Die Wahrhaftige (Die sieben Königreiche 4) - Kristin Cashore - E-Book
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Die Wahrhaftige (Die sieben Königreiche 4) E-Book

Kristin Cashore

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Beschreibung

Fesselnde romantische Fantasy von der heiß geliebten Bestseller-Autorin! Eine schüchterne Königin und eine große Liebe ... Bitterblue ist seit einigen Jahren junge Königin von Monsea. Als jenseits des Ozeans ein neues Land entdeckt wird, ist sie voller Neugier. Winterburg hat Luftschiffe und eine große Akademie – und es gibt dort ganz andere Arten Magie. Doch als Bitterblues Gesandte dort unter verdächtigen Umständen ertrinken, wird sie misstrauisch. Zusammen mit Giddon, der sie seit langem heimlich liebt, macht sie sich auf den Weg nach Winterburg, um die Wahrheit herauszufinden. Als Bitterblue entführt wird und Giddon sie für tot hält, wird ihre unausgesprochene Liebe auf die Probe gestellt und ihre Mission droht zu scheitern … »Dieses lang ersehnte Buch übertrifft alle Erwartungen!« School Library Journal, Sternchenrezension Alle Bände der romantischen Bestseller-Serie sind auch unabhängig voneinander lesbar: Die Beschenkte (Band 1) Die Flammende (Band 2) Die Königliche (Band 3) Die Wahrhaftige (Band 4)

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KRISTIN CASHORE – DIE WAHRHAFTIGE

Als jenseits des Ozeans ein neues Land entdeckt wird, ist Bitterblue, die junge Königin von Monsea, voller Neugier. In Winterburg gibt es Luftschiffe, eine große Akademie, blaue Füchse und Silberkühe mit telepathischen Fähigkeiten. Doch als Bitterblues Gesandte dort unter verdächtigen Umständen ertrinken, wird sie misstrauisch. Zusammen mit Giddon, der sie seit Jahren heimlich liebt, macht sie sich auf den Weg nach Winterburg, um die Wahrheit herauszufinden. Als Bitterblue entführt wird und Giddon sie für tot hält, wird ihre unausgesprochene Liebe auf die Probe gestellt und ihre Mission droht zu scheitern …

»Dieses lang ersehnte Buch übertrifft alle Erwartungen!« School Library Journal

Alle Bände der Serie sind auch unabhängig voneinander lesbar:

Die Beschenkte (Band 1)

Die Flammende (Band 2)

Die Königliche (Band 3)

Die Wahrhaftige (Band 4)

WOHIN SOLL ES GEHEN?

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Für Kevin

 

HINWEIS AN DIE LESERINNEN UND LESER

Es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass die Zeitrechnung in den Welten meiner Fantasyromane dem gregorianischen Kalender oder unserer Sieben-Tage-Woche entspricht. Und ziemlich sicher würden Monsea und Winterburg – zwei Länder auf unterschiedlichen Kontinenten, die sich unabhängig voneinander entwickelt haben – nicht denselben Kalender nutzen. Wenn ich in meiner Erzählung der Erlebnisse dieser Figuren den gregorianischen Kalender und unsere üblichen Wochentage verwende, ist das als freundliche Übersetzung aus ihrer Welt in unsere gemeint. Ihr sollt euch unbeschwert auf das Leben der Figuren einlassen können – und nicht von Überlegungen darüber, welcher Tag oder Monat gerade ist, verwirrt werden.

Ich möchte außerdem noch auf das Personenverzeichnis am Ende des Buches aufmerksam machen.

DIE BÜRGIN

Der Mann mit der weißen Strähne im schwarzen Haar kam ihr beim Tauchen schon wieder zu nahe. Für einen Menschen war er ein ausdauernder Schwimmer. Mit starken Armen zog er sich immer weiter durchs Wasser und trieb sich mit kräftigen Beinschlägen an.

Die Meereskreatur versuchte ihre zitternden Glieder zu beruhigen, damit der Mensch, falls er tief genug tauchte, um sie sehen zu können, sie einfach nur für einen moosbewachsenen Fels auf dem Grund des Ozeans hielt. Dann würde er umkehren und ihr nicht länger Angst einjagen.

Der Mensch schoss zurück an die Wasseroberfläche. Die Kreatur entspannte sich, erleichtert, dass Menschen Luft zum Atmen brauchten. Vor allem bei diesem Mann war sie darüber froh, denn er war anders als die anderen. Die meisten Menschen sprangen aus einem Boot, planschten im Wasser herum – wobei sie aussahen wie Vögel, die versuchten, nicht vom Himmel zu fallen – und zogen sich anschließend zufrieden ins Boot zurück. Die Meereskreatur sah sie nie wieder.

Aber dieser Mensch kehrte andauernd zurück und tauchte so zielstrebig, dass es der Kreatur Angst machte, denn sie hortete Schätze hier auf dem Grund des Ozeans, sammelte sie, schützte sie, und dieser Mensch wusste von einem davon. Von ihr wusste er nichts. Niemand wusste von ihr. Aber er hatte es auf den Gegenstand abgesehen, der ihr Lieblingsschatz war. Sie spürte, wie er darüber nachdachte, und schlang ihre langen Tentakel darum, versuchte, den Schatz vor dem Menschen zu verbergen. Es war ein Schiff.

Dieses Schiff, ein Zweimaster mit flatternden Segeln, war vor nicht allzu langer Zeit mit dem Bug voraus von der Wasseroberfläche herabgesunken und neben ihr gelandet. Alle Schätze der Kreatur – Netze, Harpunen, Anker – fielen auf diese Weise aus dem hellen Wasser über ihr herab. Aber Schiffe waren seltene Schätze und dieses Schiff war ganz besonders außergewöhnlich, denn als sie eins ihrer Augen an ein Bullauge drückte, entdeckte sie in seinem Inneren eine geheime Welt. Einen rosafarbenen Raum mit winzigen Sofas und Sesseln, die am Boden befestigt waren, Gemälde an den Wänden, Lampen. Ein verbarrikadiertes Oberlicht und eine Tür mit glänzendem Knauf und Scharnieren. Außerdem zwei rosahäutige Menschenkörper, die inzwischen weich und aufgedunsen aussahen. Sie nannte es ihre Geschichtenwelt.

Das Außergewöhnlichste und Eigenartigste an ihrer Geschichtenwelt aber war, dass ein Schloss an der Tür hing und die beiden Körper einsperrte. Wenn ein Schiff sank, sprangen die Leute normalerweise ins Wasser oder in die Rettungsboote und versuchten zu überleben. Sie sperrten sich nicht mit einem Schloss in einem Raum ein.

Der Mann mit der weißen Strähne im schwarzen Haar, der braune Haut hatte, tauchte erneut tief hinab und suchte nach dem Schiff. Er dachte beim Tauchen manchmal an eine Frau – eine Menschenfrau mit dunklen Zöpfen und grauen Augen, die funkelnde Ringe an hellbraunen Fingern trug. Die Meereskreatur verstand, dass er das Schiff suchte, um es der Frau bringen zu können. Sie mochte diese Frau nicht, überhaupt nicht.

Das Boot des Tauchers war ein kleines Oval hoch über ihr. Sie überlegte, es am Anker zu packen und herabzuziehen. So etwas tat sie sonst nicht. Wenn sie sein Boot herunterzog, würde er sie wahrscheinlich sehen, und sie erregte nie Aufmerksamkeit. Aber vielleicht würde er ertrinken und so nicht länger nach ihrem Lieblingsschatz suchen. Eigentlich würde er selbst einen schönen Schatz abgeben. Zusätzlich zu der hübschen Art, wie seine Haare im Wasser um sein Gesicht trieben, zu seinen winzigen perfekten Muskeln und seinen winzigen perfekten Händen und Füßen funkelte noch ein roter Edelstein an einem Ring, den er am Daumen trug. Gerne würde die Kreatur diesen Ring von seinem Finger streifen und ihn an der Spitze eines ihrer dreizehn Tentakel tragen. Die glitzernden Dinge, die die Menschen trugen, gefielen ihr. Und dann würde der Mann sich aufblähen, aufbrechen, verwesen und schließlich zu einem glatten, glänzenden Skelett in zerlumpten Kleidern werden, und das gefiel ihr auch an den Menschen. Sie könnte ihn ihrer Knochensammlung hinzufügen. Ihn mit ihren Tentakeln umfassen, ihn beschützen.

Eine Herde Silberkühe näherte sich, daher beschloss sie, das kleine ovale Boot des Menschen in Ruhe zu lassen. Silberkühe ließen Menschen nie ertrinken, wenn sie es verhindern konnten. Sie waren ungefähr so groß wie eins der Augen der Meereskreatur. Auf ihren Rücken hoben sie ertrinkende Menschen an die Wasseroberfläche, wobei sie sie mit aufmunternden Gedanken bedachten. Außerdem war die Gefahr, entdeckt zu werden, jetzt zu groß. Silberkühe konnten unter Wasser besser sehen als Menschen.

Der Mensch beendete erneut seinen Tauchgang und stieg zur Wasseroberfläche auf. Anschließend schien er mit den Silberkühen zu spielen, er schwamm und drehte sich mit ihnen, lachte und schrie vor Glück. Das passierte ziemlich oft bei diesem Menschen. Die Silberkühe besuchten ihn gern und er lachte immer viel.

Dann geschah ganz plötzlich etwas Unerwartetes. Zwei weitere Menschen stürzten an langen Seilen von oben ins Wasser. Sie packten den lachenden Mann und kämpften mit ihm. Er wehrte sich, boxte, trat, wand sich. Er war großartig; die Meereskreatur rechnete damit, dass er sich losreißen würde. Aber dann schien ihm die Luft auszugehen, denn er rührte sich nicht mehr. Die anderen beiden Menschen schossen an ihren Seilen aus dem Wasser und nahmen seinen Körper mit.

