«

Der Hof der Familie Pålsson lieferte jährlich bis zu 450 000 Liter Milch und produzierte außerdem Getreide, Kartoffeln und Fleisch. Der Betrieb beschäftigte acht Angestellte in Vollzeit.

»Aber es war mehr als nur ein Job«, hält Lappå fest. »Der Hof war mein Leben.«

Was nicht sehr verwunderlich ist. Der Hof befand sich seit mehreren Generationen im Besitz der Familie. Lappå übernahm den Betrieb 1989, im Alter von nur 23 Jahren, nachdem sein Vater bei einem Autounfall ums Leben kam.

»Mein Vater hatte den Hof 1964 von meinem Großvater übernommen«, erklärt Lappå. »Als Vater und seine Brüder klein waren, gab es so etwas wie Sommerferien nicht. Ganz im Gegenteil, der Sommer war eine hektische Zeit, in der jeder die Ärmel hochkrempeln und mit anpacken musste. Damals war alles noch reine Handarbeit.«

Seitdem ist viel geschehen. Der fruchtbare Ackerboden in Kolarängen erwirtschaftete Millionenbeträge, das Geschäft brummte. Zur Zeit von Lappås Großvater gab es kaum mehr als zehn Kühe, doch Lappå und sein Vater modernisierten die Arbeitsabläufe auf dem Hof. Zuletzt besaßen sie fünfundfünfzig Milchkühe. Durch eine sorgfältige Zucht optimierte man die Nachkommen der Tiere, bis die Kühe 60 Liter Milch pro Tag gaben. Lappå wirkt immer noch stolz, wenn er das erzählt. Jetzt sind alle Tiere fort, genauso wie sein gesamtes Lebenswerk. Das Haus, in dem er aufgewachsen ist, wurde abgerissen. Bald soll dort ein Parkplatz entstehen.

 

»Ich dachte, das kann nicht wahr sein«

Als der Brief der Gemeinde eintraf, in dem man ihm die Kündigung des Pachtvertrags über das Landstück mitteilte, traf ihn der Schock seines Lebens.

»Ich dachte, das kann nicht wahr sein. Man hat uns immer versichert, dass wir wichtig für die Region seien und dass wir das Land als unser Eigentum ansehen können.«

Es war der multinationale Baukonzern SBFF, der der Gemeinde ein Angebot machte, von dem man dort meinte, es nicht ablehnen zu können. Zu groß, zu reizvoll erschien die Möglichkeit, auf dem Landstück ein Einkaufszentrum zu errichten. Doch die Meinungen darüber waren längst nicht uneingeschränkt positiv. Der Umweltaspekt bereitete vielen Bürgern Sorge, während andere das Risiko fürchteten, das Projekt könne das Stadtzentrum verwaisen lassen. Der stärkste Widerstand allerdings regte sich in der Bewegung für die Familie Pålsson und den Erhalt ihres Hofs. Viele verärgerte Leserbriefe wurden hier in der Bergslagens Tidning abgedruckt. Bei der Kommunalverwaltung wurde eine Protestliste mit über einhundert Unterschriften eingereicht. So gut wie jede Woche meldeten sich Menschen und fragten, wie sie helfen könnten, erzählt Lappå und merkt dazu trocken an:

»Natürlich haben wir uns darüber gefreut. Aber geändert hat’s ja trotzdem nichts.«

 

56 000 Quadratmeter

Lediglich die Abgeordneten der Linkspartei und der Zentrumspartei stimmten gegen den Bebauungsplan, die Schwedendemokraten enthielten sich der Stimmabgabe. In knapp einem Jahr sollen in Kolarängen 56 000 m2Glas und Beton stehen. Wenn es im Herbst 2020 eröffnet, wird das Einkaufszentrum in Kolarängen zu den zwanzig größten in Schweden zählen.

Heute fällt mit der Grundsteinlegung der Startschuss für den Großbau, und gegen Mittag wird der Baubeginn mit einer großen Zeremonie gefeiert. Innerhalb weniger Tage hat sich eine in Rekordzeit wachsende Facebook-Gruppe gebildet, die ihre Mitglieder dazu auffordert, vor Ort zu demonstrieren. Manche der Kommentare ermunterten sogar zur Sabotage, wurden aber schnell wieder entfernt. Lappå weist mehrmals darauf hin, dass er gesetzeswidrige Aktionen, mit welchen gutgemeinten Absichten auch immer sie erfolgen mögen, in keiner Weise unterstützen will.

Er selbst wird der Zeremonie nicht beiwohnen.

»Ich will das Land, so wie es jetzt ist, nicht sehen«, sagt er kurz und knapp.

Er winkt nur ab, als ich ihn bitte, seine Gefühle zu beschreiben, aber den Zorn, der in seinen Augen aufflammt, kann er nicht verbergen.

 

Weiß mehr als die Politiker

Lappå schildert, dass er gegen seinen Willen zu einer Art Experte in Sachen Kommunalpolitik geworden ist, und bemerkt seufzend, dass er manchmal glaubt, sogar mehr zu wissen als die Politiker selbst.

»Ich kann wirklich nicht begreifen, wie sie diese Sache durchgebracht haben. Zuerst einmal verstößt das Projekt gegen das Umweltschutzgesetz, das besagt, dass nur dann auf landwirtschaftlich genutzten Flächen gebaut werden darf, wenn das Vorhaben ein ›wesentliches gesellschaftliches Interesse‹ besitzt. Und das kann im Fall dieses Einkaufszentrums ja wohl niemand ernsthaft behaupten.«

Lappå blickt nachdenklich aus dem Fenster.

»Das Schlimmste ist nicht, dass ich selbst das Land verloren habe, sondern dass sie es meinen Kindern gestohlen haben. Mein Ältester studiert Agrarwissenschaften in Uppsala. Er wird einmal ein besserer Bauer als ich und mein Vater sein, und natürlich hatte ich gehofft, dass er den Hof übernimmt, wenn ich einmal zu alt für die Arbeit bin. Sie haben mir nicht nur meine Familiengeschichte geraubt. Sondern auch meine gesamte Zukunft.«

 

Olof Anderzon

24 Stunden zuvor

Ingela

Vor der Frontscheibe verschluckt der gemietete Kleinbus einen Meter Autobahn nach dem anderen. Sie haben das letzte Wohngebiet hinter sich gelassen. Unter der strahlenden Sonne erstrecken sich Felder mit Wintersaat bis zu den waldbedeckten Berghängen. Aber Ingela hat nur Augen für Jonas, der neben ihr hinter dem Steuer sitzt. Für seine verstrubbelten Haare, die er nie richtig geglättet bekommt. Seine braun gebrannten Hände, die den Takt zur Countrymusik klopfen. Sie lächelt. Typisch Jonas, für jeden Anlass erstellt er eine spezielle Playlist.

