Die Kreuzträgerin: Jenseits des Feuersturms - Lydia Schwarz - E-Book

Die Kreuzträgerin: Jenseits des Feuersturms E-Book

Lydia Schwarz

4,5

Beschreibung

Endlich in Frieden leben und die Freiheit auskosten – das ist Annas einziger Wunsch, als ihre Flucht aus der Diktatur Mitteleuropas gelingt und sie auf afrikanischem Boden mit ihren Eltern wieder glücklich vereint ist. Doch der Kontakt zu ihrem besten Freund Felix ist abgebrochen. Und ihre erste große Liebe Adonis wird immer noch gefangen gehalten von dem rückständigen Regime, auf dessen Todesliste er steht. Der Verlust ist groß. Zu groß? Wie schon beim erfolgreichen ersten Band der «Kreuzträgerin»: Das Buch liest sich wie ein Actionfilm mit feinem geistlichen Durchsatz. Nicht nur die Lesetemperatur steigt – Anna geht diesmal ins ferne Afrika.

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Lydia Schwarz Die Kreuzträgerin:

Für meine Eltern:

Lydia Schwarz

Die Kreuzträgerin

Jenseits des Feuersturms

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

Die Bibelstellen wurden folgender Übersetzung entnommen:

Hoffnung für alle® Copyright © 1983, 1996, 2002, 2015 by Biblica, Inc.® Herausgeber: Fontis – Brunnen Basel

© 2016 Fontis – Brunnen Basel Umschlag: Spoon Design, Olaf Johannson, Langgöns Coverbilder: Shutterstock.com E-Book-Vorstufe: InnoSet AG, Justin Messmer, Basel E-Book-Herstellung: Textwerkstatt Jäger, Marburg

ISBN (EPUB) 978-3-03848-798-2

Prolog

Europa – in einer fernen Zukunft Sonntag, 7. Prairal, im Jahr 332 Anno Illumini «Tag des Glatthafers» (27. Mai)

«Ich glaube, sie sind uns auf den Fersen, Anna Tanna!» Felix Livingstones raue, tiefe Stimme dröhnte in meinem Kopfhörer.

Ich fuhr aus dem Schlaf hoch und schaute blinzelnd durch das vibrierende Fenster des Hubschraubers. Am Horizont tauchte ein grandioser Sonnenuntergang die weite See in ein beruhigend diesig-gelb-oranges Licht. Doch unter uns donnerte das wildtosende Meer gegen bedrohlich aufragende Küstenfelsen.

«Was sagst du da?», fragte ich meinen Piloten mit heiserer Stimme in das Mikrofon über meinen Lippen.

Felix Livingstone, dessen wildes schwarzes Kraushaar nur von seinem Kopfhörer etwas plattgedrückt wurde, schürzte seine vollen Lippen und wischte sich mit dem Handrücken über die feuchte Stirn. Ein leuchtend lachsfarbenes T-Shirt, zwei glänzende Ohrstecker und eine Goldkette, die ihm im Abendlicht glitzernd über dem muskulösen Brustkorb baumelte, bildeten einen auffälligen Kontrast zu seiner beinahe nachtschwarzen Haut. Sein Blick war aufmerksam nach vorne gerichtet, die große rechte Hand lag locker auf dem Steuerknüppel, während er konzentriert auf die Stimmen, die aus dem Äther zu ihm durchdrangen, lauschte. Es waren englische Wortfetzen, deren Sinn sich mir vollkommen entzog.

Wahrscheinlich hatte er meine Frage gar nicht gehört …

Ganz ruhig, Anna, alles der Reihe nach! Orientier dich zuerst mal!, mahnte ich mich zur Vernunft.

Mit den Fingern fuhr ich mir durch mein langes Haar, das durch die Entbehrungen der letzten Monate von seinem ursprünglichen Kastanienbrünett zu einem nichtssagenden Mausbraun abgestumpft war und mein Gesicht zerzaust und unordentlich umspielte.

Ich muss einfach scheußlich aussehen!, dachte ich gequält und angelte aus einem Seitenfach neben meinem Sitz eine Flasche Wasser heraus. Die Flüssigkeit vertrieb den säuerlichen Geschmack des Schlafs, und ich schaute an mir hinunter. Die karierte Bluse, die man mir bei der Flucht in aller Eile angezogen hatte, war zwar von besserer Qualität als alles, was ich je besessen hatte – immerhin stammte sie aus dem Haushalt von Adonis Magellan –, aber sie war mir zu groß, und mein Oberkörper versank fast darin.

Wenigstens verdeckt die Bluse das Tattoo, dachte ich, und meine Hand wanderte automatisch an meinen rechten Oberarm. Ein leichter Schmerz bewies mir, dass das Zeichen, das mich als Feindin Europas kennzeichnete, noch immer da war. Das alles hier war kein Traum. Ich war wirklich unterwegs in die Freiheit!

Das letzte Mal, als ich vollständig wach gewesen war, hatten wir uns hoch über dem Gewässer befunden, das in meinen Geografiebüchern klangvoll Mare Concordia genannt wurde, das Meer der Eintracht, und das Felix in der Sprache der mir noch unbekannten freien Welt etwas enttäuschend und lieblos Mittelmeer genannt hatte.

Meine Augen schweiften suchend zu meinem Nebenmann. «Wo sind wir jetzt?», drängte ich Felix zu einer Antwort und warf dabei noch einen unsicheren Blick in die Tiefe, wo kleine Inseln die dunkle Oberfläche des Meeres schmückten, als hätte eine große Hand sie wie Spielzeug dort hingewürfelt.

«Wir waren eben noch über der Ägäis, als du geschlafen hast, haben dann die griechischen Inseln passiert und befinden uns jetzt über dem Marmarameer. Es ist nicht mehr weit. Der direkte Weg übers Festland wäre zwar schneller gewesen, aber auch gefährlicher. Je weniger Leute uns sehen, desto besser. Und bis jetzt läuft alles gut. Wir schaffen das!»

Meine Stirn legte sich in tiefe Falten. Ich hatte gehofft, dass die schlimmste Gefahr gebannt wäre, nachdem wir die Bergkette überquert hatten, die Felix profan Alpen nannte, welche aber in meiner Heimat den klangvollen Namen Berge der unbegrenzten Freiheit trugen. Bei dem Gedanken, dass wir im Europäischen Reich tatsächlich glaubten, ein Gebirge, das Tausende von Metern hoch wie eine undurchdringliche Mauer aufragte, könne «unbegrenzte Freiheit» symbolisieren, schüttelte ich betrübt den Kopf.

Eigentlich war es kein Wunder, dass ich erst jetzt, nachdem wir die Berge der unbegrenzten Freiheit schon vor einigen Stunden mit diesem seltsamen Fluggerät überwunden hatten, endlich fühlen konnte, dass die Grenzen, die mich in meinem alten Leben zurückgehalten hatten, endgültig bezwungen und besiegt waren. Ich wollte mir ständig über die Augen reiben, denn es kam mir alles immer noch so vor, als sei ich eine Schlafende, die aus einem Alptraum erwachte. Verwirrung, Erleichterung, Freude, Angst vor dem Unbekannten … Meine Gefühle glichen den aufgewühlten Wassermassen unter uns.

Ein Blick auf Felix zeigte mir, dass sein rundes, glattrasiertes Kinn in angespannter Nervosität zuckte. Die Runzeln auf seiner dunklen Stirn verschwanden auch nicht, als er meinen Blick bemerkte und mir sein typisches überschwängliches Lächeln zuwarf.

«So, meine Liebe! Bald wirst du der Einwanderungsbehörde gegenüberstehen», hörte ich ihn über die Kopfhörer.

Mir wurde allein bei dem Gedanken, wieder vor einer staatlichen Gewalt antreten zu müssen, schlecht.

Du schaffst das nicht!, flüsterte mir meine Angst zu.

Reflexartig krempelte ich die Ärmel meiner Bluse hoch und richtete mich gerade im Sitz auf.

«Sie werden dich aufs Genaueste interviewen wollen», prognostizierte Felix.

«Oh Mann! … Was möchten sie denn wissen?», fragte ich.

«Ich schlag dir was vor: Ich werde dir einige Fragen stellen, einfach, damit du deine Antworten schon mal üben kannst.»

Ich schaute ihn schräg von der Seite an. «Also, dann schieß mal los!»

«Okaaaaaay», meinte Felix gedehnt und räusperte sich dann, als müsse er sich zuerst in die Rolle eines Behördenmitglieds hineinversetzen.

«Wie ist Ihr Name, junge Frau?» Er zog seine Augenbrauen mokant in die Höhe.

«Anna Tanner!», antwortete ich wie aus der Pistole geschossen.

«Nöd! Nöd!» Felix verzog sein Gesicht und imitierte das Geräusch einer Hupe. «Falsch! Was steht denn in dem kleinen roten Heftchen, das da unten in deiner Tasche liegt?» Er deutete auf die kümmerlichen Habseligkeiten zu meinen Füßen.

Ich folgte seinem Blick und dachte an das offizielle Dokument, das zwar mein vertrautes Bildnis trug, jedoch den Namen meiner neuen Identität enthielt.

«Sophia Bellwald», murmelte ich und schaute auf meine schmalen Hände mit ihren eingerissenen Fingernägeln.

Felix nickte zufrieden – wie ein Dozent, der die korrekte Prüfungsantwort seines Zöglings mit wohlwollender Zustimmung quittiert.

«Was ist Ihr wertes Alter?», fuhr er fort.

«Warum ‹wertes›?», spottete ich. «Drücken sich dort etwa alle so geschwollen aus?»

«Sie werden darauf hingewiesen, den Fragesteller nicht zu unterbrechen!», ahmte Felix den Staatsdiener nach. «Also: Ihr Alter?»

«Einundzwanzig. Seit einer Woche, um präzise zu sein.»

«Kann's immer noch nicht glauben, dass ich deinen Geburtstag verpasst hab», murmelte Felix.