Die Kreatur war so überrascht, dass sie sich ein Stück vom Grund des Ozeans erhob, auf ihren dreizehn Tentakeln balancierte und sich mit ihren dreiundzwanzig Stielaugen umsah. Durch das gekräuselte Wasser über sich konnte sie den Umriss eines Luftschiffs erkennen, das durch den Himmel Richtung Norden entschwand.

Dann fielen ihr die Silberkühe wieder ein, und weil sie nicht entdeckt werden wollte, sank sie zurück in die Finsternis am Grund des Ozeans. Die Silberkühe bemerkten sie nicht; sie hatten die lila-blauen Gesichter über die Wasseroberfläche gestreckt und beobachteten mit ihren großen dunklen Augen, wie das Luftschiff den schlaffen Mann davontrug. Ihre Gedankenstimmen schwollen zu einem Klagelied an. Sie kommunizierten mit Bildern und Gefühlen, nicht mit Worten, aber die Kreatur verstand ihre Bedeutung. Wir sehen dich, guter Freund, riefen sie. Wir wissen Bescheid. Wir werden davon berichten.

Immer wenn die Kreatur auf Schatzsuche ging, begab sie sich an dunkle Orte, damit die Silberkühe sie nicht sahen. Die Silberkühe waren Tiere der Oberfläche, Lichtkreaturen; sie dagegen war eine Kreatur der Tiefe, eine Kriecherin, Schleicherin, Sucherin. Auch an den Orten, wo die Kreatur gerne hinging, gab es Tiere, die sahen, wie sie sich mit ihren langen Tentakeln vorwärtsbewegte, aber die Aufmerksamkeit dieser Tiere war unwichtig.

Heute überquerte sie das Feld der rosa und weißen Blumen und glitt in den Wald aus Fasern und Schilf, in dem die Seepferdchen aus ihren wogenden Höhlen linsten. Sobald Seepferdchen etwas nicht mehr sahen, hatten sie es bereits vergessen. Wenn sie die Kreatur erblickten, entrollten sie manchmal ihre Schwänze und zogen sich schnell in die Dunkelheit zurück, dann vergaßen sie sie und kamen wieder hervor.

Die Kreatur dachte an den Menschen mit der weißen Strähne im Haar, an die Menschen, die ihn gepackt hatten, und an die Silberkühe, die ihm zugerufen hatten: Wir sehen dich. Wir wissen Bescheid. Wir werden davon berichten.

Was hatten sie gesehen? Worüber wussten sie Bescheid? Wem wollten sie berichten? Die Kreatur wollte die Antworten auf diese Fragen gar nicht wissen. Sie war froh, in der Tiefe zu leben – weit weg vom Licht, wo Tiere Kontakt miteinander hatten und sich gegenseitig störten.

Sie erreichte eine Stelle, wo Moosbüschel am Fuß der Korallenriffe wuchsen. Die Schwämme, die hier lebten, hatten einen winzigen, hellen, klaren Verstand voll alberner Wörter. Bürgin! Freundin! Heldin! Bürgin! Musik! Gelächter! Tanz! Bürgin! Bürgin!

Jeden Tag sangen sie im Chor um sie herum, während sie sich mit ihren Tentakeln Moos ins Maul steckte. Sie war so an das Lied gewöhnt, dass sie gar nicht mehr darauf achtete. Schwämme waren nicht besonders schlau. Als sie einmal in einer plötzlichen Anwandlung von Neugier einen fressen wollte und versuchte, ihn von seinem Untergrund abzuziehen, hatte er vor Lachen gekreischt, als hätte sie ihn gekitzelt. Bürgin!, hatte er gerufen. Spiele! Witze! Spaß! Da hatte sie aufgegeben, ihn losgelassen und war wieder dazu übergegangen, die Schwämme zu ignorieren.

Nach dem Fressen ging sie normalerweise in den düsteren Gruben unter den Korallenriffen auf Schatzsuche. Heute musste sie jedoch nicht lange suchen, denn dieselbe Strömung, die ihr Fressen brachte, hatte ihr auch einen Schatz gebracht. Es war etwas Kleines, eine Metallkugel, die auf und ab wippte und gegen die Korallen stieß. Menschengemacht, aber kein Gegenstand, den die Kreatur erkannte. Eiförmig, mit einem kleinen Metallring an der einen Seite, der an einer Art Stift befestigt war. Der Ring und der Stift glänzten, was hübsch aussah – wenn auch lange nicht so hübsch wie der funkelnde rote Edelstein am Daumen des tauchenden Mannes.

Die Kreatur hob das Ding auf und hielt es sich vor die Augen. Sie streichelte den Metallring und überlegte, ob etwas passieren würde, wenn man daran zog, denn manchmal taten menschengemachte Gegenstände etwas, wenn man sie an der richtigen Stelle berührte. Einer ihrer Schätze war eine Kiste, die auf- und zuging. Ein anderer hatte eine Kette, die um einen Zylinder geschlungen war, und einen Griff, der das Ganze zum Drehen brachte; am Ende der Kette hing ein Anker, der über den Meeresboden holperte und hüpfte, wenn sie damit spielte.

Das Ziehen des Metallrings würde sie sich als Belohnung für später aufheben. Sie brachte das Ding nach Hause und legte es zu ihren Schätzen.

In der Nacht erwachte die Kreatur, weil sie etwas Ungewöhnliches vernahm. An der mondbeschienenen Wasseroberfläche hoch über ihr riefen die Silberkühe etwas im Schlaf.

Verwirrt reckte sie den Hals und ließ ihre Augen kreisen. Über ihr blitzten Lichter, erklangen Schläge, und plötzlich wurden ihre Gedanken von Silberkuhschreien durchschnitten. Die gellenden, elektrisierenden Schreie rüttelten sie wach, denn die Silberkühe heulten vor Leid und Verzweiflung wie nie zuvor. Die Kreatur war so überwältigt vom Schmerz der Silberkühe, dass sie etwas tat, was sie noch nie getan hatte. Sie stieg zur Wasseroberfläche auf und hob ihre Augen darüber hinweg.

Unter einer Sternendecke durchbohrten Menschen in kleinen Booten die Silberkühe mit Speeren.

Die Kreatur duckte sich wieder unter die Wasseroberfläche. Was war das? Niemand tötete je Silberkühe! Versteck dich, sagte sie sich in Gedanken. Versteck dich! Mach, dass es weggeht.

Aber als sie versuchte, wieder zu ihren Schätzen hinabzutauchen, schossen vier fliehende Silberkühe an ihr vorbei und sahen sie, wie sie da im mondbeschienenen Wasser trieb. Staunend starrten sie sie an.

Tut so, als wäre ich gar nicht da, bat sie sie mit zitternden Gliedern. Tut so, als würdet ihr mich nicht sehen.

Bist du die Bürgin?, riefen die Silberkühe. Sie überwältigten sie mit ihrem Schmerz, überschwemmten sie mit ihrer Angst. Du musst die Bürgin sein! Du bist unsere Heldin! Rette unsere Freunde!

Die Kreatur wusste nicht, was die Silberkühe meinten. Drei von ihnen bluteten. Einer strömte das Blut aus einer Wunde an der Schulter. Ich bin nicht die Bürgin, sagte sie. Ich habe keinen Namen. Ihr verwechselt mich mit jemandem.

Hilf uns!, riefen die Silberkühe. Was ist los mit dir? Du bist die Heldin von Winterburg! Du solltest für unsere Sicherheit bürgen!

Die Kreatur beschloss, so zu tun, als hörte sie sie nicht, und sank hinab in die Finsternis des Meeresgrunds.

1

Als Giddon den ersten Hinweis darauf bekam, dass irgendetwas in Winterburg nicht stimmte, trug er gerade ein schlafendes Mädchen durch einen Felsentunnel.

Das Mädchen hieß Selie, sie war acht Jahre alt und nicht gerade klein. Giddon begann sich zu fragen, ob sie sogar wuchs, während er sie trug. Sie war jetzt eindeutig schwerer als noch vor zwei Stunden, als sie die Arme zu ihm ausgestreckt hatte, eine Geste, die ihn nicht überraschte, denn die Kinder wollten immer von Giddon durch die Tunnel getragen werden. Er war größer, interessanter und weniger ängstlich als ihre Eltern, oder zumindest nahmen die Kinder das an. Eigentlich war Giddon bei diesen Einsätzen für den Rat – auf den Schmuggeltouren durch die Tunnel von Estill nach Monsea – ziemlich ängstlich, aber er begrub seine Sorgen irgendwo tief in sich, wo sie seine Augen und seine Stimme nicht erreichten. Es war hilfreicher, gefasst und beruhigend zu wirken.

Also trug er Selie ruhig mit erschöpften Schultern und tauben Armen, watete durch Wasserläufe, versuchte die Müdigkeit in den abgespannten bleichen Gesichtern ihrer Familie einzuschätzen und trat vorsichtig von Fels zu Spalte und Stein auf dem unebenen Weg, den Selies ältere Schwester mit ihrer Laterne beleuchtete. Die neunzehnjährige Ranie warf Giddon die ganze Zeit über schüchterne, flirtende Seitenblicke zu. Auch das kannte er schon von anderen Einsätzen. Er hatte sich angewöhnt, im Gespräch seine geliebte Freundin zu erwähnen. Giddon hatte keine Freundin. Noch etwas, das er vorgab, um die Dinge zu vereinfachen.

Er hob eine Hand, um Selies herunterhängenden Kopf zu stützen. Kinder sind eigenartig gelenkig, dachte Giddon. Manchmal sah es aus, als würde sich ihr Kopf gleich vom Körper lösen und auf den felsigen Boden plumpsen. Und Selie war der Grund für diese Reise durch die Tunnel nach Monsea, denn sie war eine Beschenkte mit der Gabe des Gedankenlesens. In Estill gehörten die Beschenkten der neuen Regierung, die ihre besonderen Fähigkeiten nach Belieben ausnutzte. Es gab alle möglichen Gaben – von so banalen Talenten, wie Vogellaute nachahmen zu können, bis hin zu nützlicheren Eigenschaften wie Schnelligkeit, das Wetter vorhersagen können, Kämpfen, mentale Manipulation oder Gedankenlesen. In Monsea, wo Königin Bitterblue die Regeln machte, waren Beschenkte frei.