Er erwidert ihren Blick, und Ingela sieht schnell weg. Eine Hitzewelle erfasst sie, und mit reiner Willenskraft versucht sie zu verhindern, dass sich rote Flecken auf ihrem Hals ausbreiten. Hinter ihr im Wagen sitzen sieben weitere Personen, die eventuell missverstehen könnten, was sie sehen. Einige von ihnen würden es missverstehen wollen. Sie weiß, dass die anderen von giftigem Neid erfüllt sind, seit Jonas zum Projektleiter für den Bau in Kolarängen befördert wurde.

Was sie für ihn empfindet, ist definitiv keine Verliebtheit. Das zu glauben, wäre völlig idiotisch. Jonas ist beinahe fünfzehn Jahre jünger als sie, sie sind beide verheiratet, und sie ist seine Chefin. Nur lassen sich Gefühle manchmal so leicht verwechseln, sogar ihr ist das schon passiert. Jonas lässt es in ihrem Bauch manchmal vor Angst und Erwartung kribbeln, auf eine Art, die sie fast schon vergessen hatte.

Er war es, der sie hatte begreifen lassen, dass sie die Gemeinde mitgestalten, ja prägen konnte. Ohne ihn wäre sie nicht einmal in der Lage gewesen, sich ein Projekt wie Kolarängen überhaupt vorzustellen. Dafür lässt sie sich viel zu leicht beunruhigen, und es fällt ihr viel zu schwer, ihre Position geltend zu machen. Um die Stelle als Chefin des Erschließungsamts hatte sie nie gebeten, es war irgendwie einfach passiert. Letztlich hatte sie schon so lange in der Kommunalverwaltung gearbeitet, dass dieser Weg gewissermaßen vorgezeichnet war. Aber Ingela hasste es. Hasste die Verantwortung, die endlose Verwaltungsarbeit und den unmöglichen Balanceakt, für die Zufriedenheit von sowohl Vorgesetzten als auch Angestellten zu sorgen. Ihr Mann versuchte sogar, sie zu einer Kündigung zu überreden. Aber als Jonas als Bauingenieur bei ihnen anfing, machte es ihr zum ersten Mal wirklich Spaß, Vorgesetzte zu sein. Es hatte fast ein wenig Glamour. Dank ihm erkannte sie ihr eigenes Potenzial. Sie nahm Einladungen zu Abendessen an, kleidete sich eleganter. Er weckte in ihr ganz einfach den Mut, Chefin zu sein. Den Mut, sich selbst ernst zu nehmen, so dass sie der Chefinnenrolle endlich gerecht werden konnte.

Rechts rauscht die Abfahrt zur Tankstelle an ihnen vorbei. Und wieder kribbelt es in Ingelas Bauch, denn jetzt befinden sich die Baukräne in Sichtweite.

Morgen lernt sie endlich Jonas’ Kontakt bei SBFF kennen. Politiker und Vertreter aus der Wirtschaft werden ebenfalls vor Ort sein, und natürlich die Zeitungen und das Lokalradio.

»Bist du fertig mit der Rede?«, fragt sie.

»So fertig ich eben sein kann. Ein kleines bisschen Spontaneität ist ja auch wichtig.«

Ingela weiß, dass er nicht ganz so entspannt ist, wie er sich nach außen hin gibt. Er hat wochenlang an der Rede gearbeitet.

»Es wird ganz bestimmt super«, sagt sie munter.

Jetzt fahren sie an dem Schild mit einer realistischen Abbildung des Einkaufszentrums Kolarängen vorbei, das ein Architekturbüro aus Stockholm angefertigt hat. In nur einem Jahr soll das gigantische zweistöckige Gebäude fertiggestellt sein.

Jonas grinst ihr zu, er wirkt beinahe beschämt über seine eigene Freude. Es ist rührend anzusehen, und diesmal weicht sie seinem Blick nicht aus. Für einen Moment fühlt es sich an, als wären sie allein in dem Kleinbus.

Aber die Realität drängt sich wieder in ihr Bewusstsein – und trübt ein, was eigentlich ein schöner Moment hätte sein sollen. Gestern hatte sie dieser Reporter der Bergslagens Tidning angerufen und erzählt, dass er an einer Artikelserie über Kolarängen schreibe. Morgen wird der erste Teil erscheinen, ein Porträt über Lappå, und jetzt wollte der Reporter mehr darüber wissen, wie die Dinge rund um den Landverkauf abgelaufen sind. Seine Fragen klangen vage, tastend. Aber er erwähnte eine Quelle, die gesagt hatte, dass es intern große Widerstände gegen das Projekt gebe.

Es macht Ingela rasend, dass jemand aus dem Team versucht hat, das Projekt schlechtzureden. Dass jemand, der hier mit im Bus sitzt, Jonas seine Freude nehmen will. Und sie hat bereits einen Verdacht, wer das ist.

Sie passieren die neue Ausfahrt, der dunkle Asphalt glänzt im strahlenden Sonnenlicht. Ingela greift hinüber zum Lenkrad. Ihre Finger streifen die von Jonas, als sie ein paar Mal vergnügt hupt, ehe sie sich auf dem Sitz nach hinten dreht und ihre Angestellten ansieht.

Sie wird es schaffen, sie wieder zu einem echten Team zu machen. Es wird gutes Essen geben, etwas Wein, und sie werden Spaß haben. Vor allem aber wird sie ihnen klarmachen, welche Chancen dieses Abenteuer bietet.

»Endlich ist es so weit, ist das nicht phantastisch?«, fragt sie in die Runde.

Nadja

Nadja starrt sein sonnengebräuntes Gesicht im Profil an, sein dichtes Haar, seinen Lausejungenblick im Rückspiegel des Kleinbusses. Jonas. Der Projektleiter für eines der größten Bauvorhaben in der Geschichte der Gemeinde lächelt breit und drosselt das Tempo.

Aus dieser unmittelbaren Nähe wirken die Baukräne riesig. Auf dem weitläufigen, mit einer Kiesschicht bedeckten Gelände ragen an vielen Stellen Kunststoffrohre und Kabel aus dem Boden. Baucontainer stapeln sich übereinander.

Bei ihrem Vorstellungsgespräch im Erschließungsamt vergangenen Winter hatte Nadja natürlich von der Unterschriftensammlung zur Rettung des vormals dort gelegenen Familienbetriebs gehört.

Mach dir keine Gedanken darüber, hatte Ingela gesagt. Wir haben uns mit dem Bauern geeinigt. Er ist jetzt einverstanden.

Niemand hat ihm etwas versprochen. Wir haben alles richtig gemacht.

