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Der Krieg gegen die Hexen hat die Anderswelt gespalten, und Helias Grausamkeit kennt keine Grenzen. Irma und Iven konnten der Herrscherin des Kaltengrims und ihren Handlangern zwar um Haaresbreite entkommen, doch der Preis dafür war hoch. Um dem schwer verwundeten Iven zu helfen, bleibt Irma keine Wahl: Sie muss sich mit den gefürchteten Hexen verbünden. Derweil sind Helias Bestien weiter auf der Jagd, gnadenlos und unaufhaltsam. Kann es Irma gelingen, das Geheimnis der Wolfsmänner aufzudecken und sie zu stoppen? Auch Irmas Familie ist in großer Gefahr. Corvus, Helias Henker und Mörder von Irmas Mutter, behält die Wolfswacht im Auge. Anselm und Klara-Luise müssen einen Weg finden, ihn auszuschalten. Was sie nicht ahnen: Die Konfrontation mit ihm hebt ihre Welt aus den Angeln.
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Seitenzahl: 574
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Der Krieg gegen die Hexen hat die Anderswelt gespalten, und Helias Grausamkeit kennt keine Grenzen. Irma und Iven konnten der Herrscherin des Kaltengrims und ihren Handlangern zwar um Haaresbreite entkommen, doch der Preis dafür war hoch. Um dem schwer verwundeten Iven zu helfen, bleibt Irma keine Wahl: Sie muss sich mit den gefürchteten Hexen verbünden. Derweil sind Helias Bestien weiter auf der Jagd, gnadenlos und unaufhaltsam. Kann es Irma gelingen, das Geheimnis der Wolfsmänner aufzudecken und sie zu stoppen?
Auch Irmas Familie ist in großer Gefahr. Corvus, Helias Henker und Mörder von Irmas Mutter, behält die Wolfswacht im Auge. Anselm und Klara-Luise müssen einen Weg finden, ihn auszuschalten. Was sie nicht ahnen: Die Konfrontation mit ihm hebt ihre Welt aus den Angeln.
Leo Hirsch, geboren 1996, begeistert sich seit ihrer Kindheit für Magie und fantastische Welten. Wenn sie nicht gerade in ihren Tagträumen versinkt, widmet sie sich dem Zeichnen oder besucht Festivals und Konzerte. Die Magikk-Saga ist ihr Herzensprojekt und zugleich ihr Romandebüt. Auf TikTok findet man sie unter @_leo.hirsch, auf Instagram unter @_leo.hirsch.schreibt.
Für alle, die ihren Platz in dieser Welt noch suchen.
Wechselbalg
Auf Hühnerbeinen
Teil 1 : Hühnerbeine
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Teil 2 : Erlösung
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Teil 3 : Neumond
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Epilog
Lóng
Ker
Isobel Sinclair wusste schon lange, dass sie die Elfen fürchten sollte.
Sie waren hinterhältige Wesen.
Unachtsamen Menschen stahlen sie ihre gesunden Kinder und schoben ihnen stattdessen dreist ihre eigenen Nachkommen unter. Kranke, hässliche und abscheuliche Kreaturen, die nichts als Leid und Unglück brachten. Manch einer munkelte sogar, statt der Elfen habe der Teufel höchstpersönlich seine Finger im Spiel und hole sich ungetaufte Kinder.
Nun, anscheinend hatte Isobel ihr Kind zu spät taufen lassen. Denn sie zweifelte nicht mehr: Sie war sich sicher, nicht ihr eigenes Kind in den Armen zu halten.
Sie war mit einem Wechselbalg bestraft worden.
Anders, als sie es aus den Geschichten kannte, war dieser Junge allerdings ruhig, brav und wunderschön. Sein Haar glänzte blauschwarz, seine Ohren endeten in fein zulaufenden Spitzen, und er hatte große, wachsame Augen, die funkelten wie die edelsten Smaragde.
Er wäre bezaubernd, würden nicht diese Unglücke passieren.
Als Isobel den schrecklichen Tausch bemerkte, hatte sich der Gestank nach Fäulnis und Verwesung bereits in ihre Nase gebrannt. Zuerst hatte sie die Amme tot aufgefunden, kurz darauf war Isobels Mann verstorben. Bedienstete waren bei lebendigem Leib verrottet.
Trauer, Angst und Verzweiflung drohten die junge Mutter in den Wahnsinn zu treiben. Isobels Arme zitterten, als sie das kleine Bündel über den Rand des Brunnens hob. Bevor sich ihre verkrampften Finger von dem friedlich schlafenden Kind lösen konnten, erschien ihr jedoch ein mächtiger Engel mit schillernd goldenem Haar. Seine Augen loderten wie Feuer, und ein Heiligenschein aus gleißendem Sonnenlicht umgab sein Haupt.
Der Erzengel versprach Isobel, sie von dem teuflischen Kind zu befreien.
»Sag mir, auf welchen Namen hast du die Kreatur getauft?«, wollte die Botin Gottes wissen.
Dann nahm sie das Kind aus den Armen der dankbaren Witwe und erlöste sie von der Bürde des Wechselbalgs.
Die Sonnenstrahlen kitzelten ihr Stupsnäschen. Es war ein herrlicher Spätsommertag. Die Hummeln und Bläulinge tanzten auf der Lichtung, während die Gräser und Blumen sich sacht im Wind wiegten. Es war ruhig. Verdächtig ruhig. Sie ließ ihren Blick über das satte Grün wandern. Was war es, das ihre Aufmerksamkeit erregt hatte? Sie spitzte angestrengt die langen Ohren, doch außer dem sanften Rascheln der Gräser im Wind konnte sie nichts hören.
Dann sah sie ihn!
Sie hoppelte zu dem Fuchs, dessen rotes Fell sie zwischen den Gräsern hatte aufblitzen sehen. Als sie ihn erreichte, hielt sie verdutzt inne. Seine Vorderläufe endeten in den Krallen eines Huhns. Als sie die groteske Erscheinung betrachtete, konnte sie Baba Jagas gackerndes Lachen hören.
Irma fühlte sich, als wäre ihr Kopf unter Wasser. Sie hörte zwar gedämpfte Stimmen, konnte aber weder verstehen, wer sprach, noch, was gesagt wurde.
Sie wusste nicht mehr, wo sie war.
Sie wusste auch überhaupt nicht mehr, wer sie war.
Und es war ihr egal.
Irma wollte gar nichts davon wissen. Der Ellbogen, den ihr ihre Cousine grob in den Oberarm rammte, holte sie allerdings schnell wieder zurück ins Hier und Jetzt.
»Hallo, Erde an Irma«, meckerte Klara-Luise kopfschüttelnd und fuchtelte dabei mit ihrer Hand vor Irmas Gesicht herum.
Die beiden saßen gemeinsam mit Anselm, Kenna und Grada am Esstisch in der Wohnküche der Wolfswacht. Irma bemerkte verwirrt, dass sie noch immer einen Löffel des Gemüseeintopfs in der Hand hielt, den Grada mit Anselm zubereitet hatte. Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann sie in ihrer Bewegung innegehalten hatte. Es war nicht das erste Mal, dass Irma plötzlich den Bezug zur Realität verlor. Manchmal kam es ihr so vor, als wollte irgendetwas in ihr sie davor bewahren, sich den schrecklichen Ereignissen zu stellen, die sie bisher so erfolgreich verdrängte.
»Entschuldigung. Was?«, nuschelte Irma.
»Möchtest du noch etwas?«, wollte Grada geduldig wissen und deutete auf den Topf in der Mitte des Tisches.
Irma schüttelte den Kopf. Sie hatte ihre Portion Eintopf sowieso kaum angerührt. So senkte sie den Löffel und schob den Teller beiseite. Auch wenn sie keinen weiteren Bissen hinunterbekam, war sie Grada dankbar für ihre Fürsorge.
Gemeinsam mit ihrer Tochter Kenna reiste Grada täglich mittels des kleinen türkisfarbenen Kristalls aus der Eishöhle in die Wolfswacht. Die zwei versorgten sie mit Lebensmitteln, da Irma, ihre Familie und Iven bis auf Weiteres hier gefangen waren. Wächter des Kaltengrims belagerten noch immer das alte Familienhaus und warteten nur darauf, sie in die Finger zu bekommen und anschließend an Helia, die Herrin des Kaltengrims, auszuliefern. Auch Anselm und Klara-Luise wagten es nicht, die Wolfswacht zu verlassen. Zwar lautete das höchste Gebot der Wächter, alle Menschen zu beschützen, doch Irma hatte vor wenigen Wochen die magische Blockade aufgelöst, die Baba Jaga vor vielen Jahren auf die Mitglieder der Familie Wolf gelegt hatte. Die Kaltengrimmagikk, die sie als Erbe ihres Vaters in sich trugen, war nun nicht mehr verborgen, sondern deutlich spürbar. Und als Anderswesen, die ihnen bei der Flucht geholfen hatten, galten die Geschwister möglicherweise genauso als Hochverräter wie Irma oder Iven.
Irma fragte sich, wie lange sich Anselm und Klara-Luise wohl noch im Café Haderlump und dem Gymnasium von Birkenhain krankmelden konnten, bevor jemand vor der Haustür der Wolfswacht stehen würde, um nach dem Rechten zu sehen. Wie sollten sie ihre Situation dann erklären?
Wir schweben in Lebensgefahr, da die Herrscherin des Kaltengrims und selbst ernannte Sonnengöttin stinksauer auf uns ist. Ansonsten geht es uns super.
