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Ein außergewöhnlicher Kriminalroman mit besonderem Charme. Düsseldorf 1970: Die vierjährige Liese verschwindet spurlos von einem Kinderkarussell. Die Vermutung einer Entführung liegt nahe, und Lucia Specht sucht mit ihrem Team vom Düsseldorfer Polizeipräsidium fieberhaft nach dem Täter. Kurz darauf wird Lucia von höchster Stelle nach Köln versetzt und soll dort zusätzlich in einem anderen Fall inkognito ermitteln. Bald überschlagen sich die Ereignisse, und sie muss eine schwerwiegende Entscheidung treffen.
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Seitenzahl: 477
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Mathias Berg wurde 1971 in Stuttgart geboren und schreibt seit seinem vierzehnten Lebensjahr. Nach dem Studium der Soziologie in Bamberg und London wurde er PR-Redakteur und arbeitete in der Werbung und im Marketing. Mathias Berg ist verheiratet und lebt in Köln und in der Vulkaneifel.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2025 Emons Verlag GmbH
Cäcilienstraße 48, 50667 Köln
www.emons-verlag.de
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Karolin Meinert, nach einem Konzept von finken & bumiller | buchgestaltung und grafikdesign
Lektorat: Dr. Marion Heister
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-98707-233-8
Originalausgabe
Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.
Für Walter
Sieh dich nicht um.Schnür deinen Schuh.Jag die Hunde zurück.Wirf die Fische ins Meer.Lösch die Lupinen!
Es kommen härtere Tage.
Ingeborg Bachmann
Ich bin der Anfang und das Ende. Das hattest du damals zu mir gesagt. Nachts. Unter einem Sternenhimmel. Und ich hatte es für romantisches Geschwätz gehalten, aber du hattest es wirklich so gemeint. Das war mir in den letzten Stunden klar geworden. Seitdem ich in diesen Ford Transit gestiegen war und hier wie eine Gefangene saß.
Auf einer der beiden Rückbänke. Mit gefesselten Händen.
Die Erkenntnis kam spät, aber sie kam. Und im Stillen dachte ich mir: Ich verzeihe dir nicht. Ich hätte es gern laut herausgeschrien, aber das ging nicht. Ich hätte damit die Situation zum Bersten gebracht.
Ich sah aus dem Fenster in eine mittlerweile dunkle Landschaft. Das Problem war: Die vier bewaffneten Männer hier in dem Wagen waren viel angespannter als ich. Eine falsche Bewegung oder ein unkontrolliertes Zucken, und die Situation würde eskalieren. Und das wollte ich nicht. Sie hatten ohnehin viel mehr zu verlieren als ich. Was ihnen bevorstand, war der Verlust dessen, was den Menschen am wichtigsten ist: ihre Freiheit.
In der Mordkommission haben sie uns beigebracht, dass wir das Leben vom Tod her betrachten sollen. Der Tod war stets der Ausgangspunkt unserer Arbeit. Es ging nie um das Leben an sich, sondern um den Tod und die Hässlichkeit, mit der er daherkam. Die Plötzlichkeit. Das wurde mir in diesem zweiten Jahr meiner Ausbildung immer mehr bewusst. Kein Tag verging, an dem ich nicht mit Mord konfrontiert war oder mit den anderen Sünden, die Menschen nicht begehen sollten. Aber trotzdem begingen.
Der Tod war in diesem Wagen zum Greifen nah. Spürbar. Er lauerte in jeder Ecke. In jedem unbedachten Moment. Er bedrohte uns, und ich schmeckte ihn bitter auf meiner Zunge. Ich wusste keinen sicheren Ausweg aus der Situation, in der ich gefangen war, aber eines wusste ich: Du und ich, wir waren vollkommen gegensätzlich. Ich war auf der Seite derer, die Menschen hinter Schloss und Riegel brachten. Du warst exakt das Gegenteil davon: der Lebemann, der die Regeln brach, weil es ihm Freude bereitete und ihm ein trügerisches Gefühl von Macht gab. Du hattest das Begehren in dir. Die Kaltschnäuzigkeit. Den Mut. Womöglich auch die Grausamkeit, aber sicherlich hattest du diese blendende Fähigkeit zu großer Leidenschaft und großer Gier, die dich blind werden und über alles hinwegsehen ließ.
Ich fragte mich: Würdest du dich verraten? Uns damit verraten?
In diesem Moment waren wir beide stumme Zeugen dieser Situation. Ich steckte zwischen zwei Welten fest. Zwischen dem Leben und dem Tod. Der Schuld und der Scham. Der Wahrheit und der Lüge. Ich saß regungslos da. Atmete nur. Wenn ich mich fest darauf konzentrierte, konnte ich den Lauf der geladenen Pistole spüren, die der Mann hinter mir seit langer Zeit an meinen Nacken hielt. Eine ewige Berührung von Metall, das längst warm geworden war, als sei es ein fester Bestandteil meines Körpers.
Die Stimmung hier drin war aufgeladen. Die Luft dünn.
Ein Funken genügte, um eine gewaltige Explosion auszulösen. Eine blitzschnelle Reaktion, die das Leben vernichten und in einer Millisekunde alles für immer verändern würde.
Und das wäre dann tatsächlich das Ende.
Zwölf Tage zuvor – Donnerstag, 10. Dezember 1970
Bis eben war auf dieser Weihnachtsfeier noch alles gut gewesen. Ich war ganz bei mir, auf der Bühne, im Hier und Jetzt, aber mit einem Mal änderte sich das. Das Licht im Saal des Präsidiums wurde gedimmt, begleitet von einem nervösen Hüsteln. Die Dunkelheit senkte sich über die Köpfe der Anwesenden und über die Ränder des Raums. Lediglich die Gesichter in den ersten beiden Reihen blieben sichtbar. Schwach beleuchtet vom Bühnenlicht.
Ein Scheinwerfer schwenkte auf mich. Ein grelles Licht, das mich blendete. Ich kniff die Augen zusammen. Ein so durchdringendes Licht kannte ich, und es löste etwas in mir aus. Mein Puls beschleunigte sich, und ich konnte nicht mehr schlucken. Meine Zunge klebte groß und schwer an meinem trockenen Gaumen. Ich hatte keinen einzigen Tropfen Speichel mehr im Mund und war mir sicher: Ich würde keinen Ton herausbringen. Die Gesichter der ersten Reihe starrten mich an. Aufmerksame Mienen. Erwartungsvoll. Ich spürte die Spannung im Raum, hörte ein leises Summen wie vom Trafo einer Modelleisenbahn.
Mit einem Mal war die Erinnerung wieder da. Sie kam zurück, so unvermittelt wie eine Ohrfeige. Mit schneller Wucht. Brennend. Ich war wieder im Krankenwagen. Wir fuhren schnell. Ich lag ausgestreckt da, sah in ein grelles weißes Licht über mir, das mich blendete. Roch wieder mein eigenes Blut, diesen metallischen Geruch, und dachte: Der Mann hat mir mit einem Messer in den Bauch gestochen. Warum hat er das getan? Obwohl ich lag, schien ich rückwärtszufallen. Ich hörte die Stimme des Notarztes.
»Sie blutet stark. Vermutlich innere Organe getroffen.«
Jemand leuchtete in meine Pupillen. Ich erschrak, wollte aufstehen. Flüchten. Schreien, aber aus meiner Kehle kam kein Mucks. Da hörte ich das Martinshorn erklingen. Ohrenbetäubend. Und ich dachte mir: Das schalten sie nur ein, wenn es wirklich kritisch ist.
»Blutdruck sinkt rapide.«
Ich hörte den Motor aufheulen. Spürte, wie der Wagen ruckte und in eine enge Kurve fuhr, und für einen Moment hatte ich Angst, dass ich von der Trage rutschen würde. Mir war kalt. So kalt.
»Du schaffst das«, flüsterte eine weibliche Stimme in mein Ohr. »Lucia, wir bringen dich ins Krankenhaus.« In der Stimme war verzweifelte Hoffnung. »Sie flicken dich wieder zusammen, das machen die jeden Tag. Keine Sorge.«
Die Stimme gehörte zu Ruth. Ich wollte meinen schweren Kopf zu ihr drehen und in ihr Gesicht schauen, das mir sofort sagen würde, ob das nur leere Worte waren. Beschwichtigungen. Damit ich still lag und mich nicht fürchtete. Das Merkwürdige war: Ich hatte in dem Moment gar keine Angst. Ich schwebte gefühlt eine Handbreit über der Trage und fühlte nichts. Ruth legte ihre kühle Hand auf meine Stirn. »Halte durch. Wir haben es gleich geschafft.«
»Lucia?«
Plötzlich war da Stille. Kein Martinshorn mehr. Die Erinnerung war mit einem Mal verschwunden. Da war nur wieder das leise Murmeln. Ein Husten. Leises Scharren von Schuhen über den Boden. Links, rechts und hinten im Raum. Ich war wieder im Gemeinschaftssaal des Präsidiums. Es war die Weihnachtsfeier, und der Polizeichef hatte uns gebeten, eine kleine Gesangseinlage zu bringen. Also standen wir sechs nun auf der schmalen Bühne und trugen wie die Andrews Sisters armeegrüne Kostüme mit knielangem Rock im Stile der vierziger Jahre. Weiße Blusen, schmale Krawatten, hohe Schuhe mit festem Absatz und braune Nylons mit dickem senkrechten Strich auf der Rückseite des Beines. Dazu passende Schiffchenmützen, an deren Seiten die Außenwellen hervorlugten, die mit viel Taft fixiert waren. Ich roch das Haarspray in meinem Haar. Befeuchtete mit der Zungenspitze meine Lippen. Schmeckte den Lippenstift. Neben mir standen Ruth und die anderen in einer Reihe. Der Scheinwerfer beleuchtete mich weiter, und ich blickte schnell in das Gesicht von Johannes in der ersten Reihe, der fragend die Augenbrauen zusammenschob.
