Die Königliche (Die sieben Königreiche 3) - Kristin Cashore - E-Book
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Die Königliche (Die sieben Königreiche 3) E-Book

Kristin Cashore

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Beschreibung

Eine blutjunge Königin kämpft mit den Schatten der Vergangenheit! Finstere Verschwörungen und das Versprechen auf ein neues Leben ... Seit dem Tod ihres tyrannischen Vaters ist Bitterblue die alleinige Herrscherin eines ganzen Königreichs. Während sie langsam in ihre Aufgabe hineinwächst, muss sie sich unausweichlich der Vergangenheit stellen: Wer war ihr Vater, König Leck, wirklich? Was gehört zu den Lügengebäuden seiner Herrschaft und was ist tatsächlich die Wahrheit? Für ihre Nachforschungen schleicht sich Bitterblue Nacht für Nacht verkleidet aus dem Schloss, schließt unter falschem Namen ungewöhnliche Freundschaften in den Straßen und Wirtshäusern und verstrickt sich ihrerseits in ganz neue Lügen ... Alle Bände der romantischen Bestseller-Serie sind auch unabhängig voneinander lesbar: Die Beschenkte (Band 1) Die Flammende (Band 2) Die Königliche (Band 3) Die Wahrhaftige (Band 4)  

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KRISTIN CASHORE – DIE KÖNIGLICHE

Seit dem Tod ihres tyrannischen Vaters ist Bitterblue die alleinige Herrscherin eines ganzen Königreichs. Während sie langsam in ihre Aufgabe hineinwächst, muss sie sich unausweichlich der Vergangenheit stellen: Wer war ihr Vater, König Leck, wirklich? Was gehört zu den Lügengebäuden seiner Herrschaft und was ist tatsächlich die Wahrheit? Für ihre Nachforschungen schleicht sich Bitterblue Nacht für Nacht verkleidet aus dem Schloss, schließt unter falschem Namen ungewöhnliche Freundschaften in den Straßen und Wirtshäusern und verstrickt sich ihrerseits in ganz neue Lügen ...

Alle Bände der Serie sind auch unabhängig voneinander lesbar:

Die Beschenkte (Band 1)

Die Flammende (Band 2)

Die Königliche (Band 3)

Die Wahrhaftige (Band 4)

WOHIN SOLL ES GEHEN?

  Buch lesen

  Danksagung

  Vita

 

Dies war schon immer für Dorothy

PROLOG

Es muss wehtun, wenn er Mama so am Handgelenk packt und zum Wandbehang zerrt. Aber sie schreit nicht. Sie versucht ihren Schmerz vor ihm zu verbergen, mir jedoch wirft sie noch einen Blick zu und in ihrem Gesicht sehe ich all ihre Gefühle. Wenn Vater erfährt, dass sie Schmerzen hat und sie mir auch zeigt, wird er ihre Schmerzen verschwinden lassen und durch etwas anderes ersetzen.

Er wird zu Mama sagen: »Alles in Ordnung, Liebling. Es tut nicht weh, du hast keine Angst«, und dann werde ich Zweifel in ihrem Gesicht auftauchen sehen, den Beginn ihrer Verwirrung. Er wird sagen: »Sieh dir unser hübsches Kind an. Sieh dir dieses hübsche Zimmer an. Wie glücklich wir sind. Alles ist in Ordnung. Komm mit, Liebling.« Mama wird ihn erstaunt ansehen und dann mich, ihr hübsches Kind in diesem hübschen Zimmer. Ihre Augen werden sanft und leer werden und sie wird darüber lächeln, wie glücklich wir sind. Ich werde auch lächeln, weil mein Bewusstsein nicht stärker ist als Mamas. »Viel Spaß! Kommt bald wieder!«, werde ich sagen. Dann wird Vater die Schlüssel hervorholen, die Tür hinter dem Wandbehang öffnen und Mama wird hindurchschlüpfen. Thiel, der – groß, wie er ist – beunruhigt und verwirrt mitten im Zimmer steht, wird hinter ihr herstürzen und Vater wird den beiden folgen.

Wenn der Riegel wieder an seinen Platz gleitet, werde ich dastehen und versuchen mich zu erinnern, was ich gerade gemacht habe, bevor das hier geschehen ist. Bevor Thiel, Vaters oberster Ratgeber, auf der Suche nach ihm in Mamas Zimmer kam. Bevor er, die Hände so fest an die Seiten gepresst, dass sie zitterten, versuchte, Vater etwas zu sagen, das ihn wütend machte, sodass er vom Tisch aufstand, dabei alle Papiere verstreute, seine Feder fallen ließ und sagte: »Thiel, du bist ein Idiot und kannst keine vernünftigen Entscheidungen treffen. Komm mit. Ich zeige dir, was passiert, wenn du eigenständig denkst.« Dann ging er zum Sofa und packte so unvermittelt nach Mamas Handgelenk, dass sie nach Luft schnappte und ihre Stickerei fallen ließ, aber nicht aufschrie.

»Kommt bald wieder!«, sage ich fröhlich, als die Geheimtür hinter ihnen ins Schloss fällt.

Ich bleibe zurück und blicke in die traurigen Augen des blauen Pferdes auf dem Wandbehang. Schneeflocken wehen gegen das Fenster. Ich versuche mich zu erinnern, was ich gemacht habe, bevor alle weggegangen sind.

Was ist eben passiert? Warum kann ich mich nicht daran erinnern, was eben passiert ist? Warum fühle ich mich so …

Zahlen.

Mama sagt, wenn ich verwirrt bin oder mich nicht erinnern kann, soll ich rechnen, weil Zahlen wie ein Anker sind. Für solche Momente hat sie mir Rechenaufgaben notiert. Sie liegen hier neben den Blättern, die Vater mit seiner komischen verschnörkelten Schrift bedeckt hat.

1058 durch 46.

Schriftlich hätte ich das in zwei Sekunden ausgerechnet, aber Mama sagt immer, ich soll es im Kopf rechnen. »Verbanne alles aus deinem Bewusstsein außer den Zahlen«, sagt sie. »Stell dir vor, du bist mit den Zahlen allein in einem leeren Raum.« Sie hat mir Tricks beigebracht. Zum Beispiel: 46 ist fast 50, und 1058 ist nur wenig mehr als 1000. 1000 durch 50 ist genau 20. Damit fange ich an und rechne dann den Rest aus. Eine Minute später habe ich herausbekommen, dass 1058 durch 46 genau 23 ist.

Ich löse noch eine Aufgabe. 2850 durch 75 ist 38. Noch eine. 1600 durch 32 ist 50.

Oh! Das sind gute Zahlen, die Mama da ausgesucht hat. Sie wecken Erinnerungen und bilden eine Geschichte, denn fünfzig ist Vaters Alter und zweiunddreißig Mamas. Sie sind seit vierzehn Jahren verheiratet und ich bin neuneinhalb. Mama ist eine Prinzessin aus Lienid. Vater hat sie bei einem Besuch des Inselkönigreichs Lienid erwählt, als sie erst achtzehn war. Er hat sie hierher mitgebracht und sie ist nie zurückgekehrt. Sie vermisst ihre Heimat, ihren Vater, ihre Geschwister und ihren Bruder Ror, den König. Sie spricht manchmal davon, mich dorthin zu schicken, damit ich in Sicherheit bin. Dann halte ich ihr den Mund zu, wickele eine Hand in ihre Schals und ziehe mich daran an sie, weil ich sie nicht verlassen will.

Bin ich hier nicht in Sicherheit?

Die Zahlen und die Geschichte machen meinen Verstand wieder klar und es fühlt sich an, als würde ich fallen. Atmen!

Vater ist der König von Monsea. Niemand weiß, dass er die verschiedenfarbigen Augen eines Beschenkten hat; niemand wundert sich, denn es ist eine schreckliche Gabe, die sich hinter seiner Augenklappe verbirgt: Wenn er spricht, benebeln seine Worte den Verstand der Menschen und sie glauben alles, was er sagt. Normalerweise lügt er. Deshalb sind jetzt, wo ich hier sitze, die Zahlen klar, aber andere Dinge in meinem Verstand sind durcheinander. Vater hat gerade gelogen.

Jetzt verstehe ich, warum ich allein in diesem Zimmer bin. Vater hat Mama und Thiel mit nach unten in seine Räume genommen und tut Thiel etwas Schreckliches an, damit er lernt zu gehorchen und nicht noch mal mit Nachrichten zu Vater kommt, die ihn wütend machen. Was dieses Schreckliche ist, weiß ich nicht. Vater zeigt mir nie, was er tut, und Mama behält nie genug in Erinnerung, um es mir erzählen zu können. Sie hat mir verboten, Vater jemals nach unten zu folgen. Sie sagt, wenn mir der Gedanke kommt, Vater die Treppe hinunter zu folgen, muss ich diesen Gedanken wegschieben und weiter rechnen. Sie sagt, wenn ich nicht auf sie höre, schickt sie mich nach Lienid.

Ich versuche es. Ich versuche es wirklich. Aber es gelingt mir nicht, mir vorzustellen, ich wäre mit den Zahlen allein in einem leeren Raum, und plötzlich schreie ich.

Dann bemerke ich, dass ich Vaters Papiere ins Feuer werfe. Ich renne zurück zum Schreibtisch, nehme einen Packen davon hoch, stolpere über den Teppich, werfe die Blätter in die Flammen und schreie, während ich zusehe, wie Vaters eigenartige schöne Schrift verschwindet. Ich schreie sie aus der Welt. Ich stolpere über Mamas Stickerei, ihre Leintücher mit den fröhlichen kleinen Reihen aus gestickten Sternen, Monden, Burgen; fröhliche bunte Blumen, Schlüssel und Kerzen. Ich hasse die Stickerei. Es ist die Lüge eines Glücks, von dem Vater sie überzeugt. Ich zerre die Laken zum Feuer.

