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Es gibt ein naturwissenschaftliches Prinzip, das die Entwicklung der Welt vom Urknall bis hin zum Geist und zu den menschlichen Sozialordnungen durchgängig erklärt: Die Emergenz. Sie verbindet die materielle Welt mit der Welt des Geistes. Die Emergenz basiert auf der spontanen Selbstorganisation einfacher Elemente zu komplexen Systemen, die völlig neue Strukturen aufweisen, und deren kollektive Eigenschaften und Fähigkeiten ganz anders sind als die der Elemente. Die Strukturen, Eigenschaften und Fähigkeiten der Systeme lassen sich aus denen der Elemente in der Regel nicht berechnen. Die Emergenz ist in der Natur der Normalfall und nicht die Ausnahme, von den Elementarteilchen durch alle Ebenen der Welt bis hinauf in die Ebene des Geistes und der menschlichen Gesellschaft. Unsere Welt hat sich Schritt für Schritt aus emergenten Systemen entwickelt, vom Urknall bis in die Gegenwart, und entwickelt sich ständig weiter. Das Buch behandelt am Anfang die Konzepte und Begriffe der Emergenz. Anschließend ist die erste Hälfte dem Wirken der Emergenz in der unbelebten Natur gewidmet, von den fundamentalen Teilchen und Kräften, den Atomen und ihrem Aufbau, den Festkörpern, den kollektiven Quanteneffekten und den chaotischen Prozessen bis hin zu den Molekülen. Ein kleiner Ausflug in die selbstorganisierten Vorgänge des Weltalls darf natürlich nicht fehlen. In der zweite Hälfte wird das Wirken der Selbstorganisation in der Welt der Lebewesen beschrieben, von der Entstehung und Entwicklung des Lebens über Viren, Bakterien, Pflanzen und Tiere bis zum Menschen, seinem Geist und der menschlichen Gesellschaft. Diese Entwicklung hat nachweislich nicht auf der Basis des blinden Zufalls von Mutationen und der Selektion beim Kampf ums Dasein stattgefunden. Sie ist sehr viel stärker durch kooperative Prozesse der Selbstorganisation wie Symbiosen, Ko-Evolutionen und soziale Kooperationen bestimmt worden. Die Kraft der Selbstorganisation und der Erfolg der emergenten Systeme kommt aus der großen Anzahl und Vielfalt der Elemente, die symbiotisch zusammenwirken. Es ist höchste Zeit, diese Erkenntnis zum Allgemeingut zu machen und die ethischen und moralischen Regeln der menschlichen Gesellschaft danach neu auszurichten. "…ein sehr schöner, sehr verständlicher Text. Er entwickelt sich von Kapitel zu Kapitel bestens und geradezu spannend!" Prof. Dr. Josef H. Reichholf, Autor zahlreicher Bücher und Siegmund-Freud-Preisträger der Dt. Akad. f. Sprache und Dichtung.
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Seitenzahl: 383
Veröffentlichungsjahr: 2014
www.tredition.de
Das Naturgeschehen läuft aus sich selbst heraus gesetzmäßig ab. (Straton von Lampsakos)
In der Natur ist kein Irrtum. Der Irrtum ist in Dir! (Leonardo da Vinci)
Dass ich erkenne, was die Welt im Innersten zusammen hält. (Johann Wolfgang Goethe)
Die Gesetze der Natur sind die unsichtbare Regierung der Erde.
Günter Dedié
Die Kraft der Naturgesetze
Emergenz und kollektive Fähigkeiten durch spontane Selbstorganisation, von den Elementarteilchen bis zur menschlichen Gesellschaft
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Der Autor ist promovierter Physiker und war beruflich im IT- Bereich einer großen deutschen Elektrofirma tätig. Im Ruhestand war er mehrere Jahre Physiklehrer und Betreuer für Jugend forscht an einem Gymnasium. Er ist Übersetzer und Autor mehrerer naturwissenschaftlich-technischer Fachbücher.
© 2014 Günter Dedié
Verlag: tredition GmbH, Hamburg
ISBN: 978-3-8495-7902-9
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Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
1. Selbstorganisation und Emergenz
Konzept der Selbstorganisation und der Emergenz
Phasenübergänge
Weltbild mit oder ohne Emergenz?
2. Fundamentale Teilchen und Kräfte
Fundamentale Teilchen
Fundamentale Kräfte
Fermionen und Bosonen
3. Weltall und Sterne
Der Urknall und die Entstehung der Welt
Die Entstehung der Sterne
Die Entstehung der schweren Atomkerne
Die Erde
4. Fundamentale Prinzipien
Symmetrien und Erhaltungssätze
Energie und Wirkung
Entropie und Wahrscheinlichkeit
Das Relativitätsprinzip
5. Elementarteilchen und Atomkerne
Die Elementarteilchen
Die Atomkerne
6. Die Atome und die Quantentheorie
Der Aufbau der Atomhülle
Der Laser
Beugung am Doppelspalt
Die Aufenthaltswahrscheinlichkeit
Die Unbestimmtheitsrelation
Die Quantenverschränkung
Quantentheorie und Emergenz
7. Chaotische Prozesse
Ursachen
Wetter und Klima
Die Mandelbrot- Menge
8. Die „klassische“ Physik
9. Feste Körper
Bindungen zwischen Atomen
Kristallgitter und metallische Bindung
Elektronenstrukturen
Magnetismus
10. Kollektive Quantenphänomene
Supraleitung
Suprafluidität
Extreme Genauigkeit kollektiver Effekte
Das Vakuum
11. Die Allgemeine Relativitätstheorie
12. Die Moleküle
Primäre chemische Bindungen
Sekundäre Bindungen
13. Die Entwicklung des Lebens
Makromolekulare Stufen und Viren
Die Entwicklung der Zellen
Die Ko-Evolution bei Symbiosen
Sexuelle Vermehrung und Kreuzung
Die Epigenetik
14. Von Einzellern zu höheren Lebewesen
Die große Umgestaltung
Zur Rolle der Pflanzen
Das Immunsystem
Nervensystem und Gehirn
Kollektives Verhalten bei Insekten
Kollektives und Moral-analoges Verhalten bei Wirbeltieren
15. Das Gehirn des Menschen
Zum Aufbau des menschlichen Nervensystems
Neuronales Netz und Lernen
Zum Aufbau des Gehirns
Zur Arbeitsweise des Gehirns
Das Gedächtnis
„Wie wirklich ist die Wirklichkeit“?
Automatische, unbewusste und bewusste Abläufe
Innovation und Inspiration
16. Die menschliche Gesellschaft
Alles wie in der Natur?
Die Evolution zum Homo sapiens
Ethische und moralische Grundlagen
Die spontane Sozialordnung und der Staat
Die unsichtbare Hand des Marktes
Kollektive Internet-Projekte
17. Rückblick und Ausblick
Anhang
Literatur
Bildnachweis
Glossar
Vorwort
Was haben ein Atomkern, das Kohlenstoffatom, das Wasser, eine Schneeflocke, der Magnetismus, das Wetter, die Entwicklung des Lebens, der menschliche Geist und die menschliche Sozialordnung gemeinsam? Sie alle können mit einem Prinzip erklärt werden, das Emergenz genannt wird. Und sie haben noch etwas gemeinsam: Es gibt für sie bis heute keine exakte wissenschaftliche Theorie. Was ist das, Emergenz? Auf den einfachsten Nenner gebracht: „Das Ganze ist mehr als seine Teile“. Etwas ausführlicher: Emergenz entsteht durch die spontane Selbstorganisation vieler gleicher oder auch unterschiedlicher Elemente aufgrund der Wechselwirkungen zwischen Ihnen. Dabei können Systeme entstehen, die völlig neue Strukturen und eine höhere Ordnung aufweisen, und deren kollektive Eigenschaften und Fähigkeiten ganz anders sind als die der Elemente.
Beispiele: Ein einzelnes Gold-Atom ist nicht gelb und glänzend, eine einzelne Zelle ist kein Tiger (frei nach Philipp W. Anderson)
Die Selbstorganisation ist in der Natur der Normalfall und nicht die Ausnahme, von den Elementarteilchen durch alle Ebenen der Welt bis hinauf zum menschlichen Geist. Sie schlägt als durchgängiges Prinzip eine Brücke zwischen der unbelebten und der belebten Natur, sie verbindet die materielle Welt mit der Welt des Geistes! Grundlage der Selbstorganisation sind in den materiellen Ebenen wie Physik und Chemie unmittelbar die Naturgesetze, die für die Elemente des jeweiligen Systems gelten. In den höheren Ebenen wie Biologie, Geist und Gesellschaft sind es die Wechselwirkungen zwischen deren Elementen, die ihrerseits emergente Systeme der Ebenen darunter sind.
