Die Krone der Sterne - Kai Meyer - E-Book
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Die Krone der Sterne E-Book

Kai Meyer

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Beschreibung

Der zweite Band der magischen Space Opera aus der Feder von Bestsellerautor Kai Meyer! In jenen Tagen strahlten die Sterne heller. Könige herrschten über Sonnen, Adelshäuser regierten wie Götter im All. Wo Leidenschaften entbrannten, wurden gewaltige Schlachten geschlagen. Zivilisationen vergingen, Welten zerbrachen, Gestirne zerstoben zu Sternenstaub. Am Ende des bekannten Universums, auf der Hexenwelt Empedeum, sucht der Orden der Gottkaiserin nach einem Zugang zum Pilgerkorridor, einer uralten Sternenstraße, von der keiner ahnt, wohin sie führt – oder was sich auf ihr nähert. In ihrer Verblendung rufen die Hexen ihren Götzen an, das Schwarze Loch Kamastraka, und ahnen nicht, welches Unheil sie damit heraufbeschwören. Derweil sind Iniza und Glanis dem Orden entkommen und leben mit ihrer neugeborenen Tochter unter Piraten auf dem Planeten Noa. Doch auch dort sind sie alles andere als sicher: Verrat und Entführung, Hinterhalte und Meuchelmorde führen auf die Spur eines Komplotts, das einen galaktischen Krieg entfachen soll. Um das Leben des Kindes zu retten, nimmt Iniza mit ihren Gefährten den Kampf auf – auch wenn das den Untergang ganzer Welten bedeutet. Ein ungewöhnlicher Autor mit einer einzigartigen Serie.

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Seitenzahl: 530

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Kai Meyer

Die Krone der Sterne – Hexenmacht

Roman

 

 

Über dieses Buch

 

 

Der zweite Band der magischen Space Opera aus der Feder von Bestsellerautor Kai Meyer! In jenen Tagen strahlten die Sterne heller. Könige herrschten über Sonnen, Adelshäuser regierten wie Götter im All. Wo Leidenschaften entbrannten, wurden gewaltige Schlachten geschlagen. Zivilisationen vergingen, Welten zerbrachen, Gestirne zerstoben zu Sternenstaub. Am Ende des bekannten Universums, auf der Hexenwelt Empedeum, sucht der Orden der Gottkaiserin nach einem Zugang zum Pilgerkorridor, einer uralten Sternenstraße, von der keiner ahnt, wohin sie führt – oder was sich auf ihr nähert. In ihrer Verblendung rufen die Hexen ihren Götzen an, das Schwarze Loch Kamastraka, und ahnen nicht, welches Unheil sie damit heraufbeschwören. Derweil sind Iniza und Glanis dem Orden entkommen und leben mit ihrer neugeborenen Tochter unter Piraten auf dem Planeten Noa. Doch auch dort sind sie alles andere als sicher: Verrat und Entführung, Hinterhalte und Meuchelmorde führen auf die Spur eines Komplotts, das einen galaktischen Krieg entfachen soll. Um das Leben des Kindes zu retten, nimmt Iniza mit ihren Gefährten den Kampf auf – auch wenn das den Untergang ganzer Welten bedeutet.

 

Ein ungewöhnlicher Autor mit einer einzigartigen Serie.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Kai Meyer, geboren 1969, ist einer der wichtigsten deutschen Phantastik-Autoren. Er hat über fünfzig Romane veröffentlicht, Übersetzungen erscheinen in dreißig Sprachen. Seine Geschichten wurden als Film, Hörspiel und Graphic Novel adaptiert und mit Preisen im In- und Ausland ausgezeichnet.

www.kaimeyer.com

www.facebook.com/KaiMeyerFanpage

 

Weitere Informationen erhalten Sie unter www.tor-online.de und www.fischerverlage.de

Inhalt

[Illustrationen von Jens Maria Weber]

[Widmung]

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

Epilog

 

 

 

 

 

 

Für

 

Philippe Druillet

Jean »Moebius« Giraud (1938–2012)

und die Visionäre des

Métal Hurlant (1974–1987)

In jenen Tagen strahlten die Sterne heller.