Der Rat – der keinen offiziellen Namen hatte, er hieß einfach bloß der Rat – war ein geheimer, internationaler Zusammenschluss von Spionen, Retterinnen, Kämpferinnen, Verschwörern und Beratern, der von Giddon und seinen Freunden Raffin, Bann, Katsa und Bo angeführt wurde und allen in den Sieben Staaten zu Hilfe kam, die zu Unrecht unter den Gesetzen litten. Der Rat hatte vor etwa vierzehn oder fünfzehn Jahren klein angefangen – Katsa hatte ihn ins Leben gerufen –, aber inzwischen reichte sein Einfluss weit.

Es waren Giddon und seine Freunde gewesen, die das Volk von Estill beim Sturz ihres korrupten Königs unterstützt hatten. Aber dann hatte sich die provisorische Republik, die in Estill anstelle der Monarchie getreten war, als unterdrückerischer erwiesen, als die Ratsmitglieder vorhergesehen hatten. Außerdem hielt der Rat grundsätzlich nichts von Regierungen, die Beschenkte als ihren Besitz betrachteten.

Deshalb schmuggelte Giddon jetzt heimlich Beschenkte aus Estill heraus, um sie vor der Regierung in Sicherheit zu bringen, der er selbst an die Macht verholfen hatte. Und versuchte dabei, den Soldaten von Estill aus dem Weg zu gehen, die seit einiger Zeit mit Schwertern und Bögen bewaffnet in den Wäldern an der Grenze patrouillierten und jeden, dem sie begegneten, nach seinen Papieren fragten.

Giddons Schwert hing schwer an seiner Seite. Er brachte noch mehr Kraft auf, um Selie fester zu halten, falls ihr kalt war. Es war Anfang Mai und eisig unter der Erde. Seit zwanzig Minuten wurden sie von einem steten Tröpfeln, das von einem versteckten Felsvorsprung über ihnen kam, gepiesackt, und Giddon hatte die Mütze und den Schal des Mädchens kaum trocken halten können. In ungefähr zwei Stunden würde sich der Pfad wandeln und zu einem gleichmäßigen Abhang werden, der sie sanft in die Wälder vor Bitterblue City führen würde. Giddon würde die Familie bei den Verbündeten des Rats abliefern, die sie in Monsea erwarteten, und selbst an Bitterblues Hof zurückkehren. Ins Bett fallen, ein Jahr lang schlafen. Und dann nach Bitterblue sehen.

»Hat mein Vater Ihnen schon die Nachricht übermittelt?«, fragte Ranie Giddon so leise, dass er näher an sie heranrücken und sich vorbeugen musste.

»Welche Nachricht?«, fragte er. Es gefiel ihm unweigerlich, wie die Stimmen hier im Tunnel grollten und zu Geflüster wurden wie das tröpfelnde Wasser.

»Papa?« Ranie drehte sich zu dem kahl werdenden Mann um, der entschlossen hinter ihnen herstapfte, ein schlafendes Baby vor die Brust geschnallt. Neben ihm ging seine Frau mit einem Gesichtsausdruck, als würde sie ewig weiterlaufen, wenn es nötig wäre. Es war ein erschöpfter, aber entschlossener Ausdruck, den Giddon kannte. Vermutlich waren ihre Füße voller Blasen. Eltern taten heldenhafte Dinge für ihre Kinder.

»Papa, hattest du nicht eine Nachricht für Giddon?«, fragte Ranie.

»Ach, ja.« Der Mann blinzelte, als erwachte er gerade. Die Lautstärke seiner eigenen Stimme schien ihn zu erschrecken. Diesen Effekt hatten die Tunnel, konnten einem den Eindruck vermitteln, man sei ganz in sich selbst versunken. Ein Gespräch erschien einem dann wie Gewalt.

»Es ist eine Nachricht über diese beiden Abgesandten aus Monsea, deren Schiff in Winterburg gesunken ist«, sagte der Mann. »Wissen Sie von diesem Schiff, der Seashell?«

Giddon sah plötzlich Königin Bitterblue vor sich, wie sie an der Tür zu seinen Räumen stand, einen Brief umklammernd, das tränenüberströmte Gesicht ihm zugewandt. Bitterblues Gesandter in Winterburg, Mikka, und einer ihrer Ratgeber, Brek, waren in diesem Schiffswrack am anderen Ende der Welt ums Leben gekommen. Und es war ein Unfall gewesen – wie Giddon ihr immer wieder versicherte, während er sie auf seiner Schwelle im Arm hielt –, aber trotzdem machte sie sich Vorwürfe, weil sie diejenige war, die die Männer nach Winterburg geschickt und damit zu einem Tod so weit entfernt von zu Hause verurteilt hatte.

»Ja«, sagte Giddon grimmig. »Ich weiß von den ertrunkenen Männern aus Monsea.«

»Ich soll Ihnen sagen, dass die beiden Neuigkeiten über etwas namens Zilfium gehabt hätten.«

»Neuigkeiten über Zilfium?«, fragte Giddon, der diese Nachricht ziemlich unverständlich fand. Soweit er sich erinnerte, war Zilfium eine Art Treibstoff, der wichtig war für Winterburg, aber er wusste nicht mehr, warum. »Was für Neuigkeiten?«

»Ich weiß es nicht«, sagte der Mann. »Ich weiß nur, dass sie Königin Bitterblue Neuigkeiten über Zilfium mitteilen wollten, dann aber an jenem Tag segeln waren und ertrunken sind. Daher solle die Königin so viel wie möglich über Zilfium in Erfahrung bringen.«

»Wer hat Ihnen diese Nachricht für mich anvertraut?«, fragte Giddon.

»Der Mann, der uns zum Anfang des Tunnels gebracht hat, wo Sie uns abgeholt haben. Bann, der Gefährte von Prinz Raffin von den Middluns. Er sagte, er habe es von Prinz Raffin, der es wiederum aus einem Brief hatte, den einer der Männer ihm geschrieben hat, bevor er ertrank.«

So wurden Ratsnachrichten häufig weitergegeben, von Mund zu Mund. »Hat Bann Ihnen irgendetwas Schriftliches für mich mitgegeben?«

»Nein, nichts. Nur das, was ich gesagt habe: Dass die Männer Königin Bitterblue Neuigkeiten über Zilfium mitteilen wollten, bevor ihr Schiff gesunken ist, und dass sich Königin Bitterblue daher mit Zilfium beschäftigen solle.«

Diese Nachricht war hochgradig ärgerlich, und das lag vermutlich nicht nur daran, dass Giddon nass und erschöpft war und ein bleischweres Kind trug. Erstens verstand er sie nicht. Zweitens hatte er den Verdacht, dass sie unvollständig war. Und drittens würde die Erinnerung an ihre toten Männer Bitterblue wahrscheinlich zum Weinen bringen.

Ranie ging wieder näher neben ihm und sprach so leise, dass er sich zu ihr rüberbeugen musste. Er fragte sich, ob sie das wohl mit Absicht tat.

»Was ist Zilfium, Giddon?«, fragte sie.

Ein Rinnsal eisigen Wassers traf ihn im Nacken. »Ich weiß nicht genau«, sagte er verärgert.

»Sie macht es wirklich mit Absicht«, flüsterte Selie ihm schläfrig ins Ohr, wovon er zusammenzuckte. Er war sicher gewesen, dass das Mädchen schlief.

»Was?« Das war nun wirklich das Allerärgerlichste: Gedankenleser!

»Ranie spricht absichtlich so leise. Damit du ganz nah an sie heranrücken musst«, wisperte Selie, damit es sonst niemand hören konnte. »Außerdem weiß ich, dass du gar keine Freundin hast.«

»Ach ja? Und weißt du auch, dass du schwer bist wie ein Pferd?«

Selie kicherte. »Keine Sorge«, flüsterte sie. »Ich sags nicht weiter.«

Als die Gruppe Stunden später in Monsea ankam und aus dem Tunnel in das rosafarbene Morgenlicht des Waldes hinaustrat, liefen Selies Mutter Tränen übers Gesicht. Sie kauerte sich auf einen Teppich aus welkem Laub, setzte sich, und sagte: »Ich muss nur kurz meine Füße ausruhen, Kinder.«

»Lassen Sie mich mal sehen.« Giddon setzte Selie steif auf dem Boden ab. Selie protestierte und klammerte sich an ihn. »Du musst jetzt selbst gehen, Selie«, sagte er. »Siehst du den Wald? Das ist Monsea. Was hältst du davon?«

Der Wald hier sah fast genauso aus wie der Wald in Estill, in dem sie das Tunnelsystem betreten hatten: hohe, dicke Bäume mit blassgrünen Frühsommerknospen, dürre Kiefern. Wind, Vogelgezwitscher, Wassertröpfeln, Eichhörnchen.

Aber Selie fing an zu weinen. »Er ist hässlich.« Giddon verstand sie. So war das mit der Flucht. Wenn die Gedanken sich ausschließlich um die Notwendigkeit zu fliehen drehten, war kein Platz für die Erkenntnis, wie weit entfernt das Zuhause einem erscheinen würde, sobald man einmal angekommen war.