Beispiel: Die Evolution basiert auf den komplexen reproduktiven Makromolekülen der organischen Chemie, die chemischen Bindungen, die die Moleküle zusammen halten, entstehen aus den Eigenschaften der Elektronenhülle der Atome. Und die Atome entstehen aus den Atomkernen und den Elektronen nach einem Naturgesetz, das Quantentheorie heißt.
In den wenigsten Fällen sind der Vorgang der spontanen Selbstorganisation sowie die Struktur, Eigenschaften und Fähigkeiten des dabei entstehenden emergenten Systems aus denen der Elemente berechenbar, im Detail erklärbar und erst recht nicht vorhersagbar. Man muss deshalb die Eigenschaften eines selbstorganisierten Systems durch Beobachtungen und Messungen erforschen. Mit deren Ergebnissen kann man dann in der Ebene des Systems und oberhalb derselben weiter arbeiten.
Beispiel: Aus dem Aufbau der Elektronenhüllen der Atome kann man die Regeln für die chemischen Bindungen empirisch erklären und damit die ganze große Welt der Chemie beschreiben. Diese Regeln sind in der Chemie aber schon lange vor der genauen Kenntnis der Atomhüllen gefunden worden. Die Stärke der Bindungen muss man allerdings auch heute noch messen, weil man die chemischen Bindungen nicht quantitativ berechnen kann.
In diesem Buch versuche ich, wichtige emergente Systeme unserer Welt unter dem Aspekt der Selbstorganisation durchgängig, überschaubar und verständlich darzustellen, soweit wie möglich anschaulich und mit Worten statt abstrakt und mit Formeln. Die anschauliche Beschreibung hilft beim Verständnis der Zusammenhänge in der Welt. Sie ersetzt natürlich nicht die fundierte wissenschaftlich Begründung der Systeme, hat aber den Vorteil, dass sie einfacher zu verstehen ist als die mathematischen Formeln und Beweise der Theorien vom „Inneren“ der Systeme.
Beispiele:
–
Man kann den Satz des Pythagoras für rechtwinklige Dreiecke anwenden, ohne seinen Beweis zu verstehen oder zu kennen. Man muss nur den Satz bzw. die Formel kennen und anwenden können.
–
Ein Programmierer muss die komplizierten Details eines Computers nicht kennen, oder die Unterschiede zwischen verschiedenen Computern, solange er eine Programmiersprache als vereinbarte Schnittstelle zwischen Mensch und Computer verwendet.
In diesem Sinne ist eine anschauliche Beschreibung der Grundbegriffe, Strukturen, Eigenschaften und Fähigkeiten der Systeme in der Natur eine Schnittstelle zwischen der Wissenschaft und dem naturwissenschaftlichen Grundwissen, das heute jedermann haben sollte. Vielleicht ist sie sogar Teil eines sog. Königswegs, dessen Fehlen zur Physik, Chemie, Evolution usw. oft beklagt wird. Und damit ein ganz wesentlicher Bestandteil der abendländischen Kultur! Für jedes selbstorganisierte System werden die Elemente herausgearbeitet, aus denen es aufgebaut ist, und die Wechselwirkungen, die zur spontanen Selbstorganisation seiner Elemente führen. Die kollektiven Eigenschaften und Fähigkeiten des Systems werden durch Beispiele veranschaulicht. Begleitend dazu wird die für das jeweilige System in der Wissenschaft geltenden Theorie oder Hypothese kurz bewertet.
Es ist eine Art Bestandsaufnahme der selbstorganisierten Systeme, und soll die große Kraft der Naturgesetze plausibel machen, auch im Vergleich zur menschlichen Erkenntnisfähigkeit. Ich kann dabei nicht mit dem Wissen der Spezialisten in der Forschung mithalten, versuche aber, die oft weit voneinander entfernten Spezialgebiete unter dem Aspekt der Selbstorganisation zu einem Gesamtbild zusammen zu bringen. Die Hierarchie der selbstorganisierten Systeme beginnt in der Materie, setzt sich fort bei den Lebewesen und reicht hinauf bis in die geistige Ebene des Gehirns und zur Funktion der menschlichen Gesellschaft. Sie ist das Ergebnis einer höchst dynamischen Entwicklung in der Natur in der Vergangenheit, die sich auch in der Gegenwart und der Zukunft weiter fortsetzt. Nach Ilja Prigogine sind wir „… die Kinder des Zeitpfeils, der Evolution, und nicht seine Urheber“. Es ist für mich äußerst eindrucksvoll, was die Natur dabei aus sich selbst heraus geschaffen hat. Für unsere menschlichen Fähigkeiten der Erkenntnis ist das oft nicht im Detail nachvollziehbar. Das Ergebnis dieser Selbstorganisation ist unsere Welt, die wir mit Bewunderung betrachten und mit Respekt behandeln sollten. Wir Menschen haben uns zwar von vielen Zwängen und Einschränkungen der Natur unabhängig gemacht, bleiben den Naturgesetzen aber trotzdem direkt oder indirekt unterworfen.
Das Buch ist in drei Teile gegliedert: Im Kap. 1 werden die wichtigen Konzepte und Begriffe der Emergenz erläutert. Ab Kap. 2 ist die erste Hälfte des Buchs dem Wirken der Emergenz in der unbelebten Natur gewidmet, und ab Kap. 13 die zweite Hälfte ihrem Wirken in der belebten Natur und in der menschlichen Gesellschaft. Wegen der Breite und Vielfalt der Themen habe ich nicht so geläufige Begriffe, die wichtig sind und in mehren Kapiteln vorkommen, in einem Glossar zusammengefasst. Im Text sind sie beim ersten Auftreten durch Schrägschrift gekennzeichnet.
Ich danke meiner Frau Kuni für ihre große Geduld mit ihrem Phantom am Laptop, das mehr als ein Jahr sehr oft abwesend war, obwohl es anwesend war. Sie hat mich auch beim abschließenden Lektorat sehr unterstützt. Meinen Freunden Frans van de Laarschot und Reinhold Dries, meinem Kollegen Alois Höchtl, sowie Herrn Prof. Gerhard Vollmer danke ich für wertvolle Anregungen. Mein ganz besonderer Dank gilt aber Herrn Prof. Josef H. Reichholf, der mich als Neuling in der schreibenden Zunft beraten, unterstützt und gefördert hat.
Günter Dedié, im März 2014
1. Selbstorganisation und Emergenz
Die meisten Systeme in der Welt entstehen aus ihren Elementen durch spontane Selbstorganisation und besitzen kollektive Strukturen, Eigenschaften und Fähigkeiten, die aus den Eigenschaften ihrer Elemente nicht exakt erklärbar sind. Die Welt besteht aus einer durchgängigen Hierarchie derartiger Systeme.
Seit Jahrtausenden versuchen die Menschen zu verstehen, wie ihre Welt und sie selbst funktionieren, und nach welchen Regeln. Anfangs waren ihnen nur einfache Dinge zugänglich, wie der Wechsel der Jahreszeiten und der Lauf der Sonne und der Sterne am Himmel. Der Rest wurde mit Spekulation und Aberglauben aufgefüllt, denn das Bedürfnis, die Welt zu ordnen und zu verstehen, ist so alt wie der Homo sapiens. Außerdem stifteten gemeinsame Vorstellungen von der Welt eine Identität in der Gruppe, dem Stamm usw. Diese Vorstellungen wurden später teilweise als Religionen übernommen und durch die Macht der Kirchen als Glaubensinhalte festgeschrieben.
Im europäischen Mittelalter war nach dem Ende des weströmischen Reiches und bis zur Aufklärung etwa 1000 Jahre lang nur noch ein sehr schwaches Echo des Wissens der Griechen und Römer übrig geblieben. Ein wesentlicher Grund war die Herrschaft der katholischen Kirche, die Wissen und Erkenntnisse außerhalb ihres religiösen Bereichs unterdrückt hat. Die Griechen hatten in der Philosophie und den Naturwissenschaften durch nachdenken und beobachten schon viele Erkenntnisse gewonnen, die uns heute teilweise recht modern vorkommen. Dieses Wissen wurde beispielsweise von den Persern und dem Islam aufgenommen und hat zur Hochkultur des Islam in den Jahren 900 bis 1200 beigetragen. Erst ab der Renaissance im 14. und 15. Jahrhundert hat auch in Europa die Erkenntnis der Zusammenhänge in der Natur allmählich wieder zugenommen, und die Naturwissenschaften haben sich entwickelt, frei nach Faust „dass ich erkenne, was die Welt im Innersten zusammenhält“. Immanuel Kant sagt dazu: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern (…) des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen.“
Seither verstärkten sich die Bemühungen in der Wissenschaft, durch Beobachtungen, Experimente und mit Hilfe der Mathematik formelmäßig (analytisch) und zahlenmäßig (quantitativ) zu verstehen und zu berechnen, welche Gesetze in der Natur gelten. In Mathematik und Physik gab es dabei auch immer wieder beeindruckende Erfolge, und in anderen Bereichen wie der Chemie und der Biologie zumindest auf der empirischen Ebene.