Wenn man im Gefängnis sitzt und auf die Vollstreckung seines Todesurteils wartet, ist einem sowieso nicht so nach Geburtstagsfeier, dachte ich.

Es erschien mir seltsam surreal, dass es kaum achtundvierzig Stunden her war, dass ich auf mirakulöse Art und Weise meiner Todesstrafe entkommen war.

«Herkunft?», brachte Felix mich wieder auf Kurs.

«Mitteleuropa.»

«Beruf?»

«Ich war Studentin.»

«Studienrichtung?»

«Apollinisch.»

«Was ist das genau?»

«Das ist die Studienrichtung, bei der man sieben Selbstverwirklichungsstufen durchläuft, um am Schluss die Erleuchtung zu erlangen, den Status des Humanitus Perfectus oder der Humanita Perfecta, eines Gelehrten!»

«Im Gegensatz zu?»

«Den Dionysiern, die sich auszeichnen durch Rauschhaftigkeit und Ausschweifungen … Weshalb wollen die das so genau wissen im Land der Mittagssonne?», argwöhnte ich.

«Für die Statistik», meinte Felix. «Wenn du Dionysierin wärst, würdest du wahrscheinlich noch eine Broschüre mit Benimmregeln mit auf den Weg kriegen. Apolliner integrieren sich erfahrungsgemäß schneller und leichter, weil ihnen Manieren beigebracht wurden.» Er fügte an: «Außerdem darf ich dich bitten, ab sofort dieses seltsame ‹Land der Mittagssonne› Afrika zu nennen, weil die Regierung sehr stolz auf diese Bezeichnung ist und die europäischen Geografie-Bezeichnungen bei uns nicht anerkannt werden. Also, sprich mir nach: Ab jetzt lebst du auf dem Kontinent A-fri-ka, im Land Ke-ni-a. Und wie heißt die Stadt?»

«Nai-ro-bi!» Langsam ließ ich mir das fremde Wort auf der Zunge zergehen.

«Haben Sie Familie, Sophia Bellwald?», kehrte Felix zu unserem Frage-Antwort-Spiel zurück.

«Vater und Mutter. Sie waren totgeglaubt. Bis vor Kurzem, um genau zu sein … In Wahrheit leben sie aber beide in der Nähe von Nairobi.»

Meine Mutter war vor mehreren Monaten aus unserer Heimatstadt geflohen. Meinen Vater hatte ich als kleines Kind zum letzten Mal gesehen. Von ihm geblieben war nur die verblassende Vision eines großen Mannes mit Bart, der mir, als ich noch ein Kleinkind war, das Haar verstrubbelte.

«Einen Bruder hatte ich früher auch noch. Er war ein Widerstandskämpfer. Leider ist er vor sechs Jahren bei einem Einsatz … gestorben.» Ich musste mich räuspern.

«Ich glaube, das wird uns all den Einreisekram enorm vereinfachen», meinte Felix. «Das Rettungscenter deines Vaters genießt hohe Anerkennung bei der kenianischen Regierung.»

Ich hatte es diesem Rettungscenter zu verdanken, dass ich überhaupt hier und nicht in einem dionysischen Kultfeuer zu Asche verpufft war.

«Und wie sieht es mit Ihrer Weltanschauung aus? Nach welchen Grundwerten leben Sie?», wollte Felix nun in geschäftsmäßigem Ton wissen.

«Freiheit, Gerechtigkeit, Toleranz und Frieden», leierte ich herunter, weil ich es so viele Jahre auswendig hatte aufsagen müssen. «Obwohl … das war früher mal …», ergänzte ich schließlich.

«Warum nun nicht mehr?», beharrte Felix mit einem galanten Aufschwung in der Stimme.

«Weil das ganze europäische Gerede von Freiheit, Gerechtigkeit, Toleranz und Frieden eine einzige Farce ist», spuckte ich aus.

«Na, na, na … nicht ganz so hitzköpfig», versuchte Felix mich zu beruhigen. «Sie wollen keine Anarchisten und Aufrührer reinlassen, und Freiheit ist das höchste Gut der afrikanischen Länder.»

«Sagen wir es also so», begann ich nochmals mit wohltemperierter Stimme. «Der Grundgedanke ist ja gut, aber wie ich herausfinden musste, hält die europäische Regierung sich nicht an das, was sie predigt. Statt Freiheit herrschte Unterdrückung, statt Toleranz hab ich Verfolgung erlebt. Statt Gerechtigkeit gibt's dort nur Korruption.» Ich spürte, wie die Verbitterung darüber, dass ich dem Regime jahrelang auf den Leim gegangen war, an meinem Herzen zog.

«Haben Sie denn mittlerweile neue Grundwerte?»

Das Tattoo prickelte auf meinem rechten Oberarm, als wolle es sich seinen Weg durch den Ärmel der Bluse bahnen und hinausschreien, was aus mir geworden war.

«Ich bin … Ich bin eine …» Ich schlang mir die Arme schützend um den Oberkörper. Nein, ich brachte es nicht über die Lippen! Auch nicht in einer Höhe von fünftausend Metern über dem Boden, wo mich niemand außer Felix hören konnte.

«Ähm … Es ist für mich sehr schwer, über den Grund zu sprechen, weshalb ich zum Tode verurteilt wurde und hingerichtet werden sollte. Jedes Mal glaube ich immer noch das Knistern der Flammen zu hören und den Rauch zu riechen, dessen Feuer mich hätte medium durchbraten sollen.»

Felix' Mundwinkel hoben sich leicht.

«Würden meine Füße jemals wieder europäischen Boden berühren, nähme mich die Regierung dort sofort wieder gefangen. Man würde mich wahrscheinlich auf einen Schlachthügel zerren und mich dem … Feuer übergeben.»

«Kein Problem, wenn du nicht darüber reden willst!», antwortete Felix augenzwinkernd. «Spätestens bei ‹medium durchgebraten› werden die Beamten denken, dass du traumatisiert bist, und dich in Ruhe lassen. Die kennen solche Geschichten von anderen Flüchtlingen. Ich hoffe nur, dass sie dir keinen Therapeuten aufdrücken.»

Ich brauche keine Therapie!, dachte ich gekränkt, aber da folgte auch schon die nächste Frage.

«Wie sind Sie der Hinrichtung entkommen?»

Ich warf Felix einen vorwurfsvollen Blick zu. «Ich wurde Gott sei Dank befreit …»

«Ach, jaaaaaaa? Von wem denn?» Er blickte mich aus großen rehbraunen Augen treuherzig an. – Da war er wieder, der alte Schalk, den ich so an meinem besten Freund mochte!

«Von Felix Livingstone, der gar kein gleichaltriger Austauschstudent aus dem Land der Mittagssonne ist, wie er mir über Jahre weisgemacht hat! Er zählt nämlich bereits 35 Jahre – Mann, du gehörst ja schon zu den alten Eisen! –, und seine Freizeitbeschäftigung besteht darin, im Auftrag des Rettungscenters meines Vaters unterdrückte Minderheiten aus Europa hinauszuschmuggeln … Er kann übrigens auch ganz leidlich Hubschrauber fliegen.»

«Ganz leidlich?!», lachte Felix in gespielter Empörung.

Ich warf ihm einen vorsichtigen Blick zu. «Ich hab geglaubt, er sei ein Verräter, und hab ihn dann wegen dieses Missverständnisses beinahe unserer diktatorischen Regierung ausgeliefert, aber in Wirklichkeit ist er mein Retter, und er heißt nicht Felix Livingstone, sondern Moses und irgendwas …»

«Moses Rafiki Kingori!», schob er würdevoll ein, als sei er ein Stammesprinz aus einem Fürstengeschlecht einer längst vergangenen gloriosen Ära.

Auch jetzt wäre ich noch vor Scham über meine fatale Fehlinterpretation am liebsten im Boden versunken. Schnell fuhr ich fort: «Er war es, der mich gerettet hat. Er und … und Adonis Magellan, auch bekannt als Amadeo Nero …»

Meine Gedanken huschten zu meinem ehemaligen Humanitus Perfectus, meinem Dozenten. Für mich war er viel mehr gewesen als nur mein Lehrer. In meiner Erinnerung konnte ich jede Regung seines überirdisch schönen Gesichts nachzeichnen:

Jede Wimper, jedes Zucken der Mundwinkel hatte sich mir eingeprägt. Die fein geschwungenen dunklen Augenbrauen, die aristokratisch gerade Nase, die vollen sinnlichen Lippen, das Grübchen im Kinn und seine dunklen honigfarbenen Augen, die seine Seele widerspiegelten … Was hatte ich in ihnen im Lauf der letzten Monate nicht alles gelesen! Interesse, Wärme, Verachtung, Abscheu, Hinterlist und dann aufrichtige Reue …

Durch die Erinnerung an Adonis hatte ich die nächste Frage verpasst. «Wie bitte?», haschte ich nach dem Ende des letzten Satzes, während ich mich vorbeugte und mir dann vorsichtig meine Tasche auf den Schoß hob.

«Was ist Ihr Zivilstand?»

«Was'n das?», entfuhr es mir wenig elegant, während ich langsam den Reißverschluss öffnete, meine Hand in die Tasche gleiten ließ und sie darin sachte auf das kunstvoll gewebte Stofftuch legte, das Felix mir ein paar Wochen zuvor geschenkt hatte.

Felix schnalzte mit der Zunge und schüttelte mit gespieltem Entsetzen den Kopf. «Haben sie euch nichts Gescheites beigebracht im Norden?»

Ich lächelte schief und ignorierte den feinen Stachel, den sein leichtfertig geäußerter Kommentar in meinem Herzen hinterließ. Meine Finger spielten kurz mit den schwarzen Perlen am Rand des Tuchs und tasteten sich dann weiter durch den Inhalt meiner Tasche, obwohl ich genau wusste, was sich darin befand.