Wir hätten überhaupt keine Rücksicht auf ihn nehmen müssen, aber er hat den Bescheid fristgemäß erhalten.

»Das ist ein ganz neues Kapitel in der Geschichte der Gemeinde«, sagt Ingela jetzt und streicht sich eine aschblonde Haarsträhne hinters Ohr. »Und das alles verdanken wir Jonas.«

Sie betrachtet Jonas mit einer Mischung aus mütterlichem Stolz und verzweifeltem Begehren. Für einen Moment wirkt es, als wollte sie ihm durchs Haar strubbeln.

Hinter Nadja applaudiert jemand. Sie hat keinen Zweifel daran, dass es Kaj ist. Der Betriebswirt ihrer Abteilung ist Jonas’ eifrigster Erfüllungsgehilfe.

»Es ist ja nicht so, dass ich ein Medikament gegen Krebs erfunden hätte«, erwidert Jonas gutgelaunt, dreht die Musik lauter und beschleunigt erneut.

»Nein, aber so gut wie«, sagt Ingela mit einem Lachen.

Wie es wohl wäre, wenn man tatsächlich von dem Kolarängen-Projekt und seinem baldigen Triumph überzeugt wäre? Man würde ahnungslos der bevorstehenden Katastrophe harren.

Nadja muss daran denken, wie sie sich damals über die Stelle als Bodenmanagerin beim Erschließungsamt gefreut hatte. Ihre erste Festanstellung nach dem Jurastudium. Sie hat das Rathaus erst vor gut einem halben Jahr das erste Mal als Angestellte betreten, fragt sich aber schon jetzt, wie sie damals bloß so naiv hatte sein können.

Die Antwort lautet natürlich, dass sie ihrer neuen Chefin Ingela so gern hatte glauben wollen. Einer Frau, die viel von Arbeitskultur und Wertvorstellungen sprach. Einer Frau, die sie vom ersten Arbeitstag an wahrnahm und ernst nahm.

Wir brauchen hier einen jungen Menschen mit neuen Ideen.

Wenn etwas ist, kannst du mich jederzeit fragen.

Ich wollte dich heute zur Feier des Tages zum Mittagessen einladen.

Danach aber hat sie erkannt, dass Ingela ihre Rolle vor einem neuen Publikum immer am besten spielt. Und sie hat gelernt, dass Ingela nie auf andere Frauen hört – vor allem nicht, wenn sie jünger sind als sie selbst, und erst recht nicht, wenn sie in der Hierarchie unter ihr stehen.

Das hätte sie, Nadja, schon beim ersten Mal wissen müssen, als sie einen der Verträge des Bauvorhabens zu Kolarängen gesehen und darüber mit Ingela zu sprechen versucht hatte.

Daran ist nichts Sonderbares. Das ist ganz normal. So läuft das.

Langfristig werden wir davon profitieren.

Jonas weiß, was er tut.

Ingela wirkte so überzeugt, dass Nadja zuerst Selbstzweifel beschlichen. Inzwischen tun sie das nicht mehr. Der Reporter der Bergslagens Tidning hatte sie vorgestern angerufen. Danach war Nadja sämtliche Verträge über das Einkaufszentrum noch einmal durchgegangen, um ein für alle Mal Klarheit zu haben.

Sie sieht zu Amir, der neben ihr in der Mitte sitzt. Er erwidert ihren Blick durch seine Pilotensonnenbrille mit goldfarbenen Bügeln. Ingelas persönlicher Assistent ist der Einzige in diesem Kleinbus, der weiß, was Nadja weiß. Er ist zwei Abende hintereinander mit ihr im Büro geblieben, hat ihr bei der Suche nach sämtlichen Dokumenten geholfen, hat alte E-Mails aus der Zeit vor Nadjas Anstellung gesichtet. Nadja hat sogar bei SBFF angerufen, mit ihrer süßesten, naivsten Stimme. Da ist nur eine kleine Sache, die ich noch einmal gegenprüfen möchte. Was sie entdeckten, war um vieles schlimmer, als Nadja geahnt hätte. Jetzt ist alles in einer nüchternen Tabelle zusammengestellt, Daten, vor denen nicht einmal Ingela ihre Augen verschließen kann. Sie müssen mit ihr reden, ehe sie sich morgen vor die Kameras stellt.

Aber ein Puzzleteil fehlt ihnen noch. Nadja zieht ihr Handy aus der Tasche ihrer Lederjacke. Checkt ihren Posteingangsordner. Aber das, worauf sie gehofft hat, ist nicht unter den neuen Nachrichten.

Jonas wechselt die Fahrspur und nimmt die nächste Abfahrt. Die Straße beschreibt eine so enge Kurve, dass Amirs Körper gegen ihren gedrückt wird. Hinter ihnen gibt Anette einen lauten Seufzer von sich, als wäre diese Kurve ein persönlicher Angriff auf sie.

»Schön festhalten, liebe Leute!«, ruft Jonas, um die Musik zu übertönen. Dann fahren sie auf die Brücke, die über die Autobahn führt, die sie gerade verlassen haben.

Nadja sieht wieder zu Amir. Perfekte Kurzhaarfrisur, glatt gebügeltes hellblaues Hemd. Ob sie sich tatsächlich auf ihn verlassen kann, wenn es darauf ankommt? Ohne ihn wird sie Ingela nicht dazu bewegen können, ihr zuzuhören, aber Amir hofft auf eine Karriere in der Kommunalverwaltung. Will er wirklich in diese Sache hineingezogen werden? Sie stellt sich ja selbst die Frage, ob es den Versuch überhaupt wert ist. Es wäre so viel einfacher, alles zu ignorieren. Die Katastrophe auf ihr unvermeidliches Ende zusteuern zu lassen, ohne selbst etwas zu riskieren.

Als sie durch ein ehemaliges Industriegebiet fahren, beginnt Nadja damit, ihre Mails zu beantworten. Gelegentlich sieht sie von ihrem Display auf, damit ihr nicht schwindelig wird. Ihr Blick schweift über staubige, maschendrahtumzäunte Parkplätze. Klotzige Gebäude mit zerbrochenen Fensterscheiben und Wellblechfassaden.

Sie erschrickt heftig, als plötzlich schrilles Kindergeschrei im Wageninneren ertönt. Jonas lacht und nimmt sein Handy entgegen, das Ingela ihm hinhält. Das Geschrei verstummt abrupt.