Ein Beispiel dafür ist die Newtonsche Mechanik, bei der aus wenigen einfachen Bewegungsgesetzen die Bewegungsvorgänge im täglichen Leben, aber auch die Bewegung der Planeten im Sonnensystem sehr genau berechnet werden können.
Man nennt diesen Ansatz auch reduktionistisch und meint damit, dass ein System durch eine Theorie in allen Einzelheiten aus seinen Elementen und von der Basis her erklärt werden kann. Die Theorie muss dabei den Ansprüchen moderner naturwissenschaftlicher Theorien genügen: Sie muss
• kausal Ursachen und Wirkungen beschreiben,
• mit Hilfe bekannter mathematischer Funktionen formuliert werden können und
• mit den Beobachtungen und Messungen übereinstimmen.
Außerdem sollen die reduktionistischen Theorien nahtlos aufeinander aufbauen, beispielsweise die der Chemie auf denen der Physik, die der Biologie auf denen der Chemie usw. Im Ergebnis soll die Hierarchie der reduktionistischen Theorien durchgängig sein bis hinunter zu den fundamentalen Feldern und Teilchen.
In der Vergangenheit wurde durch erfolgreiche Beispiele in der idealisierten makroskopischen Welt der Physik und auch der Chemie die Erwartung geweckt, die Welt sei irgendwann komplett reduktionistisch erklärbar. Daraus hat sich geradezu ein Glaube entwickelt, dass die Mathematik einfach alles kann, und das, was nicht in Formeln zu fassen ist, wissenschaftlich von minderer Qualität sei. Dieser Glaube hat auch andere Bereiche der Wissenschaft wie die Hirnforschung und die Ökonomie beeinflusst. Im 20. Jahrhundert hat sich allerdings gezeigt, dass diese Erwartungen nicht erfüllt werden konnten:
• Man musste immer wieder feststellen, dass der reduktionistische Ansatz nur ganz selten funktioniert,
• Die unterschiedlichen naturwissenschaftlichen Theorien und ihre Geltungsbereiche sind nicht zusammen gewachsen, sondern haben sich weiter auseinander entwickelt,
• Themen wie eine reduktionistische Erklärung der Funktion des Gehirns oder die Vereinheitlichung der Quantentheorie mit der Theorie der Schwerkraft kommen seit Jahrzehnten nicht voran.
„Die Realität ist hierarchisch in komplexen Systemen organisiert, wobei jede Ebene von der anderen in erster Näherung unabhängig ist. In jeder Ebene sind neue Gesetze, Begriffe, Methoden und Näherungen notwendig … Ist in einer solchen Situation eine vereinheitlichte Theorie notwendig oder überhaupt möglich?“ (Philippe Blanchard in [12]). Der Glaube an die Notwendigkeit der Exaktheit kann sogar wissenschaftliche Erkenntnisse behindern [46].
Diese Schwierigkeiten wurden schon vor fast hundert Jahren als schmerzliche Erkenntnis humorvoll in Versen festgehalten ([27] S.37):
„Legendre, Gauß und Abel, die lösten manch’ Problem, was ungelöst sie ließen, ist meist recht unbequem.“
Nur die idealisierte makroskopische Welt, die wir aufgrund unserer Wahrnehmung und unserer Erfahrungen gewohnt sind, ist einfach. Unterhalb und oberhalb dieser gewohnten Welt, z.B. bei den Atomen oder den Lebewesen, endet diese Einfachheit abrupt und alles ist sehr viel komplexer als anfangs erwartet ([29] S.13). Deshalb bahnt sich eine andere Denkweise in den Naturwissenschaften an, ein Paradigmenwechsel: Die Anerkennung von Komplexität, Selbstorganisation und Emergenz als ausreichende Begründung von Erkenntnissen, „als Grundbegriffe einer neuen wissenschaftlichen Disziplin“ [12]. Die Natur zeigt uns immer wieder, dass sie aus sich selbst heraus viel mächtiger ist, als es das menschliche Denken nachvollziehen kann oder die für die Theorien benötigten Hilfsmittel der Mathematik analytisch beschreiben oder auch die größten Computer mit den besten Programmen simulieren können.
In der Physik kann man diese Tendenz mit folgender Anekdote veranschaulichen: Wenn in der Vergangenheit eine Theorie und die zugehörigen Ergebnisse der Experimente nicht zusammenpassten, pflegten die Theoretiker frei nach Hegel zu sagen „um so schlimmer für die Experimente“. Betrachtet man die Geschichte der Physik und die der Naturwissenschaften aber genauer, so muss man feststellen, dass neue Erkenntnisse und Innovationen bevorzugt aus Experimenten und Beobachtungen kommen, und man erst danach versucht hat, eine passende Theorie dazu zu entwickeln. Kommen wir zum Beispiel der Mechanik zurück: Am Anfang standen hier die Beobachtungen der Bewegungen von Objekten auf der Erde und im Weltall, und die Theorie dazu sind die Bewegungsgesetze von Newton, die für beide Bereiche gelten. Man hat aber schon bald die Grenzen dieser Theorie kennen gelernt.
Beispiele:
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Die Berechnung der Bewegungen in Systemen aus mehreren Körpern funktioniert analytisch nur für zwei Körper. Bereits bei drei Körpern sind exakte Berechnungen nur noch in Spezialfällen möglich. Schon der Philosoph Immanuel Kant hat deshalb einen Vorschlag für die Selbstorganisation des Planetensystems gemacht [17]. Die genaue Berechnung der Bewegung der acht Planeten im Sonnensystem ist nicht mehr analytisch aus den Bewegungsgleichungen, sondern nur noch näherungsweise numerisch (zahlenmäßig) möglich, z.B. per Computer.
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Versucht man gar, die individuellen Bewegungen der ca. 6,02 · 1023 Gasmoleküle (entspricht einem Mol Gas; sog. Avogadrosche Zahl) in einem Gefäß zu berechnen, so hat sich das als völlig unmöglich erwiesen. Selbst wenn man ein System exakter Bewegungsgleichungen dafür aufstellen und lösen könnte, wäre es absolut unmöglich, für alle 6 · 1023 Gasmoleküle zu genau einem Zeitpunkt sämtliche Anfangsbedingungen für Orte und Impulse der Moleküle festzulegen!
Weitere Beispiele aus anderen Gebieten der Physik, in denen reduktionistische Ansätze bisher nicht erfolgreich waren:
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Aus einer gasförmigen Ansammlung von Atomen oder Molekülen bilden sich unter bestimmten Bedingungen (Temperatur, Druck, …) Flüssigkeiten und feste Körper, deren spezifische Eigenschaften aus den Eigenschaften der einzelnen Atome oder Moleküle nicht berechenbar sind.
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Ein Stück Eisen, also ein (dreidimensionales) System aus sehr vielen Eisenatomen, ist bei Raumtemperatur spontan magnetisiert und damit ferromagnetisch. Eine analytische Berechnung der spontanen Magnetisierung ist bisher aber nur für ein zweidimensionales Modell gelungen (das sog. Ising-Modell), und hat bereits einen sehr hohen mathematischen Aufwand erfordert.
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Seit vielen Jahren bemühen sich die Physiker um eine so genannte Weltformel, die die gesamte Physik beschreiben soll, insbesondere alle vier fundamentalen Kräfte. Bisher ist aber noch völlig offen, ob ein derartiger Ansatz jemals zu einem konsistenten Ergebnis führen wird. Es ist eher äußerst unwahrscheinlich. Bisher gibt jedenfalls noch keine Möglichkeit, irgendetwas von einer dieser komplizierten Hypothesen anhand der Wirklichkeit nachzuprüfen.