Ruth zischte: »Lucia, was ist los? Fang an!«
Mein Hirn sprang in einer Sekunde an. Mein Hals war plötzlich frei und meine Zunge locker. Ich reckte den Kopf, holte tief Luft und knipste ein großes Lächeln an. Stemmte die rechte Hand in die Hüfte, schnippte drei Mal mit den Fingern und rief mit fester Stimme: »And a one, two, three!«
Auf drei ertönte ein zackiger Akkord auf dem Klavier, an dem Toni mit schweißglänzender Stirn saß, umrahmt von einem kleinen Ensemble des Polizeiorchesters. Die ersten Töne von »Bei mir bistu shein« erklangen, einem Evergreen der Andrews Sisters. Ein erstes Johlen, und als der Refrain kam, klatschte das Publikum im Rhythmus mit.
Bei mir bist du schön, please let me explain.Bei mir bist du schön means you’re grand.
Einige Männer im Saal jubelten, sprangen von den Sitzen und swingten zum Takt der Musik. Ich nahm ihre Gesichter wie in einem Karussell als vorbeifließende strahlende Mienen wahr. Unser Gesang kam dem der Sisters erstaunlich nah, auch wenn ich mich beim Singen zurückhielt, da meine Stimme dominant war, und mich lieber auf die Choreografie konzentrierte. Beim ersten Lied funktionierte sie reibungslos, und wir waren perfekt synchron: linkes Bein nach vorne. Finger schnippen mit der linken Hand. Drei. Vier. Fünf. Sechs. Wechsel des Beins. Körper nach links eindrehen. Alle stehen hintereinander. Den rechten Arm ausstrecken ins Publikum. Handinnenflächen zeigen zur Decke. Und lächeln.
Die Menschen im Saal tobten und klatschten, und als wir nahtlos eine swingende Version von »Jingle Bells« sangen, waren fast alle auf den Beinen. Bis auf ein paar vereinzelte Personen, die demonstrativ sitzen blieben und ihre Hände in den Schoß legten. Darunter Müller und Rodewald.
Beim dritten Lied, »Santa Claus Is Coming to Town«, geriet unsere Choreografie ins Stocken.
Renate schwang das Bein in die falsche Richtung und kam mit Mieze ins Gehege, die mit ihren Armen fuchtelte und dabei Ruth die Mütze in die Stirn schob. Die Menge lachte laut, weil sie dachte, die Panne gehörte dazu. Wir improvisierten, rempelten uns »versehentlich« an, rissen die Augen und Münder theatralisch auf. Stellten uns wieder in Position, sangen lauthals, und als der letzte Ton verklang, erlosch das Scheinwerferlicht mit einem Schlag.
Für einen Moment war es dunkel, und wir tasteten nach unseren Händen.
Als das Saallicht grell aufflammte, brandeten uns ein frenetischer Applaus, schrille Pfiffe und ein kräftiges Johlen aus Dutzenden Männerkehlen entgegen. Polizeidirektor Maßen sprang auf die Bühne und schnappte sich das Mikro.
»Was für Stimmen! Vielen Dank an unsere perfekten Kriminalistinnen, die extra aus Amerika zu uns gekommen sind. Fröhliche Weihnachten und merry Christmas allerseits!«
Der Applaus verstärkte sich, und ich genoss die Standing Ovations. Ich ließ den Blick über die klatschenden Menschen schweifen. In Johannes’ Gesicht sah ich als Erstes. Seine Wangen glühten.
Die seiner Begleiterin aber leider auch. Keine Ahnung, wer das war, aber ich hasste sie jetzt schon.
Elke Hansen, die Sekretärin der Mord, sah uns verzückt an. Selbst Rodewald von der Sitte nickte uns anerkennend zu und klatschte wohlwollend in die kräftigen Hände. Jens von der Kriminaltechnik sah mich mit einem schwärmerischen Blick an, und in meinem Übermut warf ich ihm einen Luftkuss über die Köpfe zu, den er freudestrahlend auffing. Anschließend gab es Altbier vom Fass für alle, und die ersten gezapften Gläser wurden uns sechs Frauen in die Hand gedrückt. Der Präsidiums-Fotograf Heiner stellte uns in einer Reihe nebeneinander auf, und wir prosteten in die Kamera.
»Ich muss auf die Toilette und das Mieder öffnen«, flüsterte Petra mir zu. »Ich fühle mich wie eine Presswurst.«
»Ich komm mit«, sagte ich, und auf dem Weg zur Toilette umarmte ich im Vorbeigehen meinen Pseudofreund Toni, der in seinem Karoanzug und dem bunten Halstuch unfassbar gut aussah.
»Ihr wart super! Tausendmal besser als bei den Proben. Ich hätte nie gedacht, dass ihr das so gut hinbekommt«, rief er.
»Also hör mal«, entrüstete sich Petra. »Darüber sprechen wir noch.«
Petra zog mich am Arm weiter, und ich küsste Toni hastig auf die Wange. Wir spielten immer noch das Pärchen, das wir nie waren, und spürten selbst ein Dreivierteljahr nach der Sache im Schwanenpark die prüfenden Blicke von manchen Augenpaaren im Präsidium.
Petra und ich standen in einer Kabine der Damentoilette, und ich löste die Schnüre des Mieders auf ihrem Rücken.
Sie tat einen wohligen Seufzer. »Schon viel besser, danke.«
»Wann willst du es offiziell machen? Lange wirst du die Schwangerschaft nicht mehr geheim halten können«, sagte ich, deutete auf die deutliche Bauchwölbung und fädelte die Schnur aus den Ösen.
Sie zog das Mieder aus und verstaute es in ihrer großen Tasche. »Im Januar machen wir es bekannt, dann bin ich im sechsten Monat. Du weißt, was das bedeutet. Die Kripoaspirantin und der Leiter der Kriminaltechnik bekommen ein Kind und sind ein Paar. Das wird wie ein Lauffeuer durchs Präsidium gehen, und dann bin ich erledigt.«
»Petra, sie werden dich nicht rauswerfen. Du machst eine Pause, bekommst das Kind, kommst zurück und schließt die Ausbildung ab.« Ich half ihr, die Bluse wieder richtig zuzuknöpfen.
»Du stellst dir das so einfach vor. Aber bis es so weit ist, werden sie mich zu langweiligem Innendienst verdonnern, um die werdende Mutter zu schützen. In dem Experiment ›Frauen für die Kripo ausbilden‹ war Fortpflanzung nicht vorgesehen.« Sie machte ein bekümmertes Gesicht. »Ich werde euch alle wahnsinnig vermissen. Ich mag die Arbeit hier wirklich gern.«
»Du kommst wieder, ganz bestimmt. Weiß dein Noch-Ehemann endlich Bescheid?«
Sie schüttelte den Kopf. »Wir sind im Trennungsjahr, und ich soll zu ihm so wenig Kontakt wie möglich haben. Er kommt nur vorbei, um die Kleine abzuholen. Wir sprechen nicht viel, aber sein Blick sagt mir alles. Verletzte männliche Eitelkeit. Die Scheidung wird schwierig, denn es gilt immer noch das Schuldprinzip.«
Ich sah sie mit großen Augen an. Petra fuhr fort.
»Die Scheidung funktioniert nur, wenn einem von uns beiden ein Verschulden nachgewiesen werden kann. Das wäre nach Ansicht meines Noch-Ehemanns dann wohl ich: Verweigerung einer Schwangerschaft und Vernachlässigung der ehelichen Pflichten. Zu guter Letzt: Ehebruch. Fremdgehen. Ich falle also sehr tief.«
»Wir haben nicht 1950. Und im Übrigen: Er hat dich geschlagen.«
»Ich habe zurückgeschlagen.«
Wir traten aus der Kabine vor die Waschbecken, und Petra nahm Puder und Lippenstift aus ihrer Handtasche. Beugte sich ihrem Spiegelbild entgegen. »Lucia, ganz ehrlich, das interessiert keinen. Dein Ehemann kann mit dir machen, was er will. Und mein Noch-Ehemann wird alles tun, dass ich vor Gericht die Schuldige bin. Meine größte Angst ist, dass ich das Sorgerecht für meine Tochter verliere.« Sie zog mit zwei schnellen Handbewegungen ihre Lippen in schimmerndem Rot nach. Presste die Lippen aufeinander und machte ein leises Plopp-Geräusch.
Ich drückte ihren Unterarm. »Alles wird gut, du wirst sehen.«
»Ein frommer Wunsch, Lucia. Es wird hart, ich verspreche es dir. Du kennst meinen Mann nicht. Lass uns zurückgehen zu den anderen.«
Johannes stand in Rolli und Cordsakko mit einem Bierglas in der Hand neben Mieze und Ruth, und als er mich sah, weiteten sich seine Augen.