Das wäre natürlich gelogen, denn es ging ihnen alles andere als super. Tatsächlich wurden sie lediglich durch die Magikk der Wolfswacht, die jede einzelne Holzdiele durchzog, vor Helias Zorn bewahrt. Keinem Anderswesen war es möglich, das alte Familienhaus ohne Erlaubnis seiner Bewohner zu betreten. Damit war die Wolfswacht einerseits ein sicherer Zufluchtsort, für den sie alle dankbar waren, doch andererseits hatte sie sich in der letzten Zeit in ein Gefängnis verwandelt.
Die Wochen waren ins Land gezogen, und ein heißer, trockener Sommer hatte den Frühling abgelöst. Keiner und keine von ihnen konnte die warmen Sonnenstrahlen bisher auf der Haut spüren, und Irma hatte keine Ahnung, wann sie das nächste Mal die Gelegenheit dazu bekommen würden. Sie waren abgeschottet von der Außenwelt. Und egal, wie sehr sie sich den Kopf darüber zerbrach, Irma wollte kein Plan für die Zukunft einfallen. Sie wusste weder, wie es weitergehen sollte, noch, ob es überhaupt weitergehen konnte.
Die Wolfswacht stand ununterbrochen unter Beobachtung, offenbar war Helia geduldiger als Irma und ihre Mitstreiter. Immer wieder warfen sie nervöse Blicke aus den Fenstern. Auch wenn sie keine Wächter sahen, konnte Irma sie ganz nah spüren.
Viel zu oft nahm sie auch die Seeliemagikk von Corvus wahr, und ein beklemmendes Gefühl hatte sich auf ihre Brust gelegt. Helias Henker ließ sich nicht blicken, sicherlich wartete er in seiner Krähenform versteckt in den Baumkronen am Rande des Kaltengrims. Der Hass auf den Mörder ihrer Mutter loderte in Irma, und die Furcht um den Rest ihrer Familie sorgte dafür, dass sie meist durch die Wolfswacht tigerte wie ein Raubtier hinter Gittern.
Manchmal fühlte es sich für Irma so an, als wären sie dazu verdammt, auf das Hereinbrechen der Katastrophe zu warten. Und sie hatten keine Möglichkeit, sich auf diesen Moment vorzubereiten. Irma versuchte zwar, ihren Körper weiterhin für den Kampf in Form zu halten, doch wenn sie ehrlich zu sich war, würden ihr die Klimmzüge, die sie an der knarzenden Holztreppe absolvierte, herzlich wenig nützen, sollten die Wächter irgendwann eine Möglichkeit finden, in die Wolfswacht zu gelangen.
Oder sie aus ihr herauszutreiben.
Bis ihnen eine andere Lösung einfiel, kümmerten sich also Grada und Kenna um sie. Die beiden Frauen versorgten sie nicht nur mit Essen, sie hatten auch Iven in den ersten Tagen nach der Flucht gesund gepflegt. Grada hatte ihren halben Kräutergarten aus der Eishöhle angeschleppt, und das Wohnzimmer stand mittlerweile voll mit Blumenkübeln, deren Inhalt sie für ihre erstaunliche Heilmagikk brauchte. Irma konnte das Ausmaß ihrer Dankbarkeit kaum in Worte fassen. Sie wusste nicht, was sie ohne die beiden getan hätten.
Im Gegensatz zu Grada konnte ihr Partner Glen nicht so einfach mittels des Kristalls in die Wolfswacht reisen. Er hatte es nur ein einziges Mal gewagt, sich ihr zu nähern, kurz nachdem Irma Iven aus dem Feuerberg befreien konnte. Bei diesem riskanten Unterfangen hatte er Selmas Asche zurückgebracht. Oder besser gesagt den kläglichen Rest, der noch nicht vom Wind verstreut worden war.
Irma schob die Gedanken an das Holzkästchen, das Anselm im Wohnzimmer verstaut hatte, energisch beiseite. Bis es eine Gelegenheit gab, die Überreste ihrer Mutter zu begraben, wollte Irma nicht darüber nachdenken.
Überhaupt wollte Irma nicht über den Verlust ihrer Mutter nachdenken.
Sie konnte gar nicht darüber nachdenken, schließlich musste sie die Fassung bewahren. Sie musste tapfer sein.
Ich muss mich verdammt noch mal am Riemen reißen, Iven zuliebe.
Grada hatte Iven nach ein paar Tagen des Komas zurückholen können. Es war wirklich schade, dass es Glen damals nicht möglich gewesen war, bei ihnen zu sein. Er wäre wahrscheinlich der Einzige gewesen, mit dem Iven gesprochen hätte. Vielleicht hätte Glen ihn in diesen ersten Stunden beruhigen oder trösten können. Grada und Kenna behandelten zwar seine Wunden, sprachen ihm gut zu und versuchten, ihm bei allem zu helfen, was er durch die Amputation nicht mehr selbst konnte, doch Iven machte es ihnen nicht leicht.
Er machte es niemandem leicht.
Das war auch der Grund, weshalb er nicht mit am Esstisch saß.
»Du musst aber etwas essen«, hatte die sonst so ruhige Grada frustriert mit ihm geschimpft. »Du musst zu Kräften kommen.«
»Ich werde mich nicht an diesen Tisch setzen und von dir füttern lassen, Grada«, hatte Iven geknurrt.
Mit seinen drohend blitzenden Fängen erinnerte er Irma in letzter Zeit auch in seiner menschlichen Form an ein verwundetes Raubtier.
»Ich will mir nicht das Mitleid ansehen, das ihr euch nicht aus den Gesichtern wischen könnt. Und ich will nichts essen, wenn ich es selbst nicht kann.«
Irma befürchtete allmählich, Iven würde diese Drohung tatsächlich wahr machen und sich aus Stolz und Trotz lieber zu Tode hungern, als sich helfen zu lassen. Es sähe ihm jedenfalls ähnlich.
Viel zu schnell war Irmas Erleichterung darüber, dass Iven überlebt hatte, der Realität gewichen. Er war vielleicht nicht durch Helias Sonnenfeuer gestorben.
Sie hatte ihm dennoch sein Leben genommen.
Die ersten Tage nach ihrer Flucht war Irma nicht von Ivens Seite gewichen. Als hätte sie Angst gehabt, er würde verschwinden, sobald sie ihn aus den Augen ließ. Unermüdlich hatte sie neben ihm gewacht, mit seinem Haar gespielt und ihm, auch wenn er es in dem Schlafzustand, in dem er sich dank Grada befand, nicht hören konnte, wieder und wieder gut zugeredet. Sie hatte sich einzig und allein darauf konzentriert, dass er noch am Leben war.
Nur so hatte sie den hohen Preis verdrängen können, den auch sie dafür gezahlt hatte. Irma hatte sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht eingestanden, dass sie Kian, ihren besten Freund, womöglich niemals wiedersehen würde. Sie hatte sich noch nicht eingestanden, dass ihre Mutter nie wieder gut gelaunt ins Wohnzimmer tänzeln und eine Elvis-Presley-Schallplatte auflegen würde. Dass sie Irma nie wieder einen Kuss auf die Stirn drücken und sie ihren kleinen Mondhasen nennen würde. Irma hatte sich einzig und allein an den Gedanken geklammert, dass Iven bald wieder seine sturmgrauen Augen öffnen würde.
Grada hatte nach einigen Tagen beschlossen, Iven aus seiner Ohnmacht zu wecken. Sie hätte ihm gerne die Schmerzen erspart und seine Wunden weiter heilen lassen. Doch Iven, der schon oft genug unter Beweis gestellt hatte, wie zäh er war, sah immer kränklicher aus. So stark Gradas Magie auch war, die Wolfswacht konnte keine voll ausgestattete Intensivstation ersetzen. Iven musste aufwachen und versorgt werden.
Irma hatte nervös beobachtet, wie Grada rote Beeren aus ihrem kalksteinfarbenen Haar zog und an Ivens Schläfen drückte. Genau wie damals, als sie ihn in seinen Schlaf versetzte, hatte sie ihre wunderbare Magikk knistern lassen.
Als Iven seine Augen öffnete, war Irmas Herz vor Erleichterung beinahe stehen geblieben. Doch ihre Freude hatte nur wenige Augenblicke angehalten. Ivens Blick war zuerst orientierungslos in alle Richtungen geflackert, dann hatte er versucht, sich mithilfe seiner Arme aufzusetzen.
Besser gesagt mit dem, was davon übrig ist.
Schmerz, Verwirrung, Erkenntnis und anschließend Entsetzen. Den raschen Wechsel seiner Mimik würde Irma wohl niemals aus ihrem Gedächtnis löschen können. Sie selbst hatte sich in den Tagen davor zumindest im Ansatz auf die schwere Zeit vorbereiten können, die nun auf sie zukommen würde.
Iven nicht.
Grada hatte gar nicht erst die Chance gehabt, etwas Beruhigendes zu ihm zu sagen, und es hätte sicherlich auch nichts gebracht.
»Was habt ihr getan?«
Ivens Stimme war noch kratziger gewesen, als Irma sie in Erinnerung hatte, und sein Flüstern so heiser, dass sie ihn kaum verstanden. Er konnte sich noch daran erinnern, dass sie es in die Wolfswacht geschafft hatten. Er konnte sich an den Moment erinnern, kurz bevor Grada ihn in die Ohnmacht versetzt hatte.
»Es gab keine andere Möglichkeit, Iven. Das Sonnenfeuer hatte sich schon ausgebreitet«, hatte Irma versucht zu erklären und mit aller Kraft die Tränen weggeblinzelt, die ihr in den Augen brannten.