Es hat sich gezeigt, dass ein anderes Konzept für das Verständnis der Systeme, die aus sehr vielen Elementen bestehen, die Suche nach exakten Theorien ergänzen muss und diesen sogar meist überlegen ist: Die spontane Selbstorganisation von Elemente zu einem System aufgrund der zwischen ihnen herrschenden Wechselwirkungen. Und damit verbunden die Herausbildung von kollektiven neuen emergenten Strukturen, Eigenschaften und Fähigkeiten des Systems. Diese Strukturen, Eigenschaften und Fähigkeiten sind von selbst entstanden und gegenüber denen der einzelnen Elemente meist gänzlich anders und viel komplexer. Ich unterscheide Eigenschaften und Fähigkeiten der Systeme, weil Eigenschaften in der unbelebten Welt der zweckmäßigere Begriff ist, bei den Lebewesen aber meist die Fähigkeiten wichtiger sind. Die Idee der Emergenz hat sich von der Biologie her in den Naturwissenschaften ausgebreitet. In der Tierwelt, speziell bei den Ameisenstaaten, gibt es regelrechte Modellsysteme dafür (vgl. Kap. 14).
Die Emergenz steht nicht im Gegensatz zum Reduktionismus, denn einige emergente Systeme sind auch exakt mit einer Theorie erklärbar. Wenn es aber bisher keine solche Theorie gibt, muss man auf das detaillierte Verständnis verzichten, wie der Zusammenbau des Systems funktioniert, und wie genau seine kollektiven Eigenschaften aus den Eigenschaften der Elemente entstehen. Das erledigen die Naturgesetze, die in diesem System wirken, von selbst. In vielen Fällen gelingt es auch, auf Basis der Beobachtungen und Messungen für bestimmte Aspekte eines emergenten Systems modellartige Vorstellungen zu entwickeln, exakte Theorien sind aber selten gefunden worden, oder gelten nur mit großen Einschränkungen. Der Begriff Emergenz wird in der Literatur unterschiedlich benutzt ([41] S.74); ich verwende ihn hier bevorzugt im engeren Sinne für neue Eigenschaften und Fähigkeiten selbstorganisierter Systeme.
Die emergente Sicht auf die Welt ist nicht neu, man findet sie z.B. schon 1891 bei George Henry Lewes [26]. In den 1920er Jahren hatten Überlegungen zur Emergenz bereits eine kleine Blütezeit, vor allem in England. Ab den 1960er Jahren wurde das Thema wieder aktuell, z.B. 1961 bei Friedrich von Hayek ([13] S. 287): „Das Auftauchen von neuen Mustern als Resultat der Zunahme der Zahl der Elemente, zwischen denen einfache Beziehungen bestehen, bedeutet, dass die größere Struktur als Ganzes gewisse allgemeine oder abstrakte Züge besitzt …“. Auch Philip W. Andersson (1972) sah die Natur in Stufen organisiert, und zu jeder Stufe dieser Hierarchie gehören neue Elemente, Strukturen und kollektive Eigenschaften. Seine Kurzbeschreibung der Emergenz lautete: „More is different“. Das Thema Emergenz wird häufig auch unter dem Begriff Komplexitätstheorie behandelt, z.B. bei Friedrich von Hayek. Grundlegende Überlegungen stammen von Ilja Prigogine, der die große Bedeutung der Nichtgleichgewichtsprozesse heraus gearbeitet hat, und den Unterschied zwischen dem „Sein“ und dem „Werden“ [29] [32]. Paul Watzlawick hat das Thema folgendermaßen auf den Punkt gebracht: „Die Komplexität der Prozesse, die von Unordnung zu Ordnung führen, ist noch nicht erfassbar. In der guten alten Zeit war die Antwort allerdings einfach: Es ist selbstverständlich das Walten höherer Mächte.“ [47]
Auch in der neueren theoretischen Sicht der Biologie, des Geistes und der Kultur, beispielsweise bei William C. Wimsatt wird eine bessere Perspektive darin gesehen, sich mit der Komplexität in Natur und Gesellschaft in Form von Modellen und Gerüsten („scaffolds“) zu beschäftigen, die in der Praxis brauchbar sind, und nicht nur im Prinzip. Im Hinblick auf den Reduktionismus schreibt er: „ … if you looked at the actual theories they claimed to reduce, they weren’t reductions, because there were approximations in going from one level to another“ [46]. Die Beschränkung auf reduktionistische Theorien sieht er als Verschanzung („entrenchment“), die die Weiterentwicklung der wissenschaftlichen Erkenntnis behindert [45]. Der Jesuitenpater Pierre Teilhard de Chardin, der auch als Geologe und Paläontologe ausgebildet war, hat die Evolution aus religiöser Sicht als riesigen Entwicklungsprozess gesehen, der in Jahrmilliarden stufenweise eine immer stärkere Komplexität und „Verinnerlichung“ der Materie geschaffen hat. Gott ist für ihn Teil der Evolution, und der Mensch auch heute noch nicht vollendet ([21] S.114). Er wurde für diese Abweichung von der biblischen Schöpfungsgeschichte von der katholischen Kirche ab 1926 bis zu seinem Tod 1955 „kaltgestellt“.
Das sich selbst organisierende System ist vergleichbar mit einem Modell, das jeder analytischen Theorie zugrunde liegt, oder auch mit einem Modell, das man für die näherungsweise numerische Berechnung eines Systems im Computer braucht. Nur die Methoden, wie die verschiedenen Modelle funktionieren, sind unterschiedlich: Das emergente Modell funktioniert „von selbst“ auf Basis der Naturgesetze, das analytische auf der Basis physikalischer Formeln und mathematischer Funktionen, und das numerische auf der Basis geeigneter Programme für einen Computer. Die analytischen Modelle haben natürlich den Vorteil, dass die Wissenschaftler alles im Detail und im Zusammenhang nachvollziehen, Prognosen für bisher nicht bekannte Eigenschaften eines Systems ableiten oder sie als Basis für Simulationen im Computer verwenden können. Aber da sie nur in sehr seltenen Fällen bzw. mit großen Einschränkungen anwendbar sind, muss man auch die Selbstorganisation als Grundlage für die Entstehung und das Verständnis komplexer Systeme akzeptieren und anwenden. Ein von der Natur durch Selbstorganisation realisiertes System ist ja sowieso „das Modell an sich“ und die Referenz für alle anderen Modelle, weil es unmittelbar auf den Naturgesetzen aufbaut.
Basis für die oft erstaunlichen Ergebnisse der Selbstorganisation sind die Naturgesetze, und nichts anderes, keine Aliens, keine Wunder und kein Gott. Die Natur ist dabei offensichtlich unseren beschränkten mathematischen und numerischen Fähigkeiten bzw. Methoden außerordentlich überlegen. Das heißt nun aber nicht, dass die Wissenschaftler nicht weiter an Lösungen auf Basis analytischer Funktionen arbeiten werden, denn es hat auch in der Vergangenheit immer wieder unerwartete Durchbrüche und neue Erkenntnisse gegeben, wie z. B. im 20. Jahrhundert mit der Quantentheorie. Es bedeutet aber, dass auch das, was wir nicht exakt berechnen können, wichtig und richtig ist, wenn wir es mit naturwissenschaftlichen Methoden erforscht und als gültig erkannt haben.
Ich versuche im folgenden plausibel zu machen, wie man sich die Welt von den Elementarteilchen bis hinauf zum Gehirn und zur menschlichen Gesellschaft als durchgängige Hierarchie von selbstorganisierten Systemen vorstellen kann, und gehe auf viele wichtige Beispiele dieser Systeme näher ein. Bild 1 skizziert die Systeme und die in den Systemen wirkenden Wechselwirkungen der Elemente, ganz grob nach aufeinander aufbauenden Ebenen geordnet (vgl. [2]). Die Wechselwirkungen wirken in der Ebene, in der sie angegeben sind, und in allen Ebenen darüber. Nur die Kernkräfte wirken nur zwischen den Elementarteilchen und innerhalb der Atomkerne. In der obersten Ebene „Geist, Kultur und Gesellschaft …“ ist die Wirkung der Naturgesetze so indirekt, dass man die Wechselwirkungen besser durch Gesetze oder Regeln der geistigen Ebene selbst beschreibt, beispielsweise durch Ethik und Moral als Basis der zwischenmenschlichen Regeln der Gesellschaft und auch – in einfacherer Form – bei einigen höheren Tierarten. Wir werden im Kap. 16 sehen, dass diese Regeln gegenwärtig im Fall der menschlichen Gesellschaft in keinem guten Zustand sind und dringend verbessert werden müssen.
Bei meinen Recherchen habe ich festgestellt, dass die Vielfalt der emergenten selbstorganisierten Systeme außerordentlich groß ist. Ich glaube deshalb nicht, dass man diese Vielfalt über den Leisten eines allgemeinen „Emergentismus“ schlagen kann.