Felix präzisierte umgehend: «Sind Sie: A) Ledig? B) Verliebt, aber noch zu haben? C) Verheiratet? D) Geschieden, getrennt oder verwitwet? E) Ist es kompliziert? Bitte kreuzen Sie eine Option an!»

Ich lachte und musste dann sofort schlucken, weil ich wieder an Adonis Magellan dachte. Gelehrter, Geliebter, Schauspieler, Verräter, Retter und mittlerweile vielleicht auch schon Märtyrer. Ich zögerte. «Wollen die das wirklich so genau wissen?»

Mein Zeigefinger fuhr mittlerweile über den Ledereinband des Buches. Mein Buch. Mein wichtigster Begleiter. Es ist noch da! Ich seufzte erleichtert auf.

Felix zog die Achseln hoch. «Keine Ahnung, wie genau die's wissen wollen.»

«Du fragst das alles nur, um mich von diesem Höllenflug abzulenken!», gab ich zurück und versuchte aus den Fetzen von Funksprüchen schlau zu werden, die immer noch über den Äther zischten, während ich die säuberlich arrangierten Kleider meiner zweiten Garnitur abtastete, die Adonis' Haushälterin Mariangela mir eingepackt hatte. Und da lagen sie immer noch. Falte auf Falte, Naht auf Naht. Stoffbahn auf Stoffbahn. Baumwolle, Kordeln, Lochspitzen, Synthetik …

«Ist alles noch da, Anna Tanna?», bemerkte Felix kopfschüttelnd.

Meine Finger zuckten zurück.

«Wie schon die letzten zwanzig Mal, als du deine Tasche durchwühlt hast! Oder habe ich mich verzählt?»

«‹Durchwühlt›, sagt er!», gab ich empört von mir und zog mit Macht am Reißverschluss, um die Tasche zu schließen.

«Du übertreibst es ja völlig! Früher warst du doch nicht so ordentlich, jetzt wirkst du schon fast etepetete mit deinem Zeugs!»

«Stimmt gar nicht!», wehrte ich ab und presste die Augen zu kleinen Schlitzen zusammen. Auf meiner Hose hatte ich ein langes Haar entdeckt, das ich entnervt vom Stoff abzupfte und in den kleinen Abfallbehälter vor mir in der Konsole steckte. Ein Blick auf Felix' hochgezogene Augenbrauen zeigte mir, dass diese Aktion mich nicht gerade in ein besseres Licht rückte. Ich deponierte die Tasche schnell wieder zu meinen Füßen.

«Warum möchten Sie in das schönste Land der Welt, Kenia, einreisen?», fuhr Felix fort, ohne das Thema noch länger zu beachten.

«Na ja, wenn Sie so fragen: Natürlich, um die seltenen Pflanzen und Tiere hier in Afrika zu sehen, von denen ich bisher nur gelesen habe und von denen ich dachte, sie seien schon seit Jahrhunderten ausgestorben …», spöttelte ich.

«Du lachst jetzt», konterte Felix. «Lange Zeit kamen die Menschen, gerade auch deine Landsleute, zu uns, um sich die schönen Giraffen, Elefanten, Nashörner, Büffel und Leoparden anzusehen. Ganz zu schweigen vom Küstenabschnitt des Indischen Ozeans, wo sie – sorglos Cocktails schlürfend und in der tropischen Sonne bratend – sämtliches Geld verprassten. Hier gab's alles, was euer Herz begehrte: unechten Schmuck, Tierhäute, Stoßzähne und billigen Tand, außerdem ostafrikanische Delikatessen und … Dienstleistungen, bis hin zu Sex. Das brauchtet ihr alles nur, um euch eure Langeweile zu vertreiben und um eure innere Leere zu übertünchen.»

«Warum sagst du so abschätzig ‹deine Landsleute› …?», schnappte ich. «Du hast schließlich auch vier Jahre lang wie einer von uns gelebt, oder?»

«Was nicht heißt, dass ich nicht mit Leib und Seele Afrikaner bin … und stolz darauf», ergänzte er und warf sich in die Brust.

Ich rollte die Augen himmelwärts.

«Was ist also der wirkliche Grund für Ihre Einreise?», erinnerte Felix mich an unser Spiel.

«Oh, Mann! Wie deutlich muss ich noch werden?! Sie wollten mir in meiner Heimat das Licht ausknipsen», bellte ich. «Jetzt bin ich auf der Flucht!»

Erschrocken über meine harschen Worte holte ich tief Luft, rückte meine Bluse zurecht und zwang mich wieder zur Ordnung.

«Glaubst du, sie werden es mir so schwermachen, Asyl zu bekommen?», fragte ich zweifelnd. «Du glaubst doch nicht, dass sie mich wieder zurückschicken?»

«Quatsch, du bist ein absoluter Härtefall!», stellte Felix fest. «Es würde gegen die Charta der Menschenrechte verstoßen, wenn sie dich an einen Ort zurückschicken, wo die Grundrechte mit Füßen getreten werden. Ich würde mir an deiner Stelle keine Sorgen machen.»

Ich seufzte und warf Felix einen scharfen Blick zu, da soeben wieder ein Funkspruch eintraf, der ihm Sorgenfalten auf die Stirn zeichnete.

«Zuerst müssen wir ja auch aus Europa raus», plapperte ich weiter. «Wie nennst du die Stadt, zu der wir hinfliegen?»

«Istanbul, das Tor zur Freiheit», stieß Felix hektisch hervor.

Wenn ich Felix' Erzählungen Glauben schenkte, war dies die Schnittstelle für alle Flüchtlinge, die von Europa die Nase voll hatten und entkommen wollten …

In diesem Moment ertönte in vernehmbarer Lautstärke ein Funkspruch. «JC O Five Six! Identify yourself! JC O Five Six!»

Ohne Vorwarnung zog Felix den Hubschrauber in einem Zirkel zur Landmasse hin, dann manövrierte er das Fluggerät in einen abrupten Sinkflug. Der starke Luftdruckanstieg verursachte eine schmerzhafte Störung meiner Trommelfelle und eine flaue Hechtrolle in meinem Magen. Ich presste mich in den Sitz und starrte auf das Wasser hinunter.

Die männliche Stimme rauschte wieder über den Funk. Felix beschleunigte als Reaktion darauf unseren Flug, indem er den Steuerhebel nach vorne neigte. Mir wurde wieder ganz anders, und ich klammerte mich mit der linken Hand an einen dafür vorgesehenen Griff über mir.

«What?», schrie Felix so laut ins Mikrofon, dass meine Ohren klingelten. Er erhielt offenbar noch mehr Informationen, denn er studierte das globale Positionierungssystem in der Anzeige vor sich, zog die virtuelle Karte mit den Fingern an sich heran, um ein größeres Gebiet überblicken zu können, und brüllte dann einige Zahlen in maschinengewehrartigem Stakkato ins Mikrofon.

Seine Anspannung übertrug sich auf mich. «Was ist denn?», flüsterte ich angstvoll ins Mikrofon.

Felix' Gesicht war nun düster verbissen. Er flog eine weitere Kurve, und wir rasten mit hoher Geschwindigkeit vom Wasser weg über eine Landmasse.

«Zuletzt noch die wichtigste Frage», stieß mein Pilot zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. «Was haben wir heute für ein Datum?»

«Das ist fies!», knurrte ich und krallte meine rechte Hand in den Sitz, während mir furchtbar schlecht wurde. «Es ist Prairal. Aber du weißt, dass ich die korrekte afrikanische Bezeichnung für die Monate nicht kenne.»

Ich kann mich jetzt nicht mehr auf diese Fragen konzentrieren, ging es mir durch den Kopf.

«Was tust du da eigentlich?», brüllte ich stattdessen.

Felix verzog das Gesicht. «Bald haben wir's geschafft, Anna Tanna! Bleib cool! Yeah, wir haben sie beinahe abgehängt … Nein! Mist! Da sind sie!»

Links und rechts waren wir plötzlich von zwei größeren, grauen Fluggeräten flankiert, die mich stark an ein Buch aus meiner Kindheit erinnerten: «Invasion durch Außerirdische». Felix bemühte sich, unseren Helikopter stabil in der Luft zu halten, reagierte sonst aber relativ gelassen: «Hallo, ihr Lieben!» Er hob seine Hand und winkte mit einem freundlichen Grinsen hinaus.

Ihre Luftfahrzeuge waren doppelt so lang wie unser Helikopter und glichen in ihrer aerodynamischen Form einem Kampfjet, wie man sie aus früheren Jahrhunderten kannte. Ich konnte keine Turbinen oder Rotoren an den Maschinen ausmachen, und so kamen sie mir fast so vor wie zwei riesengroße metallene Rochen, die statt des Meeres den Himmel durchpflügten. Hinter den Glaskuppeln der Pilotenkabinen konnte ich jeweils zwei behelmte menschliche Häupter sehen.

«Wer ist das?»

«Die europäische Luftwaffe!»

«Oh nein», hauchte ich. «Was tun wir denn jetzt?»

«Wir können von Glück reden, dass der Staatsapparat in den südlichen Verwaltungsbezirken von Europa nicht wirklich gut funktioniert, sonst hätten sie sich uns schon seit geraumer Zeit an die Fersen geheftet. Tja, die einzelnen Regierungen Europas sind untereinander heillos zerstritten», plapperte Felix weiter. «Das ist unser Glück!»

«Identify yourself!», folgte eine weitere Aufforderung über Funk.

Felix warf ihnen in schneller Folge einige mir unverständliche Ausdrücke an den Kopf.

«Sie wollen wissen, woher ich komme und wohin ich fliege. Ich habe ihnen mal den Quatsch gesteckt, dass wir nach Tripolis reisen wollten und ein bisschen vom Weg abgekommen sind. Nur noch zehn Minuten bis zu unserem Ziel.»

Die Flugobjekte glitten indessen weiter neben uns dahin. Felix antwortete fröhlich auf die immer wieder von sphärischen Störungen unterbrochenen Schallwellen aus der Luft. Die Stimmen klangen immer noch sachlich, aber ich konnte doch eine gewisse Anspannung spüren.