»Sorry!«, ruft er ihnen über die Schulter zu und schwenkt munter sein Handy, so dass das Armband mit den bunten Kunststoffperlen rasselt. »Ich wollte Ingela nur kurz was zeigen, hab aber nicht daran gedacht, dass ich per Bluetooth mit dem Lautsprecher verbunden bin.«

Nadja sieht, dass er einen Videoclip von seinen beiden Töchtern pausiert hat. Sie springen mit ihren Hula-Hoop-Reifen auf einem Trampolin, hängen erstarrt in der Luft. Weißblonde Haare flattern um ihre sonnengebräunten Gesichter. Karin und Simone, getauft nach Karin Boye und Simone de Beauvoir. Die das Armband für ihn gebastelt haben. Deren bloße Existenz Jonas zum Feministen hat werden lassen.

Jonas. Dieses. Blöde. Arschloch. Welche Genugtuung er jetzt, unterwegs zu dieser Konferenz, verspüren muss. Er wird vor falscher Bescheidenheit strotzen und zugleich dafür sorgen, seinen neuen Titel häufig genug zu erwähnen, damit ihn ja niemand vergisst.

Amir sieht sie amüsiert an, und Nadja stellt fest, dass sie ihr Gesicht unfreiwillig zu einer Grimasse verzogen hat.

Die Musik erklingt von neuem, und Jonas klopft den Takt eines weiteren – ironisch gewählten – Countrysongs mit. Eine Frau singt davon, ihren rötesten Lippenstift aufzulegen, damit ihr Mann merkt, wie es ist, jemanden zu vermissen. Der Kleinbus fährt über die Brücke, wo der Kolarsjön in den Strömsholm-Kanal mündet. An einem Schild, das Auskunft darüber erteilt, dass Kolarsjöns Stugby noch vier Kilometer entfernt ist, biegen sie auf eine schmale Schotterstraße ab.

Nadja betrachtet die bewaldeten Berge, die sich auf ihrer Seite des Kleinbusses in die Höhe strecken. Das Moos, das die steilen Hänge bedeckt, ist geradezu unwirklich grün. Sie dreht den Kopf. Hinter dem anderen Seitenfenster rückt der spiegelblanke See zwischen den Baumstämmen ins Blickfeld. Die Wasseroberfläche reflektiert die kreideweißen Wolken so perfekt, dass es scheint, als wäre ein Stückchen Himmel herabgefallen.

Nadjas Blick heftet sich auf das Profil von Lina, die rechts neben Amir sitzt. Ihre Gesichtszüge sind kühl und klar, wirken fast schon stereotyp skandinavisch. Was Lina wohl über das Kolarängen-Bauvorhaben denkt? Sie ist Bauingenieurin, genau wie Jonas. Ahnt sie, was es gekostet hat, dieses Projekt durchzudrücken? Nadja weiß es nicht. Sie kennen einander nicht. Als Nadja die Stelle bekam, war Lina krankgeschrieben. Sie hat vor kurzem mit ihrer Wiedereingliederung begonnen, doch scheint selbst dann nicht richtig anwesend zu sein, wenn sie da ist. Sie lächelt und nickt an den richtigen Stellen, erwidert etwas, wenn sie angesprochen wird, aber ihre Augen sind leer.

Nadja hört mit halbem Ohr zu, als Amir mit dem Tagungshotel telefoniert und ihr baldiges Eintreffen ankündigt. Noch einmal aktualisiert Nadja ihren Posteingang, aber nichts Neues ist eingetrudelt.

»Du musst dir unbedingt Netflix zulegen«, sagt Jonas an Ingela gewandt. »Es wäre echt cool, zu hören, was du davon hältst.«

»Ach, ich fühle mich im Mittelalter eigentlich ganz wohl. Außer SVT brauche ich keine anderen Sender.«

Die kühle aschblonde Nuance ihres Pagenkopfs hebt die aufblühenden roten Flecken hervor, die sich über ihren Hals ziehen.

»Eine Serie mit so vielen starken Frauenfiguren ist wirklich mal außergewöhnlich, es macht echt Spaß, das zu schauen, auch wenn ständig irgendwelche schrecklichen Dinge passieren«, sagt Jonas.

Nadja öffnet ihre Dropbox. Sieht sich das Dokument an, dem sie einen so nichtssagenden Namen wie möglich gegeben hat. Schielt zu Jonas hoch, der immer noch von seiner neuesten Serienentdeckung schwärmt.

Sie will nicht, dass er damit davonkommt. Sein zerstrubbeltes Haar darf ihm keine Hilfe sein. Auch nicht sein charmantes Schulterzucken, das so viel besagt wie, verflixt, was hab ich da nur wieder angerichtet?

Sie darf nicht kneifen.

Kolarsjöns Stugby

Jenny ist in der Gegend aufgewachsen, hat diesen Ort ihr Leben lang geliebt und wollte ihm schon immer zu neuem Glanz verhelfen. Das Hotel war ihr absolutes Traumprojekt. Als Roger und sie zum ersten Mal hier draußen waren, hatte das ZU VERKAUFEN-Schild schon so lange auf dem Hofplatz gestanden, dass es bereits morsch war, doch davon ließ sich Jenny nicht abschrecken. »Ist es in diesen Zeiten nicht sowieso das Beste, seinen Urlaub in Schweden zu verbringen?«, fragte sie, als sie einen Blick durch die schmutzigen Hüttenfenster auf der Seeseite warfen. »Jetzt wo alle wissen, wie sehr Flüge der Umwelt schaden?« Roger zu überzeugen, war nicht besonders schwer gewesen. Sie fühlten sich beide nicht wohl in ihren Jobs, und Roger ist zehn Jahre älter als sie. »Es ist vielleicht deine letzte Chance, beruflich noch einmal umzusatteln«, sagte sie, als sie auf dem Holzdeck standen und auf den See hinausschauten.

Die gesamte Anlage kostete eine knappe Million Kronen, und Rogers Bruder, der auf dem Bau arbeitete, versprach, bei der Renovierung zu helfen. Sie verkauften ihr Haus und bezogen einige Räume im Erdgeschoss des Hauptgebäudes. Auf einer Party in Västerås traf Jenny dann den Bekannten eines Bekannten, und es war wie ein Zeichen: Der Typ hatte eine Eventagentur, die sich auf Tagungen und Teambuilding-Events spezialisiert hatte, und sie einigten sich darauf, dass er eine Seilrutsche installieren sollte, die einmal über den Kolarsjön und zurück führt.

Aber im Frühling kamen nicht mehr als eine Handvoll Seminare und Tagungen zustande, und die Renovierungsarbeiten wurden um einiges teurer als geplant. Inzwischen redet Roger kaum noch mit seinem Bruder. Der erste Sommer ist vorbei, und sie hatten so gut wie keine Feriengäste, trotz der gekauften hohen Platzierungen bei Google-Suchen und Jennys Versuchen, Follower für ihren Instagram-Account zu gewinnen. Sie schläft immer schlechter.