Bild 1 Hierarchische Struktur der Welt (schematisch, stark vereinfacht)
Bei Atomen und Molekülen sind die „bestehen aus“ Beziehungen durch punktierte Pfeile angegeben, z.B. „Protonen ·········> bestehen aus Quarks“.
Ebenso habe ich den Eindruck gewonnen, dass es auch keinen sinnvoll allgemeingültigen „Reduktionismus“ gibt. Ich verwende stattdessen differenziertere Bewertungen von Theorien und Hypothesen wie exakt, näherungsweise und empirisch, und vermeide die Begriffe mit „–ismus“ am Ende.
Konzept der Selbstorganisation und der Emergenz
Das grundsätzliche Konzept der Selbstorganisation kann man folgendermaßen beschreiben: Mehrere, viele oder sehr viele elementare Bausteine (Elemente) verbinden sich auf der Basis ihrer Wechselwirkungen, die meist nur zwischen den nächsten Nachbarn wirken, spontan zu Systemen mit bestimmten neuen Strukturen und Eigenschaften.
Beispiel: Atome oder Moleküle verbinden sich auf der Basis der physikalischen Kräfte zwischen ihnen zu Flüssigkeiten oder festen Körpern, Gase und Staub im Weltall ballen sich unter dem Einfluss der Schwerkraft zu Sternen zusammen.
Aus einfachen Elementen mit einfachen Wechselwirkungen untereinander können Systeme mit sehr komplexen kollektiven Strukturen und Eigenschaften entstehen, die aus denen der Elemente nicht erklärt oder vorhersagt werden können. Aus dieser Definition geht bereits hervor, dass die Selbstorganisation in erster Linie ein Prozess in der Zeit ist, nach Ilya Prigonine ein „Werden“. Obwohl die Wechselwirkungen meist nur zwischen den nächsten Nachbarn wirken, ergibt sich bei der Selbstorganisation erstaunlicherweise oft eine Fernordnung. Diese erfasst das ganze System.
Ob dabei spontan ein neues System entsteht oder nicht, ergibt sich aus der Bilanz der Wechselwirkungen. Die beiden wichtigsten Gegenspieler bei der spontanen Selbstorganisation in der unbelebten Welt sind:
• Die Kräfte zwischen den Elementen des Systems abhängig von seiner inneren Energie, sowie
• der Einfluss der thermischen Energie, gekennzeichnet durch die Temperatur des Systems.
Die innere Energie entspricht bei Systemen, die aus vielen Teilchen bestehen, dem thermischen Mittelwert der Energiewerte der Teilchen. Wenn bei einer bestimmten Temperatur die innere Energie für eine neue Struktur kleiner ist als die für die aktuelle Struktur, so kann sich spontan die neue Struktur bilden. Diese Richtung der Selbstorganisation erzeugt in der Regel komplexere Strukturen und mehr Ordnung. Eine größere thermische Energie führt ab einer bestimmten Temperatur zu einer Auflösung der Ordnung und der Rückkehr zu den Elementen, oder zu einem System mit geringerer Ordnung.
Beispiel: Für flüssiges Wasser ist unter 0 °C das Eis die Struktur mit der geringeren inneren Energie, und das Wasser gefriert zu Eis. Die Energiedifferenz zwischen Wasser und Eis wird an die Umgebung abgegeben. Anschaulich kann man sich die freiwerdende Energie als Bewegungsenergie der Moleküle im Wasser vorstellen, denn im Eis sind die Moleküle an feste Plätze gebunden. Wenn das Eis schmelzen soll, muss es ausreichend warm sein, und die Bewegungsenergie der Wassermoleküle muss wieder aus der Umgebung zugeführt werden.
Man nennt die bei dieser Art der Selbstorganisation frei werdende Energie auch latente Wärme, weil die Temperatur des Systems sich bei der Abgabe oder Aufnahme dieser Energie nicht ändert.
Arten der Selbstorganisation
Es gibt viele unterschiedliche Arten der Selbstorganisation in der unbelebten und der belebten Welt. Bezogen auf den Energiehaushalt unterscheide ich drei Klassen:
1. Der Prozess verläuft im thermischen Gleichgewicht (vgl. Kap. 4), d.h. ohne Energieaustausch mit der Umgebung.
2. Mehr Ordnung oder Komplexität entsteht von allein, also ohne die Zufuhr von Energie von außen.
3. Die Entstehung von mehr Komplexität oder Ordnung benötigt Energie von außen.
Beispiele für die Selbstorganisation im thermischen Gleichgewicht sind die Entstehung der magnetischen Ordnung und die Supraleitung. Beispiele für die Entstehung von mehr Ordnung ohne die Zufuhr von Energie sind die Bildung der leichten Atomkerne bis zum Eisen, die Entstehung der Atome aus Kernen und Elektronen, die Wechsel der Aggregatzustände (kondensieren, erstarren) und exotherme chemische Reaktionen. Im Bild 2a sind diese beiden Arten schematisch dargestellt. Der Übergang zu mehr Ordnung ist durch den durchgezogenen Pfeil und der Übergang zu weniger Ordnung durch den gestrichelten Pfeil gekennzeichnet.
Bild 2a: Ablauf der Selbstorganisation in Fällen, in denen mehr Ordnung ohne Energiezufuhr entsteht. Eine ausreichend hohe Temperatur führt zu der Auflösung der Ordnung.
Beispiele für die dritte Klasse, bei der die Entstehung von mehr Komplexität und Ordnung Energie von außen benötigt, sind die Bildung der schweren Atomkerne jenseits vom Eisen, Konvektionsmuster in erhitzten Flüssigkeiten, der Laser, endotherme chemische Reaktionen, und vor allem die Entstehung und Entwicklung des Lebens und die geistigen Prozesse im Gehirn. Diese Prozesse sind nur weit entfernt vom thermischen Gleichgewicht möglich. Ein anschauliches Beispiel eines solchen Prozesses finden Sie im Kap. 14 beim Verhalten von Ameisen.
Im Bild 2b ist diese Art der Selbstorganisation schematisch dargestellt.
Bild 2b: Ablauf der Selbstorganisation in Fällen, die für mehr Komplexität und Ordnung die Zufuhr von Energie erfordern
Durch die Energiezufuhr können in einem System relativ stabile Zustände höherer Komplexität oder Ordnung entstehen, und bei mehreren konkurrierenden kollektiven Prozessen kann es einen Wettbewerb zwischen ihnen geben. Ich bringe später mit der sog. Bénard-Konvektion noch ein Beispiel dafür, bei dem wir schon in der materiellen Welt ein wenig Evolution mit Selektion begegnen.
Dynamik der Selbstorganisation
Der Übergang zu einer geänderten Struktur verläuft in der Regel nicht so einfach, wie es die Bilder 2a und 2b suggerieren, denn das System gerät an der Schwelle zur Selbstorganisation in einen kritische Zustand: Der Übergang zur geänderten Struktur muss ja irgendwo beginnen. Häufig beginnt die Selbstorganisation an sog. Keimen.
Beispiel: Die Kondensation von gasförmigem Wasser in der Atmosphäre zu Wassertropfen beginnt meist an Staubpartikeln, die als Kondensationskeime wirken.
Wenn aber keine Keime da sind, ist nicht vorhersagbar, wann und wo der Übergang zur geänderten Struktur beginnt. Mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit, vielleicht auch durch irgendeine kleine Störung, im Einzelnen aber nicht vorhersagbar, entstehen irgendwo erste Inseln mit der neuen Struktur. Sobald diese Inseln entstanden sind, wirken sie wie Keime und die Selbstorganisation geht von dort aus rasch weiter, manchmal sehr schnell oder sogar explosiv in Form einer sich selbst verstärkenden Kettenreaktion. Man sagt auch: Im kritischen Zustand verhält sich das System chaotisch, denn es gibt keine Korrelation zwischen den Details einer Störung und der Reaktion des Systems.
Beispiel: Der Zeitpunkt der Siedeverzugs-Explosion von Wasser mit einer Temperatur oberhalb des Siedepunkts ist nicht vorhersagbar.
Bemerkenswert ist auch, dass die Selbstorganisation oft eine bestimmte minimale Anzahl von Elementen bzw. eine minimale Größe des emergenten Systems erfordert, damit sie überhaupt stattfinden kann ([29] S.117). Man kann das damit plausibel machen, dass emergente Systeme eine sog. Fernordnung ausbilden, die unterhalb einer minimalen Größe nicht möglich ist.