Als Vater durch die Geheimtür platzt, stehe ich immer noch da und schreie aus vollem Hals. Die Luft ist verpestet, angefüllt vom stinkenden Rauch der Seide. Ein Stück Teppich brennt. Vater tritt die Flammen aus. Er packt mich an den Schultern und schüttelt mich so fest, dass ich mir auf die Zunge beiße. »Bitterblue«, sagt er geradezu verängstigt, »bist du verrückt geworden? Du könntest hier drin ersticken!«

»Ich hasse dich!«, brülle ich ihm direkt ins Gesicht. Da tut er etwas Eigenartiges: Sein einziges Auge leuchtet auf und er fängt an zu lachen.

»Du hasst mich nicht. Du liebst mich und ich liebe dich.«

»Ich hasse dich«, erwidere ich, aber jetzt zweifle ich daran, ich bin verwirrt. Seine Arme ziehen mich an sich.

»Du liebst mich«, sagt er. »Du bist mein wunderbarer, starker Liebling und eines Tages wirst du Königin sein. Wärst du nicht gern Königin?«

Ich umarme Vater, der vor mir in einem verrauchten Zimmer auf dem Boden kniet, so groß, so tröstlich. Vater ist warm und es ist schön, ihn zu umarmen, obwohl sein Hemd komisch riecht, nach irgendetwas Süßlichem, Verdorbenem. »Königin von ganz Monsea?«, frage ich voller Erstaunen. Die Worte füllen meinen ganzen Mund aus. Meine Zunge schmerzt. Ich kann mich nicht erinnern, warum.

»Eines Tages wirst du Königin sein«, sagt Vater. »Ich bringe dir alles Wichtige bei, damit du gut vorbereitet bist. Du musst hart arbeiten, Bitterblue. Du hast nicht dieselben Vorteile wie ich. Aber ich werde dich formen, ja?«

»Ja, Vater.«

»Und du musst mir immer gehorchen. Wenn du noch einmal meine Papiere vernichtest, Bitterblue, schneide ich deiner Mutter einen Finger ab.«

Das verwirrt mich. »Was? Vater! Das darfst du nicht!«

»Und wenn es danach noch mal vorkommt«, sagt Vater, »gebe ich dir das Messer und du schneidest ihr einen Finger ab.«

Ich falle erneut. Allein im Himmel mit den Worten, die Vater gerade gesagt hat; das Verständnis trifft mich mit voller Wucht. »Nein«, sage ich bestimmt. »Dazu könntest du mich nicht bringen.«

»Ich glaube, du weißt, dass ich das könnte«, sagt er, fasst mich an den Oberarmen und hält mich dicht vor sich. »Du bist meine starke Tochter und ich glaube, du weißt genau, wozu ich imstande bin. Sollen wir uns was versprechen, Liebling? Sollen wir uns versprechen, von jetzt an immer ehrlich zueinander zu sein? Ich werde dich zu einer strahlenden Königin machen.«

»Du kannst mich nicht dazu bringen, Mama wehzutun«, sage ich.

Vater hebt eine Hand und schlägt mir ins Gesicht. Ich kann nichts sehen, keuche und würde hinfallen, wenn er mich nicht festhielte. »Ich kann jeden dazu bringen, zu tun, was immer ich will«, sagt er ganz ruhig.

»Du kannst mich nicht dazu bringen, Mama wehzutun«, brülle ich mit brennendem Gesicht, über das Tränen und Rotz laufen. »Eines Tages werde ich groß genug sein, um dich umzubringen.«

Vater lacht wieder. »Mein Schatz«, sagt er und zieht mich erneut in seine Arme. »Sieh nur, wie perfekt du bist. Du wirst mein Meisterstück werden.«

Als Mama und Thiel durch die Geheimtür kommen, murmelt Vater mir etwas zu. Ich bin geborgen in seinen Armen, habe die Wange an seine Schulter gelehnt und frage mich, warum es im Zimmer nach Rauch riecht und meine Nase so schmerzt. »Bitterblue?«, sagt Mama ängstlich. Ich hebe das Gesicht. Sie macht große Augen, kommt zu mir und zieht mich von Vater weg. »Was hast du getan?«, fährt sie ihn an. »Du hast sie geschlagen, du Ungeheuer. Ich bringe dich um.«

»Sei nicht albern, Liebling«, sagt Vater, während er aufsteht und über uns aufragt. Mama und ich sind so klein, so klein Arm in Arm, und ich bin verwirrt, weil Mama wütend auf Vater ist. »Ich habe sie nicht geschlagen. Du warst das«, sagt Vater zu Mama.

»Ich weiß, dass ich es nicht war«, erwidert Mama.

»Ich wollte dich davon abhalten«, sagt Vater, »aber es ist mir nicht gelungen und du hast sie geschlagen.«

»Davon wirst du mich nie überzeugen.« Mamas Worte sind klar und deutlich. Ihre Stimme klingt schön in ihrer Brust, an die ich mein Ohr drücke.

»Interessant.« Vater mustert uns einen Augenblick mit schräg gelegtem Kopf, dann sagt er zu Mama: »Sie ist in einem bezaubernden Alter. Es wird Zeit, dass wir uns besser kennenlernen. Ich werde Bitterblue von jetzt an Privatstunden geben.«

Mama dreht sich, sodass sie zwischen mir und Vater steht. Ihre Arme um mich sind wie eiserne Riegel. »Das wirst du nicht. Raus hier. Raus aus diesen Räumen.«

»Wirklich faszinierend«, sagt Vater. »Was, wenn ich dir sagen würde, Thiel hätte sie geschlagen?«

»Du hast sie geschlagen«, entgegnet Mama, »und jetzt gehst du.«

»Wunderbar!« Vater geht auf Mama zu. Seine Faust kommt aus dem Nichts, er boxt sie ins Gesicht und Mama stürzt zu Boden. Ich falle wieder, aber diesmal in Wirklichkeit, falle mit Mama. »Räumt ein bisschen auf, wenn ihr wollt«, sagt Vater. Er steht über uns und stößt uns mit dem Zeh an. »Ich muss nachdenken. Wir setzen dieses Gespräch später fort.«

Vater ist weg. Thiel beugt sich über uns. Aus den frischen Schnitten auf seinen Wangen tropfen blutige Tränen auf uns herab. »Ashen«, sagt er. »Ashen, es tut mir leid. Prinzessin Bitterblue, vergeben Sie mir.«

»Sie haben sie nicht geschlagen, Thiel«, sagt meine Mutter mit schwerer Stimme, während sie sich aufrappelt, mich auf ihren Schoß zieht und mich wiegt, mir Koseworte ins Ohr flüstert. Ich klammere mich weinend an sie. Überall ist Blut. »Helfen Sie ihr bitte, Thiel«, sagt Mama.

Thiels ruhige, sanfte Hände berühren meine Nase, meine Wangen, meinen Kiefer; seine wässrigen Augen untersuchen mein Gesicht. »Nichts gebrochen«, sagt er. »Jetzt zeigen Sie mal Ihr Gesicht, Ashen. Oh, ich bitte Sie eindringlich um Verzeihung.«

Wir kauern alle zusammen weinend auf dem Fußboden. Die Worte, die Mama mir zuflüstert, sind die ganze Welt. Als Mama wieder mit Thiel redet, klingt ihre Stimme müde. »Sie haben nichts getan, was Sie hätten verhindern können, Thiel, und Sie haben sie nicht geschlagen. All dies hat Leck zu verantworten. Bitterblue«, sagt Mama dann zu mir, »ist dein Verstand klar?«

»Ja, Mama«, flüstere ich. »Vater hat mich geschlagen und dann dich. Er will mich zur perfekten Königin formen.«

»Du musst stark sein, Bitterblue«, sagt Mama. »Stärker denn je, denn es wird alles noch schlimmer werden.«

1

Königin Bitterblue hatte nie vorgehabt, so viele Leute zu belügen.

Alles begann mit dem Prozess um den Verrückten und die Wassermelonen am Obersten Gericht. Der Betreffende namens Ivan lebte am Fluss Dell im Ostteil der Stadt in der Nähe des Handelshafens. Auf der einen Seite seines Hauses wohnte eine Steinmetzin, die Grabsteine fertigte und beschriftete, auf der anderen Seite lag das Wassermelonenbeet eines Nachbarn. Ivan hatte es im Dunkel der Nacht irgendwie geschafft, alle Wassermelonen des Beetes durch Grabsteine zu ersetzen und alle Grabsteine auf dem Grundstück der Steinmetzin durch Wassermelonen. Dann hatte er bei beiden Nachbarn kryptische Anweisungen unter der Tür durchgeschoben, um sie auf eine Art Schnitzeljagd nach ihren verlorenen Gegenständen zu schicken – ein Unterfangen, das in dem einen Fall sinnlos und im anderen unnötig war, da der Wassermelonenzüchter nicht lesen konnte und die Steinmetzin die Grabsteine im Beet von ihrer Türschwelle aus mehr als deutlich sehen konnte. Beide hatten den Schuldigen sofort erraten, da Ivans Kapriolen nichts Neues waren. Erst einen Monat zuvor hatte er die Kuh eines Nachbarn gestohlen und sie aufs Dach eines anderen Nachbarn gehievt, wo sie jämmerlich muhte, bis jemand hinaufkletterte, um sie zu melken. Sie war gezwungen, mehrere Tage dort oben zu bleiben – die erhabenste und vermutlich rätselhafteste Kuh des gesamten Königreichs –, während die wenigen Anwohner der Straße, die lesen konnten, versuchten, Ivans verschlüsselte Erläuterungen für die Konstruktion eines Flaschenzugs zu verstehen, mit dem man sie herunterholen konnte. Ivan war Ingenieur. Genauer gesagt war Ivan der Ingenieur, der während Lecks Herrschaft die drei Brücken der Stadt gebaut hatte.