Reiß dich zusammen, du musst jetzt tapfer sein. Für euch beide.
Als sie sich zu Iven gekniet und die Hand nach ihm ausgestreckt hatte, hatte er sich aufgesetzt. Trotz des Schmerzes, der seine Gesichtszüge kurz zum Entgleisen brachte, hatte er ihr drohend seine Fänge gezeigt und sich mit seinen Beinen so weit von Irma weggeschoben, wie es ihm in dem Moment möglich war.
»Fass mich nicht an!«
Irmas Hand war in der Luft erstarrt und ihre Brust hatte sich angefühlt, als wäre ihr Herz in tausend Stücke zerbrochen. Die Scherben machten ihr das Atmen noch immer schwer.
Sie wollte nichts anderes, als Iven in die Arme zu nehmen. Sie wollte ihn trösten und ihm versichern, dass alles gut werden würde. Sie wollte ihm sagen, dass sie froh darüber war, dass er überlebt hatte. Egal wie.
Doch Irma hatte nichts davon getan, denn er hatte es nicht zugelassen. Als seine Nasenflügel vor Zorn bebten und seine Atmung schwer und unregelmäßig wurde, schien es, als würde er vollkommen die Fassung verlieren. Vielleicht wäre das auch richtig gewesen, und Irma hätte es ertragen. Er hatte alles Recht der Welt dazu, frustriert zu sein. Er hatte so viel verloren.
Doch statt seinem Frust freien Lauf zu lassen, war sein Blick plötzlich eiskalt geworden. Zu seinem eigenen Schutz hatte Iven eine Mauer um sein Herz gezogen. Eine Mauer, die selbst für Irma unüberwindbar war.
»Verschwinde.«
Dieses Wort hatte gereicht, um Irmas Welt in einem einzigen Augenblick zu zerstören.
Nach Tagen an seiner Seite fühlte sie sich nun so weit von ihm entfernt wie noch nie zuvor.
Nach dem Abendessen trug Grada einen Teller Gemüseeintopf in Selmas Schlafzimmer, das mittlerweile Ivens Domizil anstelle des Wohnzimmers war. Da Grada sie um Unterstützung gebeten hatte, folgte Irma ihr leise.
Iven lag mit angewinkelten Beinen auf dem Bett und starrte Löcher in die Luft. Er ließ sich nicht dazu herab, sie eines Blickes zu würdigen oder anderweitig zu signalisieren, dass er Irma und Grada bemerkt hatte. Da Ivens Hab und Gut nach dem Überfall der Wolfsmänner auf seinen Golf III verloren war, steckte er in Anselms Kleidung. Knochige, mit Narben übersäte Beine ragten aus der kurzen grauen Jogginghose, und er trug Anselms The-Doors-T-Shirt, das ihm viel zu kurz war. Es war ein unmögliches Unterfangen, hier im Haus Kleidung zu finden, die Iven passte, und Irma konnte sehen, wie ausgezehrt er mittlerweile war. Sein rechter Oberarm, den sie bis zum Ellenbogengelenk hatten retten können, war nur noch Haut und Knochen. Seinen linken Arm hatte er ganz verloren.
»Du musst heute etwas essen«, bestimmte Grada und ging mit dem Teller auf Iven zu.
Endlich flackerten seine grauen Augen zu ihnen herüber und er verzog missmutig den Mund. Sein rotes Haar war offen und struppig, Bartstoppeln überzogen seine eingefallenen Wangen. Irma hatte ihn einmal dabei beobachtet, wie er einen unzufriedenen Blick in den großen Wandspiegel im Gang geworfen hatte. Doch Iven weigerte sich vehement, irgendeine Hilfe anzunehmen, die nicht unbedingt nötig war.
Seine blutunterlaufenen Augen waren auf den Eintopf in Gradas Händen gerichtet.
»Später«, brachte er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
»Du musst«, versuchte Grada es erneut. »Meine Heilzauber helfen rein gar nichts mehr, wenn du keine eigenen Kräfte aufbaust.«
Iven schwieg und Grada warf Irma einen hilfesuchenden Blick zu. Wie sie in dieser Situation behilflich sein sollte, war Irma ein Rätsel. Seit ihrer Flucht hatte sie noch kein einziges Gespräch mit Iven geführt. Er vermied es, sich überhaupt in ihrer Nähe aufzuhalten.
Doch sein Hungerstreik bereitete Irma ebenfalls Sorgen, also flüsterte sie verzweifelt: »Bitte.«
Iven reagierte nicht darauf, stattdessen blickte er wieder an die Decke. Irma war so frustriert, sie hätte ihn am liebsten an den Schultern gepackt und kräftig durchgeschüttelt. Und ihm dann den verdammten Eintopf eingeflößt.
Als Grada erneut dazu ansetzen wollte, Iven zu überreden, riss sein Geduldsfaden. »Stell es da hin, Grada. Und dann geht!«, befahl er ruppig.
Im nächsten Augenblick hatte er sich in einen Fuchs verwandelt. Der Verlust seiner Arme musste für Iven in seiner Fuchsform eigentlich noch viel schlimmer sein als in der menschlichen Gestalt, da er sich aufgrund des fehlenden linken und des verstümmelten rechten Vorderlaufs überhaupt nicht fortbewegen konnte. Doch auf diese Weise entging er Diskussionen weitaus effizienter als in seiner menschlichen Form.
Er vermied es allerdings auch in seiner Fuchsform, sich in Irmas Nähe aufzuhalten. Einmal hatte sie ihm im Wohnzimmer Gesellschaft leisten wollen, doch er hatte sich in einen Menschen zurückverwandelt und war wortlos aus dem Raum gestapft. Irma hatte ihm heimlich einen Mondhasen nachhoppeln lassen und durch dessen Augen beobachtet, wie er in Selmas Schlafzimmer erneut zum Fuchs geworden war.
Ivens Zurückweisung machte sie schier wahnsinnig.
Irma klatschte sich eine Handvoll Wasser ins Gesicht und knotete anschließend ihr immer noch bräunlich getöntes Haar zusammen. Unzufrieden betrachtete sie sich im Spiegel.
Augenringe bis nach Timbuktu.
Es fühlte sich beinahe an wie ein Déjà-vu. Erst letzten Sommer war Irma regelmäßig aus den Träumen hochgeschreckt, die ihr die Mondgöttin Belisana geschickt hatte. Genau wie damals wurde sie auch jetzt nicht schlau daraus. Kein bisschen. Das gackernde Lachen von Baba Jaga hallte noch in ihrem Kopf, und Irma bekam den grotesken Anblick des Fuchses mit den Hühnerbeinen nicht aus dem Kopf.
Wieso kapiert Belisana denn nicht, dass sie sich gefälligst klar ausdrücken soll?
»Wir haben ein Telefon, weißt du?«, zischte Irma, ihre Augen gen Himmel gerichtet, wo sie die Göttin vermutete. »Du könntest auch einfach anrufen und sagen, was du von mir willst!«
Irma war so frustriert, dass sie die Mondgöttin am liebsten angebrüllt hätte. Bevor sie dazu kam, hörte sie allerdings, dass noch jemand zu nachtschlafender Zeit durch die Wolfswacht schlich. Irma verließ das Badezimmer und stieg barfuß und in ihrem schlabberigen Schlafshirt die knarzende Holztreppe hinunter. Selmas Zimmertür stand offen. Iven schien wohl ebenfalls wach zu sein.
Soll ich es wagen?
Auch wenn Irma befürchtete, sofort wieder abgewiesen zu werden, beschloss sie, zu ihm zu gehen. Aus dem Wohnzimmer drang gedämpftes Licht in den dunklen Flur, und Irma schlich leise durch die Tür. Als sie Iven erblickte, der mit dem Rücken zu ihr zwischen den Gardinen aus dem Fenster lugte, schluckte sie schwer. Er trug kein T-Shirt und seine Haut war aschfahl. Ivens Schulterblätter standen scharfkantig hervor, er sah mittlerweile noch kränklicher aus als kurz nach seiner Befreiung aus dem Verlies im Feuerberg. Als wären die Verletzungen, die ihm die scharfen Klauen der Wolfsmänner verpasst hatten, sowie die Folter unter Helia noch nicht genug gewesen, setzte Iven nun selbst alles daran, nicht wieder gesund zu werden. Er hatte seinen Lebenswillen verloren.
Unsicher, was sie sagen sollte, räusperte sich Irma und fragte leise: »Kannst du auch nicht schlafen?«
Daraufhin drehte sich Iven zu ihr um und betrachtete sie für einen Augenblick. Er musste sie schon von Anfang an bemerkt haben, und Irma schöpfte Hoffnung, endlich mit ihm sprechen zu können. Die dunklen Schatten unter seinen müden Augen erschienen wie ein Spiegel ihrer eigenen. Doch ihre kurz aufgekeimte Hoffnung wurde zerschmettert, als er seinen Blick abwandte und sich wortlos daran machte, das Wohnzimmer zu verlassen.
Irma reichte es allmählich. Sie stellte sich ihm in den Weg und flüsterte: »Wieso meidest du mich?«
Iven schien nicht sonderlich beeindruckt und blieb gar nicht erst stehen. Er ging einfach an ihr vorbei und steuerte auf die Tür zu. Irma folgte ihm hinaus in den Flur.