«I'd say so!», lachte Felix gerade aufgeräumt. Dann schwatzte er weiter auf die Piloten der Flugobjekte ein.

Nach einigem weiteren Hin und Her im Smalltalk verfinsterte sich seine Miene jedoch, und sein Plauderton wich einer entschlossenen Erklärung. Das Gespräch musste eine für uns ungünstige Wendung genommen haben. «No!», bellte Felix.

Ich nahm den Blick von den Aufklärungsflugzeugen und richtete ihn zur Ablenkung auf die Landschaft, die unter uns dahinraste. Ein kleines Flüsschen teilte eine Wiese, auf der blasslila Blumen blühten. Eine Person auf einem Esel oder Pferd bewegte sich unter uns auf einem steinigen Weg voran.

Ein Funkspruch, der nicht von den Aufklärungsflugzeugen stammte, kam herein. Felix sprach als Antwort ins Mikrofon: «JC O Five Six requests immediate authorization to land.»

«Permission granted», quäkte der Funk.

«Arriving in about six minutes», gab Felix zurück.

«Expecting you, JC O Five Six», kam die Antwort postwendend.

«Die Bahn ist zur Landung freigegeben», informierte mich Felix. «Es sind noch sechs Minuten.»

«Dies ist eine Warnung, drehen Sie sofort ab!», forderten unsere Luftschutz-Begleiter plötzlich in klarem Deutsch, und mir schwante nichts Gutes. Also hatte uns die geheime Luftwaffe meines Verwaltungsbezirks – oder «Parts», wie es bei uns hieß – bis hierher verfolgt!

«Ich würde mich liebend gerne noch eine Weile mit Ihnen unterhalten. Aber ich muss die Landung vorbereiten», antwortete Felix.

«Hören Sie auf zu quatschen! Wir verlangen die Offenlegung Ihrer Identitäten, oder wir werden Sie unserer Regierung melden und Sie dann vom Himmel holen!»

«Wäre peinlich für Sie, aber tun Sie das nur. Sie werden nur einen afrikanischen Milliardär in seinen Flitterwochen erwischen. Das gibt diplomatischen Ärger, sag ich Ihnen.»

«Wir ersuchen Sie, uns umgehend zu folgen, sonst werden Sie zum Abschuss freigegeben.»

«Wir befinden uns bereits über dem asiatischen Teil der Türkei!», konterte Felix. «Wollen Sie wirklich einen interkontinentalen Zwist heraufbeschwören?»

«Das Land der drei Meere gehört zum europäischen Hoheitsgebiet», schnarrte die Stimme feindselig.

«Davon träumt ihr doch bloß!», gab Felix nun zurück. Er hatte den Verfolgern gegenüber endgültig seine Maske abgelegt.

Ich schaute ihn entsetzt von der Seite an.

Was verschwendest du bloß deine Zeit mit diesen Diskussionen?

Innerlich verabschiedete ich mich von meinem frisch gewonnenen Leben, das lediglich wenige Stunden angehalten hatte, und bedauerte, dass ich nur einen kleinen Atemzug der neuen Freiheit hatte atmen können und meine Eltern nun doch nicht wiedersehen würde.

«Drehen Sie umgehend ab!»

«Oder was …?», ätzte Felix. «Packt ihr sonst eure ‹Argumentationsverstärker› aus?» Felix wandte sich mit einem schiefen Lächeln an mich: «Das ist ihr Euphemismus für Waffen.»

Noch einmal ging er mit dem Hubschrauber auf Tauchkurs.

«Ha! Jetzt müssen sie abdrehen! Durch die enge Schlucht da vorne können sie uns nicht folgen», lachte Felix.

Tatsächlich musste unser Begleiter rechterhand wegen der topographischen Hindernisse, die sich vor uns auftürmten, abdrehen.

Wir ratterten zwischen den engen Felswänden der Schlucht hindurch. Ich presste die Augen zusammen, um es nicht mit ansehen zu müssen. Als ich sie wieder öffnete, waren wir immer noch unversehrt und überflogen nun hügeliges Land. Doch leider war es auch dem zweiten Aufklärungsflugzeug gelungen, das Hindernis zu durchfliegen.

«Eine letzte Warnung!», röhrte es blechern aus dem Kopfhörer.

Was als Nächstes geschah, nahm ich wie durch Watte wahr: Auf ein unheimliches Zischen folgte ein ohrenbetäubender Knall, und in einem Wäldchen rechts von uns explodierte ein Feuerball. Die Kraft der Druckwelle presste mich seitlich fast vom Sitz und der Helikopter begann gefährlich zu schlingern.

«Wir werden beschossen!», schrie ich.

«Diese Mistkerle!» Auf Felix' Stirn sah ich Schweißperlen. Hastig hantierte er mit Knöpfen und Hebeln.

Wir rasten über eine Wiese hinweg, die mit großen Steinen und Felsbrocken übersät war. Eine Schafherde tat sich gütlich am wenigen Grün dazwischen. Immer näher kamen wir dem Erdboden. Links und rechts sah ich mit trockenen Büschen bewachsene Hügel, und die Bäume, die die steppenartige Graslandschaft unterbrachen, kratzten am Boden unseres Gefährts. Ich hätte nur die Hand aus dem Fenster strecken müssen, und schon hätte ich die Baumspitzen zu berühren vermocht.

«Tut mir leid, Anna Tanna!», presste Felix hervor. «Ich hätt dich gern direkt ans Ziel gebracht. Aber wir schaffen es nicht mehr bis zum Flugplatz! Es ist mir nicht recht, dass wir die Reise hier schon beenden müssen. Bete zu Gott, dass er uns beschützt, und halt dich fest! Gleich wird's ein bisschen holprig!»

Die Rotoren brüllten ein letztes Mal auf. Mein ganzer Körper verkrampfte sich, so sehr spannte ich meine sämtlichen Muskeln an. Mein Herz polterte. Als Felix uns abwärts manövrierte, hörte ich in meiner Vorstellung schon das Krachen und Klirren einer Bruchlandung und sah die Staubwolke des rauchenden Wracks.

Ich biss die Zähne zusammen und schloss die Augen.

«Mayday! Mayday! Eagle down!», hörte ich Felix brüllen.

Kapitel 1

Ostafrika Donnerstag, 1. Juni, im Jahr 2121 Anno Domini

«Dear airline passengers … We welcome you to Jomo Kenyatta International Airport Nairobi and wish you a pleasant stay. In your own interest please do not leave your luggage unattended …»

Ich stand wie versteinert in der Empfangshalle des Flughafens der Hauptstadt Kenias und sah mich um. Das hohe, weitläufige Dach aus quadratischen, in Metall eingefassten Glasscheiben über mir gab den Blick auf einen bewölkten Abendhimmel frei.

Mit weit aufgerissenen Augen saugte ich jedes Detail der Umgebung in mich auf: Um mich wogte eine Menschenmenge. Frauen, Kinder und Männer liefen an mir vorbei, die meisten in bunte Kleidung gehüllt. Ich starrte in ihre dunklen, breiten Gesichter, die mich schmerzhaft an meinen Freund Felix erinnerten.

Niemand nahm Notiz von mir, wie ich mit beiden Armen meine kleine Reisetasche umklammerte, einer Statue gleich mitten im Gewühl stand.

Ich bestaunte direkt neben mir eine vier Meter hohe, hölzerne Skulptur, die einen abstrakten Krieger mit Speer und länglichem Schild zeigte. Ähnliche Kunstwerke konnte ich verstreut in der ganzen Eingangshalle ausmachen: Plastiken von imposanten Frauengestalten in langen gewickelten Roben, Standbilder von Giraffen, Löwen und Affen. An den Wänden hingen Gemälde in den unterschiedlichsten Größen, die mehrheitlich Landschaften zeigten.

Der Lärm von Hunderten von Stimmen drang an mein Ohr. Die meisten Reisenden unterhielten sich mit ihren Begleitern, einige sprachen auch in eine komische Uhr an ihren Handgelenken, und wieder andere strebten – ihr Gepäck hinter sich herziehend – einem der Ausgänge entgegen, während sie angestrengt der klaren weiblichen Lautsprecherstimme lauschten, die weiterhin ihre Informationen ausrief. «Fly-through passengers to Daressalam, Arusha and Kampala please go to Gates A, E and G. If you like to rent a Solarplexi please follow the signs to the exit …»

Fasziniert sog ich die sirrende Schwüle der afrikanischen Luft ein. Sie war voll. Voll mit Feuchtigkeit und dem Geruch von Schweiß, Gewürzen, Gebratenem und Nuancen unterschiedlichster Parfums: blumig, süßlich und herb.

Wo muss ich jetzt hin?

Ich ließ mich treiben wie ein kleines einsames Schiff, das sich tapfer, aber chancenlos durch die emportürmenden Wellen eines tobenden Ozeans kämpft. Mein Lebensschiff war bis jetzt nicht untergegangen, es trotzte den Wogen immer noch, ungeachtet all der Dinge, die ich während der letzten schrecklichen Monate in Europa erlebt hatte.

«Anna Tanna! Jemand wird dich am Flughafen abholen und zu dem Ort bringen, wo deine Eltern sind», hatte Felix instruiert, als er mich in Istanbul, dem Tor zur Freiheit, für eine reguläre Linienmaschine eingecheckt hatte, die mich zuerst nach Dubai brachte, von wo die Reise vier Tage später nach Nairobi weiterging.

Wir hatten den Helikopterabsturz überlebt! Abgesehen von einer grimmigen Gehirnerschütterung und den damit einhergehenden gelegentlichen Schwindelanfällen, unzähligen Schrammen und blauen Flecken waren wir unversehrt geblieben. Uns dem Zugriff der europäischen Schergen zu entziehen, war gelungen. Die Schrecken der Verfolgungsjagd steckten mir jedoch immer noch in allen Gliedern und überschatteten die Freude darüber, mich endlich in Freiheit zu befinden.