Bisher hatte die Kommunalverwaltung Roger und ihr vor allem Steine in den Weg gelegt. Sie beide hatten nicht im Geringsten geahnt, wie viel Bürokratie es bedeutete, eine Anlage wie diese zu übernehmen. Aber jetzt, als sie in der Hotelküche steht und eilig die Kaffeemaschine befüllt, keimt unter Jennys Nervosität Hoffnung auf, zum ersten Mal seit langem. Es hängt viel davon ab, dass dieses Seminar glatt läuft. Gerade haben ihre Gäste Bescheid gegeben, dass sie auf dem Weg sind, und Jenny hinkt mit allem hinterher. Heute Morgen hat sich zu allem Überfluss ihre Aushilfe Josef per SMS krankgemeldet, und das nur eine halbe Stunde, bevor er hätte hier sein sollen. Sie vermutet, er will sie damit bestrafen, weil er beim letzten Mal so lange auf seinen schwarzen Lohn warten musste.

Jenny bindet ihre knallpinken Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen und legt frisch gebackene Zimtschnecken auf eine Servierplatte. Sie weiß, dass es bei dem Seminar um das geht, was in Kolarängen passiert. Selbstverständlich war sie gegen das Einkaufszentrum, als sie zuerst davon gehört hatte, sie hat sogar die Petition unterschrieben. Ihre Eltern sind Bekannte der Pålssons, und sie waren gemeinsam schon einmal hier, um hallo zu sagen. Es schien vollkommen absurd, dass die Gemeinde ihnen das Land abnehmen wollte. Aber Jenny ist klar geworden, dass die Gemeinde und sie tatsächlich etwas gemeinsam haben. Sie wollen Fortschritt. Wollen neue Leute in die Region locken. Und was gut für die Gemeinde ist, ist auch gut für Roger und sie. Im Zusammenhang mit dem Bauprojekt in Kolarängen werden eine Menge Leute hierherkommen. Leute, die eine Übernachtungsmöglichkeit brauchen.

Langsam verbreitet sich der Duft frisch gebrühten Kaffees in der Küche. Jenny schaut aus dem Fenster zum Parkplatz, doch dort steht nur ihr alter weinroter Mazda-SUV.

Roger kontrolliert unterdessen, ob es in den Schlafhütten genügend Decken, Kissen und saubere Handtücher gibt. Er denkt an das, was Jenny vor ein paar Tagen gesagt hat: Dass dieses Seminar ihre Chance ist, nicht nur bei der Gemeinde, sondern auch bei dem großen Bauunternehmen Eindruck zu schinden. »Wenn alles klappt, wendet sich das Blatt vielleicht.« Roger wünschte, sie hätte nichts gesagt. Er stellt sich immer ungeschickt an, wenn er so nervös ist wie jetzt. Er verhält sich steif und eigenartig und sagt die falschen Dinge, und jetzt müssen sie die kommenden vierundzwanzig Stunden auch noch ohne Josef schaffen.

Roger hört, wie sich Motorengeräusche nähern. Er holt tief Luft, bevor er die Hütte auf der Vorderseite verlässt und über die Wiese auf das Haupthaus zugeht.

Auf der anderen Seite des Sees sitzt ein Mann auf einem moosbewachsenen Stein, der vor langer Zeit einmal zum Ofen einer Köhlerhütte gehört hat. Der Mann trägt einen Overall mit Tarnmuster, der ihn dort im Unterholz, zwischen den Büschen, fast unsichtbar macht. Auch er hat das Motorengeräusch gehört und hält mit seinem Fernglas danach Ausschau, bis er den Kleinbus zwischen den Baumstämmen entdeckt. Hin und wieder verschwindet der Wagen aus seinem Sichtfeld, aber kurz darauf blitzt das Sonnenlicht auf der Frontscheibe auf, als er um die Kurve biegt und dann die Auffahrt entlang auf den Parkplatz fährt. Der Mann erkennt die Silhouetten der beiden Menschen auf den Vordersitzen wieder, und sein Atem wird flacher. In seinem Blut, das jetzt immer schneller durch die Adern gepumpt wird, befinden sich Ritalin, Oxazepam und Steroide.

Im Kleinbus schaltet Jonas den Motor aus. »Da wären wir also, liebe Leute«, sagt er fröhlich.

Hinter ihm rüttelt Lina am Griff der Schiebetür, aber nichts tut sich. »Sorry, Kindersicherung!«, ruft Jonas und grinst in den Rückspiegel. Er wartet kurz und drückt dann auf den Knopf zum Entriegeln. Langsam gleitet die Tür auf, und Lina steigt ins Freie. Sie versucht zu verbergen, dass sie nach Luft ringt, als wäre sie den ganzen Weg gerannt. Amir lächelt ihr zu und hängt sich seine braune Laptoptasche aus Leder über die Schulter, bevor er in Richtung Hotel geht. Lina bleibt stehen und schaut ihm hinterher, während die anderen nacheinander aus dem Kleinbus steigen.

Nadja dreht sich zum See, aber sie sieht ihn eigentlich gar nicht. In ihrem Kopf schwirren so viele Gedanken herum, dass sie keinen Blick dafür hat. Das dunkle, schulterlange Haar betont ihr blasses Gesicht, die großen grauen Augen, die markante Nase. Vorsichtig zieht sie die Lederjacke aus. Die Sonne wärmt ihren Rücken, wenn auch nur äußerlich. Tiefer dringt die Wärme nicht, und sie zieht die Jacke wieder an. Jetzt wird es richtig Herbst, denkt sie.

Ingela, die Amtsleiterin, streicht mit den Händen über ihren engen roten Blazer. »Wann waren wir zum letzten Mal hier?«, fragt sie. »Das muss 2008 gewesen sein, oder?«

»Die Leute, die den Gasthof damals führten, waren jedenfalls ganz komische Vögel«, sagt Torbjörn, der am längsten von allen beim Erschließungsamt arbeitet. Die Arthrose in seinen Knien macht sich schmerzhaft bemerkbar, als er aus dem Bus steigt, und er ächzt kurz auf. Unter seinem ausgewaschenen und sorgfältig in die weiten Jeans gestopften weinroten Hemd wölbt sich ein stattlicher Bauch. Sein weißes Haar ist immer noch dicht wie ein Pelz. Ingela lächelt ihm steif zu und meint, dass es sicher nett wird, die neuen Besitzer kennenzulernen. Torbjörn schüttelt den Kopf. »Arme Irre. Das hier draußen wird doch sowieso nichts mehr.«