Bitterblue saß den Richtern des Obersten Gerichts vor und war leicht verärgert über ihre Ratgeber, deren Aufgabe es war zu entscheiden, welche Prozesse die Zeit der Königin wert waren. Es kam ihr so vor, als würden sie sie dauernd mit den lächerlichsten Angelegenheiten des ganzen Königreichs behelligen, um sie dann in ihr Schreibzimmer zurückzuscheuchen, sobald etwas Interessantes passierte. »Das ist ja wohl eine einfache Klage wegen Störung der öffentlichen Ordnung, oder?«, sagte sie zu den vier Männern zu ihrer Linken und den vier zu ihrer Rechten, den acht Richtern, die ihr behilflich waren, wenn sie an diesem Tisch saß, und das Gerichtsverfahren selbst leiteten, wenn sie nicht anwesend war. »Wenn ja, überlasse ich das Urteil Ihnen.«

»Knochen«, sagte Richter Quall, der rechts von ihr saß.

»Was?«

Richter Quall starrte Bitterblue böse an und dann die beteiligten Parteien vor ihm, die auf ihr Urteil warteten. »Jeder, der im Verlauf dieser Gerichtsverhandlung Knochen erwähnt, wird zu einer Geldbuße verurteilt«, sagte er streng. »Ich will noch nicht einmal das Wort hören. Verstanden?«

»Lord Quall«, sagte Bitterblue und musterte ihn aus zusammengekniffenen Augen, »wovon um alles in der Welt reden Sie da?«

»Während eines Scheidungsprozesses neulich hat der Beklagte dauernd grundlos etwas von Knochen gemurmelt, als wäre er nicht ganz bei Verstand, Königin, und ich bin nicht gewillt, das erneut zu erdulden! Es war entsetzlich!«

»Aber Sie sitzen oft Mordprozessen vor. Sie sind doch sicherlich daran gewöhnt, dass über Knochen geredet wird.«

»Dies ist ein Prozess über Wassermelonen! Wassermelonen sind wirbellos!«, rief Quall.

»Ja, ist gut«, sagte Bitterblue und rieb sich das Gesicht im Versuch, ihren ungläubigen Ausdruck daraus wegzuwischen. »Keine Rede von …«

Quall zuckte zusammen.

Knochen, beendete Bitterblue den Satz in Gedanken. Die sind alle verrückt. »Zusätzlich zum Urteilsspruch meiner Richter«, sagte sie, während sie sich erhob, um zu gehen, »soll den Analphabeten in Ivans Straße in der Nähe des Handelshafens auf Kosten der Krone das Lesen beigebracht werden. Haben Sie verstanden?«

Ihre Worte trafen auf ein so tiefes Schweigen, dass sie erschrak; die Richter warfen ihr alarmierte Blicke zu. Bitterblue überdachte ihre Worte erneut: Den Leuten soll das Lesen beigebracht werden. Das war doch nicht so eigenartig, oder?

»Es liegt natürlich in Ihrem Ermessen, eine solche Erklärung abzugeben, Königin«, sagte Quall. Jeder seiner Silben war anzuhören, dass sie sich lächerlich benommen hatte. Warum bitte war er so herablassend? Bitterblue wusste ganz genau, dass das in ihrem Ermessen lag, genau wie es in ihrem Ermessen lag, jeden Richter von diesem Gericht abzuberufen. Der Wassermelonenzüchter starrte sie ebenfalls mit dem Ausdruck größter Verwirrung an. Vereinzelte amüsierte Gesichter hinter ihm ließen Bitterblue die Hitze in den Kopf steigen.

Das ist typisch für dieses Gericht: Alle anderen benehmen sich wie Verrückte und wenn ich etwas völlig Vernünftiges anordne, geben sie mir das Gefühl, als wäre ich verrückt.

»Kümmern Sie sich darum«, sagte sie zu Quall, dann wandte sie sich um und trat die Flucht an. Als sie am hinteren Ende des Richterpodests durch die Tür trat, zwang sie ihre Schultern in eine gerade und stolze Haltung, obwohl sie sich überhaupt nicht so fühlte.

In ihrem runden Schreibzimmer im Turm waren die Fenster geöffnet, es begann langsam zu dämmern, und Bitterblues Ratgeber waren alles andere als glücklich.

»Wir verfügen nicht über unerschöpfliche Mittel, Königin«, sagte Thiel, der mit seinen stahlgrauen Haaren und stahlgrauen Augen wie ein Gletscher vor ihrem Schreibtisch stand. »Sobald Sie in der Öffentlichkeit eine solche Erklärung abgegeben haben, lässt sie sich schlecht zurücknehmen.«

»Aber, Thiel, warum sollten wir sie zurücknehmen? Ist es nicht erschreckend, von einer Straße in der Oststadt zu erfahren, in der die Menschen nicht lesen können?«

»Es wird immer den einen oder anderen Analphabeten in der Stadt geben, Königin. Das ist kaum eine Angelegenheit, die der direkten Einmischung durch die Krone bedarf. Sie haben jetzt einen Präzedenzfall geschaffen, der nahelegt, dass der Hof für die Bildung aller Bürger zuständig ist, die von sich behaupten, nicht lesen zu können!«

»Meine Bürger sollten tatsächlich die Möglichkeit haben, sich deswegen zu melden. Mein Vater hat ihnen fünfunddreißig Jahre lang den Zugang zu Bildung verwehrt. Die Krone ist dafür verantwortlich, dass sie nicht lesen können!«

»Aber wir haben weder die Zeit noch die Mittel, das auf einer individuellen Basis anzugehen, Königin. Sie sind keine Lehrerin; Sie sind die Königin von Monsea. Was die Leute jetzt brauchen, ist, dass Sie sich entsprechend verhalten, damit sie das Gefühl haben, in guten Händen zu sein.«

»Wie auch immer«, mischte sich ihr Ratgeber Runnemood ein, der in einer der Fensternischen saß, »fast alle Bewohner Monseas können lesen. Und ist Ihnen nie der Gedanke gekommen, Königin, dass diejenigen, die es nicht können, es vielleicht gar nicht wollen? Die Leute in Ivans Straße haben Geschäfte und Familien, für die sie sorgen müssen. Woher sollen sie die Zeit für Unterrichtsstunden nehmen?«

»Woher soll ich das wissen?«, rief Bitterblue aus. »Was weiß ich schon von den Menschen und ihren Geschäften?«

Manchmal fühlte sie sich hinter diesem Schreibtisch mitten im Zimmer sehr verloren, hinter diesem Schreibtisch, der so groß war verglichen mit ihr selbst. Sie konnte jedes Wort hören, das ihre Ratgeber taktvoll verschwiegen: dass sie sich zum Narren gemacht hatte; dass sie gezeigt hatte, dass die Königin zu jung, dumm und naiv für ihre Stellung war. Ihre Worte vorhin waren ihr wie etwas Mächtiges vorgekommen. War ihr Instinkt so miserabel?

»Schon gut, Bitterblue«, sagte Thiel, sanfter jetzt. »Wir können es dabei belassen.«

Dass er ihren Namen statt ihres Titels verwandte, war eine freundliche Geste. Der Gletscher war bereit sich zurückzuziehen. Bitterblue blickte in die Augen ihres obersten Ratgebers und sah, dass er sich Sorgen machte und Angst hatte, zu streng mit ihr ins Gericht gegangen zu sein. »Ich werde keine Erklärungen mehr abgeben, ohne Sie vorher um Rat zu fragen«, sagte sie leise.

»Na also«, erwiderte Thiel erleichtert. »Sehen Sie? Das ist eine weise Entscheidung. Und Weisheit ist königlich, meine Königin.«

Etwa eine Stunde lang hielt Thiel sie hinter Bergen aus Papier fest. Runnemood dagegen ging vor den Fenstern hin und her, brach angesichts des rosafarbenen Abendlichts in Begeisterung aus, wippte auf den Fußballen und lenkte sie mit Erzählungen von überaus zufriedenen Analphabeten ab. Schließlich verschwand er glücklicherweise zu irgendeinem abendlichen Treffen mit Lords aus der Stadt. Runnemood war ein gut aussehender Mann und ein unabkömmlicher Ratgeber – er war der Geschickteste darin, Minister und Lords abzuwimmeln, die die Königin mit Bitten, Beschwerden und Ehrerbietungen behelligen wollten. Aber das lag daran, dass er selbst auch recht aufdringlich sein konnte. Sein jüngerer Bruder Rood war ebenfalls einer von Bitterblues Ratgebern. Die beiden Brüder, Thiel und ihr Sekretär und vierter Ratgeber Darby waren alle um die sechzig, obwohl man Runnemood sein Alter nicht ansah. Den anderen schon. Alle vier waren bereits Lecks Ratgeber gewesen. »Waren wir heute unterbesetzt?«, fragte Bitterblue Thiel. »Ich kann mich gar nicht erinnern, Rood gesehen zu haben.«

»Rood ruht sich heute aus«, sagte Thiel. »Und Darby fühlt sich nicht wohl.«

»Aha.« Bitterblue verstand, was das in Wirklichkeit bedeutete: Rood hatte eine seiner Nervenkrisen und Darby war betrunken. Sie legte kurz die Stirn auf den Schreibtisch, um nicht laut loszulachen. Was würde ihr Onkel, der König von Lienid, vom Zustand ihrer Ratgeber halten? König Ror hatte diese Männer zu ihrem Stab gemacht, weil er sie aufgrund ihrer Erfahrung für diejenigen hielt, die am besten wussten, was das Königreich zu seiner Genesung brauchte. Wäre er überrascht von ihrem heutigen Verhalten? Oder waren Rors eigene Ratgeber genauso schillernde Persönlichkeiten? Vielleicht war das in allen sieben Königreichen so.