»Beeindruckender Auftritt. Ich wusste gar nicht, dass du so eine schöne Stimme hast.«
»Ich glaube, du weißt so einiges nicht.«
Für einen Moment kam er aus dem Takt, fing sich aber sofort wieder. Dieses gegenseitige Necken war zu einem Sport zwischen uns geworden.
»Was war denn am Anfang mit dir?«, fragte er und sah mich mitfühlend an.
»Wieso?«, erwiderte ich erstaunt.
»Du hattest eine Erinnerung, nicht wahr?«, sagte er mir auf den Kopf zu. »Was hat es ausgelöst?«
Ich biss mir auf die Lippe. »Es war der Scheinwerfer. Das Licht erinnerte mich an die Fahrt im Krankenwagen.«
Und an das, was danach kam. Eine Notoperation. Ein perforierter Darm. Eine Bauchfellentzündung. Antibiotikum und sechs Wochen Dienstausfall. Eine Narbe am Bauch als ewige Erinnerung. Und fiese Alpträume.
»Das kann nach einem solchen Vorfall immer mal wieder passieren. Schläfst du gut? Wovon träumst du?«, fragte er. Besorgnis lag in seiner Stimme. Eine Zuneigung, gegen die ich mich sträubte und die ich zugleich schön fand.
»Wirklich? Jetzt, auf der Weihnachtsfeier?«, fragte ich. »Gibt es keinen geeigneteren Ort, um über die Sache zu sprechen?« Ich nannte den Messerangriff im März nur noch »die Sache«, um es kleiner zu machen und die Erinnerung daran wegzuschmelzen wie einen Klumpen dreckigen Schnees in der Sonne.
»Kommst du mit der Kollegin klar, die ich dir empfohlen habe?«
Das war eine Fangfrage. Ich wette, er wusste die Antwort längst. Ein einziges Mal war ich bei ihr gewesen, aber ich konnte mich der Therapeutin gegenüber nicht öffnen, weil ich wollte, dass meine Gespenster vorerst auch meine Gespenster blieben. Und Johannes war so klug, mir daraus keinen Vorwurf zu machen. Ich trat einen Schritt näher an ihn heran und senkte die Stimme.
»Da ist dieser Traum. Männer stehen vor mir und bilden ein Spalier, durch das ich gehen soll. Sie sehen mich alle an, halten ihre Hände in Hüfthöhe und sagen: ›Los! Lauf!‹ Ich will sehen, ob sie was in den Händen halten, aber ich kann nichts entdecken, weil alles unscharf wird und verschwimmt. Ich gehe los und sehe in diese unbekannten Gesichter, und sie blicken mich mit weit aufgerissenen Augen an, ohne zu blinzeln, und ich gehe immer schneller dieses Spalier entlang. Ich spüre die Bedrohung. Sie liegt in der Luft. Ich weiß, was sie vorhaben. Einer von ihnen hat ein Messer und will mich abstechen, aber ich weiß nie, wer es ist. Und ich renne los, durch dieses enge Spalier, und streife ihre Körper, die sich zusammenschließen wie ein Reißverschluss, nachdem ich sie passiert habe.« Ich atmete tief aus. »Ich schaffe es nie bis zum Ende des Spaliers. Aber ich spüre den Schmerz, wenn sie mich stechen. Wie damals.«
Johannes sah mich traurig an, und ich spürte, dass er mich umarmen wollte. Eine Frau stellte sich zu uns, schmal, kleinbrüstig, in einem tannengrünen Kreppkleid mit langen Kragenspitzen und großen Brusttaschen. Ich bemerkte sie aus dem Augenwinkel, ihr rotblondes Haar glänzte. Sie legte ihren Arm locker um Johannes’ Hüfte.
»Störe ich?«, fragte sie und lachte dabei.
»Lucia, das ist Julia«, stellte Johannes sie vor.
Julia. Feine Gesichtszüge, ausgeprägte Wangenknochen. Grünliche Augen. Sie streckte mir ihre Hand entgegen. So eine weiße, marmorne Hand. Glatt. Kalt.
Wir schüttelten die Hände, und ich drückte fester zu als nötig.
»Ich habe schon viel von dir gehört«, sagte Julia, die meinen Händedruck ebenso fest erwiderte.
»Das kann ich von dir leider nicht behaupten«, sagte ich und schielte zu Johannes, der rot wurde. »Was machst du? Beruflich, meine ich.«
»Ich bin Chirurgin, hier an der Uniklinik. Wir kennen uns schon seit einigen Jahren, seit dem Studium. Aber erst kürzlich sind wir uns nähergekommen.«
Blöde Kuh, dachte ich.
»Tatsächlich. Wie schön für euch«, sagte ich mit sarkastischem Unterton. »Warum seid ihr euch denn nicht früher nähergekommen?«, platzte es aus mir heraus.
Julia sah mich einen Moment irritiert an, legte den Kopf schief. Johannes nippte nervös an seinem Bier und schaute mich mit seinen grüngrauen Augen über den Rand des Glases an.
»Ich brauchte noch Zeit«, erklärte Julia ruhig. »Mein Mann ist erst seit einem Jahr tot, er starb bei einem Autounfall. Die Gespräche mit Johannes haben mir sehr geholfen. Dabei haben wir eine Nähe aufgebaut, die uns beide überrascht hat.« Sie sah ihn mit einem warmen, liebevollen Blick an.
Ich war sprachlos. Du spielst also nicht nur bei mir den Kümmerer.
Toni stürmte auf mich zu und umarmte mich. »Ciao, Principessa, da bist du ja.« Er drückte seine Wange gegen meine. »Hallo, ich bin Toni, der Freund von Lucia. Wir machen hier gemeinsam die Ausbildung zum Kriminalwachtmeister.« Seine Hand schnellte hervor, und er strahlte Julia an. Entblößte dabei seine perlweißen Zähne unter dem schwarzen Schnäuzer.
Julia schüttelte erstaunt seine Hand. Ihr Blick hüpfte zwischen uns hin und her, und ich bemerkte, dass sie sich gerade fragte, was hier nicht stimmte.
So standen wir uns gegenüber, die Lüge und die Wahrheit. Und beides war Mist für mich. Niemand sagte etwas, und Tonis Fröhlichkeit hing wie lahme Luftschlangen in der Luft. Er bemerkte es.
»Okay, super Gespräch«, sagte Toni trocken. »Wir müssen jetzt tanzen, daher entreiße ich euch Lucia, und wir sehen uns später. Va bene?«
»Ja, bis später«, sagte Julia mit einem falschen Grinsen. Johannes blickte betreten zu Boden, und Toni zog mich am Arm weg.
»Wer ist diese blutleere Harfenspielerin?«, raunte er mir im Weggehen zu.
»Das ist wohl die neue Freundin von Johannes.«
»Sie ist älter als er«, sagte Toni. »Das wird nix werden, denn er hat ein Auge auf dich geworfen. Definitiv.«
»Vielleicht früher mal, aber jetzt nicht mehr. Ich bin eine Art Patientin für ihn geworden. Ich bin jemand, an dem er ein wenig herumdoktern kann.«
Toni drückte fest meine Hand, als Zeichen, dass er verstanden hatte. Jemand hatte Schlagermusik aufgelegt, gerade lief »Oh, wann kommst du?« von Daliah Lavi, und einige Kollegen schwenkten ihre Biergläser im Takt und grölten mit.
Vielleicht gibt es irgendwo einen Sinn,und irgendwer weiß den Weg dorthin,wo Liebe wohnt.
Die kleine Tanzfläche war gut besucht, und ich entdeckte im Augenwinkel, wie Jens mit Sabine, der Sekretärin der Sitte, tanzte. Er war kein guter Tänzer, aber er bemühte sich, ihr zu gefallen. Wir tanzten ein paar Lieder, lachten, und ich schüttelte die Begegnung mit Julia ab. Zu vorgerückter Stunde wurde die Musik besinnlicher und deutete das nahe Ende der Veranstaltung an. Die meisten Kollegen standen leicht schwankend vor dem fast leeren Büfetttisch. Stopften sich die Reste von Würstchen im Schlafrock, rheinischem Kartoffelsalat und Russisch Ei rein. Hielten sich kameradschaftlich an den Schultern. Schmatzten. Lachten. Gossen ein letztes Bier auf den späten Imbiss. Kollege Müller, der kleine fiese Mann aus der Mord, der im März eine Schlägerei mit Toni angezettelt hatte, sah zu uns herüber, wie wir auf der Tanzfläche zu der beschwingten Melodie von Dean Martins Song »Everybody Loves Somebody« tanzten. Wange an Wange.
»Der Schatten ist wieder da«, bemerkte ich leise.
Müller war mein Feindbild Nummer eins. Er hatte es sich zur Aufgabe gemacht, zu beweisen, dass Toni ein 175er war. Ein Homosexueller. Solche Männer hatte er vor ein paar Jahren noch aus öffentlichen Toiletten, zwielichtigen Kneipen und dunklen Seitengassen gejagt, und bei der Verhaftung waren sie versehentlich auf die Schnauze geflogen oder mit einem Auge am Türrahmen hängen geblieben.