Obwohl ihr bewusst war, dass er sie schon beim ersten Mal gehört hatte, fragte sie nun lauter: »Wieso sprichst du nicht mit mir?«
Daraufhin hielt Iven endlich inne und drehte sich zu ihr um. Seine Augen funkelten zornig und er fletschte die Zähne. Irma rechnete fast damit, dass er ihr gleich an die Kehle gehen würde. Doch sie würde sich nicht von ihm einschüchtern lassen. Im Gegenteil, sie spürte nun ebenfalls Wut in sich brodeln, und ihre Wangen begannen zu glühen.
Giftig spuckte sie aus: »Was ist dein verdammtes Problem mit mir?«
Iven entfuhr ein animalisches Knurren und sie musste all ihren Mut zusammennehmen, um nicht zurückzuweichen.
Falsche Frage, Irma. Falsche Frage.
»Was mein verdammtes Problem ist?«, flüsterte er bedrohlich.
Irma hielt seinem nunmehr hasserfüllten Blick stand. Sie nickte trotzig.
»Du hast einfach über mich, meinen Körper und mein Leben bestimmt«, begann Iven mit kratziger Stimme. »Ich hätte das nicht gewollt.«
Zur Verdeutlichung hob Iven den restlichen Teil seines rechten Armes an.
»Iven, es gab keine andere verdammte Möglichkeit!«, zischte Irma. »Denkst du, ich hätte das so gewollt? Denkst du, ich sehe dich gerne leiden?«
Iven ging nicht auf ihre Rechtfertigung ein.
»Ich hätte von vornherein nicht gewollt, dass du Hals über Kopf in den Feuerberg stürmst, um mich zu befreien«, fuhr er fort. »Ich hätte nicht gewollt, dass du das Leben anderer für mich aufs Spiel setzt!«
Irma schüttelte den Kopf.
Hör auf, das zu sagen.
Sie zuckte zusammen, als Iven einen Schritt auf sie zukam und schrie: »Ich habe dich nicht darum gebeten!«
Irma schüttelte weiterhin den Kopf. Sie musste gegen den kindlichen Impuls ankämpfen, sich die Ohren zuzuhalten.
»Schrei mich nicht an«, flüsterte sie stattdessen.
Iven schnaubte.
Er hörte tatsächlich auf zu schreien. Erneut war seine Stimme nicht mehr als ein heiseres Flüstern.
»Du hättest mich einfach sterben lassen sollen, Irma. Wenn schon nicht in diesem Verlies, dann wenigstens hier.«
Daraufhin drehte er sich um und ging ohne ein weiteres Wort zurück in Selmas Zimmer.
Irmas Ohren rauschten, ihr Kopf schien wieder einmal wie unter Wasser.
Sie hatte alles riskiert, um Iven aus Helias Fängen zu befreien. Sie hatte nicht nur ihr eigenes Leben aufs Spiel gesetzt, sondern auch das ihrer Familie und Freunde. Sie hatte einen Wächter getötet, um alle in Sicherheit zu bringen.
Wie fühlt es sich an, bei lebendigem Leib zu verbrennen?
Dumpf drang der Schmerzensschrei des Wächters aus der Erinnerung zu ihr durch. Die Mauer aus Mondfeuer, die nach Selmas Tod aus Irma hervorgebrochen war und ihnen die Flucht zur Wolfswacht ermöglicht hatte, hatte eine Art Blockade in ihrer Magikk gelöst. Das war Irma bewusst geworden, sobald sie sich erholt und ihre Kräfte wieder gesammelt hatte. Ohne große Anstrengung hatte sie eine Mondlichtprojektion in das Zuhause von Emil und Maren schicken können, die Kopfschmerzen, die sie sonst nach kürzester Zeit heimgesucht hatten, waren gänzlich ausgeblieben. Die Sorge um ihre Freunde im Kaltengrim hatte Irma zuvor tagelang um den Schlaf gebracht. Als sie die beiden Anderswesen mit ihrem Sohn dann wohlauf vorfand, war sie in ein erleichtertes Schluchzen ausgebrochen. Die Neuigkeiten, die sie ihr überbracht hatten, waren jedoch nicht so erfreulich gewesen. Nicht alle Anderswesen hatten die Rettungsmission überstanden, und ein Teil von ihnen war in den Feuerberg verschleppt worden. Auch von Kian gab es kein Lebenszeichen. Irma wusste nicht, ob sie sich wünschen sollte, dass ihr bester Freund noch am Leben war; sie wollte sich nicht ausmalen, was Kian in diesem Fall im Feuerberg erwartete.
Was Irma nach ihrer Mondlichtprojektion in den Kaltengrim allerdings ganz sicher wusste, war, dass solche Besuche jetzt nicht mehr so einfach möglich waren. Die Späher waren mittlerweile auf ihre Mondmagikk sensibilisiert, und Corvus hatte Irmas Mondlicht-Ich gespürt. Glücklicherweise hatte Leonhard, der Mausgestaltwandler mit dem strubbeligen braunen Haar, Helias Henker rechtzeitig bemerkt und war in die Hütte seiner Freunde geeilt, um sie zu warnen. Irma konnte nur hoffen, dass sie Corvus nicht direkt zu ihnen geführt hatte. Sie wagte es jedenfalls nicht, noch einmal nach ihnen zu sehen.
So viel Leid. Und das alles nur wegen meiner Entscheidung.
Sie hatte schon lange geahnt, dass Iven mit seiner Rettung nicht einverstanden war. Dass er den Verlust seiner Arme nicht akzeptieren konnte und ihr die Schuld daran gab.
Es nun aus seinem Mund zu hören, hatte Irma dennoch den Boden unter den Füßen weggezogen.
Du hättest mich einfach sterben lassen sollen.
Ivens Worte hallten in ihrem Kopf nach. Ihre Brust fühlte sich vollkommen leer und gleichzeitig viel zu eng an.
Nein. Nein, das darf er nicht denken. Einzig und allein die Tatsache, dass Iven am Leben ist, kann meine Entscheidung rechtfertigen.
Doch eine Entschuldigung für die Folgen gibt es nicht.
So viele Opfer.
So viel Leid.
Wie viel davon ist meine Schuld?
Irma wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, seit Iven sie im Flur hatte stehen lassen. Sie wusste nicht, wie lange sie schon benommen auf dem Boden saß und ihren Oberkörper vor und zurück wippte. Anselms Stimme konnte sie nur gedämpft hören, und sie reagierte auf Autopilot, als er sie hochzog und in die Küche der Wolfswacht führte. Ein paar Schlucke von Anselms Beruhigungstee wirkten Wunder und holten Irma ins Hier und Jetzt zurück. Erst da bemerkte sie auch Klara-Luise, deren verstrubbeltes Haar und Pyjama darauf schließen ließen, dass Irmas Auseinandersetzung mit Iven sie und Anselm geweckt haben musste. Auch ihr Cousin stand lediglich in Boxershorts und einem alten Hockey-T-Shirt in der Küche. Er betrachtete Irma besorgt aus seinen tannengrünen Augen. Klara-Luise hingegen blickte eher stinksauer drein.
»Jetzt reicht es aber! Ich werde ihm mal die Meinung geigen«, wetterte sie. »So kann der Mistkerl doch nicht mit dir reden!«
Klara-Luise hatte in der Zeit, in der sie Irma für vermisst gehalten hatten, eine starke Antipathie gegen Iven entwickelt. Immerhin war sie ein halbes Jahr lang in dem Glauben gewesen, er hätte Irma entführt. Auch wenn sich dieses Missverständnis mittlerweile aufgeklärt hatte, konnte sie ihn doch nicht sonderlich leiden, was zu einem großen Teil Ivens Verhalten geschuldet war.
Anselm schüttelte sachte den Kopf und versuchte, seine Schwester zu besänftigen. »Ich denke, er braucht einfach noch ein bisschen Zeit.«
»Die brauchen wir alle! Es hilft hier niemandem etwas, wenn er sich wie das hinterletzte Arschloch verhält. Nicht, nachdem wir alles dafür getan haben, ihn am Leben zu halten! Wir haben Tante Selma verloren und Irmas besten Freund und weiß Gott wie viele andere«, schnaubte Klara-Luise wütend, und ihre roten Locken bebten.
Irma vergrub das Gesicht in den Händen.
Genau das ist ja Ivens Problem.
»Außerdem sind wir hier auf unbestimmte Zeit eingesperrt, ohne eine Aussicht auf Besserung«, fuhr Irmas Cousine fort. »Wir konnten Mama schon seit Wochen nicht mehr besuchen. Keinem von uns geht es gerade blendend!«
Um Klara-Luise herum schien die Luft vor Hitze zu flackern, so zornig war sie.
»Er hat sicherlich noch furchtbare Schmerzen«, versuchte Anselm weiterhin, Iven zu verteidigen. »Er braucht einfach noch Zeit zu heilen, und damit meine ich nicht nur die sichtbaren Wunden. Wir müssen geduldig sein.«
»Hör auf damit, Anselm! Du nimmst ihn doch nur in Schutz, weil du dir selbst die Schuld an allem gibst«, fuhr Klara-Luise ihren Bruder an.
Damit hatte sie ins Schwarze getroffen. Anselm drehte sich von ihnen weg, und Irma bemerkte, wie seine Schultern ein wenig einfielen.