Und vielleicht spielte es auch keine Rolle. Bitterblue hatte keinen Grund zur Klage, was die Produktivität ihrer Ratgeber anging, außer vielleicht, dass sie zu produktiv waren. Die Papierberge, die sich täglich, stündlich auf ihrem Schreibtisch stapelten, waren der Beweis: erhobene Steuern, verkündete Gerichtsurteile, vorgeschlagene Gefängnisstandorte, erlassene Gesetze, gegründete Städte; Papier, Papier, bis ihre Finger nach Papier rochen, ihre Augen beim Anblick von Papier tränten und ihr der Kopf dröhnte.

»Wassermelonen«, sagte Bitterblue zu ihrer Schreibtischplatte.

»Königin?«, erwiderte Thiel.

Bitterblue rieb an den schweren Zöpfen, die um ihren Kopf geschlungen waren, dann setzte sie sich auf. »Ich wusste gar nicht, dass es Wassermelonenbeete in der Stadt gibt, Thiel. Kann ich bei meiner nächsten Jahresinspektion eins sehen?«

»Wir planen die nächste Inspektion zeitgleich mit dem Besuch Ihres Onkels diesen Winter, Königin. Ich bin kein Experte für Wassermelonen, aber ich glaube nicht, dass sie im Januar besonders beeindruckend sind.«

»Könnte ich nicht jetzt eine Inspektion unternehmen?«

»Königin, es ist Mitte August. Wie, glauben Sie, sollen wir Mitte August für so etwas Zeit finden?«

Der Himmel überall um den Turm hatte die Farbe von Wassermelonenfleisch. Die Zeiger der großen Standuhr rückten immer weiter in den Abend vor, und über Bitterblue, jenseits der Glasdecke, änderte sich das Licht zu immer dunklerem Purpur. Ein Stern leuchtete. »Oh, Thiel.« Bitterblue seufzte. »Lassen Sie mich bitte allein.«

»Gleich, Königin«, entgegnete Thiel, »aber erst möchte ich mit Ihnen über Ihre Heirat sprechen.«

»Nein.«

»Sie sind achtzehn, Königin, und ohne Erben. Einige der sechs Könige haben noch ledige Söhne, zwei Ihrer Cousins eingeschlossen …«

»Thiel, wenn Sie jetzt schon wieder anfangen, Prinzen aufzuzählen, bespritze ich Sie mit Tinte. Wenn Sie die Namen meiner Cousins auch nur flüstern …«

»Königin«, unterbrach Thiel sie vollkommen unbeeindruckt, »ich möchte Sie wirklich nicht erzürnen, aber Sie müssen dieser Tatsache ins Auge blicken. Zu Ihrem Cousin Skye haben Sie während seiner Besuche in seiner Funktion als Botschafter ein gutes Verhältnis entwickelt. Wenn König Ror im Winter kommt, bringt er Prinz Skye wahrscheinlich mit. Bis dahin müssen wir darüber gesprochen haben.«

»Nein«, sagte Bitterblue und umklammerte ihre Feder. »Da gibt es nichts zu besprechen.«

»Doch«, erwiderte Thiel mit fester Stimme.

Wenn sie genau hinsah, konnte Bitterblue die Linien verheilter Narben auf Thiels Wangenknochen erkennen. »Ich würde gerne etwas anderes besprechen«, sagte sie. »Erinnern Sie sich noch an das Mal, als Sie ins Zimmer meiner Mutter kamen, um meinem Vater etwas zu sagen, das ihn wütend machte, und er Sie beide daraufhin durch die Geheimtür nach unten brachte? Was hat er Ihnen da unten angetan?«

Es war, als hätte sie eine Kerze ausgepustet. Thiel stand groß, dünn und verwirrt vor ihr. Dann verschwand selbst die Verwirrung und das Licht erlosch in seinem Blick. Er strich sein makelloses Hemd glatt, starrte es an und zupfte daran herum, als wäre es in diesem Moment überaus wichtig, ordentlich auszusehen. Dann verbeugte er sich einmal schweigend, wandte sich ab und verließ das Zimmer.

Bitterblue blieb allein zurück, blätterte Papiere durch, unterschrieb Dokumente, nieste wegen des Staubs – und versuchte sich vergeblich auszureden, dass sie sich schämen sollte. Sie hatte es absichtlich getan. Sie hatte genau gewusst, dass er ihre Frage nicht ertragen konnte. Alle Männer, die für sie arbeiteten – zumindest die, die auch unter Leck gedient hatten –, von ihren Ratgebern über die Minister und Schreiber bis hin zu ihrer persönlichen Wache, schreckten vor direkten Erinnerungen an Lecks Regentschaft zurück; schreckten zurück oder brachen zusammen. Es war die Waffe, die sie immer benutzte, wenn jemand sie zu sehr bedrängte, da es die einzige Waffe war, die funktionierte. Sie vermutete, dass nun eine Weile nicht mehr von Hochzeiten die Rede sein würde.

Ihre Ratgeber verfügten über eine Zielstrebigkeit, die Bitterblue manchmal überrumpelte. Deshalb machte ihr das Gerede über die Heirat Angst: Dinge, die als einfaches Gesprächsthema begannen, wurden plötzlich mit aller Macht zu realen Gegebenheiten, bevor sie sie auch nur verstanden oder sich eine Meinung darüber gebildet hatte. So war es mit dem Gesetz über die Generalamnestie für alle Verbrechen, die während Lecks Herrschaft begangen worden waren, gewesen. Und ebenso mit der Bestimmung, die den Städten erlaubte, sich aus der Herrschaft ihrer Lords zu befreien und sich selbst zu verwalten. Und mit dem Vorschlag – es war nur ein Vorschlag! –, Lecks frühere Wohnräume zu verbarrikadieren, seine Tierkäfige im Garten abzubauen und seine Habseligkeiten zu verbrennen.

Nicht, dass sie wirklich etwas gegen irgendeine dieser Maßnahmen gehabt hätte oder ihre Zustimmung bereute, sobald die Dinge sich so weit gesetzt hatten, dass sie verstand, was sie da eigentlich bewilligt hatte. Es war nur so, dass sie oft nicht genau wusste, was sie dachte, sie brauchte mehr Zeit als ihre Ratgeber, konnte nicht immer voranpreschen, so wie sie, und es machte sie unzufrieden, zurückzublicken und festzustellen, dass sie sich zu irgendetwas hatte überreden lassen. »Das soll so sein, Königin«, erklärten sie ihr, »ein gewolltes Nach-vorne-Schauen. Diese Politik sollten Sie unterstützen.«

»Aber …«

»Königin«, hatte Thiel sanft gesagt, »wir versuchen die Leute aus Lecks Bann zu befreien und ihnen dabei zu helfen, weiterzuleben, verstehen Sie? Sonst suhlen sie sich nur in ihren verstörenden Geschichten. Haben Sie mit Ihrem Onkel darüber gesprochen?«

Ja, das hatte sie. Bitterblues Onkel war nach Lecks Tod seiner Nichte zuliebe durch die halbe Welt zu ihr gekommen. König Ror hatte Monseas neue Verfassung geschaffen, die Ministerien und Gerichtshöfe gegründet, die Verwalter ausgewählt und das Königreich dann in Bitterblues zehnjährige Hände gelegt. Er hatte sich um die Feuerbestattung von Lecks Leiche gekümmert und den Mord an seiner Schwester betrauert, Bitterblues Mutter, die nicht mehr war. Ror hatte Ordnung in das Chaos von Monsea gebracht. »Leck ist noch im Bewusstsein zu vieler Menschen präsent«, hatte er gesagt. »Seine Gabe ist eine Krankheit, die immer noch schwelt, ein Albtraum, und du musst den Leuten dabei helfen, ihn zu vergessen.«

Aber wie war Vergessen möglich? Konnte sie ihren eigenen Vater vergessen? Konnte sie vergessen, dass ihr Vater ihre Mutter ermordet hatte? Wie konnte sie den Raub ihres eigenen Bewusstseins vergessen?

Bitterblue legte die Feder weg und ging vorsichtig zu einem der Fenster, die nach Osten zeigten. Sie hielt sich mit einer Hand am Rahmen fest und legte die Stirn ans Glas, dann schloss sie die Augen, bis das Gefühl zu fallen nachließ. Am Fuß des Turms bildete der Fluss Dell die Nordgrenze der Stadt. Als sie die Augen wieder öffnete, blickte sie entlang des Südufers ostwärts, an den drei Brücken vorbei, hinter denen sie den Silber- und Holzhafen sowie den Fischerei- und Handelshafen vermutete. »Wassermelonenbeet«, sagte sie seufzend. Natürlich war es zu weit weg und zu dunkel, um es sehen zu können.

Der Dell floss an der Nordmauer des Schlosses langsam dahin und war breit wie eine Bucht. Das gegenüberliegende, morastige Ufer war unbebaut und wurde nur von denen bereist, die weit in Monseas Norden lebten, trotzdem hatte ihr Vater aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen diese drei Brücken gebaut, die alle höher und herrlicher waren, als es für Brücken eigentlich nötig war. Der Boden der nächstgelegenen, der Winged Bridge, war aus weißem und blauem Marmor, wie Wolken. Die größte, Monster Bridge, hatte einen Fußweg, der bis zu ihrem höchsten Bogen anstieg. Winter Bridge, ganz aus Spiegeln gefertigt, war tagsüber schwer vom Himmel zu unterscheiden und funkelte nachts im Licht der Sterne, des Wassers und der nächtlichen Stadt. Jetzt, während des Sonnenuntergangs, waren die Brücken purpurfarbene und blutrote Umrisse, unwirklich und geradezu animalisch; riesige schlanke Kreaturen, die sich über wallendes Wasser nordwärts erstreckten, zu nutzlosem Land.