»Schau nicht hin. Du schenkst ihm damit nur die Aufmerksamkeit, die er haben will«, sagte Toni.
»Aber du siehst nicht meinen vernichtenden Blick, der Müller zu Staub verwandelt, damit ich ihn mit einem Staubsauger entsorgen kann.«
»Ich mag es, wenn du so energisch bist«, sagte Toni und kicherte.
»Müller muss eine Schwachstelle haben. Ich werde sie finden, und dann lege ich den Finger in diese Wunde.«
»Vielleicht steht er selbst auf Männer«, seufzte Toni, hob meinen Arm in die Höhe und forderte mich zu einer kleinen Pirouette auf. »Er wäre nicht der Erste, der mit einer übertriebenen Ablehnung versucht von seiner eigenen Neigung abzulenken.«
Ich drehte mich um die eigene Achse. »Niemals. Müller ist ein alter Nazi, der hätte dich sofort weggeschafft. Er ist skrupellos.«
Toni zog mich zu sich heran, und wir tanzten Wange an Wange weiter. »Da beobachtet uns noch jemand. Kuck nicht direkt hin, wir machen eine kleine Drehung, und ich zeige es dir.«
Toni war ein begnadeter Tänzer. Er ließ zwei, drei Takte verstreichen, ganz natürlich vollführten wir eine Hundertachtzig-Grad-Drehung, und ich sah, wen er meinte. Ich schaute Johannes direkt in die Augen, der eng mit Julia tanzte. Ich fing seinen sehnsuchtsvollen Blick auf, aber einen Moment später klappte sein Visier wieder runter, und er blickte mich kollegial-freundschaftlich an.
»Heuchler«, murmelte ich.
»Ich muss dir was erzählen«, begann Toni. »Ich habe jemand kennengelernt.«
»Das passiert bei dir einmal pro Woche, Toni. Das ist nichts Neues.«
»Aber ich glaube, diesmal ist es anders. Du und ich, wir können dieses Spielchen hier nicht ewig weiterführen.«
»Du willst mit mir Schluss machen, du Schuft«, sagte ich im Scherz. »Nun gut. Wie heißt er?«
»Keine Namen«, flüsterte Toni.
Unsere Nasenspitzen berührten sich fast. Tonis Hand ruhte auf meiner Hüfte.
»Was macht er denn so?«, fragte ich.
»Er springt ins Wasser.«
»Damit kann man Geld verdienen?«
Toni kicherte. »Oh ja«, erwiderte er und genoss meine Irritation. Hob eine Augenbraue. »Er ist Turmspringer und trainiert für Olympia, will 72 in München antreten.«
»Is nicht wahr«, sagte ich. »So ein Bursche in Badehose, der vom Fünfmeterbrett durch die Luft fällt und elegant ins Wasser eintaucht?«
»Das kommt dem ziemlich nah. Wir planen, Weihnachten zusammen zu feiern. Was machst du an Weihnachten? Wo wirst du sein?«
Ich zuckte mit den Schultern.
Seit dem Tod meiner Mutter war Weihnachten nicht mehr dasselbe. Es hatte seinen Glanz verloren. Niemand konnte aus diesem Fest ein solches Ereignis machen wie sie. Sie schmückte mit Hingabe den Baum mit hübschen Glaskugeln, klemmte Spangen mit silbernen Vögeln daran und platzierte Bienenwachskerzen. Ihre Geschenke waren liebevoll eingepackt, auch wenn ich wusste, dass die rote Schleife vom letzten Geburtstag war und sie das Papier aufgebügelt hatte. Sie verstand es, uns jedes Jahr den Zauber der Weihnacht neu zu schenken. Sie ließ das Glöckchen zur Bescherung erklingen und stimmte mit ihrer klaren Stimme das erste Lied des Abends an. Es war stets »O du fröhliche«. Sie servierte Gans, Klöße und Rotkohl, und später am Abend sang sie »Stille Nacht, heilige Nacht« für uns. Stellte sich mit einem Weinglas neben den Baum, und wenn ich zu meinem Vater blickte, waren seine Augen wässrig, und die warmen Lichter des Baumes spiegelten sich in seinem seligen Gesicht.
Nach Mutters Tod hatte sich Weihnachten verändert.
Den Baum besorgte nach wie vor Henning. Das Schmücken übernahm ich und dachte dabei an meine Mutter. Als mir einmal eine der Glaskugeln zerbrach, weinte ich bitterlich. Zum Essen gab es keine Gans, denn ich hatte kein Talent zum Kochen. Papa und Henning behalfen sich mit einem Kilo Kartoffelsalat vom Metzger und ausreichend Wiener Würstchen. Dazu gab es einige Biere und Schnäpse. Zu singen vermochte keiner von uns, und so legten wir eine Schallplatte auf, die meine Mutter einmal gekauft hatte: »Deutsche Stars singen Weihnachtslieder«. Die ließen wir durchlaufen, und wenn Heintje als Letztes »Es ist ein Ros entsprungen« heulte, war der Weihnachtsabend gelaufen, und wir flüchteten in die Betten.
Mein Blick schweifte durch den Raum.
»Ich werde am Heiligabend wohl nach Essen fahren zu Papa und Henning, aber vielleicht komme ich schnell wieder zurück. Dieser Turmspringer und du, ist das nicht ein bisschen früh für ein gemeinsames Familienfest?«
Toni sagte mit tiefer Stimme: »Süßer die Glocken nie klingen als zu der Weihnachtszeit. Spaß beiseite. Er hat keine Eltern mehr. Ist Vollwaise.«
»Du musst ihm aber keine Schulbrote mehr schmieren, oder?«
Toni lachte auf. »Nein, er ist zweiundzwanzig Jahre alt und übrigens gelernter Schlosser. Wenn du willst, feiern wir zusammen. Wir machen es uns schön. Ich kann einen kleinen Baum besorgen.«
Ich sah in Tonis dunkle Italo-Augen, die er von seinem unbekannten italienischstämmigen Vater geerbt hatte. Für ihn war vieles so leicht. Er nahm es, wie es kam, und machte das Beste daraus. Das war sein Überlebensmodus. Eine tänzelnde Leichtigkeit, für die ich ihn bewunderte.
»Ich sollte wohl mit dir und dem Turmjungen feiern, denn ich bin immer noch deine Freundin.«
Die Reihen lichteten sich deutlich, und es ging auf Mitternacht zu. Wir waren mit drei anderen Paaren die Einzigen auf der Tanzfläche. Auf den Stühlen am Rand saßen Kollegen und stierten auf den Boden. Rodewald, der Chef der Sitte, war mit gesenktem Kopf eingeschlafen. Ruth stand mit Arthur Menden, dem Leiter der Mord, zusammen und trank ein letztes Bier.
»Wird Zeit, dass wir uns auf die Socken machen«, meinte Toni. »Das Ende von solchen Feiern ist immer fies.«
Wir sahen, wie Jens im Halbdunkel der Sitte-Sabine hemmungslos seine Zunge in den Mund steckte. Müller lehnte wenige Meter daneben an einer Säule und sah mit listigem Blick zu uns herüber.
»Mir reicht’s für heute«, sagte ich. »Lass uns verschwinden. Ich muss morgen frisch sein. Die Arbeit in der Vermisstenstelle ist nicht ohne.«
Ich wusste ja nicht, was mich am nächsten Tag erwartete.
Nicht im Geringsten.
Freitag, 11. Dezember 1970
Das oberste Gebot in der Vermisstenstelle lautete: Bewahre die Nerven. Denn jede Suche nach einer vermissten Person war stets ein Wettlauf gegen die Zeit. In keinem anderen Dezernat war die verzweifelte Hoffnung der Angehörigen lauter und der Druck höher als hier. Wir waren für viele buchstäblich die letzte Hoffnung.
Und es verging kaum ein Tag, an dem nicht irgendjemand verschwand.
Mal verschwanden sie für wenige Stunden, wie der verwirrte Rentner, der in Morgenmantel und Pantoffeln aus dem Haus lief, auf der Suche nach seiner längst verstorbenen Frau (was er vergessen hatte), und unterkühlt auf einer Parkbank gefunden wurde. Oder sie verschwanden für einen oder zwei Tage, wie die rebellischen Jugendlichen, die ihre Eltern in Angst und Schrecken versetzen wollten und ausrissen aus dem strengen Elternhaus. Meist gab es konkrete Gründe fürs Abhauen. Fehlende Liebe. Haltlosigkeit. Oder sie verschwanden für eine knappe Woche, wie die frustrierte Ehefrau, die mit einem heimlichen Liebhaber durchbrannte, der ihr die große Liebe versprach und der sie letztlich auf der Fähre nach Schweden sitzen ließ, weil ihm die Kiste doch zu heiß geworden war. Aber sie verschwanden auch mal für viele Tage. Oder Wochen. Wie diese junge Frau, Wilma, die hinter dem Bahndamm anschaffen ging und eines Abends nicht mehr ins Wohnheim für Prostituierte zurückgekehrt war. Am nächsten Tag nicht und am darauffolgenden Tag auch nicht. Die gar nicht mehr auftauchte, bis wir sie vorgestern fanden. Zwölf Tage nach ihrem Verschwinden. Besser gesagt, ein Mann mit Hund fand sie, ein Spaziergänger. Es sind immer die Menschen mit Hunden, die solche Toten finden. Wilma lag bäuchlings am Rheinufer, halb im Fluss. Das hübsche Gesicht vornüber im Wasser. Die Arme ausgebreitet, als schnorchelte sie und sähe sich das Kiesbett an. Mit vierzehn Messerstichen im Rücken. Ihre Schuhe waren längst abgetrieben.