Am Flughafen in Istanbul hatte mir Felix zu meinem Entsetzen dann eröffnet, dass er unter allen Umständen einen neuen Hubschrauber auftreiben müsse, um sich wieder todesmutig in den Hexenkessel Mitteleuropa zurückzustürzen, wo seine «Mission» noch nicht beendet sei. Die stechenden Gefühle des Verlassenseins, des Verlustes und der Angst, die mich seitdem verfolgten, engten mir auch jetzt wieder die Brust ein, aber ich ließ mich trotzdem von dem Menschenstrom weiter durch die riesige Eingangshalle mitreißen.

Die Bewegung tat gut nach dem stundenlangen Sitzen im Flugzeug. Und nachdem ich ein paar Mal tief eingeatmet hatte, konnte ich mich wieder auf das Treiben um mich herum konzentrieren.

Wo sind hier die Klos?, überlegte ich strategisch.

In Dubai hatte ich mich vier Tage lang kaum auf die öffentlichen Toiletten getraut, damit ich den Bescheid der Fluggesellschaft unter keinen Umständen verpassen würde, ob und wann ich weiterfliegen konnte. Ich hatte mit meiner Tasche als Kopfkissen auf dem Teppich der Empfangshalle geschlafen, mir dabei durch die Klimaanlage einen steifen Nacken eingefangen und immer wieder Diskussionen mit dem Sicherheitspersonal führen müssen, die mich am liebsten aus dem Wartebereich entfernt hätten. Eine mitleidige Reinigungskraft hatte mich einmal pro Tag mit Essen versorgt, bis Felix' Kontakte in der arabischen Wüstenstadt endlich griffen und mir die Weiterreise offiziell genehmigt wurde.

Endlich in Nairobi gelandet, hatte man mich schließlich nochmals endlos interviewt, bevor die Stempel der Einreisebewilligung endlich auf die Papiere knallten und ich die stickigen einengenden Räume der Behörden verlassen konnte. Felix hatte recht behalten. Meine Notsituation hatte die Einreise enorm erleichtert, ebenso die Tatsache, dass ich Verwandte in Nairobi hatte.

Jetzt war ich der totalen Erschöpfung nahe und wünschte mir bloß ein Kopfkissen zum Schlafen und etwas Essbares für meinen leeren Magen.

Ich ließ mich von der Menschenmenge in die Richtung eines Ausgangs und dort angekommen durch eine hydraulische Glastür spülen, in der sich meine hagere Gestalt und meine hohlwangigen Gesichtszüge spiegelten. Vor mir, von den herausströmenden Fluggästen durch eine eiserne Schranke abgetrennt, standen Menschen, die die Reisenden in Empfang nahmen. Auch hier nur dunkle Gesichter.

Auf der Suche nach meiner Kontaktperson schaute ich mich um. Ich sah Familien, die ihre Angehörigen willkommen hießen, Mütter, die ihre Kinder herzten, Freunde, die sich zur Begrüßung kameradschaftlich auf die Schulter klopften, und Liebende, die sich inniglich küssten.

Ich weiß ja noch nicht mal, wer mich abholt. Geschweige denn, wie diese Person aussieht, seufzte ich innerlich.

Ich passierte die Schranke und musterte einzelne Gesichter in der Menschenmenge, doch niemand erkannte mich. Enttäuscht blickte ich zu Boden.

«Sophia Bellwald?», drang da hinter meinem Rücken eine männliche Stimme an mein Ohr.

Hektisch wandte ich den Kopf, um auszumachen, woher die Worte kamen.

«Sophia Bellwald!», hörte ich wieder eine Stimme rufen, und eine Hand erfasste sanft meine Schulter.

Abrupt drehte ich mich der Hand entgegen und sah mich mit dem Kragenknopf eines Hünen konfrontiert. Ich wich zurück und ließ meinen Blick einen Hals entlanggleiten, dann über ein reichlich bärtiges Kinn, bis ich unter einem blondbraunen, kragenlangen Haarschopf, der unter einer grauweißen Basketballmütze feststeckte, an zwei fesselnden blauen Augen hängenblieb, die in mir eine vage Erinnerung wachriefen.

Der Mann hatte zwar schmale, leicht nach vorne gebeugte Schultern, aber unter seinem kaffeebraunen T-Shirt machte ich definierte Oberarmmuskeln aus. Eine stumme, einschüchternde Autorität ging von ihm aus.

«Wie lautet die Losung?», forschte ich trotzdem kühn.

Das bärtige, von der Sonne gebräunte Gesicht teilte sich in zwei Hälften, als es mich aus luftiger Höhe angrinste. «Er sieht alles, wir aber sind blind», sagte er.

Der Fremde kannte das Passwort und sah mit seinem Lächeln längst nicht mehr so furchteinflößend aus. Meine verkrampfte Schultermuskulatur entspannte sich.

«Es freut mich, dass du sicher eingetroffen bist, Sophia Bellwald», betonte er und streckte mir zum Gruß eine seiner großen Hände entgegen. «Ich bin hier, um dich zu deinen Eltern zu bringen.»

Der Mann war nach meinen Schätzungen etwa um die dreißig und kam mir riesenhaft vor. Ich drückte zögerlich seine Hand. Sie umschloss meine mit warmem Griff. «Freut mich … Ihre … äh … deine Bekanntschaft zu machen», stotterte ich.

Sagt er mir seinen Namen aus Sicherheitsgründen nicht? Sind hier Kameras installiert, die jede meiner Bewegungen beobachten?

Unwillkürlich fuhr meine Hand an meinen Arm, an das verräterische Zeichen unter meiner langärmligen Bluse. Vor den Einreisebeamten hatte ich es verbergen können, die waren nur an meinen Antworten und an meinen Fingerabdrücken interessiert gewesen. Nervös schaute ich mir über die Schulter, doch im Trubel der Menge bemerkte ich nichts Außergewöhnliches.

Der Riese zog wieder die Mundwinkel hoch, und das angedeutete Lächeln brachte Krähenfüße um seine Augen zum Vorschein. Er erinnerte mich entfernt an eine Figur aus meiner Vergangenheit.

Als hätte er meine Gedanken gelesen, meinte er: «Ich bin etwas enttäuscht, Sophia, dass du mich nicht erkennst.»

«Tut mir leid», stammelte ich sogleich. «Ich denke, wir kennen uns nicht.»

Er lachte kurz auf, als hätte ich einen Scherz gemacht. «Ja, Anna, du kennst mich nicht, da hast du recht. Aber wir haben uns schon mal gesehen.» Seine angenehme, sanfte, etwas heisere Stimme fand Resonanz in meinem Inneren, bis ich sie in meinen kribbeligen Fingerspitzen zu spüren vermeinte.

Er kennt meinen richtigen Namen! Hektisch entriss ich ihm meine Hand. Vertrauensselig bist du in die nächste Falle getappt, Anna! Du bist so naiv!, schimpfte ich mit mir selbst.

Ich umklammerte meine Tasche fester, wünschte mir, ich könnte mich einmal mehr vergewissern, dass noch alles drin war, und scannte die Umgebung nach einem Fluchtweg ab.

Da kniete sich der Riese hin, erfasste meinen Arm und schaute mich mit seinen intensiv blauen Augen an. «Na, Anna! Hast du die Wahrheit gesucht und vielleicht sogar gefunden?»

Ich riss die Augen weit auf. «Das kann doch nicht sein!», sprudelte es heiser aus mir heraus.

Meine Gedanken schossen zurück zu der Begebenheit an einem kühlen Novembertag letzten Jahres, als mich ein Fremder – jener Mann, der gerade vor mir kniete! – in einer dunklen Gasse angesprochen hatte. «Mach dich auf die Suche nach der Wahrheit», hatte er mir damals befohlen, mir einen Zettel in die Hand gedrückt und damit einen Stein ins Rollen gebracht, der eine ganze Lawine ausgelöst und die Menschen in meinem Umfeld beinahe das Leben gekostet hatte. Oder noch immer kosten könnte …

Der Mann, den ich hier vor mir sah, konnte unmöglich der abgebrannte, verkrüppelte Clochard von damals sein, dem ich die Odyssee der letzten Monate verdankte! Oder doch? Sein Bart war nicht mehr schmuddelig wie früher, sondern sorgfältig gewaschen und gepflegt. Seine Hände waren sauber, die Fingernägel kurz geschnitten und seine einst ausgemergelte Gestalt war viel kräftiger und gesünder. Nur die Augen, diese sturmblauen Augen, sie waren immer noch dieselben. Er war tatsächlich der Bettler, der mich damals in der dunklen Gasse angesprochen hatte.

«Kephas!», entfuhr es mir. «Du lebst? Du warst doch tot … Die Blutlache in der Gasse … Du warst verschwunden!»

Wieder erschienen die Lachfältchen. «Ich bin's! So wahr ich hier stehe … Nun ja … beziehungsweise knie.» Seine Hand ruhte noch immer auf meinem Arm, und ich nahm seinen unaufdringlichen Geruch wahr. Er erinnerte mich an unbeschwerte Tage während meiner Kindheit.

In diesem Moment trudelte eine Traube Schaulustiger an uns vorbei. Sie zückten Fotoapparate und hielten sie auf uns gerichtet. «Do you want to marry her?», rief ein schwergewichtiger Mann aus, lachte mit einem derben Unterton und nahm offenbar ein Bild von uns auf.

Die englische Sprache war mir nicht sehr geläufig. Doch ich kannte einige Begriffe, die mir ein bei der Regierung in Ungnade gefallener internationaler Geschäftsmann beigebracht hatte. Wir hatten stundenlang Seite an Seite in einem Gewächshaus Fronarbeit geleistet. Er zur Strafe, und ich, weil in unserem Part alle im frühen Teenageralter für das Wohl der Gesellschaft arbeiten mussten. «Als Vorbereitung fürs weitere Leben», wie man uns sagte.

«Was will der Typ von uns?», fragte ich desorientiert und hob die Hand schützend auf meinen Oberarm.