Es gab Könige, die über Sonnen herrschten. Adelshäuser regierten wie Götter im All. Die Schiffe, in denen sie zwischen den Gestirnen reisten, waren groß wie Städte, manche gar wie Monde: Schiffe voller Anmut und Eleganz, Schiffe voller Tod. Denn wo Leidenschaften entbrannten und das Streben nach Macht, da wurden Kriege entfesselt und gewaltige Schlachten geschlagen, weit draußen in der Leere.

Jene, die ihr Leben in Wracks über verwüsteten Welten ließen, wussten nur selten, wofür sie starben. Die Ambitionen ihrer Herrscher waren so mysteriös wie die Sternennebel, auf die sie mit erschöpften Augen blickten, und viele erkannten in ihren letzten Momenten, dass eben doch nichts endlos ist, nicht einmal der Kosmos.

Feuer loderten, wo keine Flamme hätte flackern dürfen, und mächtige Geschütze rissen Wunden selbst ins Vakuum. Menschen, die hier gesiedelt hatten, um ein neues Leben zu finden, entdeckten vielfache Wege, den Tod zu säen.

Zivilisationen vergingen, Welten zerbrachen, Sonnen zerstoben zu Sternenstaub.

 

Niemand weiß mehr, wie lange das Zeitalter der tausend Kriege währte, und aus der Asche des Alten erwuchs nichts Neues, sondern abermals der Mensch mit seinen Begierden und Gelüsten. Doch diesmal vereinten sich die Völker widerwillig zur Hegemonie, bauten neue Schiffe, besiedelten tote Welten, infizierten das All wie eine Seuche. Das gnadenlose, das grandioseTiamandewurde zum Herz dieses Reiches, ein Planet der Legenden und Wunder nur für jene, die ihn nie mit eigenen Augen sahen.

Die Herrschaft der ungeliebten Hegemonie konnte nicht ewig währen, und auf sie folgte die Ära der Maschinen: ein Erstschlag eisigen Intellekts, der Aufstand künstlichen Lebens. Waren es die Diener, die sich gegen ihre Meister erhoben, oder kamen die Maschinen von anderswo? Die Wahrheit ging im Sturm der Gerüchte verloren.

Drei Jahrhunderte lang zermalmte derMaschinenherrschermit stählerner Faust ganze Sonnensysteme, trug Vernichtung auf zahllose Welten. Das menschliche Leben drohte unterzugehen, im Inferno von Klingen und Panzerketten, Laserkanonen und nuklearem Feuer.

Doch das präzise Töten gebar die Anarchie des Lebens, und aus dem Nichts kamen dieHexen. Der Glaube an ihren kosmischen Götzen, dasSchwarze Loch Kamastraka, verlieh ihnen Macht jenseits dessen, was selbst die besten Prozessoren verarbeiten konnten. Die Maschinen wurden geschlagen, ihre Armeen auf Hunderten Welten begraben. Aber wo nie Leben war, kann keines schwinden.

Die Hexen lenkten das Reich von Tiamande mit der harten Hand der Religion, regiert von ihrerGottkaiserin, für immer jung und rätselhaft. Kein gewöhnlicher Mensch sah sie je in den Tiefen ihres Palastes auf der Thronwelt, wo sie ihre Befehle von Kamastraka selbst empfing, von der Stimme des Schwarzen Lochs weit außerhalb der Galaxis.

Als die Überlebenden in den verstreuten Systemen erkannten, dass die eine Tyrannei lediglich von einer anderen abgelöst worden war, regte sich Widerstand gegen den Hexenorden. Wieder wurden Kämpfe entfacht, so töricht wie aussichtslos. Die Königreiche der Taragantum-Drift fielen, das Sternbild der Eisenfaust. Die Paladin-Armeen der Hexen erstickten jeden Aufstand, zerschlugen alle Hoffnung.

Am Rand des Reiches, in einem Wall aus Welten, den die Menschen dieMarkennennen, siedelten viele, die nicht nach den Gesetzen des Ordens leben wollten. Auf Schürferplaneten und Elendswelten kämpften sie um ihre Existenz, ausgebeutet von der Minengilde der Marken und der Sippe, die sie führte: demHaus Caudor, Verbündeter der Hexen und doch ihr heimlicher Gegner.