Ruth stand neben mir am Schreibtisch, heute ganz in Schwarz, und zeigte mir die Akte der Mordkommission mit den Fotos und dem rechtsmedizinischen Bericht von Wilma. Ich zog meine Zigarettenschachtel hervor, und wir zündeten uns eine an. Bliesen den Rauch zur Decke. Es war Mittag, und die Kollegen waren noch zu Tisch. Wir zwei hielten die Stellung.
»Übertötung«, meinte Ruth und schob die schwarz-weißen Fotos von Wilmas Leichnam auseinander. »Kommt leider bei Prostituierten oft vor, meint Menden.«
Zwölf Tage intensiver Sucharbeit waren mit dem Leichenfund beendet. Arbeitstage, die geprägt waren von Gesprächen mit Freundinnen, Kolleginnen und Tante Lotte, der Betreiberin des Wohnheims für Prostituierte, um zu verstehen, wer Wilma war. Bei der Vermisstensuche ging es stets darum, den Opfern näherzukommen. Den Angewohnheiten. Den Fehlern. Weil Menschen nun mal Gewohnheitstiere waren. Sie wiederholten ihr Verhalten und machten sich damit vorhersehbar.
Und darin lag stets eine Chance für uns.
»Ich dachte, Wilma sei aus ihrem Leben abgehauen, in ein neues, bürgerliches Leben. Sie wollte gern ein Kind haben, das war ihr Traum gewesen. Ein neues Leben anfangen mit einem Mann, der es gut mit ihr meinte«, erklärte ich und legte meinen finalen Bericht der Vermisstenstelle in die Akte.
»Sie ist an den Falschen geraten.« Ruth überflog meinen Bericht. »Wenn es nur die Messerstiche wären. Der Typ muss sich furchtbar an ihr ausgetobt haben. Der Körper ist übersät mit Hämatomen, dazu Knochenbrüche an Handgelenken, Armen, Rippen. Das macht mich so wütend.«
»Dieses Schwein«, flüsterte ich. »Ich will am liebsten losrennen und nach dem Typ suchen, bis wir ihn geschnappt haben.«
Ruth klappte die Akte zu. »Ich auch, aber das ist jetzt Aufgabe der Mordkommission, Lucia. Die kümmern sich drum. Wenn es dich beruhigt, sie haben eine erste Spur. Hat mir Arthur gestern am Rande der Weihnachtsfeier berichtet.«
»Ihr duzt euch? Der Leiter der Mord ist jetzt dein Duzkollege? Ich dachte, wir Frauen bleiben stets beim Sie, damit wir respektiert werden?«
Ruth schnaubte leise. »Als ob das helfen würde. Unter uns, er hat mich gefragt, ob ich mir die Arbeit in der Mord vorstellen könnte, wenn unsere Ausbildung vorbei ist.«
»Das ist noch über ein Jahr hin.«
»Nun, man sollte beizeiten seine Weichen stellen. Er will mich ins Team holen.« Sie senkte die Stimme. »Das erzähle ich nur dir, hörst du?«
Ein Lächeln huschte über mein Gesicht. »Was bekomme ich dafür?«
»Ich habe ihm gesagt, dass du auch gut in die Mord passen würdest.«
Ich klappte den Mund auf und zu.
»Stimmt doch, oder nicht?«, fragte Ruth mit einem süffisanten Lächeln.
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich deine Vorgehensweise mag«, sagte ich mit gespielter Strenge.
»Lucia, wir sollten uns ins Spiel bringen, bevor die Würfel gefallen sind.«
Walter Pengnatz kam herein. Der Leiter der Vermisstenabteilung erinnerte mich stets an einen Bankangestellten: mit seinen lichten, zurückgekämmten Haaren, dem faltenlosen Hemd und der karierten Krawatte, den blank polierten Schuhen und seiner ruhigen und besonnenen Art. Er sah sich um, und sein Blick glitt über die leeren Schreibtische, an denen niemand saß.
»Mittagspause!«, riefen Ruth und ich unisono aus unserer Ecke.
Er entdeckte uns, und für einen Moment war Erleichterung in seinem Gesicht zu sehen. Aber nur für einen Moment, dann verdunkelte sich seine Miene wieder, und er eilte auf uns zu.
»Gut, dass ihr da seid. Wir haben eine Vermisstenmeldung reinbekommen. Ein kleines Mädchen wird vermisst. Anneliese Wagner. Vier Jahre alt. Zuletzt gesehen am Karussell auf dem Corneliusplatz am Kaufhof. Die Kollegen von der Streife sind vor Ort. Beeilt euch.«
Ruth und ich sprangen auf, als wäre eine Maus über den Fußboden gerannt. Ich riss meine hellblaue Kostümjacke vom Stuhl und schlüpfte hastig hinein.
»Findet die Kleine. Und macht mir keine Schande«, rief er uns hinterher.
Wir fuhren schnell mit einem Dienstkäfer zum Corneliusplatz, und während der Fahrt schnürte sich mir der Hals zu. Verschwundene Kinder waren das Schlimmste. Ruth parkte den weißen zivilen Dienstwagen im Halteverbot und schmiss die Fahrertür zu. Es war Freitagmittag, und der Corneliusplatz war gut besucht. Wir bahnten uns einen Weg durch die einkaufswütigen Menschen zur Mitte des Platzes, wo neben dem Brunnen ein Kinderkarussell aufgebaut war. Niemand schien mitbekommen zu haben, was passiert war. Wir gingen durch den Pulk der Menschen zu den beiden Kollegen der Streife, die wie Pat und Patachon aussahen. Einer war klein und stämmig, der andere lang und schmal und überragte den Kollegen locker um zwei Köpfe. Sie standen am Rand des Kinderkarussells mit seinen blinkenden Lichtern, auf dem sich Pferd, Elefant und Schwein sowie Feuerwehrauto und Hubschrauber zu einer plärrenden Weihnachtsmusik im Kreis drehten. Darauf saßen rotbäckige Kinder, die vor Freude entweder juchzten oder komplett verstummt waren. Drum herum standen die Eltern in Trauben, schwatzten, rauchten und winkten ihren vorbeifahrenden Kindern zu. Die beiden Kollegen sprachen mit einer älteren Dame im nougatbraunen Pelzmantel, die sichtlich um Fassung rang.
Wir traten auf die drei zu und zeigten unsere Dienstmarken.
»Ruth Bellroth und Lucia Specht von der Vermisstenstelle. Kripo Düsseldorf.«
»Das ist Henriette Wagner, die Großmutter des verschwundenen Kindes«, erklärte der lange Kollege.
Die Frau sah uns einen Moment irritiert an. Henriette Wagner war eine damenhafte Erscheinung. Sie mochte um die sechzig sein, aber ihr Gesicht war bis auf die feinen Linien um die Augen und über der Oberlippe glatt und rosig. Sie trug roséfarbenen Lippenstift auf den schmalen Lippen. Ihre Hände steckten in feinen schwarzen Lederhandschuhen, mit denen sie ein zerknülltes Taschentuch zwischen den Fingerspitzen hielt. Ihre hellbraunen Haare waren frisch gefärbt und gelegt, das sah ich sofort.
»Meine Enkelin ist verschwunden. Bitte … finden Sie sie«, stammelte Henriette Wagner.
Der kleinere Kollege las von seinem Block ab. »Anneliese Wagner. Genannt Liese. Vier Jahre alt. Ist vor einer halben Stunde verschwunden. Sie saß zuletzt auf dem Karussell hier. Sie trägt einen dunkelblauen Wollmantel und eine weinrote Bommelmütze. Wir haben Verstärkung angefordert, um die Gegend rund um den Platz abzusuchen. Die Eltern wurden telefonisch informiert.«
»Wie sieht Anneliese aus?«, fragte ich. »Haben Sie ein Foto von ihr?«
Die Dame zückte ein kleines Foto aus ihrem Portemonnaie. »Das ist meine Liese. Mein Püppchen. Sie wollte unbedingt Karussell fahren.«
»Wie ist sie verschwunden?«, fragte ich und sah auf das Foto und in das kleine Gesichtchen von Liese. Ein hübsches Kind mit dunklen kinnlangen Haaren und einem Paar brauner Augen, die mich frech anfunkelten.
Henriette Wagner sah hinter sich zum Karussell. »Ich habe zwei Billetts gekauft, für zwei Fahrten. Bei der ersten Runde hat sie auf dem Pferd gesessen. Bei der zweiten Runde hat sie sich auf das Schweinchen gesetzt. Sie hatte großen Spaß daran, und ich habe gesagt: ›Gut festhalten, Liese.‹ Als die Fahrt vorbei war, stieg sie ab und rief: ›Oma, noch einmal!‹ Und da bin ich an die Kasse gegangen und habe noch ein Billett gelöst und ihr dabei den Rücken zugedreht. Währenddessen ging die nächste Fahrt schon los, und ich habe mich umgedreht und nach ihr gesehen, aber sie war nicht mehr da. Sie stand nicht mehr am Rand. Sie war verschwunden.«
»Was haben Sie dann gemacht?« Aus dem Augenwinkel sah ich, wie ein Dutzend Kollegen in Uniform anrückten und Ruth sich ihnen zuwandte, um sie zu instruieren. Ich reichte Ruth das Foto des Kindes.