Eva, Kartographie-Ingenieurin und die Zweitälteste in der Gruppe, wirft ihm einen entnervten Blick zu und zündet sich eine Zigarette an. »Was bist du wieder gut gelaunt«, bemerkt sie ironisch. Eva trägt die grauen Haare kurz, und ihre Augen hinter der Brille mit dem roten Plastikgestell sind stark mit Kajal und Mascara geschminkt. Nur jemandem, der sie so genau beobachtet wie der Mann mit dem Fernglas, fällt auf, dass ihr linker Arm ein wenig schlaff von der Schulter hängt. »Versuch wenigstens, dich mit solchen Kommentaren zurückzuhalten, wenn wir sie treffen«, setzt sie hinzu, aber Torbjörn hört gar nicht hin. Sein Blick ist bei Kaj hängen geblieben. Der Betriebswirt des Teams ist gerade aus dem Bus gehüpft und sieht sich mit wachen, hellen Augen um. Wie so ein dämliches Eichhörnchen, denkt Torbjörn, dessen eigene schwere Lider ihn ständig aussehen lassen, als wäre er gerade erst aufgestanden. Doch obwohl Kaj nicht einmal halb so alt ist wie Torbjörn, hat er bereits kaum noch Haare auf dem Kopf und rasiert die restlichen sorgfältig ab. Seine kräftigen Armmuskeln sind selbst unter dem dicken Jackett gut zu erkennen, und das karierte Hemd ist weit genug aufgeknöpft, um ein gutes Stück der ebenfalls glatt rasierten Brustpartie zu entblößen.

Als Letzte steigt Anette, die Vermessungsingenieurin, aus dem Kleinbus. Ihr schludrig geflochtener Zopf schimmert kupferfarben in der Sonne. Als sie krampfhaft versucht, die Schiebetür hinter sich zu schließen, vertiefen sich die Sorgenfalten in ihrem von Sommersprossen übersäten Gesicht. Die Tür klemmt fest.

»Entspann dich mal ein bisschen«, sagt Eva, was ihr einen irritierten Blick von Anette einbringt, die ein zweites Mal an der Bustür zerrt. Jonas lacht auf und drückt den Autoschlüssel, worauf die Tür sanft zugleitet. Anette wendet sich zornig ab und schiebt sich ohne ein Wort an ihm vorbei.

Die anderen folgen ihr als lose Gruppe in Richtung Hauptgebäude. Zusammen sind sie neun Personen. Der Mann auf der anderen Seite des Sees nimmt das Fernglas erst herunter, als sie alle aus seinem Blickfeld verschwunden sind.

Lina

Lina bleibt auf dem Vorplatz stehen und tut so, als studiere sie den alten Gasthof. Kleine Wattewölkchen ziehen langsam über den Himmel. Eine dicke Telefonleitung erstreckt sich von dem Berg hinter ihr bis über das Hausdach, wo sie außer Sichtweite gerät.

Nadja lächelt ihr zu, als sie an ihr vorbeigeht. Obwohl sie Lina nur knapp bis zur Schulter reicht, wirkt sie irgendwie hochgewachsen. Vielleicht liegt das an ihrer Ausstrahlung. Oder an der aufrechten Haltung in dem dunkelblauen, knöchellangen Hemdblusenkleid und der weiten Lederjacke, dem Gürtel – offensichtlich ein Vintage-Accessoire –, den spitzen Riemchenpumps mit breitem Absatz. Kleidung, die sich an Trends orientiert, von denen Lina nichts mitbekommt, oder erst dann, wenn sie schon wieder passé sind. Ihre schwarze Jeans und die Adidas-Bomberjacke mit Blumenmuster kommen ihr in diesem Moment genau wie das vor, was eine geschiedene, ausgebrannte Mutter von Kleinkindern mit Anfang vierzig trägt, wenn sie zugleich taff und lässig aussehen will.

In den letzten Tagen ist ihr aufgefallen, wie häufig Nadja und Amir sich im Büro zusammen von den anderen abgesondert haben. Und sie hat ihre Blicke im Kleinbus gesehen, so als teilten sie ein Geheimnis. Sie sollte sich für sie freuen, falls sie ein Paar sind. Nur gerade heute Abend möchte sie nichts sehen, was ihre Vermutung bestätigt.

Lina steht immer noch auf dem Vorplatz, jetzt allein. Das Stimmengewirr der anderen in der Eingangshalle des Hauses wird zunehmend lauter. Hineinzugehen erscheint ihr plötzlich unmöglich. Allein die Fahrt hierher war fast zu viel für sie, aus mehreren Gründen. Sie fühlte sich in dem Kleinbus eingeschlossen und hilflos, es lag so viel Unausgesprochenes und Unterschwelliges in der Luft, das sie nicht deuten konnte. Sie war dem schutzlos ausgeliefert gewesen, hatte alles ungefiltert wahrgenommen, und jetzt fragt sie sich, was während ihrer Krankschreibung wohl im Amt vorgefallen ist.

Oder war es vielleicht immer schon so, nur dass sie es nicht mitbekommen hatte?

Oder verbreitet sie selbst diese schlechte Stimmung und sendet unbewusst seltsame Signale aus, die sie nicht unter Kontrolle hat?

Oder bildet sie sich das alles nur ein?

Woher soll sie es wissen, wenn sie selbst sich nicht einmal mehr kennt, sich selbst nicht länger spürt?

Lina legt die Hände in den Nacken und massiert ihn mit den Fingerspitzen. Dies hier war ein Fehler. Sie hätte nicht mitkommen dürfen. Niemand hat es von ihr verlangt. Tatsache ist, dass sie nicht einmal sicher weiß, ob es aufgrund der strikten Vorgaben für ihre Wiedereingliederung überhaupt zulässig ist.

Sie ist mitgefahren, um zu beweisen, dass sie wieder normal ist, aber wem versucht sie da etwas vorzumachen? Sie bringt ja kaum die wenigen Stunden im Büro hinter sich, sitzt wie gelähmt da, die Finger still auf der Computertastatur liegend, und starrt den Bildschirm an, während in ihrer Brust die Angst anschwillt und sie sich innerlich zuschreit, sich doch endlich zusammenzureißen und anzufangen. Aber es geht einfach nicht. Sie fühlt sich so erschöpft, dass sie sich nicht einmal mehr daran erinnern kann, wie es war, nicht erschöpft zu sein. Sie hat sich alle Mühe gegeben, den Kopf über Wasser zu halten. Hat so viel Energie wie möglich geschöpft, um ihren Kindern in den Wochen, in denen sie bei ihr sind, eine gute Mutter zu sein. Und nicht einmal das gelingt ihr.