Kephas schüttelte amüsiert den Kopf und redete auf den Mann ein: «No pictures, please! We are not going to marry!» Er stützte sich auf sein Knie, wankte etwas und stand dann in voller Größe neben mir. «Touristen!», murmelte er kopfschüttelnd und winkte den weiterziehenden Leuten belustigt zu.

Entsetzt blickte ich auf seine Beine. «Aber das geht doch nicht!», flüsterte ich und wies auf seine unteren Extremitäten. «Du hattest früher doch gar keine Beine! Ich hab's genau gesehen. Und vor allem: Die … Sie haben um dich getrauert, wie um ein verstorbenes Familienmitglied … Du … du solltest eigentlich tot sein», beharrte ich auf meinem Weltbild.

«Das ist aber nicht sehr nett. Es ist zwar auch schon vorgekommen, aber doch schon länger her, dass mir jemand den Tod gewünscht hat», meinte Kephas scherzhaft und streckte die Hand nach meiner Tasche aus, um sie mir abzunehmen.

Ich schlang meine Arme schützend um mich und presste die Tasche fest gegen meinen Brustkorb.

Kephas ließ die Hand sinken. Er lehnte den Kopf zur Seite und sah mich prüfend an, als wollte er fragen, was mit mir los sei. Dann überlegte er es sich aber anders, räusperte sich geräuschvoll und meinte: «Komm, Anna! Wir laufen zu meinem Fahrzeug. Ich habe den Auftrag, dich zu deinen Eltern zu bringen. Du wirst sehnsüchtig erwartet. Auf dem Weg erklär ich dir alles.»

Wir schritten durch zwei auseinandergleitende Glastüren in die mittlerweile dunkle tropische Nacht. Die Hitze, die mir entgegenschlug, war wie eine feste Wand. Ich strich über meine ungewaschenen Haare und sehnte mir eine kühle Dusche herbei. Meine Poren sandten wie auf Kommando Ströme von salzigen Tropfen über mein Rückgrat, die mich zwischen den Schulterblättern kitzelten. Die Luft war erfüllt vom Geruch nach warmen Steinen, heißem Gummi und dem Summen von Myriaden von Insekten.

Das orange Licht von Straßenlaternen fiel auf die groben Pflastersteine eines Bürgersteigs unter meinen Stiefeln.

Neben mir surrte ein kleines Wesen heran, und ich sprang erschrocken zur Seite. Was ich für eine Katze oder einen kleinen Hund gehalten hatte, war ein winziger fliegender Roboter, der sanft auf den Pflastersteinen neben mir landete, seine spinnenartigen Beine ausfuhr und dann mit Präzision und klauenförmigen Greifärmchen einen angebrochenen Stein aus dem Straßenbelag ergriff, unter dem schon Grasbüschel hervorwucherten. Er riss den Stein mit brachialer Kraft aus der Verankerung, rotierte in Windeseile um das entstandene Loch herum und spuckte einen makellosen Ersatz-Stein aus, den er passgenau in die entstandene Lücke setzte. Danach erhob er sich wieder in die Lüfte und schwebte davon.

«Seltsame Roboter gibt's hier», sagte ich im Weiterlaufen, während ich, den Blick nach oben gewandt, der Maschine hinterherblickte. «Ich hab zwar mal was über die gelesen …»

Ein fürchterlich greller Hupton ließ mich zusammenfahren. Ich sah mich einem aerodynamischen, vierrädrigen Vehikel gegenüber, dessen monströse Reifen mich beinahe erfasst hätten. In meinem ehrfürchtigen Staunen hatte ich übersehen, dass der Bürgersteig eine Biegung gemacht hatte, und war achtlos auf die stark befahrene Straße getreten!

Schnell hüpfte ich auf die rettende Kante des Bürgersteigs zurück. Kein Wunder, dass ich ihre Existenz so leicht hatte ausblenden können: Die Fahrzeuge bewegten sich fast lautlos – bis auf das Geräusch der wuchtigen Räder auf dem Asphalt und das Quäken von Hupen, die ab und zu durch die Nacht schallten. Sie erinnerten mich an alte Rennwagen, die bei uns zu Hause im Museum für Heimatkunde ausgestellt wurden. Die Formen dieser Vehikel hier waren jedoch runder und sanfter geschwungen als die der vorsintflutlichen Autos.

Einige der seltsamen Fahrzeuge hatten getönte Glasscheiben, und ihre Oberflächen waren mit fingernagelgroßen Mosaiksteinchen beschichtet, die in verschiedenen Farbtönen glänzten. Sie funktionierten wie Displays, die nach Belieben ihre Oberflächenbeschaffenheit ändern konnten und wahlweise wie beschuppte Reptilien oder tanzende Lichtshows an mir vorüberzogen.

«Spiegeln diese Fahrzeuge ihre Fahrer wider, was meinst du?», fragte ich Kephas.

Doch der hatte mich gar nicht gehört. Mit langen, aber etwas unausgewogenen Schritten war er mir vorausgeeilt, und ich musste rennen, um ihn wieder einzuholen. Er steuerte zielgerichtet auf einen Platz zu, auf dem reihenweise Vehikel der gleichen Art, wie ich sie auf der Straße gesehen hatte, geparkt waren. Vor einem besonders hässlichen olivgrünen Exemplar, das wie ein unförmig monströser Kasten über die danebenstehenden eleganten flachen Fahrzeuge hinausragte, blieb er stehen und drehte sich zu mir um.

«Das ist unserer», erklärte er.

Ich nickte abwartend und staunte, wie hoch die Räder dieses Gefährts waren.

Rechts neben unserem Fahrzeug hatte jemand, ohne viel Abstand einzuhalten, sein schweinchenrosa Gefährt geparkt. Kephas presste sich an der Fahrerseite entlang und schimpfte: «Der hat uns ja total zugeparkt!» Er zog ein kleines quadratisches Gerät mit flachem schwarzem Display aus seiner Hosentasche und entriegelte das Fahrzeug. Die Schiebetür öffnete sich geräuschlos. Geschickt quetschte Kephas sich ins Innere, die Tür schloss sich und die Lichter des Vehikels gingen an.

Interessiert beobachtete ich, wie Kephas das Gefährt erfolgreich aus der Parklücke manövrierte. Die Tür der Beifahrerseite öffnete sich. «Steig ein!», forderte Kephas mich aus dem Fahrzeuginnern auf.

Ich brachte es fertig, schnell auf den Sitz neben ihn zu schlüpfen, ohne meine Tasche loszulassen. Die Tür rauschte hinter mir zu.

«Ich bin schon lange nicht mehr in einem Auto gefahren», bekannte ich. «Zu Hause … also in Europa, da fahren die meisten nur mit dem Zug.»

Kephas lächelte. «Das hier ist auch kein Auto, sondern ein Solarplexus. Keine Schadstoffe, kein Verbrennungsmotor, nur viele Solarzellen und ein Haufen Elektronik.»

«Aha! Deswegen die Mosaiksteinchen!», nickte ich verstehend.

«Ja, genau, in großen Mengen sind das sehr effektive Energieerzeuger.» Kephas presste einen Knopf auf der Konsole vor sich, und Dutzende oranger und grüner Lämpchen leuchteten auf dem Armaturenbrett auf. Er drückte in Windeseile auf einige von ihnen und sprach, so wie es aussah, mit einem Bord-Computer.

«Normalerweise kann ich ihm vor dem Losfahren einen Zielort angeben. Aber den Ort, an den wir jetzt fahren, kennt nicht mal der Computer. Ich werde selbst navigieren müssen», erklärte er mir. «Anschnallen, bitte!»

Während ich mit den Gurten kämpfte, linste er in den Seitenspiegel, legte seine Hände aufs Lenkrad und setzte uns in Bewegung.

Ich krallte nervös beide Hände in meine Tasche, als die Fahrt losging und wir über den Parkplatz rollten.

Kephas bemerkte es. «Keine Sorge. Ich bin schon mehr als einmal gefahren. Kinderleichte Angelegenheit!», meinte er beruhigend. «Ohne Autopilot muss man zwar selbst ran, aber das ist auch kein Hexenwerk.» Er fädelte sich vorsichtig in den Verkehr ein.

Ein Lichtertanz aus roten und weißen Scheinwerfern umgab uns, als wir zusammen mit Dutzenden anderen Solarplexi das Flughafengelände immer weiter hinter uns ließen und der Stadt entgegenbrausten. Kephas steuerte den Solarplexus gekonnt über die künstlich erhellten Verkehrswege, die sich vor uns ausbreiteten. In den überfüllten Straßen der Stadt musste er dann jedoch immer wieder hinter seinem Vordermann abbremsen.

Wir schwiegen. Ich fühlte mich zu müde zum Reden und war gleichzeitig furchtbar nervös. Angestrengt suchte ich in meinem Hirn nach einem eingängigen Smalltalk-Thema, konnte aber keines finden.

«Falls du dich wundern solltest, Leichen am Straßenrand zu sehen …», brach Kephas das Schweigen.

Erschrocken blickte ich ihn an. «Wessen Leichen?», hauchte ich entsetzt.

«Keine richtigen Leichen! Ich meine ‹Aircar›-Leichen, also Wracks, weißt du? Bis vor fünf Jahren waren fliegende Fahrzeuge in Kenia noch erlaubt, und der ganze Verkehr spielte sich in der Luft ab.»

«Was? Wirklich? Klingt für mich wie eine Utopie. In Europa ist so was unvorstellbar!», meinte ich atemlos. «Wieso habt ihr das nicht beibehalten?» Der Gedanke, hier in einem fliegenden Auto rumzukurven, war zwar beängstigend, aber auch … atemberaubend!