Leise stellte er fest: »Er ist jedenfalls zu Unrecht wütend auf dich, Irma.«
Nach der Walpurgisnacht war Irma unvorsichtig gewesen und hatte ihre Familie telefonisch über ihre neuesten Erkenntnisse unterrichtet: Irma war nicht nur die Tochter von Torin, Helias ehemals größtem Widersacher. Sie war darüber hinaus von der Mondgöttin und Hexenmutter Belisana mit der Aufgabe betraut worden, den Krieg der Anderswesen des Kaltengrims gegen die Hexen ein für alle Mal zu beenden. Corvus hatte diese Wahrheit durch Anselms Unbedarftheit erfahren, und erst so hatte das Übel seinen Lauf nehmen können. Weshalb Corvus schon seit vielen Jahren in seiner Krähenform ausgerechnet Irmas Cousin ausspionierte, vermochte sich immer noch keiner zusammenzureimen. Dass Anselm ausgerechnet während Irmas Anruf das Fenster für »seine« Krähe aufgelassen hatte, konnte er sich jedoch nicht verzeihen. Obwohl er mittlerweile wieder seine lächelnde Maske aufgesetzt hatte, war ihm anzusehen, wie sehr ihn die Schuldgefühle plagten.
Dabei hätte Irma ihrem Cousin niemals die Schuld daran gegeben, und sie war sich sicher, dass auch Iven das nicht tat. Im Gegenteil, Iven war Anselm gegenüber sogar erstaunlich verträglich. Na gut, er war immer noch unausstehlich, aber er schien es sich zumindest nicht mit Anselm verscherzen zu wollen. Es hatte Irma gewundert, dass Iven ihren Cousin überhaupt an sich heranließ, während er außer ihr auch Grada und Kenna fortschickte, und die beiden waren das Nächste, was er an Familie hatte. Glen und Grada hatten ihn in der Eishöhle aufgenommen, als er nach dem Tod seines Vaters das erste Mal die Anderswelt aufgesucht hatte.
Eine einfache Erklärung dafür war vielleicht, dass Anselm ein Mann war, auch wenn bei den Anderswesen und Wächtern eine größere Freizügigkeit herrschte und körperliche Scham keine große Rolle spielte. Womöglich lag es aber auch daran, dass Anselm wie gemacht für diese pflegerische Aufgabe war. Er war geduldig und ließ sich nicht abschrecken, auch wenn Iven sich wirklich zum Fürchten verhielt. Anselm ließ sich vor ihm kein Mitleid anmerken und konnte Ivens Bedürfnisse besser von seinem Gesicht ablesen als irgendjemand sonst in der Wolfswacht. Er zuckte niemals mit der Wimper und wahrscheinlich hatte Iven vor Anselm von allen am wenigsten Hemmungen.
Dass Anselm sich seiner bereitwillig angenommen hatte, schloss allerdings ja nicht aus, dass Irma Iven ebenfalls eine Unterstützung hätte sein können. Sie schien jedoch die Letzte zu sein, die der Fuchsgestaltwandler in seiner Nähe haben wollte. Er hatte es niemals ausgesprochen, doch Irma wusste, dass er sich auch für seine Rettung aus dem Feuerberg schämte.
Er war ein Wächter gewesen.
Und ein Einzelgänger.
Weder das eine noch das andere konnte er in Zukunft sein, und Iven hasste jede Sekunde, die er damit leben musste.
Die Tage zogen sich wie Kaugummi, die Wolfswacht wirkte auf Irma von Tag zu Tag kleiner, und ihr fiel die Decke auf den Kopf. Während Klara-Luise sich gemeinsam mit Kenna stundenlang mit seichtem Fernsehprogramm ablenken konnte, musste Irma aktiv etwas tun. Ihr fehlte das Wächtertraining, ihr Körper schrie förmlich danach, endlich wieder gefordert zu werden. Und in Anbetracht der Gefahr, in der sie noch immer schwebten, konnte es sicherlich nicht schaden, in Form zu bleiben.
Anfangs hatte Irma Iven gegenüber ein schlechtes Gewissen gehabt, wenn sie trainierte. Er fühlte sich ohnehin schon schlecht genug, auch ohne dass sie ihn durch ihr Handeln an Dinge erinnerte, die er nicht mehr tun konnte. Seit ihrem Streit sah Irma allerdings keinen Grund mehr, dermaßen Rücksicht auf ihn zu nehmen. Iven schien sie sowieso zu hassen, egal, wie sehr sie sich um sein Wohlergehen bemühte. Dann konnte sie sich wenigstens um sich selbst kümmern. So hatte sie ihr Sportprogramm ausgeweitet und versuchte, die endlos langen Tage zu verkürzen, indem sie all ihre Energie in ihr Training steckte.
Im Gegensatz zu seiner Schwester stieg Anselm irgendwann mit ein. Irma war nicht überrascht darüber, wie fit ihr Cousin war, schließlich legte Anselm wahnsinnig viel Wert auf sein Äußeres. Auch wenn er es nicht zugegeben hätte, so genoss er doch die Aufmerksamkeit, die er für sein gutes Aussehen bekam. Sein Charme und das freundliche Grinsen erledigten den Rest, sodass er nicht selten mit schmachtenden Blicken bedacht wurde.
Die für ihn typische positive Ausstrahlung trug auch immens dazu bei, dass sich Irmas Laune während ihres gemeinsamen Trainings verbesserte. Doch an diesem Tag musste sich ausnahmsweise einmal Anselm abreagieren. Am Morgen war er eine ungewöhnlich lange Zeit bei Iven gewesen. Irma hatte sich nicht erkundigt, was vorgefallen war; es ging sie nichts an. Ihr Cousin war jedenfalls völlig fertig mit den Nerven zu Irma gekommen, und sie hatte erstaunt festgestellt, dass er mit seiner Geduld beinahe am Ende war. So kannte sie Anselm gar nicht. Iven musste sich wirklich in einem Extremzustand befunden haben, und Irma war heilfroh, ihm heute noch nicht begegnet zu sein.
Am Nachmittag gesellte sich Klara-Luise zu Irma und Anselm, die sich nach dem Training eine Kanne Tee gekocht hatten, in die Wohnküche. Gemeinsam saßen sie an dem großen Holztisch und unterhielten sich über belanglose Themen. Gerade ging es um die Seifenoper, die sich Klara-Luise täglich im Fernsehen ansah, als sie Iven die Tür von Selmas Zimmer öffnen hörten, die sie für gewöhnlich angelehnt ließen. Oder vielleicht trat er sie eher auf, dem lauten Knall nach zu urteilen. Daraufhin stieg er blitzschnell und geräuschlos die Treppen hinauf. Iven war wirklich der Einzige, der sich leise in der Wolfswacht fortbewegen konnte. Zumindest wenn er das wollte.
Nachdem er anschließend fluchend die Badezimmertür aufgestoßen hatte und sie hinter ihm offenbar wieder ins Schloss gefallen war, sahen sich Irma, Klara-Luise und Anselm verdutzt an. Iven nutzte das obere Badezimmer für gewöhnlich überhaupt nicht, und erst recht nicht alleine. Ihre Verwunderung wuchs, als sie es scheppern hörten. Iven schimpfte weiter vor sich hin, doch Irma konnte nicht verstehen, was er sagte.
Hat er sich vielleicht gestoßen?
Den Blicken der anderen nach zu urteilen, war niemand sonderlich erpicht darauf, nachsehen zu gehen und sich Ivens Laune zu stellen. Stattdessen lauschten sie gespannt, als plötzlich das Wasser in der Dusche zu rauschen begann. Iven war auf Hilfe angewiesen, normalerweise hätte er Anselm vorher Bescheid gesagt.
Irma trank einen kräftigen Schluck Tee und versuchte, die merkwürdige Situation zu ignorieren. Auch Anselm und Klara-Luise vermieden jeden Kommentar. Nach wenigen Minuten stellte Iven das Wasser in der Dusche wieder ab, kurz darauf folgte ein aggressiver, beinahe unmenschlicher Schrei. Irmas Augenbrauen wanderten nach oben, als sie ein erneutes Rumsen hörten, gefolgt von dem Klirren zahlreicher Gegenstände, die auf die Badezimmerfliesen gepurzelt sein mussten.
Was zur Hölle treibt er denn bitte da oben?
Iven brüllte ein weiteres Mal frustriert. Entweder er randalierte gerade mutwillig, oder er war drauf und dran, sich selbst etwas anzutun. So oder so, sie konnten ihn nicht einfach weitermachen lassen. Irma tauschte panische Blicke mit Anselm und Klara-Luise. Ihre Cousine war so ziemlich der letzte Mensch, der sich freiwillig nach Iven umsehen würde, und Anselm war immer noch derart ausgelaugt von dem Morgen mit ihm, dass er völlig verzweifelt dreinblickte.
Also gab Irma sich geschlagen und sprang auf. Egal, was Iven im Bad da oben gerade tat, sie musste ihn schleunigst davon abhalten. In Windeseile polterte sie die Treppenstufen hinauf. Sie nahm zwei auf einmal, zog sich die letzten Schritte am Geländer hinauf und warf sich förmlich gegen die Badezimmertür, die zum Glück nicht verriegelt war.
Irma hatte keine Vorstellung davon gehabt, welcher Anblick sich ihr bieten würde. Sie blieb daher für einige Augenblicke reglos stehen und ließ die Situation auf sich wirken.
Iven stand in seinen grauen Joggingshorts und einem T-Shirt in der Mitte des kleinen Badezimmers und war von oben bis unten durchnässt. Sein Haar klebte ihm triefend am Kopf. Wasser lief auf den Boden, und um seine nackten Füße hatte sich eine große Pfütze gebildet.