»Komm, Selie.« Ihre Mutter streckte einen Arm nach dem Mädchen aus. »Komm zu mir, während Giddon an meinen Füßen rumstochert.«

»Ihr Vertrauen in meine Fähigkeiten ist ja geradezu rührend«, sagte Giddon. »Ich gehe nur eben noch ein paar spitze Stöcke sammeln, um damit darauf einstechen zu können.«

Selie, die immer noch weinte, aber jetzt gleichzeitig kicherte, schmiegte sich an ihre Mutter und nahm schniefend deren Küsse entgegen, während Giddon der Mutter die Schuhe auszog. Als er feststellte, dass ihre Füße so blutig waren, dass es schwierig werden würde, ihr die Socken auszuziehen, ohne die Haut mit abzureißen, schalt er sich, dass er nicht früher nachgesehen hatte. Dann schätzte er die vor ihnen liegende Strecke ab. Die Kontaktperson, zu der Giddon sie brachte, würde sauberes frisches Wasser haben, Arzneien und ein Bett, auf das sich diese Frau legen könnte. Es war nicht mehr weit und die anderen schienen noch laufen zu können.

Das Baby fing an zu weinen. Die Frau streckte den freien Arm nach dem Säugling aus und legte ihn sich an die Brust. Der Vater und Ranie standen in der Nähe herum, als wollten sie sich nützlich machen.

Es wäre wirklich besser, die Socken jetzt nicht auszuziehen. Zum Glück bin ich groß, dachte Giddon.

Als die Frau das Baby fertig gestillt hatte, reichte sie es wieder ihrem Mann. Dann gab Giddon ihr eine Tablette gegen die Schmerzen, hob sie hoch und trug sie den Rest des Weges.

2

Es war später Vormittag, als Giddon, schließlich allein, die Brücken über den Fluss nach Bitterblue City erblickte. Das bedeutete, dass er schon fast in seinem Bett lag. Er ritt auf einem Pferd, das die Kontaktperson des Rats ihm geliehen hatte, und sein Gehirn arbeitete nur träge; momentan versuchte er das Denken zu unterlassen und hatte vor, es erst nach dem Schlafen wieder aufzunehmen. Alle Gedanken konnte er jedoch nicht abstellen, zum Beispiel den, wie schön es war, von diesem wunderbaren Pferd getragen zu werden, nachdem er selbst stundenlang andere getragen hatte. Auch die Gedanken an Bitterblue konnte er nicht vermeiden, als er das Pferd auf den weiß-blauen Marmorboden der Winged Bridge lenkte.

Auf dieser Brücke hatte Bitterblue einen ihrer Ratgeber verloren. Sie hatte versucht ihn aufzuhalten, ganz allein in einem Schneesturm, aber der Mann hatte sich von der Brücke gestürzt. Damals war sie gerade mal achtzehn Jahre alt gewesen. Dieser Selbstmord war Teil des Vermächtnisses von Bitterblues Vater, König Leck, der ein Schreckensherrscher und Psychopath gewesen war. Jetzt, fünf Jahre später, hatten sich die Dinge für Bitterblue gebessert, aber sie trug immer noch das Gewicht all des Leids, das ihr Vater Monsea angetan hatte, auf den Schultern. Niemand hatte Bitterblue hindurchgetragen. Sie hatte sich selbst getragen und jetzt trug sie ihr Königreich.

Giddon dachte außerdem an Winterburg, einen torlanischen Staat am anderen Ende der Welt. Es war erst wenige Jahre her, dass in Pikkia ein torlanisches Fischerboot von der Strömung des Wintermeers angespült worden war und sich so ihr Wissen über die Welt vergrößert hatte.

Giddons Kontinent bestand aus neun Ländern – den Sieben Staaten, den Dells und Pikkia. Torla bestand offenbar aus fünf: Winterburg, Kamassar, Borza, Tevare und Mantiper. Winterburg war der Staat in Torla, der Monsea am nächsten lag. Deshalb war Winterburg naheliegenderweise der erste Anlaufpunkt für Bitterblues Gesandte, Händler und Spione gewesen.

In den Sieben Staaten gab es Beschenkte. In den Dells und Pikkia gab es faszinierende Monster in leuchtenden Farben, die einem den Verstand benebeln konnten, um einen dann anzugreifen. Aber Winterburg war den Berichten zufolge ein Land der Wunder. Die Winterburger unterhielten sich mit Meerestieren, die telepathische Fähigkeiten hatten, und hielten Füchse mit telepathischen Fähigkeiten als Haustiere. Sie flogen in Schiffen, die an Ballons hingen, durch die Lüfte. Ihre Regierungsform war eine demokratische Republik, die aus Menschen bestand, die sich gegenseitig mochten. Es gab eine Akademie für junge Leute, die von denselben Gelehrten geführt wurde, die die Regierung bildeten, und in ganz Torla berühmt war. Es gab fortschrittliche Medizin und kraftvolle Treibstoffe. Die Winterburger wollten die Königin von Monsea kennenlernen. Würde sie kommen?

Seit etwa drei Jahren erhielt Bitterblue jetzt bereits Einladungen. Ihre Freunde und sie hatten angefangen, die Sprache Winterburgs zu lernen – eine Weile lang war das regelrecht Mode gewesen – und Winterburger Waren zu importieren. Winterburger Seidenstoffe hatten kräftige Farben und waren wunderschön gewebt, und das Öl von dort schenkte helles, warmes Licht. In Winterburg gab es außerdem eine große Auswahl an Tees, die eine medizinische oder entspannende Wirkung hatten oder einfach nur köstlich schmeckten. Die Staaten Torlas lagen nah genug, um Handel treiben zu können, hatten aber offenbar keine kriegerischen Absichten. Die Winterburger waren dunkelhaarig wie die Lienid, hatten dunkle Augen und dunklere Haut als irgendjemand von Giddons Kontinent. Auf dem torlanischen Kontinent wurden mindestens fünf verschiedene Sprachen gesprochen und die Winterburger waren erpicht darauf, sich mit ihren neuen Nachbarn aus Übersee zu verständigen. Die Sprache, die in Monsea sowie in allen Sieben Staaten gesprochen wurde, hieß Beschenktisch. Auf Bitten der Winterburger Premierministerin hatte Bitterblue Lehrer an die Winterburger Akademie geschickt, um dort Beschenktisch zu unterrichten.

Alles war aufregend und hoffnungsvoll gewesen. Bis Bitterblues Gesandter und einer ihrer Ratgeber einen Segeltörn im Frostigen Meer unternommen hatten und mit ihrem Schiff untergegangen waren. Und das offensichtlich, bevor sie Gelegenheit gehabt hatten, Bitterblue irgendwelche Neuigkeiten über Zilfium mitzuteilen.

Als Giddon Bitterblues Hof erreichte, glitt er vom Pferd. Ein Stallbursche tauchte neben ihm auf und nahm ihm so routiniert die Verantwortung für das Pferd ab, dass Giddon vor Erleichterung hätte weinen können. Er schleppte sich durch das Schloss – Flure entlang, Treppen hinauf –, ohne mit jemandem zu reden oder jemanden anzusehen. Als er seine Räume erreichte, stürzte er hinein und beachtete weder den Berg Briefe auf dem Tisch noch den Kater im Sessel, der ihm einen gekränkten Blick zuwarf. Noch bevor er auf dem Bett landete, war er eingeschlafen.

Als Giddon am frühen Abend erwachte, fühlte er sich wie neugeboren. Er blickte sich nach dem Kater um. Lovejoy, das älteste, schäbigste und griesgrämigste Tier der Welt, gehörte dem königlichen Bibliothekar und betrat und verließ Giddons Räume immer durch sein Badezimmerfenster. Das Fenster lag fünf Stockwerke hoch und der Kater vollführte jedes Mal ein beängstigendes Rutschmanöver über ein nahe gelegenes, schräges Dach, um dorthin zu gelangen. Als Giddon den dummen Kater zum ersten Mal mit angezogenen Beinen über das Dach sausen sah, als hätte er einen Skiunfall, hatte Giddon ihn angeschrien. Dann war er runtergegangen und hatte den Bibliothekar angeschrien und anschließend entschieden, das Fenster in Zukunft geschlossen zu halten. Aber beim nächsten Mal war Lovejoy gegen das geschlossene Fenster geknallt und hatte Giddon, eng an die Scheibe gepresst, wütend von draußen angestarrt. Giddon, der gerade im Bad gewesen war, hatte nachgegeben. Jetzt ließ er das Fenster immer offen und versuchte sich nicht zu Tode zu erschrecken, wenn der Kater wie eine Rohrpost hereingeschossen kam.

Lovejoy lag mitten in dem Haufen Briefe auf dem Tisch und blinzelte Giddon an.

»Hab ich dir gefehlt?«, fragte Giddon.

Lovejoy hob ein Bein und biss sich selbst ins Hinterteil.

»Du mir auch«, sagte Giddon. Dann stand er auf und ging ins Bad.

Kurz darauf, mit sauber geschrubbter Haut, das dunkle Haar gekämmt, den Bart gestutzt, machte sich Giddon auf die Suche nach der Königin.

Er fand sie in den unteren Schreibzimmern, wo sie neben dem Schreibtisch ihres Ratgebers Froggatt stand, dem sie über die Schulter blickte, und gemeinsam mit ihm Papiere studierte. Klein, grauäugig, ernsthaft, ihr Haar zu den üblichen dunklen Zöpfen geflochten. Etwas in Giddon entspannte und etwas verkrampfte sich.

Sie blickte auf und ihr ganzes Wesen strahlte. »Du bist wieder da! Wie war die Reise?«

»Es lief gut«, sagte er. Dann bemerkte er am anderen Ende des Raums einen Mann, der sich mit zwei königlichen Ratgebern unterhielt. Er war spindeldürr, hatte dünnes Haar, das an den Schläfen langsam grau wurde, und ein Lächeln, das einem humorlosen Zähneblecken glich. Er hieß Lord Joff und kam aus dem Süden von Estill, aus der Nähe des Tunnelsystems; und er war einer der niederen Adligen Estills, die den Rat heimlich um Hilfe beim Sturz ihres Königs gebeten hatten. Und jetzt war er einer der vielen, die ihr privates Vermögen in den Ausbau der Armee von Estill, die immer weiter wuchs und an Stärke zunahm, investierten. Seit Kurzem machte sich Giddon Gedanken darüber, ob die Befreiung Estills von seinem König der erste wirklich große Fehler des Rats gewesen war. Was, wenn Estill Vergeltung an Bitterblue und Monsea übte, weil sie bei der Flucht der Beschenkten halfen?