»Ich habe rund um das Karussell gesucht, hier auf dem Platz, habe ihren Namen gerufen, aber die Musik ist so laut, dass ich nicht glaube, dass sie mich gehört hat. Sie ist noch so klein. Bitte, mein Sohn wird außer sich sein, wenn er das erfährt.« Sie hielt meinen Unterarm fest, und ich spürte ihren verzweifelten Griff, der nach Halt suchte.
»Sie haben das richtig gemacht, Frau Wagner«, beruhigte ich sie. »Die meisten Kinder sind einfach nur neugierig und folgen einem Impuls, das muss nicht sofort etwas Schlimmes bedeuten. Was ist Liese wichtig? Worauf lag heute ihr Augenmerk? Ein besonderes Spielzeug? Waren Sie im Kaufhaus? Worüber sprach sie? Das könnte ein Anhaltspunkt für uns sein, wo wir suchen könnten.«
Henriette Wagner sah mich nachdenklich an. »Wir haben länger vor dem Schaufenster mit der Krippe und den Plüschtieren und dem Spielzeug gestanden und drinnen, im Kaufhaus, unter dem großen Weihnachtsbaum. Das hat ihr gefallen.«
»Haben Sie dort schon nachgesehen?«
Sie schüttelte mit einer schmerzhaften Miene den Kopf.
»Ruth, prüft die Schaufenster und den gesamten Innenraum des Kaufhofs«, rief ich ihr zu. Und zu Frau Wagner gewandt: »Die Kollegen werden jetzt den gesamten Bereich hier absuchen. Sich von der Mitte sternförmig an den Rand vorarbeiten und dabei mögliche Verstecke in Augenschein nehmen. Hat sie gern Verstecken gespielt?«
»Oh ja, das hat sie schon immer gern. Und sie bleibt auch in ihrem Versteck, bis man sie gefunden hat. Sie kommt nicht vorher raus.«
»Hat Liese etwas bei sich gehabt?«
»Ja, ihre Puppe. Das Mariechen.«
»Was ist das für eine Puppe? Können Sie die beschreiben?«
»Eine Käthe-Kruse-Puppe. Mit blonden Haaren und einem roten Käppi. Blaues Kleid. Rote Schuhe.« Sie deutete mit den Händen die Größe an. Rund zwanzig Zentimeter waren das.
Ich gab die Beschreibung an die Kollegen weiter, und der Zwei-Meter-Mann, er hieß Ulrich, nickte und tippte sich mit dem Zeigefinger an die Polizeimütze. Auf Ruths Kommando liefen sie los.
»Ich bleibe bei Ihnen, für den Fall, dass Liese zurückkommt«, erklärte ich.
Henriette Wagners Augen waren unruhig und hasteten über die Menschenmenge.
»Waren Sie schon häufiger mit Ihrer Enkelin allein in der Innenstadt unterwegs?«
Sie schluchzte. »Nein, das war unser erster Ausflug zu zweit. Mein Sohn meinte, sie sei ein solcher Wirbelwind, dass ich da Mühe hätte. Aber Liese hat den Papa angebettelt. ›Also gut‹, hat er gesagt.« Sie starrte auf das Karussell, das sich neben uns weiterhin drehte, klingelte und Weihnachtsmusik plärrte. »Wie geht es jetzt weiter? Wir müssen doch etwas tun«, sagte sie mit verzweifelter Stimme.
Ich wollte ihr nicht das ganze Szenario erläutern und sagte nur: »Der Suchtrupp durchkämmt die Gegend rund um das Karussell und das angrenzende Gebiet. Geschäfte. Seitenstraßen. Hofeinfahrten. Keller. Die Kollegen sind erfahren, vertrauen Sie uns. Liese ist nicht das erste Kind, das ausreißt und wiedergefunden wird. Die meisten Kinder sind nach zwei, drei Stunden wieder da.«
»Lieber Gott, mach, dass sie wiederauftaucht«, flüsterte Henriette Wagner und schickte ein Gebet in den winterlichen blauen Himmel, über den große Wolken zogen.
Die Eltern von Anneliese Wagner kamen schnell zum Corneliusplatz geeilt und saßen nun aufgelöst in unserem Einsatzwagen, der am Straßenrand parkte.
Peter Wagner, unverkennbar der Vater von Anneliese, ein Ingenieur aus Neuss, strafte seine Mutter mit Missachtung. Henriette Wagner mutierte zur Salzsäule, unfähig, sich zu bewegen, und zwischenzeitlich, glaubte ich, hörte sie sogar auf zu atmen.
»Das ist ein Alptraum«, flüsterte Petra Wagner, Annelieses Mutter. Eine blonde, sportliche Frau mit schulterlangen Haaren und blauen Augen. »Sie ist kein Rabauke, der einfach abhaut. Sie ist ein liebes Kind. Achtsam. Sie sagt sogar zu mir: ›Mama, deine Schnürsenkel sind nicht richtig zugebunden, da fällst du noch hin.‹« Tränen liefen ihre Wangen hinab, und sie wischte sie mit dem Handrücken fort.
»Wir tun alles, was wir tun können, um Liese zu finden«, erklärte ich.
»Was denn? Was tun Sie denn?«, fragte Peter Wagner mit forderndem Tonfall. Bockig. Wütend.
»Wir gehen nach einem bestimmten Raster vor«, erklärte Ruth ihm ruhig.
»Wer sind Sie denn eigentlich?«, fragte Peter Wagner schnippisch.
»Ruth Bellroth, ich leite mit der Kollegin Lucia Specht von der Vermisstenstelle diesen Einsatz.«
»Zwei Frauen?«
»Haben Sie etwas dagegen?«
Petra legte ihrem Mann beschwichtigend die Hand auf den Unterarm. »Peter, bitte. Jede Hilfe ist jetzt wichtig für uns.«
»Du hast recht. Entschuldigung«, sagte er in unsere Richtung und senkte den Kopf. »Aber das ist unbegreiflich für mich.« Er atmete laut aus.
»Gibt es die Möglichkeit, dass Anneliese entführt wurde und Sie um Geld erpresst werden?«, fragte Ruth.
Peter Wagner schüttelte sofort den Kopf. »Nein, das ist unmöglich. Ich habe zwar eine gute Stelle, aber wir haben einen Kredit laufen, haben Möbel gekauft, wir zahlen ein Auto ab. Da bleibt nicht mehr viel.«
»Okay, ich erläutere Ihnen die Fahndung in den verschiedenen Stufen«, erklärte Ruth und ging die Details durch. Suchtrupp. Fotos an alle Dienststellen und Verkehrsbetriebe. Polizeitaucher. Hubschrauber. Hunde. Lautsprecherwagen. Die Eltern wurden bei der Aufzählung immer blasser.
Peter Wagners Gesicht versteinerte sich. »Wie lange werden Sie nach ihr suchen?«, fragte er mit gepresster Stimme.
»So lange, bis wir sie finden«, erwiderte Ruth und legte ihm die Hand auf die Schulter.
Bei Einbruch der Dämmerung war Anneliese Wagner immer noch nicht aufgetaucht. Sie war nicht beim Schaufenster mit der Krippe, nicht im Kaufhaus beim Weihnachtsbaum, nicht in der Spielzeugabteilung und auch sonst nirgends.
Keiner hatte das Mädchen von dem Foto gesehen.
Gegen siebzehn Uhr saßen wir in der Vermisstenstelle im Präsidium. Wir gingen mit den drei Kollegen den Fall der vermissten Anneliese Wagner durch und trugen alles zusammen, was wir bis dahin wussten. Ruth und ich berichteten von dem Gespräch in der Minna. Das Foto von Anneliese hing vergrößert an der Wand sowie zwei weitere, die die Eltern herausgesucht hatten und die sie in der Kleidung zeigten, in der sie verschwunden war. Ein Fahndungsplakat wurde erstellt und die Verteilung losgetreten. Die Presse war informiert, und die Radiosender brachten bereits die Vermisstenmeldung.
Walter Pengnatz, der Leiter der Vermisstenstelle, saß ruhig da. Er rauchte nicht wie die anderen Kollegen, die bei solchen Besprechungen ihre Nervosität mit Nikotin bekämpften. Er schüttete auch keinen Kaffee in sich hinein, um den Blutdruck unsinnigerweise weiter nach oben zu treiben. Stattdessen saß er aufrecht auf seinem Stuhl, sprach mit angenehmer Stimme und war die Ruhe selbst.
Ich bewunderte ihn dafür.
»Anneliese Wagner wird jetzt seit fünf Stunden vermisst. Was uns in die Karten spielt, ist das milde Wetter. Tagsüber bis zu acht Grad, nachts friert es noch nicht. Was wir jetzt brauchen, ist ein Hinweis eines Zeugen, der sie gesehen hat. Bellroth und Specht, ihr bleibt die Ansprechpartner für die Eltern. Verbreitet Ruhe und Zuversicht. Und bewahrt die Nerven.«
»Wie wahrscheinlich ist es, dass wir sie einfach so wiederfinden?«, fragte Ruth.