Das Gefühl zu fallen beschlich sie erneut. Ihr Vater hatte ihr eine Geschichte von einer anderen funkelnden Stadt erzählt, auch mit Brücken und einem Fluss – einem rauschenden Fluss, dessen Wasser über eine Klippe stürzte, durch die Luft fiel und weit unten ins Meer donnerte. Bitterblue hatte vor Freude gelacht, als sie von diesem fliegenden Fluss gehört hatte. Sie war fünf oder sechs gewesen und hatte auf seinem Schoß gesessen.

Leck, der Tiere quälte. Leck, der kleine Mädchen und Hunderte anderer Menschen verschwinden ließ. Leck, der von mir besessen war und mich durch die ganze Welt jagte.

Warum presse ich mein Gesicht an dieses Fenster, obwohl ich weiß, dass ich zu benommen bin, um etwas zu erkennen? Was genau versuche ich zu sehen?

An jenem Abend betrat sie das Vorzimmer zu ihren Räumen und wandte sich nach rechts in ihr Wohnzimmer, wo Helda auf dem Sofa saß und strickte. Die Dienerin Fox putzte die Fenster.

Helda, Bitterblues Haushälterin, Zofe und oberste Spionin, zog zwei Briefe aus der Tasche und reichte sie Bitterblue. »Hier, meine Liebe. Ich lasse das Abendessen kommen«, sagte sie, während sie schwerfällig aufstand, sich über das weiße Haar strich und das Zimmer verließ.

»Oh!« Bitterblue wurde rot vor Freude. »Gleich zwei Briefe.« Sie brach die schlichten Siegel auf und warf einen Blick hinein. Beide Briefe waren verschlüsselt und in Handschriften verfasst, die sie augenblicklich erkannte: Das unordentliche Gekritzel stammte von Lady Katsa von den Middluns, die sorgfältigen, kräftigen Zeichen von Prinz Bo von Lienid, Skyes jüngerem Bruder und neben diesem einer der beiden ledigen Söhne Rors, die einen fürchterlichen Ehemann für Bitterblue abgeben würden. Wahrhaft komisch und fürchterlich.

Sie kauerte sich in eine Ecke des Sofas und las zunächst Bos Brief. Bo hatte vor acht Jahren sein Augenlicht verloren. Er konnte keine Wörter auf Papier lesen, denn obwohl der Teil seiner Gabe, der ihm ermöglichte, die körperliche Welt um ihn herum wahrzunehmen, viele Aspekte seiner Blindheit kompensierte, hatte er Schwierigkeiten, Unterschiede auf flachen Oberflächen auszumachen, und konnte keine Farbe spüren. Er schrieb in großen Buchstaben mit einem angespitzten Stück Grafit, weil Grafit leichter zu kontrollieren war als Tinte, und er benutzte ein Lineal zur Führung, weil er nicht sehen konnte, was er schrieb. Außerdem hatte er einen kleinen Satz beweglicher Holzlettern als Erinnerungsstütze, damit er nicht mit seinen Chiffren durcheinanderkam.

Seinem Brief zufolge war er gerade in Nander, dem Königreich im Norden, und schürte Aufruhr. Als Bitterblue zu dem anderen Brief wechselte, las sie, dass Katsa, eine unvergleichliche Kämpferin, die mit der Fähigkeit zu überleben beschenkt war, sich abwechselnd in den Königreichen Estill, Sunder und Wester aufgehalten hatte, wo sie ebenfalls zum Widerstand aufrief. Damit verbrachten diese beiden Beschenkten ihre Zeit, zusammen mit einer kleinen Gruppe aus Freunden: Sie unterstützten jeden Aufruhr – Bestechung, Nötigung, Sabotage, organisierte Rebellion –, der darauf abzielte, den üblen Machenschaften der korruptesten Könige der Welt Einhalt zu gebieten. »König Drowden von Nander hat willkürlich Adlige eingesperrt, weil er weiß, dass einige von ihnen illoyal sind, aber nicht sicher ist, welche«, schrieb Bo. »Wir werden sie aus dem Gefängnis befreien. Giddon und ich haben den Stadtbewohnern das Kämpfen beigebracht. Es wird eine Revolution geben, Biber.«

Beide Briefe schlossen auf dieselbe Weise. Bo und Katsa hatten sich seit Monaten nicht gesehen und Bitterblue seit über einem Jahr nicht. Sie hatten beide vor, Bitterblue zu besuchen, sobald ihre Arbeit es zuließ, und so lange zu bleiben wie möglich.

Bitterblue war so glücklich, dass sie sich eine ganze Weile auf dem Sofa zusammenrollte und ein Kissen umschlang.

Am anderen Ende des Zimmers war es Fox gelungen, im hohen Fenster bis ganz nach oben zu klettern, indem sie sich mit Händen und Füßen am Fensterrahmen abstützte. Dort rubbelte sie energisch über ihr Spiegelbild und polierte die Scheibe, bis sie glänzte. Mit ihrem blauen geteilten Rock passte Fox zu ihrer Umgebung, denn Bitterblues Wohnzimmer war ganz in Blau gehalten, vom Teppich über die blau-goldenen Wände bis hin zur nachtblauen Decke, die mit goldenen und scharlachroten Sternen verziert war. In diesem Zimmer thronte auf einem blauen Samtkissen auch immer die Königskrone, außer wenn Bitterblue sie trug. Ein Wandbehang mit einem fantastischen himmelblauen Pferd mit grünen Augen verdeckte die Geheimtür, die einst zu Lecks Räumen darunter geführt hatte, bis die Treppe irgendwie verbarrikadiert worden war.

Fox war eine Beschenkte mit einem blassgrauen und einem dunkelgrauen Auge und sie war auffallend hübsch, geradezu strahlend – rothaarig und mit ausgeprägten Gesichtszügen. Sie hatte eine eigenartige Gabe: Furchtlosigkeit. Aber es war keine Furchtlosigkeit, die mit Leichtsinn einherging; es war einfach nur die Abwesenheit des unangenehmen Gefühls der Angst; eigentlich besaß Fox etwas, das Bitterblue als fast mathematische Fähigkeit, physikalische Konsequenzen zu erfassen, bezeichnen würde. Fox wusste besser als sonst jemand, was passieren würde, wenn sie ausrutschte und aus dem Fenster fiel. Es war dieses Wissen, das sie vorsichtig machte, nicht so sehr das Gefühl der Angst.

Bitterblue hielt eine solche Gabe bei einer Schlossdienerin eigentlich für verschwendet, aber im Monsea nach Leck waren die Beschenkten nicht länger Eigentum der Königin; sie konnten arbeiten, wo sie wollten. Und Fox schien es zu gefallen, seltsame Aufgaben in den oberen Stockwerken im Nordflügel des Schlosses auszuführen – obwohl Helda auch manchmal davon sprach, sie probeweise als Spionin einzusetzen.

»Wohnst du eigentlich im Schloss, Fox?«, fragte Bitterblue.

»Nein, Königin«, antwortete Fox von dort, wo sie hing. »Ich wohne in der Oststadt.«

»Du hast aber ungewöhnliche Arbeitszeiten, oder?«

»Das mag ich, Königin«, erwiderte Fox. »Manchmal arbeite ich die ganze Nacht durch.«

»Wie kommst du denn zu solch ungewöhnlichen Zeiten ins Schloss und wieder hinaus? Hast du manchmal Schwierigkeiten mit der Torwache?«

»Nun, raus kommt jeder, Königin. Aber um nachts durchs Torhaus hereinzukommen, zeige ich ein Armband vor, das Helda mir gegeben hat, und um an dem Lienid vor Ihrer Tür vorbeizukommen, zeige ich es erneut und nenne das Passwort.«

»Das Passwort?«

»Es ändert sich jeden Tag, Königin.«

»Und woher bekommst du das Passwort?«

»Helda versteckt es für uns, an jedem Tag der Woche an einem anderen Ort, Königin.«

»Ach so. Und wie lautet es heute?«

»›Schokoladenpfannkuchen‹, Königin«, sagte Fox.

Bitterblue lag eine Weile auf dem Sofa auf dem Rücken und dachte reiflich darüber nach. Jeden Morgen beim Frühstück bat Helda Bitterblue um ein Wort oder eine Wortfolge, die als Schlüssel für irgendwelche chiffrierten Nachrichten dienen konnten, die sie sich im Laufe des Tages schicken würden. Gestern Morgen hatte Bitterblue sich für Schokoladenpfannkuchen entschieden. »Und wie lautete das Passwort gestern, Fox?«

»›Salziger Karamell‹«, sagte Fox.

Was das Schlüsselwort war, das Bitterblue vorgestern ausgesucht hatte. »Das sind ja köstliche Passwörter«, sagte Bitterblue träge, während eine Idee in ihrem Kopf Gestalt annahm.

»Ja, Heldas Passwörter machen mich immer hungrig«, erwiderte Fox.

Ein Kapuzenumhang lag über der Sofalehne, dunkelblau, genau wie das Sofa selbst. Sicherlich Fox’ Umhang; Bitterblue hatte sie schon öfter mit solchen schlichten Capes gesehen. Es war viel unauffälliger als Bitterblues Mäntel.

»Was meinst du, wie oft die Lienid-Torwache wechselt?«, fragte Bitterblue Fox.