Warum war Lord Joff hier?

»Das ist gut.« Bitterblue bemerkte Giddons Fixierung auf Lord Joff, ging aber nicht darauf ein. Dann sah Joff auf. Als er Giddon erblickte, kniff er die Augen zusammen, blassblaue Eissplitter. Giddon erwiderte seinen Blick unerbittlich.

»Giddon?«, sagte Bitterblue.

»Hast du einen Moment Zeit?«, fragte er sie.

Die Königin nickte Froggatt zu, der Giddon missbilligend beäugte. Die Ratgeber wussten zwar vermutlich nicht alles, worin Giddon verwickelt war, und sie wussten ganz sicher nicht, dass er Beschenkte aus Estill über die Grenze nach Monsea schmuggelte, aber sie kannten genug der Gerüchte über den Rat, um ihn für einen unpassenden Freund für die Königin zu halten. »Entschuldigen Sie uns, Froggatt«, sagte Bitterblue. »Giddon, komm mit nach oben.«

Sie führte ihn die Wendeltreppe hinauf in den höchsten Turm des Schlosses, wo sie ihr privates Schreibzimmer hatte. In diesem Raum, dessen Fenster in alle Richtungen wiesen, hatte man immer wunderschönes Licht. Heute Abend war der Himmel im Westen von lila- und orangefarbenen Streifen durchzogen.

»Wie geht es dir wirklich, Giddon?«, fragte Bitterblue. »Wie war es im Tunnel? Du siehst müde aus.«

»Mir geht es wirklich gut, aber was macht dieser Lord aus Estill in deinem Schreibzimmer?«

»Ich habe schon bemerkt, wie du versucht hast, ihn mit der Macht deines Blickes zu töten«, sagte Bitterblue. »Meine Ratgeber bilden sich ein, er könnte mir den Kopf verdrehen.«

»Was?« Giddon war ernsthaft entsetzt. »Du sollst einen bekannten Aufständischen aus Estill heiraten?«

»Ich soll einen Adligen aus Estill heiraten, der Einfluss in der neuen Regierung von Estill hat, was Estill zu unserem militärischen Bündnispartner machen würde.«

»Will er dich heiraten?«

»Er behauptet, das sei der Grund für seinen Besuch.«

»Aber warum sollte er dich heiraten wollen?«

Bitterblue kicherte. »Keine Sorge, ich bin nicht beleidigt.«

Giddon grinste. »Du weißt schon, was ich meine.«

»Ja. Ich bin sicher, er hat es auf irgendeinen Vorteil für sich oder Estill abgesehen, aber ich weiß nicht, welchen, und leider werden wir es auch nie erfahren, da ich nicht die Absicht habe, ihn zu ermutigen. Wolltest du mit mir über Joff reden? Ich hatte den Eindruck, es hätte etwas mit deiner Reise zu tun.«

»Oh, ja«, sagte er. »Was genau ist Zilfium?«

»Zilfium?«, wiederholte sie und rieb sich die Zöpfe, wie sie es immer tat, wenn sie Nackenschmerzen hatte. »Es ist ein Gestein, das einen kraftvollen torlanischen Treibstoff darstellt. Es wird auf dem gesamten torlanischen Kontinent genutzt, außer in Winterburg, wo es verboten ist.«

»Warum ist es in Winterburg verboten?«

»Ich glaube, es hat damit zu tun, dass Zilfium die Luft verschmutzt.« Bitterblue ging zum großen Schreibtisch in der Mitte des Zimmers hinüber. Sie blätterte in Papieren; die goldenen Ringe an ihren Fingern reflektierten das Licht. »Und vielleicht auch das Wasser. Winterburg baut Zilfium ab und exportiert es, aber sie selbst nutzen es nicht. Irgendwo hier habe ich weitere Informationen dazu. Wir können Froggatt rufen …«

»Moment noch«, sagte Giddon. »Wir haben eine Nachricht von Raffin bekommen. Er sagt, einer deiner Männer, die in Winterburg gestorben sind, hatte ihm einen Brief geschrieben. Welcher der beiden auch immer …«

»Das wird Mikka gewesen sein, mein Gesandter.« Bitterblues Stimme wurde plötzlich leiser. »Er hat einen Briefwechsel mit Raffin und Bann über Arzneien geführt. Er war ein Naturmensch, der immer wieder tagelang herumwanderte und ihnen dann Päckchen mit Samen und Blättern schickte.«

»Ah«, sagte Giddon. »Na ja, Mikka hat Raffin geschrieben, dass er Neuigkeiten über Zilfium für dich hätte. Hast du irgendwelche Neuigkeiten darüber erhalten?«

»Nein. Was für Neuigkeiten?«

»Ich habe keine Ahnung. Aber Raffin sagt, du sollst dich mit Zilfium beschäftigen.«

»Mich damit beschäftigen?« Bitterblue blätterte weiter in den Papieren. »Inwiefern?«

»Auch da habe ich keine Ahnung.«

»Was für eine alberne Nachricht. Warum kann ich auf diesem Schreibtisch eigentlich nichts finden? Oh, Wieselkacke!«, schimpfte Bitterblue, dann stapfte sie zur Treppe hinüber und brüllte »Froggatt«.

Kurz darauf erschien Froggatt in der Tür. »Ja, Königin?« Er sah sie über seinen schlaff herabhängenden Schnurrbart hinweg an.

»Wo sind meine Informationen über Zilfium?«

Froggatt drehte sich um und rannte wieder die Treppe hinunter.

»Katu redet dauernd von Zilfium«, murmelte Bitterblue und wandte sich einem neuen Stapel zu. »Nicht, dass er es für nötig gehalten hätte, mir in letzter Zeit mal zu schreiben.«

Giddon setzte eine unbewegte und freundliche Miene auf. Katu Cavenda war ein Mann aus Winterburg, ein wohlhabender Abenteurer, der vor einiger Zeit nach Monsea gekommen war und hier sofort eine Beziehung mit Bitterblue angefangen hatte. Er war unerträglich jung und unerträglich gut aussehend mit seiner Winterburger Erscheinung, seinem sanften Winterburger Akzent und der weißen Strähne in seinem schwarzen Haar, die alle Blicke auf sich zog. Er war außerdem ein furchtbar netter Mensch. Eigentlich sogar Giddons Freund; er hatte Giddon hier im Fluss das Segeln beigebracht.

»Was sagt er darüber?«, fragte Giddon freundlich.

»Dass im Winterburger Parlament alle über Zilfium streiten.« Bitterblue legte den Kopf schräg, als erinnerte sie sich. »Viele Leute in Winterburg wollen die Nutzung von Zilfium legalisieren.«

Froggatt kam schnaufend und rotgesichtig zurück ins Zimmer gestürmt und trug einen Packen Papier, den er Bitterblue überreichte.

»Danke, Froggatt. Bitte sagen Sie doch allen, sie sollen Feierabend machen und etwas essen.«

»Natürlich, Königin.«

»Das gilt auch für Sie.«

»Und Sie, Königin?«

Froggatt war nicht besonders groß, aber wie alle anderen größer als Bitterblue. Er war auch nicht alt, doch sein Tonfall der Königin gegenüber hatte immer etwas Väterliches an sich. Mit gefalteten Händen, das Kinn gegen die Brust gepresst, blickte er geduldig wartend auf sie hinab.

»Ich habe ziemlichen Hunger«, sagte Giddon, obwohl das eigentlich nicht stimmte.

»Ja, schon gut, ich habe verstanden, was ihr mir sagen wollt.« Bitterblue tat verärgert. »Ab mit Ihnen, Froggatt.«

»Ich wünsche Ihnen einen wunderschönen Abend, Königin.« Froggatt warf Giddon einen letzten durchdringenden und missbilligenden Blick zu.

»Hast du diesen Blick gesehen?«, fragte Giddon, nachdem Froggatt gegangen war. »Dabei habe ich mich wegen des Essens auf seine Seite geschlagen!«

»Sie sind dermaßen mürrisch, seit ich mich geweigert habe, mehr Zeit mit so einem schrecklichen Grafen aus Sunder zu verbringen.«

»Du sollst einen Aufständischen aus Estill und einen Grafen aus Sunder heiraten?«

»Er ist mir dauernd ins Wort gefallen«, sagte Bitterblue. »Und als ich ihm schließlich erklärt habe, er solle mich nicht dauernd unterbrechen, erwiderte er: ›Ich mag temperamentvolle Frauen‹, und zwar auf eine so unangenehme Art, die ganz deutlich machte, dass er über Sex sprach.« Beim Reden blätterte sie die Papiere durch, die Froggatt ihr gegeben hatte, und überflog sie. »Hier ist es.« Sie hielt auf einer Seite an und las: »›Zilfiumbestände kommen auf natürliche Art auf dem ganzen torlanischen Kontinent vor. Winterburgs Umweltgesetze verbieten die Nutzung von Zilfium in Winterburg, aber es wird dort abgebaut und nach Kamassar und in die anderen torlanischen Staaten exportiert, wo es für den Antrieb von Zügen, Schiffen, Pflügen und Maschinen in Fabriken genutzt wird.‹«

»In Winterburg gibt es Luftschiffe«, sagte Giddon. »Werden die nicht mit Zilfium betrieben?«

»Nein«, antwortete Bitterblue. »Die Luftschiffe werden vom Wind angetrieben und von einem Gas oben gehalten, das die Luft nicht verschmutzt. Luftschiffe gibt es ausschließlich in Winterburg, es ist eine zilfiumfreie Technologie.«

Sie ließ die Papiere auf den Schreibtisch fallen, dann hob sie ihren festen ruhigen Blick und sah ihn an. »So, ich habe mich mit Zilfium beschäftigt. Glaubst du, das war es, was Mikka wollte?« Dann lächelte sie, ihr erschöpftes Gesicht nahm einen humorvollen Ausdruck an und Giddon machte sich nicht länger Sorgen, sondern war plötzlich glücklich und hungrig.