Überrascht stellte Irma fest, dass Iven frisch rasiert war. Ein Schnitt zog sich an seinem Kiefer entlang, und ihr dämmerte nun, was Anselm am Morgen an seine Grenzen gebracht hatte. Irma schluckte schwer, als ihr Blick für einen kurzen Moment an Ivens eingefallenen Wangen hängen blieb. Mit seinen großen Augen, den dunklen Schatten darunter und der markanten Hakennase sah Iven aus wie ein Bilderbuchbösewicht. Sein zorniger Gesichtsausdruck machte dieses Bild komplett, rote Flecken zeichneten sich auf seinem Gesicht und seinem Hals ab. Sein Wutausbruch verlieh ihm mehr Farbe, als er die ganzen letzten Wochen im Gesicht gehabt hatte.
Irma zwang sich, ihre Augen von ihm abzuwenden, und richtete ihre Aufmerksamkeit auf das Chaos im Badezimmer. Iven hatte es irgendwie geschafft, den kleinen Unterschrank zu öffnen und dessen Schubladen so zu durchwühlen, dass nunmehr der gesamte Inhalt am Boden herumlag.
Er schien etwas gesucht zu haben und nicht fündig geworden zu sein. Das zweite, lautere Rumsen musste von der größeren Kommode gekommen sein, die er umgestoßen hatte. Die Schubladen waren nach vorne gefallen, und ein großer Teil des Inhalts lag ebenfalls auf den Fliesen verteilt. Einige von Selmas Parfümflacons waren dabei zu Bruch gegangen, in dem kleinen Badezimmer roch es nach Blumen und Zitrusfrüchten. Um Fassung ringend starrte Irma auf das zerborstene Glas.
Es sind nur Gegenstände, reiß dich zusammen.
Iven schienen die Scherben nicht zu interessieren, auch wenn er barfuß mittendrin stand. Bei ihm waren definitiv ein paar Sicherungen durchgebrannt. Er wirkte rasend, war ganz und gar nicht mehr Herr seiner selbst.
Sie sah von den Fliesen auf in seine wild flackernden Augen und fragte langsam: »Was zur Hölle hast du hier vor?«
Sie ließ den Blick erneut über den Boden wandern. Erst jetzt bemerkte sie die Friseurschere, die Iven mit seinen Füßen herausgefischt haben musste.
Seine Atmung war schwer, sein hagerer Brustkorb hob und senkte sich schnell, und er brüllte Irma an: »Schneid sie ab! Ich kann es nicht.«
Irma zog die Augenbrauen hoch und betrachtete Iven eindringlich. Sein langes rotes Haar, das in verknoteten Strähnen patschnass an seinem Kopf klebte, musste wirklich dringend einmal wieder gebürstet werden. Vermutlich war Iven zu demselben Schluss gekommen.
Er kickte die Schere in Irmas Richtung. Sie betrachtete diese kurz, dann schaute sie ihm erneut in die Augen und schüttelte langsam, aber bestimmt den Kopf. Sie würde Iven nicht die Haare abschneiden. Hauptsächlich, weil sie wusste, dass er diese Kurzschlussreaktion früher oder später bereuen würde. Ein klitzekleines bisschen allerdings auch, weil sie sein langes Haar mochte.
»Mach es einfach, ich kann es nicht selbst«, wiederholte er ungeduldig.
Irma schüttelte erneut den Kopf. »Nein.«
»Jetzt tu’s doch einfach!«, krächzte Iven, und in seiner Stimme schwang so viel Verzweiflung mit, dass Irmas Herz schwer wie Blei wurde.
Dennoch blieb sie eisern.
»Nein. Ich werde das nicht tun.«
Für ein paar Augenblicke funkelten sie sich gegenseitig an. Irma beschloss, ihre Taktik der letzten Wochen zu ändern. Sie würde Iven nicht besänftigen können, sie würde ihn nicht trösten können und er würde nicht aufhören, sie zu hassen. Sie würde sich allerdings auch nicht mehr von ihm einschüchtern oder auf Abstand halten lassen. Irma ging automatisch in Kampfhaltung, so wie sie es von Moira im Feuerberg gelernt hatte. Sie nagelte Iven mit ihrem Blick an Ort und Stelle fest.
»Setz dich hin«, befahl sie.
Ivens Nasenflügel bebten. Irma ließ sich nicht davon beirren.
»Setz dich hin!«, forderte sie noch einmal mit mehr Nachdruck und deutete auf den Badewannenrand.
Iven reagierte nicht.
Irma drehte sich zur Tür, verriegelte das Schloss und wandte sich erneut Iven zu.
Iven starrte sie fassungslos an.
Irma starrte stur zurück.
Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie sich in die Augen sahen und einen wortlosen Kampf austrugen, doch allmählich wurde Ivens Blick klarer. Irma ließ sich ihre Überraschung nicht anmerken, als er nach einer gefühlten Ewigkeit tatsächlich gehorchte und sich langsam niederließ. Irma hob wortlos eine Haarbürste aus dem Chaos am Boden auf und ging um ihn herum. Iven war so groß und sie selbst so klein, sie hatte ausnahmsweise einmal die perfekte Größe für etwas. Sie strich Iven das Haar zurück und zwang ihre Hände, mit dem Zittern aufzuhören. Iven schwieg.
Behutsam begann Irma, durch die verfilzten Haarsträhnen zu bürsten. Sie ließ sich Zeit, immerhin war es das erste Mal, seit Iven aus dem Koma erwacht war, dass er sie in seine Nähe ließ. Nach und nach lösten sich die Knoten, doch Irma fuhr fort, langsam durch das fuchsrote Haar zu kämmen. Sie verdrängte die Erinnerungen an ihre Mutter, die dabei hochkamen. Die Erinnerung daran, wie Selma ihr vor dem Einbruch in das Verlies im Feuerberg das Haar gekämmt hatte. Wie geliebt und behütet sie sich dabei gefühlt hatte.
Iven schwieg die ganze Zeit über, doch Irma bemerkte die Tränen, die ihm über die Wangen liefen. Ununterbrochen, wie ein kleiner Bach. Er versuchte gar nicht erst, sie zu verbergen. Die Tränen sammelten sich an seinem spitzen Kinn und tropften auf den sowieso schon nassen Boden.
»Ich kann für dich da sein«, flüsterte Irma vorsichtig. »Du musst mich nur lassen.«
Sie hatte nicht geglaubt, dass ihr Herz noch weiter zersplittern konnte. Doch Irma wurde eines Besseren belehrt, als Iven zu schluchzen begann. Seine knochigen Schultern bebten, und sie ließ die Haarbürste zu Boden fallen. Irma schloss ihre Arme um seinen Oberkörper und hielt ihn fest. Ganz fest. So fest, dass sie seine scharfkantigen Schulterblätter spüren konnte. Ihre Hände lagen auf seinem Brustkorb, und unter ihren Fingern fühlte sie die einzelnen Rippen. Irma fürchtete beinahe, er würde in ihren Armen zerbrechen. Doch sie hielt Iven so lange, bis das Schluchzen ihn nicht mehr schüttelte und die Tränen versiegten. Die Tränen, die schon so lange überfällig gewesen waren.
Iven ließ Irma anschließend die vorderen Strähnen seines Haares auf die Art und Weise flechten, wie er es im Feuerberg häufiger getragen hatte.
»So … jetzt fallen sie dir nicht mehr ins Gesicht«, murmelte Irma und ging anschließend um ihn herum zur Tür. »Warte kurz hier.«
Sie eilte in Anselms Zimmer und öffnete die Schublade, in der ihr Cousin früher seine Zigaretten vor seiner Mutter versteckt hatte. Irma stellte erleichtert fest, dass er sie immer noch dort aufbewahrte. Lediglich die Socken, unter denen er die Schachteln damals verborgen hatte, ließ er mittlerweile weg. Das schlechte Gewissen flackerte zwar kurz in ihr auf, immerhin waren Zigaretten in der Wolfswacht gerade Mangelware, doch Irma befand, Iven brauchte sie dringender. Sie schnappte sich eine angebrochene Schachtel und ein Feuerzeug und eilte zurück ins Bad.
Iven hatte sich nicht vom Fleck gerührt. Irma steckte ihm wortlos eine Zigarette in den Mund und machte sich daran, sie anzuzünden. Als Iven einen kräftigen Zug tat, begann die Zigarette zu glimmen.
Irma bildete sich ein, dass seine Mundwinkel sich ein klein wenig hoben.
Die Lage in der Wolfswacht wurde besser. Sie war zwar noch meilenweit entfernt davon, gut zu sein, doch nach dem Vorfall im Badezimmer mied Iven Irma endlich nicht mehr. Auch wenn er immer noch reizbar war, meist grimmig dreinblickte und sich gegen jede Hilfe wehrte, die er nicht für zwingend nötig erachtete, war Irma erleichtert darüber, dass er ihr nicht mehr aus dem Weg ging. Ja, sie war so glücklich darüber, dass er sich nicht mehr in Selmas Zimmer verkroch, dass sie sich sogar über seine tiefschwarze Aura freute. Er sprach nicht viel, doch das störte Irma nicht besonders. Sie hatte ebenfalls nichts zu erzählen, in der Wolfswacht passierte schließlich auch nichts Neues.
Zwar kümmerte sich weiterhin hauptsächlich Anselm um Iven, doch auch mit Irma pflegte er mittlerweile ein gemeinsames Ritual. Oder auch eine Marotte, wie Anselm es nannte. Irma saß auf dem rotbraunen Cordsofa, das älter war als sie selbst und so durchgesessen, dass sie beinahe darin versank. Iven saß vor ihr im Schneidersitz auf dem großen Orientteppich, der die dunklen Holzdielen im Wohnzimmer bedeckte. Er hatte den Rücken zu ihr gedreht und Irma ihre Beine links und rechts von ihm auf dem Boden stehen. Im Hintergrund dudelte leise eine von Briettas Smokie-Schallplatten, und Iven drehte seinen Kopf halb zu Irma um. Das war das Zeichen dafür, ihm die Zigarette aus dem Mund zu nehmen und die Asche in den Aschenbecher zu klopfen, der auf dem Kirschholztisch neben ihnen stand.