Lina hat schreckliche Angst, dass sie eines Tages zu der Erkenntnis kommt, nicht mehr weiterkämpfen zu wollen. Sich einfach zu Boden sinken lassen und verschwinden zu wollen. Die Scham darüber, was für ein Mensch aus ihr geworden ist, ist so stark, dass sie nicht weiß, wie sie das länger ertragen soll. Sie ist auf allen Ebenen gescheitert. Als sie Noah heute Morgen in den Kindergarten gebracht hat, wollte die Erzieherin wissen, ob sie an ein neues Paar Gummistiefel gedacht hat. Eigentlich war es gar keine Frage gewesen, denn es war offenkundig, dass Lina mit leeren Händen dastand. »Für heute ist Regen angekündigt«, fügte die Erzieherin hinzu. Und Lina musste zugeben, die Stiefel vergessen zu haben, musste ihr recht geben, dass sie natürlich nicht wolle, dass ihr Kind draußen in undichten Gummistiefeln spielen muss.

Sie vergisst so vieles. Zu Elternabenden zu gehen, Brotdosen einzupacken und neue Kinderklamotten zu besorgen, wenn Noah und Oscar aus ihren Sachen herausgewachsen sind, aber vor allem vergisst sie, vor ihren Kindern die Verzweiflung in ihrer Stimme zu unterdrücken. Sie fragen, Bist du traurig, Mama? Bist du böse?,und Lina sieht, dass sie ihr nicht glauben, wenn sie mit Nein antwortet. Sie vergisst, ihnen richtig zuzuhören und sie ernst zu nehmen, wenn sie von ihrem Alltag erzählen. Sie schreit sie an und reagiert ungeduldig, weil sie vergisst, dass sie noch Kinder sind.

Sie sollte Johnny jetzt sofort eine Nachricht schicken. Ihn darum bitten, diese verfluchten Stiefel zu kaufen. Um Entschuldigung bitten. Aber sie bringt jetzt nicht die Kraft dafür auf, schon wieder bei ihm zu Kreuze zu kriechen, vor allem nicht nach den vielen Gesprächen, die nötig waren, um ihre Tage zu tauschen. Er ließ es so klingen, als wollte sie die Kinder für irgendeine extravagante Vergnügungsreise im Stich lassen, statt für eine Konferenz mitten in der Einöde.

Kinder brauchen geregelte Abläufe, vor allem jetzt.

Lina hört auf, ihren Nacken zu massieren. Sieht wieder zum Himmel. Beschließt, fest davon auszugehen, dass es in der Stadt nicht regnen wird und die Stiefel nicht erwähnt werden, wenn Johnny Noah heute Nachmittag abholt. Vielleicht schafft sie es morgen ja sogar, Gummistiefel zu besorgen und sie nach der Zeremonie in Kolarängen im Kindergarten abzugeben. Aber wenn sie jetzt funktionieren soll, wenn sie keinen Zusammenbruch riskieren will, dann darf sie nicht länger an die Kinder denken.

Entschlossen steigt sie die Stufen der Steintreppe hinauf. Wappnet sich, bevor sie hineingeht, ins Stimmengewirr eintaucht und blinzelt, um sich nach dem grellen Sonnenlicht im Freien an die veränderten Lichtverhältnisse im Innern des Hauses zu gewöhnen. Ihre Kollegen stehen vor einem kleinen Empfangstresen beisammen, der in der Eingangshalle rechts in die Ecke gequetscht wurde, unter eine Treppe noch dazu. An der gegenüberliegenden Wand hängen dicht an dicht Fotos und Dokumente, so dass die Tapete im Blumenmuster zwischen den Bilderrahmen kaum zu sehen ist. Geradeaus, den Flur hinunter, steht eine hellgrüne Flügeltür offen, die anscheinend zu einem Speiseraum führt.

Das Paar hinter dem Empfangstresen stellt sich gerade als Jenny und Roger Bergmark vor. Jennys rosa gefärbtes Haar ist zu einem Pferdeschwanz hochgebunden, der bei jeder Kopfbewegung munter auf und ab hüpft. Roger ist schlank und durchtrainiert, trägt einen sorgfältig getrimmten Bart und große goldene Ohrringe. Seine Arme, die aus dem schwarzen T-Shirt hervorschauen, sind mit Tattoos übersät. Lina bemerkt, dass ihn die auf ihn gerichtete Aufmerksamkeit nervös macht, und es überrascht sie, wie sehr sie hofft, dass Torbjörn sich irrt und die beiden hier draußen Erfolg haben werden.

»Wie schön, dass dieser Ort jetzt neue Besitzer hat!«, ruft Ingela begeistert aus. »Wir haben hier schon einmal eine Konferenz abgehalten, aber das ist … ach, du meine Güte, das ist mittlerweile elf Jahre her.«

»Damals hatten sie hier alles auf großkotzig getrimmt«, gibt Torbjörn von sich. »Tannenzweige im Essen und allen möglichen Firlefanz, der …«

»Ja, das Timing war natürlich sehr schlecht«, fällt Ingela ihm hastig ins Wort. »Solche großen Anstrengungen zu unternehmen, und dann bricht die gesamte Weltwirtschaft zusammen. Für Sie beide wird die Sache bestimmt besser laufen.«

Jenny nickt und lächelt ein klein wenig gezwungen.

»Hoffen wir mal, Sie wissen, worauf Sie sich da eingelassen haben«, sagt Torbjörn. »Seit den Achtzigerjahren hat hier draußen nämlich alles und jeder Schiffbruch erlitten.«

Niemand sagt etwas. Lina wird sich auf einmal ihrer viel zu lauten Atemgeräusche bewusst, sie klingen wie angestrengtes Keuchen. Ob die anderen es auch hören?

Torbjörn selbst scheint nichts von der betretenen Atmosphäre zu merken. Er nimmt sich ein Bonbon aus der Schale auf dem Tresen, reißt das Papier mit den Zähnen ab.

»Wer von uns war denn schon beim letzten Mal dabei?«, fragt Ingela, und ein kleiner Hauch von Verzweiflung schwingt in ihrer Stimme mit.

Eva konnte damals nicht mitfahren, weil sie krank war, daran erinnern sie sich noch. Aber Anette war mit von der Partie gewesen. Lina versucht nach Kräften, wie ein ganz normaler Mensch zu wirken und sagt, dass sie zu der Zeit noch nicht im Amt angefangen hatte. Torbjörn verlagert sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen und klickt sein Bonbon hörbar gegen die Zähne.

Lina will nicht an ihre Atmung denken, aber wenn sie es nicht tut, vergisst sie das Atmen vielleicht ganz? Der Gedanke ist absurd, das weiß sie, aber ihr Gehirn ist so überlastet, dass ihr diese Möglichkeit vollkommen plausibel erscheint.

Jonas sagt, dass er nicht mehr am Kolarsjön war, seit er als Kind hier Schlittschuh gelaufen ist.

»Mir hat dermaßen der Hintern weh getan, dass ich mich hinterher beim Grillen nicht einmal mehr hinsetzen konnte«, fügt er hinzu, und alle lachen erleichtert auf.