»Höchstwahrscheinlich«, sagte er.

»Vermutlich sollten wir Raffin schreiben und ihn bitten, etwas weniger geheimnisvoll zu sein.« Bitterblue nahm Giddon am Arm. »Lass uns etwas essen.«

Bitterblues beschenkte Spionin und Halbschwester Hava war auch beim Abendessen. Genau wie Bitterblues Cousin Skye, der Giddon so fest umarmte, als hätten sie nicht erst vor einer Woche in genau diesem Raum zusammen gegessen. Wie viele Lienid war Skye sehr offen. Das hatte Giddon immer gefallen; es gab ihm das Gefühl, als hätte er einen Bruder.

Als Bitterblue sich gerade ein zweites Stück süßen Essigkuchen abschnitt, fiel ihr ein Brief aus der Tasche.

Skye bückte sich und hob ihn auf. »Das ist ja Safs Handschrift!«

»Ach ja«, sagte Bitterblue. »Den hatte ich ganz vergessen.«

»Hast du ihn schon gelesen?«

»Nein.«

»Warum schreibt Saf dir?«

»Woher soll ich das wissen, wenn ich ihn noch nicht gelesen habe?«

»Und wann hast du vor, ihn zu lesen?«

»Ich lese ihn jetzt«, sagte Bitterblue mit einem vielsagenden Blick auf Skye, »wenn du dann aufhörst, dich wie ein quengeliger Welpe zu benehmen.« Sie brach das Siegel mit ihrem Messer auf, dann holte sie ein einzelnes Blatt Papier mit dem unleserlichsten Gekrakel, das Giddon je gesehen hatte, hervor. Niemand hatte eine so fürchterliche Handschrift wie Saf, der Bitterblues … Freund war? Giddon war nicht ganz sicher, welchen Status Saf gerade hatte, abgesehen davon, dass Bitterblue und er früher ein Paar gewesen waren und er ein leichtsinniger Esel mit violetten Augen war, der vor einigen Monaten aus heiterem Himmel beschlossen hatte, auf einem Schiff anzuheuern, das nach Winterburg segelte. Von dort schrieb er jetzt vermutlich. Saf und Skye waren gute Freunde und hatten in den letzten Jahren zusammen im Rahmen von Kartografie-Expeditionen im Auftrag Pikkias das nördliche Wintermeer bereist. Giddon nahm an, dass Skye Saf vermisste.

»Und?«, fragte Skye.

»Einen Moment. Er ist verschlüsselt.« Bitterblues Blick huschte über die Seite. Sie hatte einen Sinn für Chiffren; Bitterblue war der einzige Mensch, den Giddon kannte, der einen Brief so schnell im Kopf entschlüsseln konnte. Und das Schlüsselwort, mit dem sie Safs Brief dechiffrierte, war bestimmt »Sparks«, Safs Spitzname für Bitterblue aus der Zeit, als sie sich geliebt hatten. Also liebten sie sich vielleicht immer noch. Was in Ordnung war.

»Er ist in Ledra«, sagte Bitterblue. Ledra war die Hauptstadt von Winterburg. »Er will dort noch eine Weile bleiben, während er überlegt, was er weiter tun soll. Im ersten Absatz geht es um Zilfium. Ist das nicht ein komischer Zufall, Giddon?«

»Was ist Zilfium?«, fragte Skye.

»Treibstoff«, erklärte Hava gelangweilt vom Sofa aus, wo sie auf dem Rücken lag, an die Decke starrte und so tat, als hörte sie nicht zu.

»Er schreibt, das Parlament von Winterburg stimmt darüber ab, ob sie die Nutzung von Zilfium in Winterburg legalisieren sollen, und sie wollen wissen, wie der Königskontinent dazu steht.«

Königskontinent, so wurde Giddons Kontinent in Torla genannt. Dort fand man es sonderbar, dass die meisten Staaten hier Monarchien waren. In Giddons Ohren klang der Name leicht herablassend, genau wie der offizielle Name für Giddons Sprache, Beschenktisch, der ihr ebenfalls von Außenstehenden verliehen worden war. Aber das war jetzt unwichtig. Wichtig war, dass Bitterblue beim Entschlüsseln des zweiten Absatzes große Augen bekam.

»Giddon! Er sagt, er habe sich mit Katu angefreundet, und Katu glaubt, dass an dem Schiff, das mit meinen Männern gesunken ist, etwas verdächtig sei!«

»Verdächtig!« Giddon richtete sich auf. »Wie kommt er darauf?«

»Das weiß Saf nicht. Und – Moment – er schreibt, Katu sei verschwunden!«

»Verschwunden!«, sagte Giddon. »Was heißt das?«

»Überall in Ledra heißt es, Katu sei auf Reisen.« Bitterblues Blick huschte weiter über die Seite. »Und er sei Richtung Norden gesegelt. Aber Saf hatte eine Verabredung mit Katu zum Segeln und Katu hat diese Verabredung nie abgesagt oder sich verabschiedet. Katu hat offenbar nach der Seashell gesucht, Mikkas und Breks gesunkenem Schiff. Sie wollten gemeinsam rausfahren. Katu wollte Saf zeigen, wo er danach suchte, da Saf ebenfalls ein kräftiger Taucher ist. Aber jetzt ist Katu weg und Saf hat ein komisches Gefühl. Er sagt, er wird sich das näher ansehen.«

»Was?«, rief Skye und griff nach dem Brief. »Wie will er sich das näher ansehen?«

»Davon steht hier nichts.« Bitterblue gab ihm den Brief, was ihm nichts nutzte, da der ja verschlüsselt war. »Aber er sagt, er hätte dir auch geschrieben, Skye.«

Skye betrachtete den Brief mit einem Ausdruck wachsenden Ärgers. »Und wo ist dann mein Brief?«

»Giddon?«, fragte Bitterblue. »Was meinst du? Ergibt das irgendeinen Sinn? Saf könnte jemand sein, der Schwierigkeiten sucht, wo es keine gibt – aber Katu?«

Immer wenn Bitterblue sich ihm zuwandte, wollte Giddon sich über seine niederen Instinkte erheben, aus Angst, sie zu verletzen oder zu enttäuschen. Er wusste nie, ob es an der Sorgenfalte zwischen ihren Augenbrauen lag, dem bittenden Ausdruck in ihren Augen oder der Art, wie sich ihr Tonfall veränderte, als wäre sie bereit zu glauben, was immer er sagen würde. Er wollte sich des Vertrauens, das sie – offensichtlich willkürlich – in ihn setzte, würdig erweisen.

Also dachte er sorgfältig über das Verschwinden eines der Geliebten Bitterblues nach, von dem ein anderer Geliebter Bitterblues berichtete.

»Ich glaube nicht, dass Katu sich Sachen ausdenkt oder Verabredungen nicht einhält«, sagte er. »Und ich glaube, Saf würde Katus Verdacht nicht erwähnen, wenn er Katu nicht vertrauen würde.«

»Das denke ich auch«, erwiderte Bitterblue.

»Wenn das Sinken dieses Schiffes irgendwie verdächtig ist«, erklärte Giddon, »bin ich neugieriger denn je, was Mikka dir über Zilfium erzählen wollte.«

»Ja«, sagte Bitterblue. »Und ich mache mir Sorgen um Katu. Er hat schon seit einer Ewigkeit nicht mehr geschrieben.«

»Katu hier, Katu da«, sagte Skye verächtlich. »Aber was ist mit Saf? Was soll das heißen, er will sich das näher ansehen?«

»Skye.« Bitterblue berührte sanft das dunkle Haar ihres Cousins, berührte sein besorgtes Gesicht. Die Lienid trugen Gold in den Ohren und an den Fingern. Skye war ein gut aussehender Mann mit grauen Augen und sonnengebräunter Haut. Bitterblue, die eine halbe Lienid war, hatte dieselbe Hautfarbe und trug Lienid-Ringe. Beide zusammen glänzten.

»Es gibt keinen Grund, sich Sorgen zu machen«, erklärte sie. »Du kennst doch Saf.«

»Genau deswegen mache ich mir ja Sorgen!«, sagte Skye. »Was tut er da? Taucht irgendwo im Frostigen Meer herum, um zu ertrinken?«

»Ich glaube, Saf kann gar nicht ertrinken.« Bitterblue wandte sich wieder ihrem Kuchen zu.

»Und wo ist mein Brief?«, fragte Skye. »Und warum bringt er sich in Gefahr, um einen deiner Freunde zu suchen?«

»Skye.« Bitterblues Gabel schwebte zwischen ihrem Teller und ihrem Mund. »Worüber reden wir hier?«

»Er hat es mir versprochen.« Skye stand so unvermittelt auf, dass sein Stuhl umkippte. »Er hat mir geschworen, nichts Gefährliches zu machen, wenn er alleine nach Winterburg reist!«

»Skye!« Bitterblue starrte ihren Cousin entgeistert an. »Bist du etwa in Saf verliebt?«

Giddon erhob sich abrupt. »Hava«, sagte er, den Mund voller Kuchen. »Komm, wir gehen spazieren.«

»Ich will nicht spazieren gehen«, erklärte Hava. Dann fügte sie angesichts seines strengen Blicks hinzu: »Also gut. Aber nimm Kuchen mit.«

Nachdem er sich noch mehr Kuchen auf den Teller geladen hatte, ging Giddon zur großen Tür hinüber und wartete. Mit einem tiefen, ungeduldigen Seufzer nahm sich Hava eine Gabel vom Tisch und folgte ihm. Giddon wäre gern geblieben, um zu erfahren, wie Bitterblue es fand, dass ihr Cousin in Saf verliebt war. Aber er würde den beiden ihre Privatsphäre lassen. Wie jemand mit edleren Instinkten als seinen es tun würde.