Als Iven gerade den Rauch ausblies, nahm Irma schnell selbst einen Zug.
»Ach, so ist das jetzt also«, schnaubte Iven, und ein bisschen Rauch waberte dabei aus seiner Hakennase.
»Du bist ein schlechter Einfluss«, verteidigte sich Irma und pustete ihm absichtlich den Rauch ins Gesicht.
Er schnaubte erneut, ließ sich daraufhin die Zigarette zwischen die Lippen klemmen und nuschelte: »Ich hoffe, das kam nicht überraschend für dich.«
Irma schüttelte den Kopf und musste lächeln.
Definitiv nicht überraschend.
Sie war sich sicher, dass ihre Mutter ihr Verhalten verwerflich gefunden hätte, doch das war ihr egal. Dafür schätzte sie diese kurzen Momente, in denen Iven nicht bekümmert wirkte, viel zu sehr. Wenn er sich von seinem Kummer ablenken ließ, indem sie seiner Nikotinabhängigkeit nachgab, dann war Irma das recht.
Sie drückte gerade den Zigarettenstummel aus, als Anselm das Wohnzimmer betrat. Er rümpfte die Nase, äußerte sich allerdings nicht zu dem Geruch. Immerhin war er selbst nicht viel besser, Irma hatte ihn nun schon einige Male in der Küche beim Rauchen erwischt.
Mit einem Schulterzucken stellte er fest: »Ich hoffe, ihr kostet diese Momente aus. Mein Vorrat neigt sich dem Ende zu.«
Iven drehte sich zu Anselm und schlug vor: »Wir könnten Kenna beauftragen. Die Wächter haben sie nicht auf dem Radar, sie kann sich frei bewegen.«
Irma zog die Augenbrauen hoch und fragte erstaunt: »Kenna? Ist das dein Ernst?«
Vor ihrem geistigen Auge spielte sich derweil eine Szene ab, in der Kenna in ihrer mittelalterlichen Gewandung versuchte, einen Zigarettenautomaten zu bedienen. Irma musste schmunzeln.
Auch Ivens Mundwinkel wanderten einen Millimeter nach oben, als er versicherte: »Sie hätte sicherlich Spaß dabei, sie langweilt sich doch sowieso zu Tode in der Eishöhle. Ich würde mir eher Sorgen um Grada machen. Die wird ihr definitiv den Kopf abreißen.«
Irma blieb hinter Iven auf dem Sofa sitzen und spielte gedankenverloren mit einer seiner Haarsträhnen. Er wehrte sich nicht dagegen.
Kenna langweilte sich tatsächlich fürchterlich in der Eishöhle, und Irma konnte es ihr nicht verdenken. Sie war kein Anderswesen des Kaltengrims, denn die Eishöhle lag an einer eigenen kleinen Magikkader, daher war Kenna auch keine Wächterin. Vielleicht hätte sie eine werden können, wenn sie das gewollt hätte, doch Ivens Berichte über Helia waren wenig verlockend gewesen. So fehlte ihr allerdings ein sinnvoller Lebensinhalt, und im Gegensatz zu ihren Eltern war sie nicht damit zufrieden, ihr Dasein in einer Tropfsteinhöhle zu fristen. Auch wenn diese Tropfsteinhöhle wirklich bezaubernd war. Kenna verbrachte daher noch viel mehr Zeit in der Wolfswacht als ihre Mutter. Sie hatte in Klara-Luise schnell eine Freundin gefunden. Die beiden waren ähnlich temperamentvoll, und die lustige, unbeschwerte Art von Kenna war Irmas Cousine sehr willkommen. Außerdem sah sich Kenna bereitwillig mit ihr die Seifenopern an, die Irma und Anselm nicht mehr ertragen konnten.
Im Moment waren die zwei Freundinnen allerdings in Klara-Luises Zimmer und wühlten sich wieder einmal durch deren Kleiderschrank. Vielleicht war es tatsächlich gar nicht so abwegig, Kenna als gewöhnlichen Menschen zu verkleiden. Sie wäre sicherli…
Urplötzlich meldete sich Irmas sechster Sinn und riss sie aus ihren Gedanken. Sie sprang auf und eilte ans Fenster.
»Was ist?«, fragte Iven alarmiert.
Auch Anselm sah besorgt aus.
Irma war ganz aufgeregt. »Spürst du das?«, wollte sie von Iven wissen. »Die Magikk?«
Nach ein paar Sekunden zog auch Iven verwundert die Augenbrauen hoch. Er erhob sich und ging zu Irma ans Fenster. Dort warf er einen Blick zwischen den Gardinen hinaus, es war allerdings nichts zu erkennen.
»Das ist …«, begann er ungläubig. »Das fühlt sich an wie …«
Flüsternd vervollständigte Irma seinen Satz: »Baba Jaga!«
Die Magikk, die sich ihnen näherte, war viel schwächer als die der Hexenältesten, doch sie war unverkennbar. Irma hatte diese schöpferische Kraft, die pulsierte wie der Rhythmus des Lebens selbst, erst vor wenigen Wochen gespürt.
Rasch näherte sich Baba Jagas Magikk und landete in Form einer weißen Taube vor Irma und Iven auf dem Fensterbrett. Die beiden schauten sich verdutzt an. Dann sahen sie zurück zu der Taube. Irma bemerkte als Erste den kleinen Zettel, der zusammengerollt am Bein des Vogels angebracht war. Sie deutete darauf.
»Ich fasse es nicht«, murmelte Iven kopfschüttelnd. »Hat Baba Jaga dir da gerade eine Brieftaube geschickt?«
Anselm, der mittlerweile neben ihnen stand, blickte ebenfalls aus dem Fenster und stellte fest: »Wie … altmodisch.«
Iven korrigierte ihn. »Wie … absurd. Vollkommen absurd.«
Irma riss die beiden aus ihren Betrachtungen, indem sie den Griff am Fenster drehte.
»Bist du dir sicher?«, fragte Anselm, und in seiner Stimme schwang ein leicht hysterischer Unterton mit.
»So schnell springt uns jetzt auch kein Wächter durchs Fenster. Außerdem wäre das ja gar nicht möglich, ich erlaube doch nur der Taube, bei uns einzutreten. Niemandem sonst«, beruhigte ihn Irma.
»Ich meine ja nur, dass man vielleicht nicht jedem Vogel das Fenster öffnen sollte«, murmelte Anselm.
Verdammt.
Irma ärgerte sich, dass sie daran nicht gedacht hatte, und versicherte noch einmal: »Es ist ganz sicher die Magikk von Baba Jaga. Ich glaube nicht, dass sie die Taube geschickt hat, um uns etwas anzutun.«
Daraufhin öffnete sie das Fenster einen Spalt, und der Vogel flog ins Wohnzimmer. Während Irma das Fenster erneut verriegelte, flatterte die Brieftaube aufgeregt durch den Raum.
»Hey, jetzt beruhige dich doch mal!«, rief Iven immer noch fassungslos und möglicherweise auch ein bisschen belustigt.
Die weiße Taube fegte weiterhin in Kreisen durch das Wohnzimmer, bis Irma ihre Hände ausstreckte und ihr zurief: »Du hast Post für mich?«
Der Vogel schien sich an seine Aufgabe zu erinnern und landete tatsächlich in Irmas zu einer Schale gefalteten Händen.
»Das hast du ganz toll gemacht, danke!«, lobte Irma. Dann wandte sie sich an Anselm. »Kannst du bitte den Zettel abmachen?«
Anselm nickte, löste das Papier und rollte es auf.
Mit hochgezogenen Augenbrauen las er vor: »Der Krieg muss enden. Du musst eine richtige Hexe werden.«
»Echt jetzt?«, schnaubte Iven. »Für das bisschen Information hat sie den Vogel geschickt? Natürlich muss der Krieg enden, das ist doch klar.«
Auch Irma war überrascht und hätte mit ein wenig mehr Inhalt gerechnet, wenn Baba Jaga sich schon die Mühe machte, ihr eine Nachricht zukommen zu lassen. Sie fragte sich, was die Hexenälteste veranlasst haben konnte, ihr überhaupt einen Brief zu schicken. Wie viele fürchterliche Dinge mussten seit der Walpurgisnacht vorgefallen sein! Wie viele Hexen waren Helias Monstern, den Wächtern und Wolfsmännern, schon zum Opfer gefallen?
Du musst eine richtige Hexe werden.
Ruft Baba Jaga mich etwa zu sich?
Irma ärgerte es, dass sich die Hexenälteste nicht klar ausdrückte, sondern Irma über diese zwei Zeilen nachgrübeln ließ. Baba Jaga war in dieser Hinsicht keinen Deut besser als Belisana, die Irma weiterhin die seltsamsten Träume schickte. Nachdenklich sah sich Irma die Taube in ihren Händen an.
Die seltsamen Träume!
Zuvor war sie viel zu sehr auf den Brief und dessen Inhalt konzentriert gewesen, doch nun, als sie den Vogel genau betrachtete, sog Irma scharf die Luft ein.
Aufgeregt flüsterte sie: »Iven, sieh dir das an!«
Iven, der gerade den Zettel genauer inspizierte, den Anselm ihm entgegenstreckte, wandte sich nun Irma zu.