»Zu jeder vollen Stunde, Königin.«

»Jede Stunde! Das ist ziemlich oft.«

»Ja, Königin«, entgegnete Fox ausdruckslos. »Ich glaube nicht, dass sie besonders kontinuierliche Beobachtungen anstellen können.«

Fox hatte wieder festen Boden unter den Füßen und beugte sich mit dem Rücken zur Königin über einen Eimer mit Seifenwasser.

Bitterblue nahm den Kapuzenumhang, klemmte ihn sich unter den Arm und huschte aus dem Zimmer.

Bitterblue hatte schon früher beobachtet, wie Spione nachts ihre Räumlichkeiten betraten – verhüllt, gebeugt, unkenntlich, bis sie ihre Vermummung abgelegt hatten. Die Lienid-Torwache, ein Geschenk König Rors, bewachte den Haupteingang des Schlosses und den Eingang zu Bitterblues Wohntrakt, und zwar diskret. Sie waren außer Bitterblue und Helda niemandem Rechenschaft schuldig, noch nicht mal der Monsea-Wache, der offiziellen Armee und Polizei des Königreichs. Dies gab Bitterblues persönlichen Spionen die Freiheit, zu kommen und zu gehen, ohne dass die Verwaltung ihre Anwesenheit bemerkte. Es war eine seltsame kleine Vorkehrung Rors, um Bitterblues Privatsphäre zu schützen. Ror hatte in Lienid ein ähnliches Arrangement.

Das Armband war kein Problem, da das Armband, das Helda ihren Spionen gab, ein schlichtes Lederband mit der Kopie eines Ringes war, den Ashen früher getragen hatte. Es war ein typischer Ring aus Lienid: ein Goldring, in den winzige funkelnde dunkelgraue Steine eingelassen waren. Jeder Ring, den ein Lienid trug, symbolisierte ein bestimmtes Familienmitglied, und dies war der Ring, den Ashen für Bitterblue getragen hatte. Bitterblue besaß das Original. Sie bewahrte ihn zusammen mit allen anderen Ringen ihrer Mutter in Ashens hölzerner Truhe im Schlafzimmer auf.

Es ging ihr eigenartig nahe, diesen Ring um ihr Handgelenk zu binden. Ihre Mutter hatte ihn ihr oft gezeigt und ihr erklärt, dass sie die Steine ausgesucht hatte, weil sie dieselbe Farbe hatten wie Bitterblues Augen. Bitterblue drückte ihr Handgelenk an sich und überlegte, was ihre Mutter wohl von ihrem Vorhaben gehalten hätte.

Sie hätte es für gut befunden. Mama und ich haben uns schließlich auch aus dem Schloss geschlichen. Wenn auch nicht auf diesem Weg, sondern durchs Fenster. Und mit gutem Grund. Sie hat versucht, mich vor ihm zu retten.

Und sie hat mich auch gerettet. Sie hat mich vorausgeschickt und ist selbst zurückgeblieben, um zu sterben.

Mama, ich bin nicht sicher, warum ich dies tue. Irgendetwas fehlt, spürst du das? Papierstapel auf dem Schreibtisch in meinem Turm, tagein, tagaus. Das kann doch nicht alles sein. Das verstehst du doch, oder?

Sich herauszuschleichen war eine Art Betrug. Genau wie sich zu verkleiden. Kurz nach Mitternacht schlich sich die Königin, in eine dunkle Hose und Fox’ Kapuzenumhang gehüllt, aus ihren Räumen und betrat eine Welt voller Geschichten und Lügen.

2

Sie hatte die Brücken noch nie aus der Nähe gesehen. Trotz ihrer jährlichen Inspektionstouren war Bitterblue nie in den Straßen der Oststadt gewesen; sie kannte die Brücken nur von der Höhe ihres Turms aus, von wo sie durch den Himmel zu ihnen hinausblickte und sich noch nicht einmal sicher war, ob sie wirklich existierten. Als Bitterblue jetzt am Fuß der Winged Bridge stand, fuhr sie mit den Fingern über eine Fuge, wo zwei Stücke kalten Marmors zusammenstießen und das gewaltige Fundament bildeten.

Und sie erregte gleich Aufmerksamkeit. »Hau ab«, fuhr ein Mann sie schroff an, der in die Tür eines der schmutzig weißen Steinhäuser getreten war, die sich unter den Pfeilern der Brücke drängten. Er leerte einen Eimer in die Gosse aus. »Wir können hier keine Spinner gebrauchen.«

Das war ein ziemlich hartes Urteil über jemanden, dessen einziges Verbrechen es war, eine Brücke zu berühren, aber Bitterblue ging gehorsam weiter, um eine Auseinandersetzung zu vermeiden. Um diese Zeit waren schrecklich viele Leute in den Straßen unterwegs und jeder Einzelne von ihnen machte ihr Angst. Bitterblue ging ihnen so gut es ging aus dem Weg, zog sich die Kapuze tief ins Gesicht und war froh, so klein zu sein.

Hohe schmale Gebäude lehnten aneinander und stützten sich gegenseitig, dazwischen gaben sie gelegentlich den Blick auf den Fluss frei. An jeder Kreuzung zweigten Straßen in verschiedene Richtungen ab und boten immer neue Möglichkeiten. Bitterblue beschloss, erst einmal in Sichtweite des Flusses zu bleiben, weil sie fürchtete, sich sonst vielleicht zu verirren und den Überblick zu verlieren. Aber es war schwierig, nicht in eine dieser Straßen abzubiegen, die sich in die Dunkelheit schlängelten und Geheimnisse versprachen.

Der Fluss führte sie zum nächsten Riesen auf ihrer Liste, zur Monster Bridge. Bitterblue nahm jetzt immer mehr Einzelheiten wahr, wagte sogar, den Leuten kurz ins Gesicht zu blicken. Manche wirkten lauernd und gehetzt oder erschöpft und voller Schmerz, andere leer und ausdruckslos. An den Häusern, die alle aus gelbem Licht in die Schatten emporragten – viele davon aus weißem Stein, manche mit Schindeln verkleidet –, fiel ihr auf, wie verfallen und heruntergekommen sie waren.

Es war ein Versehen, das Bitterblue in das seltsame Erzähllokal unter der Monster Bridge führte, obwohl auch Leck etwas damit zu tun hatte. Um zwei großen, hinter ihr hermarschierenden Männern auszuweichen, bog sie seitlich in eine Gasse ab, um dann festzustellen, dass sie in der Falle saß, weil die Männer ebenfalls in die Gasse einbogen. Sie hätte sich natürlich einfach an ihnen vorbei wieder nach draußen drängen können, aber nicht ohne Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, deshalb trippelte sie weiter und gab vor zu wissen, wo sie hinging. Unglücklicherweise endete die Gasse unvermittelt an einer Tür in einer Steinmauer, die von einem Mann und einer Frau bewacht wurde.

»Nun?«, fragte der Mann, als sie verwirrt vor ihnen stand. »Wo solls denn hingehen? Rein oder raus?«

»Ich gehe schon«, flüsterte Bitterblue.

»Also gut«, sagte der Mann. »Dann weg mit dir.«

Als sie sich umwandte, um dem Befehl Folge zu leisten, hatten sie die Männer, die ihr gefolgt waren, erreicht und gingen an ihr vorbei. Die Tür ging auf, um sie einzulassen, dann wieder zu, dann ging sie wieder auf und brachte eine kleine fröhliche Gruppe junger Leute zum Vorschein. Eine Stimme drang aus dem Inneren: ein tiefes, heiseres Grollen, unverständlich, aber melodisch, die Art Stimme, mit der in Bitterblues Vorstellung ein schrumpeliger alter Baum sprechen würde. Es hörte sich an, als erzählte jemand eine Geschichte.

Und dann sagte die Stimme ein Wort, das sie verstand: Leck.

»Rein«, sagte sie zu dem Mann nach der verrückten Entscheidung eines Sekundenbruchteils. Er zuckte mit den Schultern, es schien ihm egal zu sein, solange sie irgendwohin ging.

Und so folgte Bitterblue Lecks Namen in ihre erste Erzählstube.

Es war eine Art Kneipe mit schweren Holztischen und -stühlen und einem Tresen, von unzähligen Lampen beleuchtet und bis oben hin voll mit einfach gekleideten Männern und Frauen, die standen, saßen, herumgingen und aus Bechern tranken. Bitterblues Erleichterung darüber, dass sie nichts weiter als eine Kneipe betreten hatte, war so physisch, dass es ihr eiskalt den Rücken hinunterlief.

Die gesamte Aufmerksamkeit im Raum war auf einen Mann gerichtet, der auf dem Tresen stand und eine Geschichte erzählte. Er hatte ein schiefes Gesicht mit narbiger Haut, das jedoch geradezu schön wurde, wenn er sprach. Die Geschichte, die er erzählte, kannte Bitterblue, sie traute ihr aber nicht auf Anhieb – nicht, weil irgendetwas an der Geschichte selbst eigenartig war, sondern weil der Mann ein dunkles Auge hatte und eins, das hellblau strahlte. Was war seine Gabe? Eine schöne Erzählstimme? Oder war es eine unheimlichere Fähigkeit, die diesen Raum in Atem hielt?

Bitterblue multiplizierte willkürlich 457 mit 228, nur um zu sehen, wie es ihr danach ging. Sie brauchte eine Weile. 104196. Und kein Gefühl von Leere oder Nebel um die Zahlen herum; kein Anzeichen dafür, dass ihr Verstand die Zahlen besser im Griff hatte als alles andere. Der Erzähler hatte nichts weiter als eine schöne Stimme.