3

»Das habe ich kommen sehen«, sagte Hava, als sie die Räume der Königin verließen.

»Wirklich?«, fragte Giddon ehrlich überrascht. »Wie denn? Hast du Skye nachspioniert?«

»Natürlich nicht«, erwiderte sie verächtlich. »Wie sähe das denn aus?«

»Du könntest es aussehen lassen, wie du willst«, sagte Giddon, denn Hava war eine Beschenkte mit der Gabe, sich zu verbergen, indem sie veränderte, was die Leute zu sehen glaubten, wenn sie sie anschauten. Wenn sie wollte, konnte Hava mit Saf und Skye in einem Zimmer stehen und so tun, als wäre sie ein Vorhang am Fenster, während die beiden alles Mögliche sagten und taten, ohne zu wissen, dass Hava da war. Jede Gabe war anders und jede unterschiedlich nützlich. Saf hatte die Gabe, anderen Menschen herrliche Träume zu schenken, was Giddon unerträglich romantisch fand. Havas Gabe dagegen machte sie zu einer ausgezeichneten Spionin.

Aber natürlich würde sie niemals Skye und Saf hinterherspionieren.

»Ich nutze meine Gabe nicht ohne die Erlaubnis meiner Schwester«, sagte Hava bissig. »Kannst du dir vorstellen, dass sie mich bittet, ihren eigenen Cousin auszuspionieren? Insbesondere sein Liebesleben?«

»Nein, natürlich nicht.«

Als Giddon in Schweigen verfiel, warf Hava ihm ein paar Seitenblicke zu und schien sich in einen sympathischeren Menschen zu verwandeln. Sie übernahm die Führung und ging um Ecken und mehrere Treppen hinauf und hinunter. Schließlich führte sie ihn in die Kunstgalerie. Giddon wusste, dass das ihr Lieblingsplatz im Schloss war. Havas Mutter war Bildhauerin gewesen, ihr Vater Bitterblues Vater, König Leck, obwohl das ein Geheimnis war. Giddon war einer der wenigen, die es wussten. Havas Mutter war tot, König Leck hatte sie vor vielen Jahren ermordet. Auch Bitterblues Mutter hatte er ermordet. Dann war er selbst ermordet worden und Prinzessin Bitterblue plötzlich mit zehn Jahren Königin.

In einem Raum, der mit den Statuen ihrer Mutter vollgestellt war, setzte sich Hava auf ein Podest und klopfte auf den Platz neben sich.

Giddon setzte sich benommen und hielt ihr den Teller hin. Eine Weile beschränkten sie sich darauf, Kuchen zu essen.

»Wie auch immer, Bitterblue macht das mit Skye und Saf nichts aus«, nahm Hava das unterbrochene Gespräch wieder auf.

»Bist du sicher? Hast du eben nicht ihren Gesichtsausdruck bemerkt?«

»Weil sie überrascht war, du Trottel. Nicht, weil sie immer noch etwas für Saf übrighat. Das ist über vier Jahre her!«

»Wirklich?« Giddon kratzte sich verwirrt am Kopf.

»Du bist unverbesserlich.« Hava hielt ihm eine Gabel voll Kuchen hin, obwohl er seine eigene Gabel hatte. Er machte den Mund auf und beschloss, den Kuchen als schmachvolles Zeichen seiner Unverbesserlichkeit, die Hava auf ihre übliche Art bloßgestellt hatte, anzunehmen.

Bitterblues Halbschwester sah Bitterblue nicht ähnlich. Sie war groß, blass und strohblond. Außerdem hatte Hava ein kupferfarbenes und ein blutrotes Auge, denn Beschenkte hatten verschiedenfarbige Augen. Sie war erst zwanzig, wirkte aber oft älter und schlauer als Giddon mit seinen einunddreißig. Außer, wenn sie so frech war wie jetzt, was oft genug vorkam. Obwohl er sich sogar angesichts ihrer Frechheit manchmal fühlte wie sechs.

»Also gut«, sagte er. »Erzähl mir, was du weißt.«

»Saf und Skye sind seit etwa zwei Jahren zusammen«, berichtete Hava. »Etwas länger. Saf macht immer wieder mit ihm Schluss und kommt dann zurück. Er ist deutlich jünger als Skye, weißt du. Und er hasst es irgendwie, dass Skye ein Prinz ist.«

»Er könnte ja einfach damit aufhören, sich in Leute königlicher Abstammung zu verlieben.«

»O Mann, werd erwachsen, Giddon«, sagte Hava, woraufhin Giddon losprustete. »Na ja, auf jeden Fall ist das so ziemlich alles, was ich weiß, abgesehen von dem, was Skye gerade gesagt hat. Sie haben vereinbart, dass Saf ohne Skye nach Winterburg reist, höchstens ein halbes Jahr, weil Saf etwas Zeit brauchte.«

»Zeit wofür?«, fragte Giddon. »Um mit jedem zu schlafen, dem er begegnet?«

»Was kümmerts dich, wenn es so wäre? Benutz mal dein Gehirn, du Idiot.«

»Woher weißt du das alles?«

»Hm, keine Ahnung, vielleicht, weil ich nicht im Nebel meiner eigenen Vorstellungen gefangen bin?«

Giddon prustete erneut.

»Hast du dich nicht gefragt, warum Skye überhaupt noch hier ist?«, fragte Hava. »Normalerweise bleibt er nie so lange. Aber ein Brief aus Winterburg trifft fünf oder sechs Wochen früher in Bitterblue City ein als in Lienid, klar?«

So langsam begriff Giddon.

»Warum bist du eigentlich hier am Hof?«, fügte Hava vielsagend hinzu.

»Du weißt, dass ich nicht nach Hause zurück kann«, sagte Giddon. Er war früher Lord gewesen mit einem Anwesen im Königreich der Middluns. Einem schönen Anwesen mit Wäldern, Bauernhöfen und Pferden sowie Hunderten von Leuten in seinen Diensten. König Randa hatte ihn verbannt, ihm seinen Titel aberkannt und seinen Landsitz niedergebrannt, um ihn für seine Arbeit für den Rat zu bestrafen. Die Menschen, die unter seinem Schutz gestanden hatten, mussten Randa als Gutsherrn anerkennen oder sich ein neues Zuhause und neue Arbeit suchen. »Und ich muss in der Nähe von Estill bleiben. Du weißt, dass wir uns Sorgen wegen der neuen Regierung dort machen. Ich halte die Augen offen.«

»Hättest du nicht einen besseren Blick auf Estill, wenn du in Estill wärst?«, fragte Hava. »Anstatt meiner Schwester jeden Abend beim Essen gegenüberzusitzen?«

»Frechdachs«, sagte Giddon.

»Rüpel«, sagte Hava. »Mir reichts jetzt mit unserem Spaziergang. Ich gehe zurück, um zu sehen, was passiert ist.«

Nachdem sie gegangen war, saß Giddon noch ein wenig allein da und suchte nach seinem besseren Ich, bevor er sich gestattete, zur Königin zurückzukehren.

Normalerweise fand Giddon leichter Zugang zu seinem besseren Ich.

Oder etwa nicht?

Schließlich verbrachte er einen Großteil seiner Zeit damit, die Probleme anderer Leute zu lösen, ohne noch größere Probleme zu schaffen. Manchmal waren es kleine Probleme, wie das, aus welchen Sorten Teig die drei Lagen der Torte zum dreiundzwanzigsten Geburtstag der Königin bestehen sollten. Das war natürlich keine Ratsangelegenheit gewesen. Was aber nicht hieß, dass er nicht der Richtige dafür war.

Eines Morgens, in der Woche, nachdem Bitterblue Safs Brief erhalten hatte, hörte Giddon zufällig, wie Helda, die ältere Frau, die sich um Bitterblues Haushalt kümmerte, einem der Bediensteten im Flur entrüstet etwas zuraunte.

»Sie will keine Feier«, sagte Helda. »Sie will auch kein Festessen. Sie will ihr übliches ruhiges Abendessen mit ihren Freunden, und wir sollen so tun, als wäre sie nicht die wichtigste Frau der Welt. Na ja, ich weiß, dass sie Süßigkeiten mag. Aber sie sagt nie, was ihr am besten schmeckt, weil sie will, dass sich all ihre Köche gleichermaßen geschätzt fühlen. Sie kümmert sich dauernd um alle! Wie soll ich dafür sorgen, dass sie an ihrem Geburtstag mal das Gefühl hat, jemand kümmert sich um sie?«

»Ähm, entschuldigen Sie, Helda«, sagte Giddon und blickte sich verschwörerisch um, damit er nicht heimlich belauscht wurde. »Alle drei Lagen der Torte sollten aus Schokolade bestehen und das Ganze mit Buttercreme überzogen sein. Und mit Miniwindbeuteln verziert.«

Helda betrachtete Giddon aus zusammengekniffenen Augen, in denen ein gewisses Interesse aufblitzte. Sie richtete sich auf. »Und woher wissen Sie das, Giddon?«

»Wenn es das zum Abendessen gibt, wird sie immer ganz still und konzentriert«, sagte Giddon. »Und sie kratzt ihren Teller leer. Ist Ihnen das noch nicht aufgefallen?«

Der nächste Blick, den Helda ihm zuwarf, ließ ihn erröten und zu dem Schluss kommen, dass er ganz dringend irgendwo anders gebraucht wurde. Aber am Abend ihres Geburtstags nahm Bitterblue angesichts der Schokoladentorte mit den Windbeuteln Helda in den Arm und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Giddon konnte an diesem Abend nicht bleiben, weil er weitere Leute aus Estill begleiten musste. Aber er konnte in dem Wissen abreisen, dass Bitterblues langer Tag seinetwegen von einer kleinen Freude gekrönt wurde.