Beispiel: Die Natrium- und Chloratome von Kochsalz sind alternierend in drei Dimensionen auf den Plätzen eines regelmäßigen Kristallgitters angeordnet. Mit einigen wenigen Atomen kann ein solches Gitter nicht aufgebaut werden.
Es ist erstaunlich, dass eine Fernordnung gebildet wird, obwohl die Kräfte nur eine kurze Reichweite haben, denn sie wirken meist nur zwischen benachbarten Elementen.
Der Ablauf der Selbstorganisation kann durch sog. Katalysatoren gestartet und beschleunigt werden, insbesondere in der Chemie und in der belebten Welt.
Beispiel: Bestimmte Enzyme beschleunigen sehr stark bestimmte Stoffwechselvorgänge in den Zellen (vgl. Kapitel 14).
Die selbstorganisierten Systeme zeigen, wie bereits erwähnt, völlig neue kollektive Eigenschaften und Fähigkeiten, die meist aus denen der Elemente nicht erklärbar sind. Die neuen Eigenschaften und Fähigkeiten werden deshalb „emergent“ genannt.
Beispiele: Die Festigkeit der Gegenstände unseres täglichen Lebens ist aus den Eigenschaften der einzelnen Atome nicht erklärbar, ebenso der Magnetismus von Eisen oder die Eigenschaften von Molekülen.
Zwischen selbstorganisierten Systemen mit neuen kollektiven Eigenschaften und emergenten Systemen kann es aber Unterschiede geben; die Begriffe haben nicht immer die gleiche Bedeutung.
Betrachten wir als Beispiel den elektrischen Schwingkreis: Man kann einen Schwingkreis aus einem Kondensator und einer Spule aufbauen. Der Schwingkreis hat neue Eigenschaften, die seine Elemente nicht haben: Er kann elektrische Schwingungen erzeugen oder verstärken. Insofern ist er ein emergentes System ([41] S.79). Die Eigenschaften des Schwingkreises können auf der Ebene der elektrischen Schaltelemente aus seinen Bauteilen (zu denen in der Regel noch ein elektrischer Widerstand gehört) relativ einfach analytisch berechnet und erklärt werden. Er kann aber nicht durchgängig von den fundamentalen Teilchen und Feldern her erklärt oder berechnet werden. Der Schwingkreis ist nicht selbstorganisiert, weil er zusammengebaut werden muss und nicht einfach durch schütteln der Bauteile entsteht.
Emergenz bedeutet nur, dass ein System neue Eigenschaften hat, die die Elemente nicht haben, frei nach Aristoteles: „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile“. Weitere Kriterien wie spontane Entstehung des Systems oder eine analytische Erklärbarkeit der neuen Eigenschaften spielen dafür keine Rolle ([41] S.74).
Die spontane Selbstorganisation ist in erster Linie ein zeitlicher Vorgang, ein Prozess, führt aber meist auch zu einer dauerhaften Struktur der Elemente des Systems. Sie hat also zeitliche und strukturelle Aspekte, die man ggf. unterscheiden muss. Ob ein System entsteht, und - falls es mehrere Alternativen gibt - welches, ist in der Regel abhängig von bestimmten äußeren Einflüssen wie Temperatur, Druck und ggf. anderen äußeren Bedingungen für das System.
Beispiele: Aus atomaren Gasen entstehen abhängig von der Temperatur Flüssigkeiten oder feste Körper, Ferromagnetismus gibt es nur unterhalb einer bestimmten Temperatur, unterschiedliche Lebewesen können sich abhängig davon entwickeln, ob ihre Umwelt Sauerstoff enthält oder nicht. Die Geometrie der Bénard-Konvektionszellen kann von der Form des Gefäßes abhängig sein (vgl. Kap. 8).
Es gibt Prozesse der Selbstorganisation, die so schnell verlaufen, dass für den Beobachter nur das Ergebnis, die geänderte Struktur, sichtbar wird, dazu gehören beispielsweise viele exotherme chemische Reaktionen. Bei anderen Vorgängen kann für einen Beobachter der zeitliche Verlauf im Vordergrund steht, beispielsweise bei der Entwicklung des Lebens.
Selbstorganisierte Systeme sind in der Regel selbst wieder Elemente der Selbstorganisation und können weitere übergeordnete Systeme bilden. Dadurch ergibt sich schließlich eine Hierarchie von selbstorganisierten Systemen, aus der letzten Endes unsere Welt aufgebaut ist.
Beispiele: Protonen, Neutronen und Elektronen organisieren sich zu Atomen, Atome organisieren sich zu Gasen oder Flüssigkeiten oder festen Körpern einerseits und Molekülen unterschiedlicher Komplexität andererseits, …, bestimmte komplexe Moleküle organisieren sich zu Systemen, die zur Selbstreproduktion in der Lage sind usw.
Ganz wichtig ist, dass die Prozesse der Selbstorganisation keinen festgelegten, deterministischen, immer gleichen Ablauf der Entwicklung in der Natur zur Folge haben. Welche Systeme spontan entstehen, hängt entscheidend von den Umständen bei ihrer Entstehung ab.
Beispiel: Ob bei einem Stern ein erdähnlicher Planet entsteht, mit Lebewesen ähnlich denen auf unserer Erde, hängt von vielen Faktoren ab: Welche Masse hat der Stern, in welchem Bereich einer Galaxie befindet er sich, hat er Gesteinsplaneten geeigneter Größe im passenden Abstand, hat ein solcher Planet einen geeigneten Mond usw.
Unsere heutige Welt und wir Menschen waren deshalb nicht das Ziel der Entwicklung, die seit Jahrmilliarden stattgefunden hat, sondern wir sind ihr Ergebnis. Nur weil es uns gibt, können wir überlegen, wie es dazu gekommen ist, dass es uns gibt. Es ist wenig sinnvoll, darüber zu spekulieren, wie die Entwicklung der Welt hätte verlaufen können, wenn die Naturgesetze oder physikalische Eigenschaften von Elementarteilchen ein wenig anders gewesen wären. Wir können davon ausgehen, dass die Naturgesetze, die wir kennen, ein stabiles Fundament unserer Welt sind, das sich auch mit zunehmender wissenschaftlicher Erkenntnis zwar verfeinern kann, aber nicht mehr grundsätzlich ändern wird.
Die Ergebnisse der Selbstorganisation sind auch wertfrei, d.h. weder gut noch schlecht. Sie bieten nur neue Möglichkeiten auf der Basis des jeweiligen emergenten Systems, die sich unterschiedlich auswirken können. Zu den neuen Möglichkeiten gehören übrigens bei den höheren Lebewesen auch moral-analoge Fähigkeiten, und beim Gehirn die geistigen Fähigkeiten, vgl. Kap. 14 und folgende. Die Hierarchie der emergenten Systeme bleibt also nicht im Materiellen stecken.
Beispiel: Die Möglichkeiten der modernen Technik wie Sprengstoffe, Maschinen, Kerntechnik, Gentechnik usw. kann man sowohl zu Nutzen als auch zum Schaden von Mensch und Umwelt einsetzen. Was jeweils geschieht, hängt ab von der Kompetenz, der Ethik und der Moral derjenigen, die die Technik anwenden.
Eine Selbstorganisation kann auf sehr unterschiedliche Weise stattfinden, z. B. zwischen gleichen oder verschiedenen physikalischen oder chemischen Objekten, in Symbiosen unterschiedlicher Arten von Lebewesen, als Ko-Evolution von Räuber und Beute, von Tierart und Umwelt, zwischen den Nervenzellen im Gehirn, den Menschen in der Gesellschaft, zwischen Medien und ihren Konsumenten usw. Wir werden viele dieser Beispiele kennen lernen. Wenn man unvoreingenommen auf die Welt schaut, stellt man fest: Die Selbstorganisation ist der Normalfall, und nicht die Ausnahme.
Phasenübergänge
Mit der Selbstorganisation ist ein Vorgang verbunden, der in der Physik als Phasenübergang bezeichnet wird. Er findet statt bei kritischen Werten der Parameter eines Systems, z. B. bei einer sog. kritischen Temperatur.
Beispiele: Wasser gefriert bei der kritischen Temperatur von 0 °C und wird zu Eis, unmagnetisches Eisen wird ferromagnetisch unterhalb der kritischen Temperatur von 768 °C.
Diese Übergänge geschehen, wenn sich äußere Bedingen wie Temperatur oder Druck für ein System ändern, und damit die eine oder andere Art der Selbstorganisation bzw. Struktur für die beteiligten Elemente energetisch vorteilhafter ist. Bei einem Phasenübergang ändern sich die Eigenschaften des davon betroffenen Systems.