Als Jonas zum Projektleiter für das Einkaufszentrum ernannt wurde, war Lina furchtbar neidisch gewesen. Sie fand sogar, sie hätte den Posten mehr verdient als er. Jetzt aber, als Jonas alle zum Lachen bringt, erscheint es ihr wie eine Selbstverständlichkeit. Und wenn sie ganz ehrlich ist, sollte sie froh sein, dass Ingelas Wahl nicht auf sie gefallen ist. Eine Projektleiterin, die mitten in der Planungsphase krankgeschrieben wird, wäre katastrophal für die gesamte Gemeinde gewesen.

»Den alten Grillplatz gibt es sogar noch«, sagt Jenny. »Wenn das Wetter hält, werden Sie dort heute Abend ein Grillbuffet zu sich nehmen können.«

Sie dreht sich zu dem kleinen Tresor hinter dem Tresen um und nimmt mehrere Schlüsselpaare heraus, die gegen große Messinganhänger klirren.

»Stellt euch vor, wie herrlich! Das wird vielleicht die letzte warme Mahlzeit dieses Jahres unter freiem Himmel!«, sagt Ingela.

»Ja, die Nächte können jetzt schon richtig frisch werden«, sagt Jenny.

Lina geht zu der Wand mit der Blumentapete. Ihr Blick schweift über vergilbte Fotografien von Köhlern. Bleibt an einem gerahmten Dokument mit angesengten Rändern hängen. Ein Gedicht, ausgedruckt in einer geschwungenen Schriftart, die wie handgeschrieben wirken soll. Sie tritt näher.

Der Meiler bebte,

Flammen rot,

der Köhler fiel hinein, war tot

Kein bisschen von dem Kerl noch da

das Weib, die ganze Kinderschar

verjagt aus dem Kirchspiel, aus Not, oh weh

Ansonsten blieb alles wie eh und je

Helmer Grundström

»Du weißt nicht, wer das ist, oder?«

Torbjörns Stimme. Lina sieht auf, aber er spricht gar nicht mit ihr, sondern mit Nadja, die ein Stück entfernt steht. Er zeigt auf das Schwarz-Weiß-Foto eines Mannes im Anzug, der – das Jackett über den Arm gehängt – auf dem Vorplatz steht. Der Mann schaut mit einem leicht gereizten Ausdruck in seinem schwermütigen Gesicht in die Kamera.

»Nein«, erwidert Nadja.

»Und du, Lina?«

Sie betrachtet das Bild noch einmal. Der Mann kommt ihr irgendwie bekannt vor, aber sie kann ihn nicht richtig einordnen.

Klick-klick-klick macht das Bonbon in Torbjörns Mund.

»Ich habe keine Ahnung«, gibt sie zu.

»Per Albin Hansson. Wer das war, wisst ihr aber doch wohl? Und was hat der Ministerpräsident noch gleich in seiner berühmten Rede gesagt?« Er wartet die Antwort nicht ab. »Genau, Schweden ist gut vorbereitet, sagte Per Albin Hansson.«

Nadja sieht Lina an und verdreht die Augen; Lina ertappt sich selbst bei einem Lächeln.

Torbjörn entgeht das natürlich. Mit direktem Blick sieht er Jonas an.

»Ich frage mich, was er dazu sagen würde, was wir mit all unserem schönen Ackerland anstellen?«

Jonas überhört Torbjörns spitzen Tonfall. Lächelt nur unwissend.

»Das war doch eine ganz andere Welt zu seiner Zeit. Ihm wäre es bestimmt auch schwergefallen, so manch anderes nachzuvollziehen.«

»Okay, dann wollen wir jetzt mal die Schlüssel verteilen«, erklingt Amirs Stimme vom Empfangstresen. »Jeder von euch bekommt zwei Schlüssel, einen für die Hütte und einen für das Sanitärgebäude, wo sich Duschen und Toiletten befinden. Wir werden uns zu zweit eine Hütte teilen. Alle bis auf Ingela, sie übernachtet hier im Haus.«

Anette grummelt leise, Lina kann nicht verstehen, was sie sagt. Sie starrt nur auf das Schlüsselpaar in Amirs Hand. Fragt sich, ob sie wohl um eine eigene Hütte bitten kann? Sehr viel mehr kostet es sicher nicht. Obwohl sie immer noch Krankengeld erhält und sich kaum diese verfluchten Gummistiefel leisten kann, würde sie nahezu jeden Betrag zahlen, um im Fall eines Zusammenbruchs für sich zu sein.

Aber dann müsste sie den anderen erklären, was mit ihr los ist.

»Sind wir nicht ein bisschen zu alt für solche Pyjamapartys?«, fragt Eva und schiebt ihre Brille auf dem Nasenrücken höher.

Lina schielt zu ihr hinüber. In zwanzig Jahren hofft Lina selbst eine gestandene Dame zu sein, der es egal ist, wem sie auf die Füße tritt. Aber vermutlich hält Eva Menschen, die sich wegen Stress krankschreiben lassen, für rückgratlos. Hastig sieht Lina zu Anette. Schaut wieder weg. Anette und Eva sind gleich alt, und wenn sie Pech hat, wird sie eher Anette nachschlagen. Sich in eine passiv-aggressive Mimose verwandeln, im Büro ständig Ohrstöpsel tragen, ihre Wege mit wütenden Post-its pflastern. Wenn sie so drauf ist, könnte Anette mit ihrer schlechten Laune ganze Kathedralen füllen, und falls sie beide in einer kleinen Hütte zusammengepfercht werden, wird sich Lina nicht eine Sekunde lang entspannen können.

Jetzt merkt Lina, dass Nadja sie mit ihrem durchdringenden Blick aus den grauen Augen ansieht. Als sich ihre Blicke treffen, hebt Nadja fragend eine Augenbraue.

Sie ist eine Schönheit, wie Lina feststellt. Nicht im klassischen Sinn, sondern sehr viel aparter. Es wäre nicht erstaunlich, wenn Amir sich in sie verliebt hätte. Was die Vorstellung, sich mit ihr eine Hütte zu teilen, wiederum nicht gerade verlockend erscheinen lässt.

Aber es bleibt ihr keine Alternative. Also nickt sie.

»Lina und ich teilen uns eine«, sagt Nadja und nimmt zwei Schlüsselpaare aus Amirs Hand, reicht eines an Lina. Auf dem glänzenden Messing-Oval ist die Ziffer Vier eingraviert.

»Na, das ging ja flott«, bemerkt Anette schnippisch.

Nadja dreht sich zu ihr um und lässt ungeduldig die Schlüssel klirren.

»Möchtest du die Hütte lieber mit einer von uns teilen? Dann sag es doch einfach«, sagt sie und blickt Anette herausfordernd an.