Die hob die Taube hoch. »Sieh dir den linken Flügel an.«
Iven tat, wie ihm geheißen, und musterte den Flügel. Oder genauer gesagt, die magische Flügelprothese, aufgrund derer der Vogel überhaupt Baba Jagas Magikk ausstrahlte. Sie war Irma zuerst gar nicht aufgefallen, da das knochenartige Material eine ähnliche Farbe hatte wie das Gefieder des Vogels. Doch bei genauerer Betrachtung konnte Irma die kupferfarbenen Scharniere und Gelenke erkennen. Über den gesamten Flügel hinweg war außerdem ein feines, verschnörkeltes Muster eingraviert, das sich aus zahlreichen kleinen, ineinander gehakten Krallen zusammensetzte. Sie schillerten ebenfalls kupferfarben und schienen die Magikk von Baba Jaga in sich zu tragen, die die Prothese zum Leben erweckte.
Iven hatte Irma vor der Walpurgisnacht von Baba Jagas Hütte erzählt. Einer Hütte ohne Eingang, die auf Hühnerbeinen ging.
Auf Hühnerbeinen.
Bei dem Muster handelte es sich um Hühnerkrallen. Irma verstand nun endlich, was die Mondgöttin ihr sagen wollte. Belisana schickte sie zu Baba Jaga, weil die Hexenälteste Iven helfen konnte.
Tatsächlich hatte Irma nie über eine Wunderheilung nachgedacht. Und das nicht etwa, weil sie sich keine absurden Hoffnungen machen wollte. Es war vielmehr so, dass Iven für Irma überhaupt nicht erst wieder komplett sein musste. Er war nichts, das repariert werden musste. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätten sie einen Weg gefunden, sich mit seiner Behinderung zu arrangieren. Es würde selbstverständlich Zeit und Geduld erfordern, und sie war nicht so naiv, zu glauben, dass es jemals einfach werden würde. Doch wo ein Wille war, war auch ein Weg. So pflegte es zumindest ihre Mutter zu sagen. Und Irma wollte für Iven da sein und alles, was noch auf sie zukam, gemeinsam mit ihm durchstehen.
Sie war sich allerdings sicher, dass Iven da anderer Meinung war. Er würde sich niemals mit dem Verlust seiner Arme abfinden. Genauso stand es mit der Entscheidung, die Grada und Irma für ihn getroffen hatten. Er wollte das nicht. Daher war es für Irma schwer vorstellbar, wie er jemals wieder glücklich werden sollte. Sie konnte schlichtweg nicht mehr ertragen, wie niedergeschlagen er war, und hätte alles dafür getan, ihm sein sowieso schon seltenes Lächeln zurückzugeben.
Irma hatte das Gefühl, sie schuldete es ihm.
Kann Baba Jaga Prothesen für Iven, einen Gestaltwandler, anfertigen? Ist das möglich?
Irma war aufgeregt. Sie war hoffnungsvoll. Ununterbrochen zupfte sie an dem Planetenarmband herum, das Klara-Luise für sie gekauft und das Iven ihr an ihrem Geburtstag in den Feuerberg gebracht hatte, und tigerte durch das Wohnzimmer der Wolfswacht. Damit trieb sie Iven und Anselm beinahe in den Wahnsinn. Letzterer hatte die Brieftaube mit einer Handvoll Körnern versorgt und anschließend wieder freigelassen.
Iven saß mittlerweile auf dem Sofa und beobachtete aufmerksam, wie Irma vor ihm auf und ab lief.
»Du meinst, dass Baba Jaga mir helfen kann?«, fragte er.
Irma blieb für einen kurzen Augenblick stehen, um Iven zuzunicken, dann tigerte sie erneut auf und ab.
»Ich bin mir ganz sicher, dass Belisana mir das in den Träumen mitteilen wollte, die sie mir schickt.«
»Halt, warte«, warf Iven verwundert ein. »Belisana schickt dir Visionen? Das hast du nie erzählt.«
»Sie sind in der Regel auch wenig hilfreich«, rechtfertigte sich Irma. »Ich habe das letzte Mal erst dann verstanden, was sie mir sagen wollte, als es schon längst zu spät war.«
»Ach ja?«, wollte auch Anselm wissen, der mittlerweile nachdenklich und mit angewinkelten Beinen in dem dunkelgrünen Sessel neben dem Sofa saß.
»Sie hatte mich vor Iven gewarnt, als wir gemeinsam zur Schule gegangen sind«, erklärte Irma. »Ich glaube, dass meine Magikk-Blockade überhaupt erst deshalb aufgebrochen ist.«
Sie blieb erneut stehen, wandte sich Iven zu und enthüllte ihm ihre Theorie: »Ich habe mich in deiner Nähe in Gefahr gefühlt und dann … na ja, dann war ich am anderen Ende der Sporthalle.«
Iven sah sie völlig entgeistert an, bevor er sich wieder zu fangen schien und fragte: »Und was für einen Traum schickt sie dir aktuell?«
Irma begann erneut auf und ab zu laufen und druckste herum. »Na ja … du kommst darin vor. Und Baba Jagas Lachen.«
Sie wollte tunlichst vermeiden, das groteske Bild von dem Fuchs mit den Hühnerbeinen zu beschreiben. Iven käme sich bestimmt lächerlich vor, und sie brauchte ihn gerade kooperativ, nicht verschämt und abweisend.
»Das könnte alles bedeuten, Irma!«, stellte er frustriert fest.
»Vertrau mir«, bat sie ihn. »Ich bin mir sicher, dass Belisana uns zu Baba Jaga schickt.«
»Und du denkst wirklich, die alte Hexe würde mir helfen?«
»Ich denke, es besteht zumindest eine Chance. Überleg doch mal, was hast du mir über Baba Jaga erzählt?«
Iven verzog das Gesicht. »Meinst du die Sache, dass sie Menschen und Anderswesen frisst, ihren Garten mit deren Schädeln dekoriert und ihre Knochen in ihrem gigantischen Mörser zermahlt?«
»Das auch, aber nein.« Irma schüttelte energisch den Kopf. »Du hast mir auch erzählt, dass sie Besuchern mit einem reinen Herzen magische Geschenke machen kann.«
Iven lachte bitter.
»Das trifft jedenfalls nicht auf mich zu. Und erst recht nicht in den Augen der Hexen!«
Irma konnte nicht zulassen, dass er ihre einzige Hoffnung zunichtemachte. Sie setzte sich zu ihm aufs Sofa.
»Wieso wehrst du dich so dagegen?«, wollte sie wissen. »Es hat doch überhaupt keinen Wert, wenn wir hier herumsitzen und unsere Wunden lecken. Wir könnten jetzt etwas tun.«
Und Irma wollte unbedingt etwas tun. Alles in ihr schrie förmlich danach, die Dinge endlich wieder selbst in die Hand zu nehmen, anstatt darauf zu warten, dass das Schicksal die Würfel warf.
Iven schluckte schwer. Dann rückte er mit der Sprache heraus. »Ich will keiner falschen Hoffnung nachjagen, Irma«, gab er zu. »Das letzte Mal, als wir Baba Jaga begegnet sind, hätte sie uns um ein Haar eine Horde Hexen auf den Hals gehetzt.«
»Aber sie hat es nicht getan!«, rief Irma aus. »Und die ganze Situation hat sich geändert. In der Walpurgisnacht waren wir als Wächter und als Spitzel unterwegs. Jetzt stehen wir doch auf der anderen Seite.«
»Wie soll ich auf der anderen Seite stehen?«, schüttelte Iven den Kopf. »Ich bin immer noch ein Anderswesen, von denen übrigens der Großteil unschuldig ist. Die Hexen hassen uns trotzdem.«
»Ich weiß, aber wir stehen gegen Helia, und das muss doch irgendetwas zählen«, versuchte Irma es erneut.
Anselm war der Diskussion bisher stumm gefolgt, nun gab er zu bedenken: »Baba Jaga hat die Brieftaube nicht einfach so geschickt. Sie will etwas von Irma. Vielleicht lässt sie sich von euch überzeugen.«
Irma war so flatterig gewesen, sie hatte Klara-Luise und Kenna nicht bemerkt, die wohl schon eine Weile lang im Türrahmen herumstanden und ihrer Diskussion lauschten.
»Das ist ja alles schön und gut«, warf Kenna ein. »Aber wie wollt ihr die Hexe finden?«
»Und noch viel wichtiger: Wie wollt ihr die Wolfswacht verlassen? Die Wächter machen euch kalt, bevor ihr Birkenhain erreicht«, stellte Klara-Luise fest. »Und wenn es nicht die Wächter sind, dann diese Wolfsmänner.«
Damit hatte Irmas Cousine natürlich recht. Doch sie würde ihre Hoffnung nicht begraben. Belisana schickte sie zu Baba Jaga, das musste bedeuten, dass sie einen Weg finden würden.
Irma wandte sich Iven zu und sah in seine sturmgrauen Augen. Sie war sich sicher, dass darin die gleiche Hoffnung funkelte wie in ihren.
»Wollen wir es wagen?«, fragte sie leise.
»Wir beide?«
»Gemeinsam«, nickte Irma.
Iven nickte ebenfalls.
»Ein Abenteuer!«, rief Kenna begeistert. »Ich hole gleich meine Mutter. Vielleicht kann sie helfen.«
Für die Lagebesprechung hatten sie das Wohnzimmer gewählt. Klara-Luise hatte eine Fleetwood-Mac-Schallplatte aufgelegt und Anselm eine Kanne Tee gekocht, der ihre Kreativität anregen sollte.