Beispiel: Eis ist ein fester Stoff, Wasser eine Flüssigkeit und wenig komprimierbar, Wasserdampf ist ein Gas und gut komprimierbar.
Bild 3: Phasendiagramm von Wasser (schematisch und vereinfacht).
Am Siedepunkt (SP) kocht Wasser bei Normaldruck, am Tripelpunkt (TP) sind alle drei Aggregatzustände (Phasen) gleichwertig. Jenseits des kritischen Punktes (KP) gibt es keinen Unterschied mehr zwischen Wasser und Wasserdampf. Ungewöhnlich ist beim Wasser, dass der Schmelzpunkt von Eis mit steigendem Druck sinkt (rote gestrichelte Linie von TP nach links oben). Der Grund ist, dass Eis aufgrund seiner Kristallstruktur ein um etwa 10% größeres Volumen hat als Wasser, weil die Wassermoleküle im Eis einen etwas größeren mittleren Abstand haben als im Wasser (vgl. Kap. 12). Eis hat deshalb eine geringere Dichte als Wasser und schwimmt auf dem Wasser.
Die mit höherer Temperatur verbundene thermische Unordnung wirkt, wie schon erwähnt, der emergenten Ordnung entgegen. Der Druck dagegen bewirkt tendenziell stärker geordnete Strukturen, weil diese meist weniger Platz brauchen. Beim Wasser ist es aber anders, und das ist wichtig in der Natur.
Ein Phasenübergang ist verbunden mit sprunghaften Änderungen oder anderen Anomalien von physikalischen Größen wie Volumen, Energieinhalt oder Wärmkapazität, und begleitet von kritischen Zuständen, denn er ist ja nur eine andere Sicht auf die Selbstorganisation. Das gilt übrigens auch umgekehrt: Ein sprunghafter, scharf abgegrenzter Phasenübergang ist ein eindeutiges Zeichen für spontane Selbstorganisation (sog. Emergente Exaktheit; ([22] S. 72, und [23]).
Beispiele: Eis schmilzt, abhängig vom Druck, bei einer genau definierten Temperatur; Glas (eine unterkühlte Flüssigkeit) wird über einen breiten Temperaturbereich hinweg langsam weicher. Glas fließt übrigens auch bei normaler Temperatur noch ganz, ganz langsam; man hat beobachtet, dass die Gläser in Bleiglasfenstern, die einige hundert Jahre alt sind, unten etwas dicker sind als oben.
Für einen Phasenübergang wird oft auch die Bezeichnung Symmetriebruch verwendet; ich werde ihn später an einem Beispiel erläutern.
Weltbild mit oder ohne Emergenz?
Die mathematischen Ansätze in der Physik und in den Naturwissenschaften reicht zum Verständnis der Welt nicht aus. Die analytische Ableitung von Strukturen und Eigenschaften der Systeme aus denen ihrer Elemente gelingt nur in ganz seltenen Fällen. Ein extremes Beispiel in dieser Hinsicht ist die Suche nach einer einzigen, alles erklärenden Theorie wie die der „Weltformel“. Selbst in der sog. klassischen Physik gibt es nicht eine einzige Theorie für den gesamten Bereich, sondern einen Aufbau von Systemen über- und nebeneinander, mit jeweils eigenen Theorien;
Beispiele: Theorien für Atome oder Moleküle, Gase oder Flüssigkeiten oder feste Körper. Für jede dieser Schichten bzw. Systeme gibt es eine Vielfalt von unterschiedlichen Theorien und Gesetzen (z.B. Gesetze für Ideale Gase, Strömungslehre für Gase und Flüssigkeiten, Elektromagnetismus, Festkörperphysik, Halbleiterphysik usw.)
Man muss sich offenbar die Welt generell als Hierarchie von selbstorganisierten Systemen vorstellen, die zwar alle direkt oder indirekt den fundamentalen Naturgesetzen gehorchen, für die aber exakte theoretische Beschreibungen meist nicht entwickelt werden können, selbst wenn es sich um eigene, sozusagen „regionale“ (system-lokale) Gesetze handelt. Und diese Welt entwickelt sich auch noch ständig weiter, sie ist auf allen Ebenen im Fluss.
Für eine übersichtliche Bestandsaufnahme der existierenden theoretischen Beschreibungen der Systeme und um sie als Alternativen zur Selbstorganisation bewerten zu können, verwende ich folgende Klassifikation:
• Exakt: Es gibt eine Theorie für Struktur und Eigenschaften des Systems mit Lösungen, die das Zusammenwirken der Elemente analytisch und quantitativ mit bekannten Funktionen der Mathematik beschreiben.
• Näherungsweise: Es gibt eine Theorie des Systems, aber Lösungen für Struktur und Eigenschaften sind nur numerisch durch Störungsrechnungen oder mit Hilfe von Simulationen im Computer berechenbar.
• Empirisch: Es sind nur Hypothesen oder modellhafte Beschreibungen des Systems oder bestimmter Teilaspekte aufgrund der Beobachtungen des Systems möglich.
Abhängig vom betrachteten System sind auch differenzierte Aussagen möglich, z.B. „in einfachen Fällen exakt, sonst näherungsweise“ usw.
Beispiele:
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Die Gesetze der Newtonschen Mechanik sind exakt nur für makroskopische Modelle lösbar, Und nur für die Bewegungen von zwei makroskopischen Körpern, und in Spezialfällen auch für drei Körper, ansonsten aber nur näherungsweise. In der Welt der Atome gelten sie beispielsweise nicht.
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Für die theoretische Beschreibung der Atomkerne gibt es nur empirische Modelle.
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Die Quantentheorie hat genau berechenbare Lösungen nur für das einfache Wasserstoffatom. Näherungsweise kann sie mit Hilfe heutiger Computer für Systeme von max. etwa 10 Quantenteilchen gelöst werden [23].
Wir werden beispielsweise sehen, dass es bereits für die Moleküle in der Ebene der Chemie keine exakten Theorien mehr gibt, und deshalb auch nicht in allen Ebenen oberhalb der Chemie.
Diese Bestandsaufnahme soll die Kraft der Naturgesetze und die Allgegenwart der Selbstorganisation aufzeigen, und die Tatsache, dass es nur wenige exakte Theorien gibt, selbst in der Physik. Damit sollen zu hohe Ansprüche an Theorien in anderen Bereichen der Wissenschaft relativiert werden, die auch heute noch die Gültigkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse in Frage stellen können [46]. Es gab übrigens schon während der Entwicklung des Atommodells und der Quantentheorie im 20. Jahrhundert Diskussionen darüber, ob die Realität die begrenzte Anschauung der Menschen überfordert oder nicht. Albert Einstein beispielsweise meinte, die Physiker müssten ein komplettes geistiges Abbild der Realität zustande bringen, Nils Bohr hingegen glaubte, dass sie das nicht schaffen. Er schlug vor, sich auf Vorhersagen auf der Basis der Beobachtungen und Messungen zu beschränken. Von Stephen Hawking gibt es die Aussage, physikalische Theorien seien nur von uns konstruierte mathematische Modelle, und es sei nicht sinnvoll zu fragen, ob sie der Wirklichkeit entsprechen, sondern nur, ob sie die Beobachtungen richtig wiedergeben und vorhersagen können.
Zur Selbstorganisation aus Sicht der Erkenntnistheorie möchte ich noch Folgendes ergänzen: Da bei der Selbstorganisation den Beobachtungen der Natur und den Experimenten eine entscheidende Rolle zukommt, werden manche Erkenntnistheoretiker vielleicht fragen, „wie wirklich denn die Wirklichkeit ist“? Die Hauptfrage der Erkenntnistheorie ist ja die nach dem Grund und dem Grad der Übereinstimmung von Erkenntnis- und Realkategorien. Es gibt dazu aber auch im Bereich der Erkenntnistheorie nicht nur spitzfindig-theoretische, sondern auch pragmatische Antworten:
• Schon Emmanuel Kant, der meist mit dem „Ding an sich“ zitiert wird, das wir nicht erkennen können, hat nicht nur das gesagt. In der Prolegomena zu jeder künftigen Metaphysik . hat er beispielsweise geschrieben: „Alle Erkenntnis von Dingen, aus bloßem reinen Verstande, oder reiner Vernunft, ist nichts als lauter Schein, und nur in der Erfahrung liegt die Wahrheit“.