Das Kommen und Gehen im Eingangsbereich hatte Bitterblue bis an den Tresen geschoben. Plötzlich stand eine Frau vor ihr und fragte, was sie wollte. »Apfelmost«, sagte Bitterblue in der Annahme, dass man das hier vermutlich bestellen würde, denn wahrscheinlich wäre es nicht normal, gar nichts zu nehmen. Oh – aber das war ein Problem, denn die Frau erwartete sicherlich Bezahlung für den Apfelmost. Das letzte Mal, als Bitterblue Geld dabeigehabt hatte, war … sie konnte sich nicht daran erinnern. Eine Königin brauchte kein Bargeld.

Ein Mann neben ihr am Tresen rülpste, während er mit ein paar Münzen kämpfte, die vor ihm ausgebreitet lagen. Es gelang ihm nicht, sie mit seinen unbeholfenen Fingern einzusammeln. Ohne nachzudenken, legte Bitterblue ihren Arm auf den Tresen, wobei sie mit ihrem Ärmel die beiden nächstgelegenen Münzen bedeckte. Dann schob sie die Finger ihrer anderen Hand unter den Ärmel und ließ die Münzen in ihre Faust gleiten. Kurz darauf steckten die Münzen in ihrer Tasche und ihre leere Hand ruhte unschuldig auf dem Tresen. Als sie sich umschaute und versuchte, entspannt zu wirken, begegnete sie dem Blick eines jungen Mannes, der sie mit einem winzigen Grinsen ansah. Er lehnte an dem Stück des Tresens, das sich im rechten Winkel zu ihrem befand, und hatte von dort aus eine perfekte Sicht auf sie, ihre Nachbarn und, wie sie vermutete, ihren Diebstahl.

Sie wandte den Blick ab und ignorierte sein Lächeln. Als die Wirtin den Apfelmost brachte, knallte Bitterblue ihre Münzen auf den Tresen und vertraute darauf, dass es der richtige Betrag war. Die Frau nahm die Münzen und legte ein kleineres Geldstück hin. Bitterblue griff nach dem Wechselgeld und ihrem Becher, trat vom Tresen weg und ging nach hinten in eine dunklere Ecke, wo sie einen besseren Überblick hatte und es weniger Leute gab, die sie bemerken konnten.

Jetzt musste sie nicht mehr ganz so wachsam sein und konnte der Geschichte lauschen. Es war eine, die sie schon oft gehört hatte; eine, die sie schon selbst erzählt hatte. Es war die – wahre – Geschichte, wie ihr eigener Vater als Junge an den Hof von Monsea gekommen war. Er war als Bettler mit einer Augenklappe gekommen, ohne zu sagen, von wem er abstammte oder wo er herkam. Er hatte den König und die Königin mit erfundenen Legenden verzaubert, Legenden über ein Land, in dem die Tiere bunte Farben hatten, die Gebäude so breit und hoch waren wie Berge und großartige Armeen aus den Felsen emporstiegen. Niemand hatte gewusst, wer seine Eltern waren, warum er eine Augenklappe trug oder warum er solche Geschichten erzählte, aber alle liebten ihn. Der König und die Königin, die selbst kinderlos waren, nahmen ihn an Sohnes statt an. Als Leck sechzehn wurde, erklärte der König, der sonst keine lebenden Verwandten hatte, ihn zu seinem Erben.

Nur Tage später starben der König und die Königin an einer geheimnisvollen Krankheit, die niemand am Hof infrage stellte. Die Ratgeber des alten Königs stürzten sich in den Fluss, denn Leck konnte Menschen dazu bringen, solche Dinge zu tun – oder konnte sie selbst in den Fluss stoßen und dann den Zeugen erklären, dass sie etwas anderes gesehen hatten. Selbstmord statt Mord. Lecks fünfunddreißigjährige Herrschaft der mentalen Verwüstung hatte begonnen.

Bitterblue hatte all dies früher immer als Erklärung gehört. Sie hatte es nie als Geschichte präsentiert bekommen, in der der alte König und die Königin mit ihrer Einsamkeit und Güte, ihrer Liebe zu einem Jungen, zum Leben erweckt wurden. Der Geschichtenerzähler beschrieb Leck teils so, wie er gewesen war, und teils so, wie er – das wusste Bitterblue – nicht gewesen war. Er hatte nicht hämisch gegrinst und sich schurkisch die Hände gerieben. Er war einfacher als das gewesen. Er hatte einfach geredet, einfach gehandelt und Gewalttaten mit einfacher, ausdrucksloser Präzision ausgeführt. Er hatte still getan, was er tun musste, damit die Dinge so wurden, wie er sie haben wollte.

Mein Vater, dachte Bitterblue. Dann fasste sie plötzlich nach der Münze in ihrer Tasche, beschämt, dass sie gestohlen hatte. Ihr fiel ein, dass ihr Kapuzenumhang ebenfalls gestohlen war. Auch ich nehme mir, was ich will. Habe ich das von ihm?

Der junge Mann, der wusste, dass sie eine Diebin war, war ein unruhiger Mensch. Er konnte offenbar nicht stillhalten, war ständig in Bewegung, glitt zwischen Leuten hindurch, die auswichen, um ihn vorbeizulassen. Er war leicht im Auge zu behalten, weil er die auffälligste Person im ganzen Raum war, gleichzeitig Lienid und nicht Lienid.

Die Lienid waren fast ausnahmslos dunkelhaarige Menschen mit grauen Augen, einem gewissen schönen Zug um den Mund und einer speziellen Welle im Haar wie bei Skye und Bo. Sie hatten Gold in den Ohren und an den Fingern, Männer und Frauen, Adlige und Bürger gleichermaßen. Bitterblue hatte Ashens dunkles Haar und ihre grauen Augen geerbt und auch etwas vom typischen Aussehen der Lienid, obwohl der Effekt bei ihr weniger beeindruckend war als bei anderen. Auf jeden Fall sah sie eher nach einer Lienid aus als dieser Kerl.

Er hatte Haare von der Farbe nassen Sandes, die an den Spitzen von der Sonne fast weiß gebleicht waren, und seine Haut war von Sommersprossen übersät. Seine Gesichtszüge waren zwar schön, jedoch nicht ausgesprochen lienidartig, die goldenen Ohrstecker dagegen, die an seinen Ohren blitzten, und die Ringe an seinen Fingern – das waren unzweifelhaft die eines Lienids. Seine Augen waren von einem unglaublichen, ungewöhnlichen Violett, sodass man sofort erkennen konnte, dass er nicht einfach ein normaler Mensch war. Und wenn man sich dann auf diese ganzen Ungereimtheiten eingestellt hatte, sah man, dass das Violett natürlich zwei verschiedene Schattierungen hatte. Er war ein Beschenkter. Und ein Lienid, aber nicht von Geburt an.

Bitterblue fragte sich, was seine Gabe sein mochte.

Dann sah Bitterblue, wie er an einem Mann vorbeistrich, der gerade einen Schluck aus einem Becher trank, in dessen Tasche fasste, etwas herausholte und es sich unter den Arm klemmte, schneller, als Bitterblue es für möglich gehalten hätte. Als er den Blick hob und unbeabsichtigt ihrem begegnete, bemerkte er, dass sie ihn gesehen hatte. Diesmal lag keine Amüsiertheit in seiner Miene. Nur Kälte, eine gewisse Unverschämtheit und der Anflug einer mit hochgezogenen Augenbrauen ausgesprochenen Drohung.

Er kehrte ihr den Rücken zu und ging zur Tür, wo er einem jungen Mann mit glatt herunterhängenden dunklen Haaren eine Hand auf die Schulter legte. Der Mann war offenbar sein Freund, denn die beiden verließen gemeinsam das Lokal. Bitterblue wollte herausfinden, wo sie hingingen, deshalb ließ sie ihren Apfelmost stehen und folgte ihnen, aber als sie auf die Gasse hinaustrat, waren sie bereits fort.

Da sie nicht wusste, wie spät es war, kehrte Bitterblue zum Schloss zurück. Am Fuß der Zugbrücke blieb sie stehen, um sich einen Moment auszuruhen. Sie hatte schon einmal genau an dieser Stelle gestanden, vor fast acht Jahren. Ihre Füße erinnerten sich daran und wollten sie in die Weststadt tragen, den Weg, den sie in jener Nacht mit ihrer Mutter gegangen war; ihre Füße wollten dem Fluss nach Westen folgen, bis sie die Stadt weit hinter sich gelassen hätte, und die Täler durchqueren, bis sie zu der Ebene vor dem Wald gelangte. Bitterblue wollte an der Stelle stehen, wo Vater Mutter in den Rücken geschossen hatte, sie von seinem Pferd aus im Schnee erschossen hatte, während Mama zu fliehen versuchte. Bitterblue hatte es nicht gesehen. Sie hatte sich im Wald versteckt, genau wie Ashen es ihr gesagt hatte. Aber Bo und Katsa hatten es gesehen. Manchmal beschrieb Bo es ihr, während er ruhig ihre Hände hielt. Sie hatte es sich so oft vorgestellt, dass es sich anfühlte wie eine Erinnerung, aber das war es nicht. Sie war nicht dabei gewesen, sie hatte nicht geschrien, so wie sie es sich vorstellte. Sie hatte sich nicht vor den Pfeil geworfen oder Mama aus der Schusslinie geschubst oder ein Messer geworfen und Leck rechtzeitig ermordet.

Eine Uhr schlug zwei und brachte Bitterblue wieder zu sich. Der Westen hielt nichts für sie bereit außer einem langen und schwierigen Marsch und Erinnerungen, die selbst aus dieser Entfernung klar und deutlich waren. Sie ging über die Zugbrücke.

Als sie erschöpft und gähnend im Bett lag, verstand sie zunächst nicht, warum sie keinen Schlaf fand. Dann spürte sie es, die Straßen voller Menschen, die Schatten der Häuser und Brücken, den Klang der Geschichten und den Geschmack des Apfelmosts; die Angst, die all ihre Handlungen durchdrungen hatte. Ihr Körper pulsierte vom Leben der mitternächtlichen Stadt.