»Noch ist alles möglich«, erklärte Pengnatz. »Es liegt noch kein Anzeichen für eine Straftat vor.«
»Aber das kann sich schnell ändern«, meinte Markus Kuhn, der stellvertretende Leiter, und seine erdige Stimme hallte in jede Ecke des Großraumbüros. »Die Dynamik des Verschwindens«, sagte er in meine Richtung.
Markus Kuhn war der eigentliche Star der Vermisstenstelle. Seit fast fünfzehn Jahren dabei. Ein gut aussehender Mann mit scharf geschnittenem Gesicht, kräftig braunen Haaren und angegrauten Schläfen. Ich schätzte ihn auf um die vierzig. Er stand stets leicht breitbeinig da und sah mich aus irritierend grünen Augen an.
Am ersten Tag in der Vermisstenstelle hatte er mich von seinem Platz aus die ganze Zeit beobachtet, aber kein Wort mit mir gewechselt. Außer »Guten Tag«, aber das war’s auch schon. Er hatte mich nur taxiert. Seine Augen waren mir den gesamten Tag gefolgt. Ich hatte es bemerkt, seinen Blick im Rücken gespürt und in der Pause zu Ruth gesagt: »Das ist aber ein merkwürdiger Typ.« Sie hatte nur mit den Schultern gezuckt und gesagt: »Mir egal. Ich muss mit den Kollegen ja nur arbeiten.« In dem Punkt hatte Ruth eine andere Einstellung als ich, und womöglich war ihre die gesündere.
Am nächsten Tag kam Kuhn nach der Morgenbesprechung auf mich zu und gab mir die Hand. »Lucia, ich bin ein Beobachter. Ich rede nicht viel, ich lasse Menschen auf mich wirken und schaue, wie sie sich benehmen. Es ist viel interessanter, zu sehen, was sie versuchen zu verbergen.«
Ich schluckte. Aus seinen grünen Augen sah er mich an, und es kam mir vor, als käme sein Blick an meinem Hinterkopf wieder heraus.
Aber ich hielt seinem Blick stand. »Und was wäre das bei mir?«
»Deine Herkunft.«
Ich lachte kurz auf, aber Kuhn fuhr unbeirrt fort.
»Du möchtest deine Vergangenheit übertünchen. Mit schöner Kleidung und Make-up. Ein neues Bild deiner selbst sein. Das kommt gut an, das gefällt, sicherlich, und du füllst diese Rolle gut aus. Dein neues Ich steht dir. Sie nennen dich hier zu Recht die Denöff vom Rhein. Formidable.«
Kuhn duzte mich. Einfach so. Er fragte auch nicht, ob ich das wollte oder nicht, das war Kuhn vollkommen wurscht. Er hatte seine eigenen Regeln.
»Das klingt wie ein Test«, erwiderte ich. »Und daher würde ich gern wissen: Habe ich bestanden?«
Markus Kuhn sog die Luft durch die Nase ein und kratzte sich am Hinterkopf. Seine Haarlinie an der Stirn war bereits deutlich zurückgegangen. Vielleicht war er doch älter, als ich gedacht hatte.
»Du hast Talent«, erwiderte er und lächelte für einen Moment. Dann hob er den Zeigefinger. »Aber vergiss nie, woher du kommst. Es ist in dir, und es ist dein Schatz, davon kannst du profitieren. Nutze es für deine Arbeit. Stell dich nicht über die Menschen, sondern begegne ihnen auf Augenhöhe. Willkommen im Team, Lucia. Auf eine gute Zusammenarbeit.«
Kuhn ließ mich stehen und ging mit leicht wiegendem Schritt davon. An seinem Hinterkopf war sein Haar bereits licht geworden, und eine kreisrunde Stelle zeichnete sich ab. Durch das eng sitzende Hemd konnte ich seine Rückenmuskulatur erkennen. Die Art, wie er ging, kam mir bekannt vor.
Ich kniff die Augen zusammen. »Wann haben Sie aufgehört mit Boxen?«, rief ich ihm hinterher.
Er blieb stehen und drehte sich langsam um. Grinste. »Das ist schon eine ganze Weile her.«
Ich beschloss, ihn konsequent zu siezen.
»Im Fall Anneliese Wagner gibt es drei Möglichkeiten«, erklärte Kuhn unserer kleinen Runde in ruhigem Tonfall. »Entweder ein vierjähriges Kind verunglückt. Es fällt ins Wasser, in einen Schacht, geht in einen Keller hinein oder Ähnliches. Dann geht es darum, dass es schnell gefunden wird und dass es keine schwerwiegenden Verletzungen erlitten hat. Die zweite Möglichkeit ist, dass es entführt wurde, um Lösegeld zu erpressen. Das kann ich hier nicht glauben, denn der Vater ist Ingenieur, die Familie ist nicht vermögend. Bliebe die dritte Möglichkeit, dass es einem Sittlichkeitsverbrechen zum Opfer gefallen ist.«
Ruth sog die Luft laut durch die Nase ein.
»Ich weiß«, sagte Kuhn in ihre Richtung. »Das ist die übelste Variante, die an die Nieren geht.« Er schaute auf seine Armbanduhr, und wie auf Kommando klingelte ein Telefon hinter uns, und der Kollege Franz Borlein, ein drahtiger hellblonder Typ von dreißig Jahren, sprang auf und nahm den Anruf entgegen. Kuhn betrachtete ihn ruhig, als wüsste er, was nun käme.
Borlein sagte »Ja, danke« in den Hörer, legte auf und hielt einen Moment inne. »Eine ältere Frau hat sich gemeldet. Sie hat Anneliese Wagner in einer Straßenbahn gesehen, zusammen mit einem Mann. Sie hat sie an der Puppe erkannt. Die Zeugin ist auf dem Weg zum Präsidium.«
Kuhn sah mich an. »Wie gesagt, die Dynamik des Verschwindens. Jetzt geht’s los. Stufe eins.«
Siebzehn Uhr vierundvierzig.
Markus Kuhn und ich warteten in einem Befragungsraum im Erdgeschoss des Präsidiums auf die Zeugin. Er stand am Fenster und sah hinaus. Ich saß am Befragungstisch und malte mit dem Kugelschreiber die Ecke des Notizblocks aus.
»Woher haben Sie das gewusst?«, fragte ich ihn. »Dass ein Anruf kommen wird.«
»Erfahrung. Ich mache diese Arbeit schon so lange.« Er löste sich vom Fenster. »Ich könnte dir Dutzende Fälle von verschwundenen Kindern nennen. Das Zeitmuster ihres Verschwindens ist stets identisch. Es dauert nach der Bekanntgabe des Verschwindens zwischen sechzig und neunzig Minuten, und dann trudeln die ersten Meldungen von Zeugen ein, die das Kind gesehen haben oder gesehen haben wollen. Warum? Weil es Zeit braucht, bis sich Menschen erinnern, abwägen, ob sie was erzählen möchten. Ob sie damit tatsächlich zur Polizei gehen sollen.«
»Dann wissen Sie auch, wie es jetzt weitergeht?«
Er schnalzte mit der Zunge. »An der Stelle bricht das Muster auf und verzweigt sich in unterschiedliche Varianten. Daher: Nein, ich kann es dir nicht exakt vorhersagen.«
Es klopfte. Die Tür wurde geöffnet, und ein uniformierter Kollege führte eine ältere kleine Dame mit untersetzter Figur herein. Sie trug einen schwarzen Mantel mit Persianerkragen und einen altmodischen Damenhut aus Filz.
»Frau Schneider. Bitte nehmen Sie Platz«, sagte Kuhn freundlich und deutete auf den freien Stuhl mir gegenüber.
Sie beäugte mich einen Moment, nach dem Motto »Und was macht die hier?«, und nahm mit verkniffenem Gesichtsausdruck Platz. Stellte ihre braune Lederhandtasche vor uns auf den Tisch. Ein in die Jahre gekommenes Modell, dessen Ecken bereits abgestoßen waren. Magda Schneider war laut Personalien neunundsechzig Jahre alt, Rentnerin, wohnte in Düsseldorf und war verwitwet. Sie saß steif in Mantel und Hut auf dem Stuhl, als wollte sie gleich wieder aufspringen und gehen.
»Beschreiben Sie uns bitte, was Sie gesehen haben. Wir zeichnen das auf, und die Kollegin Specht macht sich Notizen.«
Magda Schneider starrte auf das Tonband, das sich unbeeindruckt im Kreis drehte.
»Frau Schneider, es ist sehr wichtig, dass Sie sich ganz genau erinnern. Jede Kleinigkeit hilft uns, ganz egal, was es ist. Bitte«, forderte Kuhn sie auf.
»Als ich das im Radio gehört habe und die Beschreibung der Puppe, hat es geklingelt in meinem Kopf.« Sie tippte sich an die Schläfe. »Soll ich Ihnen sagen, warum? Weil mich etwas an dem Bild gestört hat. Wissen Sie, heutzutage schauen sich die Leute in einer Straßenbahn nicht mehr groß an, die schauen aus dem Fenster und kümmern sich nicht um die anderen. Besonders die jungen Leute reden und lachen und nehmen mir den Sitzplatz weg. Jedenfalls: Ich beobachte die Leute ganz genau. Und die Bahn war voll.«
»Welche Straßenbahn war das?«
»Die zum Hauptbahnhof fährt, die Linie 12. Am Jan-Wellem-Platz ist er mit dem Kind eingestiegen. Ich konnte ihn durch die vielen stehenden Menschen hindurch beobachten. Er hat es nicht bemerkt. Er hielt das Kind komisch.«
»Wie hat er das Kind denn gehalten?«, fragte Kuhn.