Giddon war darauf bedacht, sich nicht zu genau damit zu beschäftigen, wie sich diese Augenblicke anfühlten. Er wusste, wie zwecklos das war. Bitterblue war Königin, weshalb von ihr erwartet wurde, klug zu heiraten. Ihre Ratgeber schoben ihr dauernd irgendwelche Männer zu und ihm war aufgefallen, dass keiner von ihnen ein enterbter, verbannter Lord war. Er wusste, sie gab ihr Bestes, um einen von ihnen zu mögen. Er wusste sogar – weil sie es nicht vor ihm verheimlichte –, wenn sie sich mit dem einen oder anderen von ihnen einließ.

Manchmal fragte sie ihn um Rat. Er war fast neun Jahre älter und sie wollte von seiner Erfahrung profitieren. Davon kam er sich alt vor.

»Warst du schon mal richtig verliebt in jemanden«, hatte sie ihn vor ein paar Jahren gefragt, als sie sich mit einem Lord von der Südküste traf, »und hast dann festgestellt, dass die Person nicht so nett oder erwachsen ist, wie du dachtest? Und du eigentlich eher in die Vorstellung, die du dir von der Person gemacht hast, verliebt warst als in ihr wahres Ich? Und jetzt musst du es ihr sagen, willst sie aber nicht verletzen?«

Und ja, er war schon in einer solchen Lage gewesen. Eigentlich war er sich ziemlich sicher, schon einmal auf beiden Seiten gestanden zu haben. Aber es fiel ihm schwer, in diesem Moment auf seine edlen Instinkte zu vertrauen, um ihr etwas zu raten, denn ihm wurde schmerzlich bewusst, wie sehr er sich wünschte, sie würde den Mann – von wem auch immer sie da sprach – einfach fallen lassen.

Aber er dachte ernsthaft über ihre Frage nach, weil Bitterblue unglücklich wirkte und weil sie ihm vertraute.

»Ich weiß, es ist schwer, das Gefühl zu haben, unerbittlich zu sein«, sagte er, »wenn die Wahrheit, die man überbringen muss, schmerzhaft sein wird. Das lässt sich nicht vermeiden. Aber wenn ich mich zurückerinnere, war ich eigentlich den Leuten dankbar, die direkt zu mir waren, weißt du?« Sogar ein wenig gnadenlos, wenn er ehrlich war, aber das sprach er nicht laut aus. Er traute seinen eigenen Beweggründen nicht, aus denen er Bitterblue am liebsten geraten hätte, einen Mann, den sie aus ihrem Bett verstieß, gnadenlos zu behandeln. »Es ist gut, eindeutig zu sein«, erklärte er. »Das macht es allen leichter, nach vorne zu schauen.«

Und dann wartete er, in verschiedenen Stadien der Aufregung und erzwungenen Geduld, bis über den betreffenden Mann nicht mehr gesprochen wurde, er vom Hof verschwand und nicht vermisst zu werden schien. Aber irgendwann kam der nächste und Giddon spürte wieder sein Alter, das geringe Einkommen, das der Rat ihm gewährte, seine Unwürdigkeit. Wahrscheinlich würde Bitterblue Katu Cavenda heiraten, sobald sie herausgefunden hatte, wo er steckte. Oder irgendeinen Grafen – auf jeden Fall irgendeinen Mann mit Vermögen und einer makellosen Vergangenheit, der sie verdiente, sofern überhaupt irgendjemand sie verdiente. Einen guten Mann.

Auf seinen Reisen für den Rat hatte Giddon festgestellt, dass er viele verschiedene Männer sein konnte, je nachdem, mit wem er zusammen war und was derjenige brauchte. Er mochte nicht alle Giddons, die er sein konnte. Manche waren manipulativ oder energisch. Manche waren sogar gewalttätig, was ihn immer unangenehm an seine Vergangenheit erinnerte. Denn in seinem Leben vor dem Rat war Giddon ein Schläger in König Randas Diensten gewesen. Sehr, sehr lange, bevor der Rat ihm geholfen hatte, einige Dinge über sich selbst, über Könige, Macht und brutale Schläger zu verstehen, war er ein kleingeistiger Mann gewesen, der kleine Dinge getan hatte. Das wusste Bitterblue. Er hatte nicht viele Geheimnisse, von denen Bitterblue nichts wusste. Er hatte Glück, dass sie ihn als Freund betrachtete.

Das genügt, dachte er. Ein Leben, in dem ich Menschen helfe, korrupte Könige überliste, sogar Monarchien stürze, genügt. Wieso sollte eine Königin denn überhaupt einen Gesetzesbrecher heiraten? Und dann sagte er sich, er müsse unbedingt Raffin und Bann, Katsa und Bo schreiben, um ihnen vorzuschlagen, woanders einen neuen Einsatzort für ihn zu finden.

Aber irgendwie kam er nie dazu, diese Briefe zu verfassen.

An einem späten Vormittag im August, drei Monate nachdem Safs Brief eingetroffen war, kam Bitterblue an Giddons Tür.

Erst wenige Minuten zuvor war er wieder aus einem der Tunnel zurückgekehrt; er hatte sich gerade das Hemd ausgezogen und sich aufs Bett fallen lassen, als sie klopfte. Er stank nach Pferd und Schlamm. Während er durchs Zimmer tappte, um die Tür zu öffnen, entdeckte er sogar einen Schlammfleck auf seiner Brust, was überhaupt keinen Sinn ergab. Schließlich führte er die Flüchtlinge aus Estill nicht mit nacktem Oberkörper durch das Tunnelsystem.

Dann öffnete er die Tür, erblickte Bitterblue und wachte auf.

Sie sah ihn blinzelnd an. »Oh, gut. Ich habe Gerüchte gehört, dass du wieder da bist.«

»Komm rein, ich hole mir ein Hemd«, sagte er.

»Meinetwegen ist das nicht nötig«, entgegnete sie, was so ungefähr die einzige neckische Bemerkung war, die sie während ihrer gesamten Bekanntschaft je gemacht hatte, und ihn deshalb derart verwirrte, dass er beschloss, unter dem Vorwand, sich zu waschen, ins Badezimmer zu verschwinden. Zum Glück war er dreckig, sodass es ein glaubwürdiger Rückzug war. Während er sich Wasser ins Gesicht spritzte, kam natürlich Lovejoy durch das offene Fenster geschossen, wovon Giddon beinahe einen Herzinfarkt bekam.

Als er kurz darauf das Bad verließ, angekleidet und mit einem, wie er hoffte, gelassenen Gesichtsausdruck, saß Bitterblue zusammengerollt in seinem großen Sessel und Lovejoy schnurrte auf ihrem Schoß. Bei dem Anblick schmerzte Giddon das Herz.

Sie winkte mit einem Brief. »Skye ist jetzt in Winterburg, weißt du? Ich habe einen Brief von ihm bekommen, den ich noch nicht geöffnet habe. Ich wollte ihn mit dir zusammen lesen. Falls er schlechte Nachrichten enthält.«

Giddon betrachtete sie einen Moment. »Du machst dir Sorgen um Katu«, sagte er. »Es ist dir ernst mit Katu, nicht wahr?«

»Es ist mir ernst damit, sicherzugehen, dass es ihm gut geht.« Zwischen ihren Augenbrauen erschien diese Sorgenfalte. »Und ich habe Angst davor herauszufinden, dass meine Männer vorsätzlich ertränkt wurden. Wenn das so sein sollte, werde ich mir das nie verzeihen können.«

»Bitterblue.« Giddon setzte sich in den Sessel neben sie. »Wenn so etwas passiert sein sollte, wäre niemand anders dafür verantwortlich als die Person, die sie ertränkt hat.«

»Ich weiß.« Sie hob den Blick. »Aber du weißt doch, wie das ist.«

Natürlich wusste er das. Die Königin fühlte sich für alle verantwortlich. »Ja, ich weiß.«

Sie machte den Umschlag auf und hielt ihm mit goldblitzenden Fingern den Brief hin. »Der Schlüssel ist ›nerviger kleiner Bruder‹«, sagte sie, was hinreißend war, weil es sich auf Skyes Bruder Bo bezog, der ein erwachsener Mann war und alles andere als nervig. Außerdem war es eine überflüssige Information, weil Bitterblue in der Zeit, die Giddon für die erste Zeile brauchte, den gesamten Brief entschlüsselt haben würde.

»Saf ist zu dem Schluss gekommen, dass Katu wirklich ohne Abschied aus Winterburg abgereist ist«, las sie grimmig vor. »Katu hat keine Adresse hinterlassen und sein Schiff ist weg. Seine Familie und Freunde sagen, er sei wie immer auf Abenteuersuche. Saf hat mit Katus Bankier gesprochen. Anscheinend hat Katu bei Banken in Kamassar und Borza mit seinen eigenen Schecks Geld abgehoben.«

»Das ist doch beruhigend«, sagte Giddon.

»Aber wie konnte er einfach abreisen, ohne seine Verabredung mit Saf abzusagen?«, rief Bitterblue. »Und ohne mir zu schreiben?«

»Vielleicht hat er dir geschrieben und der Brief ist verloren gegangen.«

»Ja, vielleicht.« Sie entschlüsselte weiter. »Das hoffe ich. Skye schreibt hier, dass Saf mit Silberkühen geschwommen ist.«

»Diesen Seehunden mit telepathischen Fähigkeiten oder was immer die sind?«

»Sie sind größer als Seehunde und lila, aber ja. Er sagt, die Silberkühe zeigen Saf immer wieder ein Haus mit vielen Fenstern auf einer Klippe und einen Schatten am Himmel, der aussieht wie ein Luftschiff. Dann eine Störung im Wasser in der Nähe. Eine ernsthafte Störung. Durch die sich alles verändert.«

»Was soll das heißen? Sich wie verändert?«