3

An reguläre Arbeit ist heute nicht zu denken.

Am nächsten Morgen saß Bitterblue verschlafen an ihrem Schreibtisch im Turm. Ihr Ratgeber Darby war von seiner Zechtour, von der alle wussten, die aber niemand erwähnte, zurückgekehrt, kam immer wieder die Wendeltreppe aus den unteren Schreibzimmern heraufgerannt und brachte ihr Papiere, mit denen sie langweilige Dinge tun musste. Wenn er kam, platzte er jedes Mal durch die Tür, schoss durch das Zimmer und blieb wie auf glühenden Kohlen vor ihrem Schreibtisch stehen. Wenn er ging, war es dasselbe. In nüchternem Zustand war Darby immer hellwach und voller Elan – wirklich immer, denn er hatte ein gelbes und ein grünes Auge und besaß die Gabe, ohne Schlaf auszukommen.

Runnemood dagegen saß träge im Zimmer herum und sah gut aus, während Thiel, der zu steif und verbissen war, um gut auszusehen, um Runnemood herumstrich und vor dem Schreibtisch aufragte, wo er entschied, in welcher Reihenfolge Bitterblue von den Papieren gequält werden sollte. Rood war immer noch nicht wieder da.

Bitterblue hatte so viele Fragen und hier waren so viele Leute, denen sie sie nicht stellen konnte. Wussten ihre Ratgeber, dass es ein Lokal unter der Monster Bridge gab, in dem sich die Leute Geschichten über Leck erzählten? Warum spielten die Viertel unter den Brücken keine Rolle bei ihren jährlichen Inspektionstouren? Lag es daran, dass die Häuser verfielen? Das hatte sie überrascht. Und wie kam sie, ohne Verdacht zu erregen, an ein paar Münzen?

Laut sagte sie: »Ich will eine Karte.«

»Eine Karte?«, fragte Thiel erschrocken und schob ihr dann raschelnd ein Blatt Papier zu. »Auf der die Lage dieser neu gegründeten Stadt eingetragen ist?«

»Nein. Einen Stadtplan von Bitterblue City. Ich will mir einen Stadtplan ansehen. Schicken Sie jemanden danach, bitte, Thiel, ja?«

»Hat das etwas mit Wassermelonen zu tun, Königin?«

»Thiel, ich will einfach einen Stadtplan! Besorgen Sie mir einen Stadtplan!«

»Lieber Himmel«, sagte Thiel. »Darby«, wandte er sich dann an den aufgedrehten Kerl, der gerade mal wieder ins Zimmer gestürmt kam. »Schick doch bitte jemanden in die Bibliothek, um einen Stadtplan zur Einsicht für die Königin zu besorgen – einen aktuellen Stadtplan – ja?«

»Einen aktuellen Stadtplan. Sehr wohl«, sagte Darby, drehte sich einmal um sich selbst und war wieder weg.

»Wir beschaffen einen Stadtplan, Königin«, berichtete Thiel, als er sich wieder an Bitterblue wandte.

»Ja«, sagte Bitterblue mit sarkastischem Tonfall und rieb sich den Kopf. »Ich war dabei, Thiel.«

»Ist alles in Ordnung, Königin? Sie scheinen ein wenig … gereizt.«

»Sie ist müde«, verkündete Runnemood, der mit verschränkten Armen in einer Fensternische saß. »Ihre Majestät hat die Unabhängigkeitsanträge, Gerichtsurteile und Berichte satt. Wenn sie einen Stadtplan möchte, soll sie ihn bekommen.«

Es ärgerte Bitterblue, dass Runnemood sie verstand. »Ich möchte in Zukunft mehr Mitspracherecht, wo meine Inspektionstouren hinführen«, sagte sie scharf.

»So soll es sein«, erwiderte Runnemood mit großer Geste. Ehrlich gesagt wusste Bitterblue nicht, wie Thiel es mit ihm aushielt. Thiel war so einfach und Runnemood so affektiert, trotzdem arbeiteten sie perfekt zusammen und bildeten immer sofort eine geschlossene Front, sobald Bitterblue die Linie überschritt, deren genaue Position nur die beiden kannten. Sie beschloss nichts weiter zu sagen, bis der Stadtplan eintraf, damit man ihr die astronomischen Dimensionen ihres Ärgers nicht anmerkte.

Als er dann kam, waren außerdem der königliche Bibliothekar und Holt, ein Mitglied der königlichen Wache, dabei, da der Bibliothekar so viel mehr lieferte als das, worum sie gebeten hatte, dass er es nicht ohne Holts Hilfe die Treppe herauftragen konnte. »Königin«, sagte der Bibliothekar. »Nachdem die Anfrage Ihrer Majestät leider sehr ungenau war, hielt ich es für das Beste, Ihnen eine Auswahl an Karten zu liefern, um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass eine davon Ihren Gefallen findet. Es ist mein inbrünstiger Wunsch, an meine Arbeit zurückkehren zu können, ohne ständig von Ihren Helfershelfern unterbrochen zu werden.«

Bitterblues Bibliothekar war ein Beschenkter mit der Fähigkeit, unwahrscheinlich schnell zu lesen und sich für immer an jedes Wort zu erinnern – das behauptete er zumindest und er schien diese Gabe auch wirklich zu besitzen. Bitterblue fragte sich allerdings manchmal, ob er nicht auch mit Abscheulichkeit beschenkt war. Er hieß Todd und Bitterblue sprach seinen Namen gelegentlich gerne aus Versehen so aus, als würde er nur mit einem d geschrieben.

»Wenn das dann alles wäre, Königin«, sagte Todd und warf eine Armladung Papierrollen auf den Rand ihres Schreibtischs, »würde ich gerne wieder gehen.«

Die Hälfte der Rollen kullerte hinunter und landete mit einem hohlen Geräusch auf dem Boden. »Also wirklich«, sagte Thiel verärgert, während er sich bückte, um sie aufzuheben, »ich hatte Darby deutlich gesagt, dass wir einen einzelnen aktuellen Stadtplan wünschen. Nehmen Sie die wieder mit, Todd, sie sind überflüssig.«

»Alle Landkarten aus Papier sind aktuell«, sagte Todd und schnaubte, »wenn man die Dimensionen der geologischen Zeit in Betracht zieht.«

»Ihre Majestät möchte einfach die Stadt so sehen, wie sie heute ist«, sagte Thiel.

»Eine Stadt ist ein lebendiger Organismus, der sich ständig verändert …«

»Ihre Majestät wünscht …«

»Ich wünschte, Sie würden alle verschwinden«, sagte Bitterblue verzweifelt, mehr zu sich selbst als zu irgendjemand anderem. Die beiden Männer stritten weiter. Runnemood fiel ein. Und dann legte Holt, der königliche Wachmann, die Landkarten auf ihren Schreibtisch, ganz sorgfältig, damit sie nicht herunterfielen, lud sich Thiel auf eine Schulter und Todd auf die andere und stand so beladen da. Inmitten des verblüfften Schweigens, das folgte, ging Holt schwerfällig auf Runnemood zu, der verstehend schnaubte und von selbst das Zimmer verließ. Dann trug Holt seine empörte Last auf beiden Schultern hinaus, gerade als die Männer ihre Stimmen wiederfanden. Bitterblue konnte hören, wie sie auf dem ganzen Weg die Treppe hinunter ihre Entrüstung herausschrien.

Holt war ein Wachmann Mitte vierzig mit wunderschönen Augen in Grau und Silber, ein großer, breiter Mann mit einem freundlichen, offenen Gesicht und der Gabe der Stärke.

»Das war ja merkwürdig«, dachte Bitterblue laut. Aber es war schön, allein zu sein. Sie öffnete willkürlich eine der Rollen und sah, dass es sich um eine astronomische Karte der Sternbilder über der Stadt handelte. Sie verfluchte Todd und schob sie zur Seite. Die nächste war ein Plan des Schlosses vor Lecks Renovierungen, als es noch vier statt sieben Schlosshöfe gehabt hatte und die Dächer ihres Turms, der Innenhöfe und der oberen Gänge nicht aus Glas gewesen waren. Die nächste war erstaunlicherweise wirklich ein Stadtplan, aber eine seltsame Karte, auf der hier und da Wörter unleserlich gemacht waren und auf der noch keine Brücken eingezeichnet waren. Die vierte war schließlich ein moderner Stadtplan, auf der die Brücken zu sehen waren. Ja, es war sogar ziemlich eindeutig ein aktueller Plan, denn er war mit »Bitterblue City« beschriftet und nicht mit »Leck City« oder dem Namen irgendeines anderen ehemaligen Königs.

Bitterblue verschob die Papierstapel auf ihrem Schreibtisch so, dass sie die vier Ecken des Stadtplans festklemmten, auf hämische Weise erfreut, ihnen einen Nutzen abzugewinnen, ohne sie lesen zu müssen. Dann machte sie sich daran, den Plan zu studieren, fest entschlossen, sich beim nächsten Mal, wenn sie sich hinausschlich, besser orientieren zu können.

Die sind wirklich alle merkwürdig, dachte sie nach einer weiteren Begegnung mit Richter Quall später bei sich. Sie war im Vorraum vor den unteren Schreibzimmern auf ihn gestoßen, wo er abwechselnd auf dem einen und dann dem anderen Bein stand und böse vor sich hin starrte. »Oberschenkelknochen«, hatte er gemurmelt, ohne sie zu bemerken. »Wirbelknochen. Schlüsselbeine.«

»Für jemanden, der nicht gerne über Knochen redet«, hatte Bitterblue ohne Umschweife gesagt, »bringen Sie sie ziemlich oft zur Sprache, Quall.«