Frau Schneider sah ihn einen Moment überrascht an. »Wie jemand, der Angst hat, dass man es ihm wieder wegnimmt. Kein Vater hält sein Kind so. Die Kleine hat ihre Puppe an sich gepresst und sich mit großen Augen umgeschaut.«
»Was hat der Mann während der Fahrt gemacht?«
Nun öffnete Magda Schneider ihren Mantel und atmete laut aus. Sie schaute auf das Aufnahmegerät, als sei es eine störende Tischdekoration, die nach ihrem Geschmack dort nicht hingehörte.
»Er hat mit dem Kind gesprochen. Ihm ins Ohr geflüstert. Die ganze Zeit. Er sprach die ganze Zeit auf das Kind ein.«
»Und wie hat das Kind reagiert?«
Frau Schneider sah Kuhn erstaunt an. »Das ist es ja! Gar nicht. Das Kind war stocksteif und hat sich nicht bewegt. Hat sich nur umgesehen.«
»Kommen wir zu dem Mann. Beschreiben Sie ihn mir, bitte.«
»Er trug eine schwarze Wollmütze. Darunter war braunes Haar, eher länger, wie es die jungen Leute heute tragen, es lugte unter der Mütze vor. Ich schätze, er war so um die dreißig Jahre. Er hatte eine graue Jacke an und einen schwarzen Schal um den Hals. Aber nichts Modisches. Es sah eher gebraucht aus, wie aus einem Rotkreuzsack.«
»War er kräftig? Schmal? Wie war sein Körperbau? War er groß? Klein?«
»Eher mittelgroß und kräftig, ich weiß es, weil die Person neben ihm, eine Frau, sich gegen die Scheiben lehnen musste, um Platz zu haben, weil er mit seinen Schultern in ihren Sitzplatz hineinragte.«
»Trug er Bart, oder war er rasiert?«
»Rasiert, aber er sah ein wenig, wie soll ich sagen, mitgenommen aus. Im Gesicht. Nicht ganz frisch.« Sie deutete eine Trinkbewegung an. »Verstehen Sie, was ich meine?«
Ich sah in Kuhns Gesicht, und da war ein Blitzen in seinen Augen. Der Funke einer Idee. Ein Gedanke, den er aber nicht aussprach.
»Stieg er vor Ihnen aus?«
»Ja, am Hauptbahnhof. Er stand auf und hielt das Kind an sich gepresst. Ich werde seinen Blick nicht vergessen. Er sah dem Kind ins Gesicht, und er wirkte erregt auf mich, so als wollte er es gleich einfach auffressen, mit Haut und Haar verschlingen. Wie in einem Märchen.« Auf ihrer Stirn entstand eine tiefe, senkrechte Furche.
»Eine letzte Frage noch, bevor wir Sie zu unserem Phantombildzeichner bringen. Was für Schuhe hatte er an?«
Frau Schneider setzte sich aufrecht hin. »Seine Schuhe waren schwarz. Halbschuhe. Aber sie waren schmutzig. An den Rändern. Und vorne. Da war Dreck dran, als wäre er durch Matsch gelaufen.«
Das Phantombild, das wir eine halbe Stunde später bekamen, war im Grunde nichtssagend. Das hätten viele Männer sein können. Der Täter hatte keine besonderen Merkmale, keinen speziellen Bart, keine Narben, keine außergewöhnliche Augenpartie, und er trug zum Tatzeitpunkt eine Mütze. Letztlich sah er so aus wie die meisten Menschen im Winter. Mit Schal und Mützen wurden sie schnell unerkennbar. Sogar mir passierte es, dass ich an einem Kollegen vorbeilief, der mich grüßte und den ich, dick vermummt, nicht sofort erkannte. Ruth bekam eine Kopie des Phantombilds und strömte mit Dutzenden von Polizisten aus, um die Menschen auf dem Hauptbahnhof zu befragen. Sie zeigten das Foto von Anneliese Wagner und dem Täter an den Fahrkartenschaltern, an den Kiosken, dem Würstchenimbiss und in der Alt-Kneipe, in der Hoffnung, dass sich irgendjemand an die beiden erinnerte.
Kuhn und ich gingen mit dem Phantombild zurück in die Räume der Vermisstenstelle.
»Wenn er mit dem Kind durch den Hauptbahnhof gehen kann, ohne aufzufallen, kann er mit ihm überall hingefahren sein«, mutmaßte ich. »Der könnte mittlerweile sonst wo sein. Aber warum fährt er mit den Öffentlichen? Das ist doch trotzdem riskant.«
»Weil er sich kein Auto leisten kann«, erwiderte Kuhn. »Er verdient nicht genug. Seine Kleidung ist gebraucht. Seine Schuhe sind schmutzig. Er hat keine Fahrkarte und nutzt das Gedränge der Vorweihnachtszeit, wo kaum Kontrollen stattfinden.«
»Das klingt so, als würden Sie ihn kennen.«
Kuhn nickte leicht. »Ich habe eine Idee, wer es sein könnte. Seine Art des Vorgehens erinnert mich an einen bekannten Täter. Das letzte Mal hat er ein kleines Kind in demselben Alter von einer Kirmes entführt, ebenfalls im Bus und in der Straßenbahn.«
»Das bedeutet, wir müssen annehmen, dass Liese tatsächlich einem Sittlichkeitsverbrechen zum Opfer gefallen ist?«
»Ja, so ist es.«
»Sagen wir es so den Eltern?«
»In einer abgeschwächten Variante. Wir fahren direkt hin. Vorher will ich aber wissen, ob die Befragung am Hauptbahnhof etwas ergeben hat.«
Wir berichteten Pengnatz von der Augenzeugin und legten ihm das Phantombild vor. Er machte ein grübelndes Gesicht. »Kennen wir den?«
»Vielleicht. Das Phantombild ist uneindeutig. Es könnten aus meiner Sicht mehrere sein. Was gibt’s vom Bahnhof?«, fragte Kuhn.
»Die Kollegin Bellroth hat sich vor ein paar Minuten über Funk aus dem Streifenwagen gemeldet. Bislang keine Spur am Hauptbahnhof. Im Getümmel der Menschen ist der Mann niemandem aufgefallen. Sie gehen jetzt in das angrenzende Stahlwerk.« Und zu mir gewandt: »Mit den Hunden.«
Kuhn bemerkte meine gerunzelte Stirn.
»Neben dem Bahnhof ist ein stillgelegtes altes Stahlwerk«, erklärte er. »Es soll abgerissen werden, damit der Bahnhof erweitert werden kann. Dort treibt sich alles mögliche Gesindel rum. Vor allem nachts.«
»Und Sie vermuten, dass er sich mit dem Kind dort versteckt hat?«, fragte ich.
Pengnatz nickte. »Ja, das ist wahrscheinlich. Die Triebtäter fackeln nicht lange. Sie haben ihr Opfer gefunden und sind erregt und wollen schnell zur Sache kommen.«
In meinem Kopf machte es klick. »Die Hunde, die wir hinschicken, sind Leichenspürhunde.«
»Ja.«
Ich hielt die Luft an, weil sich in meinem Kopf ein Film abspulte, den ich nicht sehen wollte. Eine furchtbare Situation: ein Mann, ein Kind. Schreie. Die Hand auf dem Mund. Wimmern. Ein lebloser Kinderkörper. Je länger ich mir das Schreckensszenario ausmalte, umso schlimmer wurde es.
»Geh nicht rein in diese Bilder in deinem Kopf. Lass es sein«, sagte Kuhn neben mir. »Konzentrieren wir uns auf die Arbeit, und das bedeutet zwei Dinge. Erstens: das Kind finden. Zweitens: den Täter finden. Zielführende Ermittlungsschritte sind jetzt gefragt. Wir finden heraus, wo unsere aktenkundigen Triebtäter, auf die die Beschreibung passt, gerade sind, und suchen parallel das Kind. Wir bewahren einen kühlen Kopf.«
»Und wir beten«, meinte Pengnatz. »Beten ist erlaubt.«
Es klang ironisch, aber sein Gesichtsausdruck war ernsthaft. Pengnatz war wohl nicht der einzige Gläubige in dieser Runde. Kuhn griff an das kleine Medaillon, das um seinen Hals hing, und umschloss es mit Daumen und Zeigefinger. Ich hatte den Anhänger vorher schon mal an seinem Hals bemerkt, konnte aber nicht richtig erkennen, was es war. Und fragen wollte ich nicht, das fand ich zu intim.
Es war fast neunzehn Uhr, als Kuhn und ich vor dem gepflegten Mietshaus in Neuss standen, in dem die Familie Wagner wohnte. Das Haus hatte eine hellgelbe Fassade, und am Straßenrand standen neue Automodelle, deren Lack im Licht der Straßenlaternen glänzte. Wir gingen eine akkurat gestutzte immergrüne Hecke entlang zur Haustür.