• Nach der Evolutionären Erkenntnistheorie sind Raum und Zeit Erkenntnisstrukturen, die sich in der Evolution in Anpassung an die Realität herausgebildet haben. Sie sind deshalb sehr wahrscheinlich auch Strukturen der Realität. Dadurch sind die Phänomene in der Welt, die wir erkennen, nicht bloße Erscheinungen, sondern gelten als reale Objekte.
• Im Wissenschaftlichen Realismus beziehen sich die Begriffe einer Theorie auf reale, existierende Objekte. Der praktische Erfolg der Theorien begründet dann, dass es eine Realität gibt und dass die Theorien diese Realität zumindest teilweise richtig beschreiben.
Wenn der Aufbau der Welt aus einer Hierarchie von selbstorganisierten Systemen in den wesentlichen Punkten durchgängig nachgewiesen werden kann, braucht man weder ein höheres Wesen, um die Lücken dieses Weltbildes zu füllen, noch spekulative Einflüsse von anderen Welten im All.
In den folgenden Abschnitten wird die emergente Sicht der Welt mit mehr Details und an vielen Beispielen erläutert, und soweit möglich ohne Formeln. Die Beschreibung ist auch bewusst kurz gehalten: Viele wichtige oder interessante Aspekte habe ich weggelassen, damit die Darstellung ausreichend übersichtlich und kompakt bleibt. Die Selbstorganisation wird dabei – abhängig vom Fachgebiet – mit unterschiedlichen Begriffen bezeichnet: Symmetriebruch, Phasenübergang, Kondensation, Kristallisation, Rückkopplung, Kettenreaktion, Polymerisation, Evolution, Symbiose, Ko-Evolution usw. Es handelt sich aber immer um das gleiche Prinzip. Wer tiefer in den Stoff eindringen will oder etwas in der Beschreibung nicht versteht, dem seien die im Anhang angegebenen Bücher sowie die Artikel zu den entsprechenden Stichworten in Wikipedia empfohlen.
3. Weltall und Sterne
Nach der Hypothese vom Urknall ist die Welt vor 13,8 Mrd. Jahren aus purer Energie entstanden, und es bildeten sich in komplexen selbstorganisierten Prozessen Teilchen, Felder, leichte und schwere Atomkerne, Atome, Moleküle, Sterne und Planeten.
Der Urknall und die Entstehung der Welt
Nach der Hypothese vom Urknall ist unsere Welt vor ca. 13,8 Mrd. Jahren aus einer punktförmigen Zusammenballung von unvorstellbar viel Energie in einem unvorstellbar kleinen Raum mit unvorstellbar hoher Temperatur entstanden. Es gab am Anfang noch keine Materie, und man glaubt, dass die fundamentalen Kräfte noch in einer Art Urkraft vereinigt waren. Die geballte Energie hat sich dann aber rasch ausgedehnt, zusammen mit dem Raum, dabei abgekühlt und gleich einige Schritte der Selbstorganisation durchlaufen:
Nach etwa 10-30 Sekunden bildeten sich aus der Energie spontan die fundamentalen Teilchen, die u-Quarks, d-Quarks, Elektronen und Neutrinos, sowie deren Antiteilchen. Wegen der hohen Temperaturen entstanden zuerst die Familie-3-Teilchen und erst später die Teilchen der Familien 2 und 1, denn die Energie der Teilchen wird in von der Familie-3 zur Familie-1 hin geringer. Außerdem entstanden gleichzeitig schrittweise die Felder der fundamentalen Kräfte. Wichtig war in dieser ersten Phase vor allem die starke Kernkraft mit ihren Feldteilchen, den Gluonen. Alle diese Zutaten bildeten eine Art äußerst heiße „Suppe“, in der Fachsprache Quark-Gluonen-Plasma genannt.
Das ist schon eine große Überraschung: Aus purer Energie entstehen plötzlich Teilchen und damit als deren neue, emergente Eigenschaft die Materie! Wie dieser erste Schritt der spontanen Selbstorganisation verlaufen ist, ist nicht genau bekannt. Die riesigen Energien sind heute auch mit den größten Teilchenbeschleunigern nicht erreichbar. Ein Modell wie bei der Kondensation von Wassertropfen aus übersättigter Luft ist damit jedoch nicht vergleichbar, denn in der Luft sind die Wassermoleküle ja schon vorhanden. Obwohl … wir werden im Kap. 10 sehen, dass der leere Raum, das Vakuum, nicht so leer ist, wie man landläufig denkt. Das Vakuum enthält sog. virtuelle Elementarteilchen, denn diese können dort unter bestimmten Bedingungen „aus dem Nichts“ entstehen.
Etwa 10-6 Sekunden nach dem Urknall und weiterer „Abkühlung“ (die Temperatur bzw. die Energiedichte ist immer noch unvorstellbar hoch) vereinigten sich jeweils drei Quarks aufgrund der starken Kernkräfte zwischen ihnen spontan zu Protonen und Neutronen, sowie wahrscheinlich deren Antiteilchen. Jetzt wird es schon anschaulicher: In den Begriffen der Selbstorganisation sind die Quarks die Elemente, die Starke Kernkraft entspricht der Wechselwirkung und die Nukleonen sind die emergenten Systeme. Sobald die Temperatur des Alls der Bindungsenergie der Quarks in den Nukleonen entspricht, beginnt die kritische Phase, in der sich irgendwo Nukleonen bilden können. Beispielsweise dort, wo die Temperatur aufgrund von statistischen Schwankungen etwas kleiner ist. Außerdem bildeten sich Elektronen, Neutrinos und noch viele andere Elementarteilchen mit hoher Energie. Im Ergebnis sind das ganz neue Strukturen mit neuen Eigenschaften.
Man geht übrigens davon aus, dass die elektrische Ladung im Weltall in Summe von Anfang an gleich Null war und heute noch ist. Es gab also im Mittel genau so viele positive wie negative Ladungen, von denen heute im wesentlichen Protonen und Elektronen übrig geblieben sind. Wie das Schicksal der Antiteilchen gewesen ist, weiß man bisher nicht so genau. Sie sind anscheinend aufgrund bestimmter Asymmetrien zwischen Teilchen und Antiteilchen „ausgestorben“. Antiteilchen werden heute nur noch vereinzelt als Produkte von Kernprozessen bei hoher Energie beobachtet. Sie werden aber sehr schnell wieder zu elektromagnetischer Strahlung, also purer Energie, wenn sie auf das ihnen entsprechende Teilchen treffen.
Nach etwa 10 Sekunden hatten Temperatur und Energiedichte im jungen Weltall soweit abgenommen, dass sich Protonen und Neutronen (als „Elemente“) spontan zu ersten einfachen Atomkernen wie Deuterium, Helium und Lithium (den „Systemen“) zusammenfinden konnten. Die Vereinigung passierte bei Zusammenstößen zwischen den Teilchen, und man nennt diesen Vorgang Fusion. Die „Wechselwirkungen“ dabei waren die Starke und die Schwache Kernkraft und die Elektromagnetische Kraft. Die Fusion ist ein delikater Prozess, denn die Energie bei den Zusammenstößen muss hoch genug sein, damit sich z.B. die positiv geladenen Protonen, die sich ja gegenseitig abstoßen, zu Heliumkernen vereinigen können (diese bestehen aus zwei Protonen und zwei Neutronen), aber auch niedrig genug, dass die entstandenen Atomkerne nicht gleich wieder durch weitere heftige Zusammenstöße mit anderen Atomkernen oder Nukleonen zerfallen.
Es gab noch eine zweite Schwierigkeit bei der Entstehung der einfachen, der sog. „leichten“ Atomkerne: Die Lebensdauer der Kerne. Wenn ein bestimmter Kern durch Fusion entstanden ist, ist er meist instabil und zerfällt nach einiger Zeit wieder in andere stabile oder instabile Kerne (einige Details dazu finden Sie im Kap. 5). Wenn dieser Zerfall zu schnell erfolgt, gibt es für diese Art Kern kaum eine Chance, durch weitere Zusammenstöße andere Kerne zu erzeugen, und die Entstehung schwererer Kerne wird an dieser Stelle blockiert. Das ist speziell der Fall bei der Erzeugung des nächst schwereren Kerns nach Helium, dem Lithium: Sowohl Lithium mit zwei Neutronen als auch Helium mit drei Neutronen ist äußerst instabil und zerfällt nach weniger als 10-10 Sekunden. Und für die stabilen Kerne von Lithium mit 3 oder 4 Neutronen gibt es von Helium aus keine einfache Kernreaktion. Deshalb haben sich zu dieser Zeit im Weltall praktisch keine Lithiumkerne gebildet, und wegen dieser Blockade auch keine noch schwereren Kerne.