«Es wäre alles schön und gut gewesen», meinte Kephas, «wenn die Regierung das Leitsystem für die automatisch gesteuerten Verkehrswege im Griff gehabt hätte. Weißt du, man konnte nicht einfach so überall rumfliegen. Es gab klar definierte Luftstraßen. Aber ich hab gelesen, dass in der Steuerungszentrale das übliche afrikanische Chaos geherrscht hat. Ständig fielen die Systeme durch Virenbefall, Streiks der Arbeiter und Elektrizitätsprobleme aus. Die Folge waren Massenkarambolagen, Staus und Abstürze mit vielen Todesopfern.»

Ich machte große Augen.

«In manchen Ländern findet der Verkehr immer noch in der Luft statt. Australien und Amerika sind da ganz weit vorne. Aber dementsprechend gehören dort schwere Unfälle auch immer wieder zum Alltag. Wir haben Glück, finde ich, dass es das bei uns nicht mehr gibt.»

Ich nickte nur. «Der alte Menschheitstraum vom Fliegen ist also immer noch nicht wirklich wahr geworden», murmelte ich, einfach um etwas gesagt zu haben.

Mein Blick schweifte nach vorne, und ich erblickte weit voraus den hell erleuchteten Stadtkern von Nairobi und seine immensen Wolkenkratzer, die aus dem Boden aufragten wie Pilze, die eine Mooslandschaft durchbrechen.

Bald tauchten wir in die Häuserschluchten ein. Staunend blickte ich auf die hell erleuchteten Betonbunker. Ich legte den Kopf in den Nacken, um auch einen Blick auf die obersten Stockwerke zu erhaschen.

Unten am Boden wimmelten unzählige schnatternde Menschen zwischen den Gebäuden umher, und aus verschiedenen Ladenlokalen drang laute Musik. Die Leute trugen farbige, weitschwingende Kleidung und sahen frei und ungebunden aus, als hätten sie niemanden im Nacken, der ihnen Vorschriften machte, wie sie sich zu geben und benehmen hätten. Alles fügte sich zu einer lebendigen, quirligen Einheit zusammen, als würde hier jedes Herz im gleichen Rhythmus schlagen. Dem Rhythmus der Ungezwungenheit.

Schön ist's hier!, durchfuhr es mich.

Meine Nase klebte am Fenster. Vor ihren Geschäften hatten Händler ihre Ware auf dem staubüberzogenen Bürgersteig ausgebreitet. Früchte, Gemüse, bunte Tücher und Elektronikgeräte konnte ich ausmachen. In einer Ecke saß ein alter Bettler und schüttelte seinen Becher in Richtung der vorbeieilenden Leute. Seine Augen blickten in zwei verschiedene Richtungen, seine Hände waren knorrig, die Füße deformiert.

In Mitteleuropa habe ich erlebt, dass kranke Menschen wie er einfach «eliminiert» wurden, dachte ich, verdrängte die Erinnerung aber sofort.

Unser Fahrzeug kam neben einem Händler zu stehen, der über einen Schlauch etwas aus einer merkwürdig weit geschwungenen und glänzend verzierten Flasche inhalierte. Um ihn herum waren Dutzende solcher Flaschen ausgebreitet. Ich starrte ihn neugierig an. Er hob seinen Blick, lächelte und stieß Rauch durch seinen Mund aus. Er winkte mir mit einer einladenden Geste zu, mich ihm anzuschließen. Doch wir fuhren schon weiter.

An der nächsten Straßenecke erschien neben meinem Fenster wie aus dem Nichts ein Afrikaner, der mich mit blendend weißen Zähnen anlächelte. Er trug einen schneidigen Anzug in allen Farben des Regenbogens, der ihm wie eine zweite Haut am muskulösen Körper klebte.

Ich zuckte erschrocken zurück.

In seiner Hand hielt der Mann ein Paar nagelneuer, glänzender Schuhe. «Buy it! We bring it!», rief er mit tiefer, einladender Stimme durch die Scheibe. Irgendetwas schien aber mit seinen ungelenken Bewegungen nicht zu stimmen.

Ich schüttelte reflexartig den Kopf.

«Why not? Our product is the best … most convenient and most healthy of all», insistierte er. Wieder dieses künstliche Lächeln.

Hilfesuchend schaute ich zu Kephas. Dieser starrte konzentriert auf die Rücklichter seines Vordermannes.

«Was ist das für ein Typ? Was will der von mir?»

«Mach ihm klar, dass du nicht interessiert bist. Du musst deutlich sagen: ‹No! I don't want do buy it!› Dann verschwindet er», meinte Kephas ruhig. Seine Aufmerksamkeit galt ganz dem Verkehr vor ihm.

«No! I don't want to buy it!», repetierte ich gehorsam, und der Verkäufer verpuffte vor meinen Augen ins Nichts! Ich zuckte erneut zusammen. Meine Nackenhaare stellten sich auf, mein Herz polterte aufgeregt. «Wer oder was war das?», wisperte ich.

«Ach, das war nur ein Hologramm!»

Ich stieß Luft durch meine Zähne aus. «So was gibt's?», staunte ich.

Soeben überholte uns von links ein Fahrradfahrer, der sich durch das Verkehrschaos schlängelte. Auf seinem Gepäckträger hatte er zwei lebendige schmutziggraue Hühner fein säuberlich zusammengeschnürt festgebunden.

«Und der da?» Ich zeigte auf ihn. «Der ist echt?»

«Ja, ich denke schon», schmunzelte Kephas.

«Wie soll man da echt von unecht unterscheiden?», fragte ich fassungslos.

«Man lernt's mit der Zeit.» Er warf mir einen kurzen Blick zu. «Aber es kommt immer noch vor, dass ich mich in der Stadt dabei ertappe, mit einem Trugbild zu diskutieren. Ich bin eben auch kein Holo-Native.» Er lachte selbstironisch. Es war ein helles, wohliges Lachen.

«Ein Holo-was?»

«Ich bin nicht mit dem ganzen Hologramm-Zeugs aufgewachsen.» Er deutete unbestimmt in die Straßen.

Vor fast allen Gebäuden flimmerten und schillerten in blinkenden und zuckenden Neon- und Regenbogenfarben Verkaufsvorschläge für jegliche Artikel. Jedes Plakat und jede Animation schien gigantischer, wilder und sensationeller zu sein als die davor, und ich fragte mich, ob diese Dinge überhaupt alle gebraucht wurden.

Bevor mein vor Staunen weit geöffneter Mund austrocknen konnte, klappte ich ihn zu und stellte mit leisem Bedauern fest, dass wir das urbane Gebiet allmählich hinter uns ließen. Schon bald befanden wir uns auf einer langen Landstraße, wo ich nur noch die roten Lichter unseres unmittelbaren Vordermannes sehen konnte.

«Also …», begann Kephas nach einer Weile des Schweigens gedehnt. Er hatte sich sichtlich entspannt, nun, da wir das Verkehrschaos der Stadt hinter uns gelassen hatten. «Du wunderst dich wahrscheinlich vor allem darüber, was mit meinen Beinen passiert ist?»

«Unter anderem», sagte ich und musterte ihn flüchtig. «Das letzte Mal, als ich dich gesehen hab, hielt ich dich für einen … nun ja … wie soll ich es sagen?» Hilflos verstummte ich.

«Krüppel? Bettler?», half mir Kephas auf die Sprünge. Seine Stimme klang hart.

«Und … dann … dann hielt ich dich für tot …», stotterte ich weiter und vermied eine direkte Antwort. «Und jetzt bist du hier, riesengroß, quicklebendig und auf zwei ganzen Beinen, mit Füßen und allem», quollen die Wörter nur so aus mir heraus.

«Ich werd den Verdacht nicht los, dass du so deine Probleme mit meinem lebenden Status und meinem hervorragenden Gesundheitszustand hast», scherzte Kephas und musterte mich.

Ja, ich hab Probleme, dachte ich verbissen. Massive sogar!

«Es war nicht so gemeint», versuchte ich meine Aussage zu entkräften. «Aber bist du wirklich der Kephas? Der Anführer der … also, ähm, meiner Untergrund-Freunde in meiner Heimatstadt?»

«Ich würde jetzt gern sagen: ‹Ja, genau der, so wie Gott ihn erschaffen hat›, aber …» Er umfasste mit einer Hand eines seiner Knie und kniff hinein. «… Meine funktionierenden Beine hier sind ein Wunderwerk der Technik. Sie haben mir zwei nagelneue Unterschenkel verpasst. Beinahe echt fühlen sie sich an. Ich habe einige – wie ich zugeben muss – schmerzhafte Operationen hinter mir. Aber die Prothesen meiner Unterschenkel sind jetzt mit dem Rückenmark und dem Gehirn verbunden und empfangen von dort ihre Befehle. Mit der Motorik klappt es auch schon ganz gut. Mit der Sensorik aber noch nicht so.»

«Das bedeutet, dass du Sensoren in dir drin hast, die aber noch nicht so gut funktionieren?», fragte ich.

Er verzog das Gesicht. «Will heißen, ich kann den Untergrund, auf dem ich stehe, nicht sofort fühlen. Ich muss deswegen noch immer in die Therapie. Man will die Nerven in den Beinen wieder dazu bringen, die Impulse korrekt ins Gehirn weiterzuleiten. Dazu hat man einiges an Elektronik in meine Beine verpflanzt. Furchtbar komplexe Sache! Es braucht viel Zeit und Geduld. Aber mein Bewegungsapparat funktioniert immer besser.» Seine Mundwinkel hoben sich leicht. «Die Nerven regenerieren sich. Wie du gesehen hast, kann ich mich schon recht stabil auf den Beinen halten.»

Mit verhaltener Neugier blickte ich erneut auf seine Beine, aber dort, wo sie im Fußraum verschwanden, konnte ich sie nicht sehen, und ich wollte nicht zu neugierig erscheinen, also schaute ich nach draußen.

«Das ist wirklich ein Wunder», meinte ich nach einem Moment des Schweigens. «Aber es erklärt mir noch nicht, wieso du noch lebst.»