 

Und noch weiter draußen, jenseits der Marken – dieÄußeren Baronien. Von dort kamenIniza, einzige Tochter desHauses Talantis, und ihr GefährteGlanis, der Vater ihres Kindes. Sie verließen ihre HeimatweltKoryantumund stießen in den Marken auf neue Gefährten und Feinde. Gejagt von den Hexen, die aus geheimnisvollen Gründen Anspruch auf Inizas Tochter erhoben, fanden sie die Freundschaft der AlleshändlerinShara Bittersternund des grimmenKranit, des letzten Waffenmeisters von Amun.

Nach der Flucht von der SchürferweltNurdenmarkin Sharas RaumschiffNachtwärtsverschlug es sie nach Hymnia, wo der ZwergOlfursein Leben für sie gab. Bevor er starb, leisteten sie ihm einen Eid: Sie würden seine Begleiterin in ihre Gruppe aufnehmen und beschützen –die Muse, ein Mädchen ohne Namen, in Wahrheit eine Maschine in Menschengestalt.

In denKlöstern der STILLE, uralten Raumstationen abseits der bewohnten Welten, kam es zum Kampf mit der HexeSetembraund ihrer Raumkathedrale. Die Muse erweckte Hunderte antiker Kampfroboter und warf sie in die Schlacht gegen die Greifer und Paladine der Ordensmutter. Und so musste die Hexe die Flucht ergreifen, eine unerhörte Niederlage und Anlass eines hasserfüllten Racheschwurs.

Zuletzt gelang den ungleichen Freunden die Flucht nachNoa, geheimer Rückzugsort der Piraten, die von Inizas OnkelFaelangeführt wurden. Fael aber hatte eigene Pläne mit seiner Nichte und bat sie um ihre Hand, um gemeinsam mit ihr nach Koryantum zurückzukehren und über ihre Heimat zu herrschen. Iniza lehnte ab. Trotzdem nahm Fael sie fürs Erste bei sich auf, auch ihren Geliebten Glanis und die beiden Außenseiter Shara und Kranit.

Und noch jemanden hatte die Nachtwärts nach Noa gebracht, einen Gefangenen:Hadrath Talantis, Faels verhasster Bruder, Prediger derSTILLE, Kommandant der Gilde und treuer Diener des Hauses Caudor. In den Kerkern der uralten Festung von Noa, die einst von Kultisten derSTILLE erbaut worden war, erfuhr Iniza die Wahrheit über ihre Herkunft – dass Hadrath ihr leiblicher Vater war, der sie gezeugt hatte, als er ihre Mutter mit Gewalt nahm.

Die Muse und ihr Begleiter, ein Kampfroboter zahm wie ein Haustier, wurden von den Piraten auf Noa inhaftiert. Fortan saßen sich die beiden reglos gegenüber, bewacht von einer Heerschar Krieger, und blickten einander an, tage- und nächte-, wochen- und monatelang. Keines der beiden Maschinenwesen rührte sich in all der Zeit. Manch einer forderte ihre Zerstörung, doch Iniza beschützte sie mit der Macht, die ihr als Nichte des Piratenführers gegeben war.

Und über all dem, in einem Orbit um das einsame Noa, kreisten dieTore von Tau, ein antikes Relikt in Gestalt zweier gigantischer Statuen auf Thronen: gerüstete Kriegerinnen, deren Gesichter eine rätselhafte Ähnlichkeit mit den Zügen der Muse besaßen. Vielleicht erschaffen von Jüngern derSTILLE oder doch viel älter, bildeten sie den versiegelten Eingang zumPilgerkorridor, einer Sternenstraße durch den Hyperraum, von der niemand ahnte, wohin sie führte oder was darauf näher kam.

 

Ein Jahr ist vergangen, seit die Gefährten Noa erreichten.

Inizas Tochter Tanys ist sechs Monate alt.

Die Welt, in die sie geboren wurde, wird untergehen.

1

Der Spucknapf vibrierte auf dem Boden des Mannschaftsquartiers, während das Piratenschiff durch die sternenlose Schwärze des Hyperraums jagte. Sechs Männer drängten sich um einen Tisch, an dem Shara und Kranit ihre Kräfte im Armdrücken maßen.