«Eigentlich sollte ich tot sein, da hast du recht. An dem Tag, als ich dich damals getroffen hab, war ich noch lange auf der Straße. Ich war müde und erschöpft, hoffte aber trotzdem, dich auf deinem Heimweg vielleicht noch mal zu erwischen. Doch ich war unaufmerksam geworden und hab zu wenig auf meine Umgebung geachtet. Die Sicherheitswächter schnappten mich.»

Voll Entsetzen schlug ich beide Hände vor den Mund. «Das tut mir so leid.»

«Ich hab mich wie ein Löwe gewehrt. Daraufhin ging ein Sicherheitswächter mit einem Messer auf mich los. Ich blutete furchtbar aus einer Wunde am Bauch, und ich dachte wirklich, ich müsse sterben.»

«Deshalb die Blutlache!», wisperte ich. Als ich am Abend jenes Tages heimgelaufen war, hatte ich in der Gasse eine Pfütze Blut entdeckt und angenommen, Kephas sei etwas Schlimmes zugestoßen.

«Einer zielte mit seiner Pistole auf mein Gesicht, um mir ‹den Gnadenschuss› zu geben, wie er es nannte, als sie plötzlich durch eine Truppe fremder Männer abgelenkt wurden. Die drei fremden Männer schlugen die Sicherheitswächter in die Flucht und zogen mich mit sich fort, verfrachteten mich umgehend in einen Hubschrauber und brachten mich außer Landes. Ich wurde noch im Helikopter zusammengeflickt. Der Sicherheitsbeamte hatte – Gott sei Dank – mit seinem Messer keine lebenswichtigen Organe verletzt. Aber ich war durch den Blutverlust sehr geschwächt.»

Ich krallte meine Finger in den Sitz des Solarplexus. Die Oberfläche fühlte sich glatt und etwas klebrig an. «War Felix Livingstone bei dieser Aktion mit dabei? Also, der Afrikaner mit den Rastas …», wollte ich wissen.

«Moses? Natürlich! Er war an diesem Tag dabei, sprang aber zu einem späteren Zeitpunkt mit dem Fallschirm wieder ab. Er musste seinen Auftrag noch zu Ende bringen, und er konnte dich damals nicht verlassen.»

Was ihn nicht daran gehindert hat, es jetzt zu tun, dachte ich bitter.

«Moses hat organisiert, dass ich ins Rettungscenter gebracht wurde. Hauptsächlich wegen der medizinischen Versorgung und der … der psychologischen Betreuung. Ich hab deinem Vater viel zu verdanken, Anna, und da es mein größtes Herzensanliegen ist, etwas für meine verfolgten Brüder und Schwestern in Europa zu tun, bin ich geblieben. Allerdings konnte ich bis jetzt noch nicht wirklich mithelfen, da meine Psyche und mein Körper noch nicht hundertprozentig mitspielen.» Wieder kniff er sich in ein Knie.

«Ich hab dich an dem Tag in der Gasse gesucht», erklärte ich ihm. «Aber als ich das ganze Blut sah, dachte ich …»

«Ich war auch schon angezählt», sinnierte Kephas. «Aber glaub mir: Ich lebe, ich bin hier, und ich kämpfe mich zurück ins Leben.» Trotz schwang in seiner Stimme mit.

Ich suchte krampfhaft nach einem unverfänglichen Thema, um die entstandene, etwas peinliche Stille zu durchbrechen. «Was hat der Typ mit der Kamera am Flughafen eigentlich zu dir gesagt?»

«Welcher Typ?» Einen kurzen Moment schien Kephas verwirrt über meinen plötzlichen Gedankensprung.

«Der Typ, der etwas gefragt hat, als du vor mir gekniet bist.»

Kephas' Mundwinkel zeigten nach oben. «Ach, er dachte wohl, ich würde dir einen Antrag machen.»

«Einen Antrag?»

«Einen Heiratsantrag.»

Ich runzelte die Stirn.

Kephas fand meine Verwirrung offenbar amüsant, denn er grinste offen. «Das, was man so macht, wenn ein Mann eine Frau fragt, ob sie ihn heiraten will. Er kniet sich hin und fragt sie: ‹Willst du …?›» Er bewegte seine linke Hand in kleinen Kreisen vorwärts.

Ich wich unwillkürlich ein paar Zentimeter vor ihm zurück und griff nach dem Zipper des Reißverschlusses meiner Tasche. Es beruhigte mich, ihn zwischen Daumen und Zeigefinger zu spüren.

«Was hat es mit diesem Heiraten eigentlich auf sich?», platzte es aus mir heraus. «Scheint ja ziemlich populär zu sein. Meine Eltern haben geheiratet und Philemon und Claudia haben, na so etwas wie … aber ich … also wir kennen den Begriff natürlich schon, aber niemand … keiner tut's. Also ich kenne sonst niemanden, der … na ja …» Jetzt hatte ich mich verhaspelt.

Ich will und ich muss auch nicht mit einem fremden Mann über etwas so Persönliches reden, schrie meine apollinische zurückhaltende Erziehung empört auf.

«Nun, wenn zwei Menschen sich lieben …», begann Kephas.

Ich spürte, dass meine Wangen warm wurden, als meine Gedanken zu der einzigen Person wanderten, von der ich gedacht hatte, dass Liebe uns verband: Adonis Magellan … Mein Herz schmerzte beim Gedanken an ihn.

«Also, wenn sie sich lieben», fuhr Kephas fort, «dann wollen zwei Menschen sich eben so stark wie möglich miteinander verbinden.»

«Nun dafür ist doch der … ist doch … also, ich meine … das Körperliche … die Verbindung …», plauderte und stotterte es aus mir heraus, und meine Wangen wurden noch heißer. Jetzt benahm ich mich wie die prüde Apollinerin, die erst als Sechzehnjährige von einer Humanita Perfecta, einer Dozentin, erklärt bekommen hatte, wie ein Mensch entsteht.

«Du meinst Sex?», fragte Kephas ungerührt.

Ich nickte gespielt lässig, aber mein Gesicht glühte.

Er räusperte sich. «Auch das gehört dazu … Aber ein sichtbares Zeichen vor dem Gesetz und vor Gott ist die Heirat. Ein öffentliches Bekenntnis. Damit sagt das Liebespaar: ‹Wir wollen zusammenbleiben, treu sein, bis zum Tod.›»

«Nicht vor dem europäischen Gesetz», entgegnete ich. «Uns lehrt man am Humanium, dass die einzig logische Konsequenz aus einer Ehe die Scheidung ist, und deshalb haben wir im Europäischen Reich diese veraltete Institution abgeschafft. Sie harmoniert nicht mit dem Grundsatz der Freiheit, sagt man. Jeder ist frei, sich mit jedermann zu verbinden und wieder auseinanderzugehen, ohne rechtliche Konsequenzen oder monetäre Verpflichtungen.»

«Das Humanium!» Kephas klang ärgerlich. «Die europäischen Bildungszentren sind doch die reinsten Propaganda-Instrumente!» Er umschloss mit festem Griff das Lenkrad, weil wir gerade über einen unebenen Straßenabschnitt holperten.

«Ja, schon. Aber das … also, ich meine Sex … ist sowieso mehr etwas für die Dionysier mit ihren Ausschweifungen. Das war bei uns am Humanium nie Thema. Uns Apolliner lehrt man, dass sich zu enthalten den Verstand schärft und dass man sich nicht mit etwas so ‹Emotionalem› auseinandersetzen soll. ‹Leidenschaft schafft Leiden›, so hat man uns das erklärt, und ich fand's immer logisch.»

Ich hob die Schultern, peinlich berührt über den Wasserfall an Wörtern, der aus mir heraussprudelte.

«Bei uns läuft das anders», erklärte Kephas. «Hier sind Gefühle erlaubt. Und Ehe heißt: Wir bleiben zusammen bis zum letzten Atemzug … bis der Tod uns scheidet.» Er schluckte schwer.

«Hast du dich vor deiner … Frau … Freundin hingekniet, als du sie gefragt hast, ob sie dich … heiraten will?» Ich biss mir auf die Lippen. Meine Worte waren unsensibel und unbedacht, weil ich so müde war. Von Freunden in Europa hatte ich nämlich erfahren, dass Kephas schon sehr jung geheiratet hatte. Er und seine schwangere Frau waren in einer gefährlichen Mission unterwegs gewesen. Sicherheitswächter erfassten sie, brachten seine Frau um und machten Kephas zum Krüppel, indem sie ihn vor einen fahrenden Zug warfen.

Kephas warf mir einen überraschten Blick zu, richtete seine Augen dann auf die Straße, schluckte erneut, und sein Adamsapfel bewegte sich langsam auf und ab. «Nein … hab ich nicht», lautete seine kurzangebundene Antwort. Er griff an ein geflochtenes, abgetragenes, dunkelbraunes Lederband, das um sein linkes Handgelenk gebunden war.

«Tut mir leid!», sagte ich.

Die Stille zwischen uns war beängstigend greifbar. Kephas starrte in die Dunkelheit.

Draußen konnte ich Umrisse von Bäumen und großen Büschen ausmachen, die die Straße und das Umland säumten. Unser Weg führte indessen durch eine kleine Siedlung. Einfache Hüttenkonstrukte zeichneten sich gegen den dämmrigen Himmel ab. Ab und an sah ich in der Dunkelheit Menschen vor glühenden Feuerchen sitzen und kochen.

«Sag mir, Anna», führte Kephas die Unterhaltung fort. «Wie kommt es eigentlich, dass du überlebt hast? Die letzten News, die wir erhielten, besagten, dass du im Gefängnis bist und auf deinen Gerichtstermin wartest. Und als Nächstes erhalten wir die Nachricht von Moses, dass du frei und auf dem Weg hierher bist.» Sein Lachen klang ungläubig. «Du kannst dir nicht vorstellen, was bei uns auf der Base los war, als wir erfuhren, dass du verhaftet wurdest. Die ganze Belegschaft war aus dem Häuschen», erzählte Kephas weiter. «Ganz zu schweigen von deinen Eltern.»