»Erzähl mir von deinen fünf Ehefrauen.« Sharas Stimme klang gepresst, vor Anstrengung brachte sie kaum die Zähne auseinander.

»Wie kommst du darauf, dass ich fünf Frauen hatte?«, fragte Kranit.

Einer der Piraten in seinem Rücken zeigte beim Grinsen spitzgefeilte Zähne. »Das ist es, was man sich über die Waffenmeister von Amun erzählt. Dass ihr Leben nicht nur aus Krieg und Töten bestand, sondern auch aus erfreulichen Dingen.«

»Hab das auch gehört«, sagte ein anderer. »Fünf Frauen für jeden Waffenmeister.«

»Was, bei allen Göttern, sollte erfreulich sein an einem Leben mit fünf Weibsbildern?«, fragte ein Dritter. »Wie viel Genörgel kann ein einzelner Mann ertragen?« Er war ein Koloss mit nacktem Oberkörper, bedeckt mit einem Muster aus Tätowierungen, die jedem Eingeweihten verrieten, auf welchen Gefängniswelten er Strafen abgesessen hatte.

Ohne dass der Druck gegen Sharas Arm um eine Winzigkeit nachließ, hob Kranit den Kopf und sah dem Tätowierten in die Augen. Der Waffenmeister schien etwas sagen zu wollen, als Shara mit aller Kraft eine Attacke startete. Für einen Augenblick neigte sich sein Arm gefährlich zur Seite.

Die Piraten pfiffen und johlten.

Kranits graue Bartzöpfe, mehr als ein Dutzend und sorgfältig geflochten, schwangen sanft nach, als er ihr wieder den Kopf zuwandte. In seinen rostbraunen Augen blitzte es amüsiert, während er den Druck verstärkte und ihren Arm zurück in die Mitte zwang. So ging das seit einer Viertelstunde, keiner von beiden gewann die Oberhand.

Einer der Piraten beugte sich an Sharas Ohr. »Du hast dir seit damals einen schönen Haufen Muskeln zugelegt.« Er war ein rothaariger kleiner Mann mit riesigem Schnauzbart. Wenn er sprach, entblößte er Schneidezähne, die jeden Nager mit Neid erfüllten.

»Bleib mir vom Hals, Catbar«, fuhr sie ihn an.

Shara kannte den Roten Catbar, den tätowierten Hork und zwei der übrigen Männer an Bord aus einem früheren Leben. Eine seltsame Fügung des Schicksals hatte sie auf Noa wieder zusammengeführt.

Vor über sieben Jahren waren Shara, Catbar, Hork und die beiden anderen Piraten Mitglieder derselben Söldnereinheit gewesen. Sie hatten es kurzzeitig zu einem gewissen Ruhm gebracht, als sie die Wandernden Waisenhäuser von Gond vor dem Untergang bewahrt hatten. Dass dies einer Verwechslung zu verdanken war, hatten sie freilich nicht jedem auf die Nase gebunden. Sie hatten dabei ein Schiff und zwei ihrer Mitstreiter verloren, was letztlich zur Auflösung des Trupps geführt hatte, denn von Ehre allein hatte sich keiner etwas kaufen können. Und die Wandernden Waisenhäuser waren bekannt für ihre Wohltätigkeit – weniger für ihre Zahlungsmoral.

Ehe Shara und Kranit ihren Wettstreit im Mannschaftsquartier begonnen hatten, hatte Shara ihre Jacke abgelegt. Darunter trug sie ein ärmelloses Shirt aus Wabenelast. Die Muskelpakete ihres rechten Arms waren angeschwollen, Adern zeichneten sich blau unter der vernarbten Haut ab. Die Zwangsarbeit im Trümmerring von Nurdenmark lag bereits ein gutes Jahr zurück, aber noch immer glich ihr Körper dem eines Gewichthebers. Weil zudem kein Haar auf ihrem Kopf wuchs, hielten viele sie auf den ersten Blick für einen Mann.

Der Rote Catbar atmete warm über ihre Schulter hinweg. Stehend war er kaum größer als sie im Sitzen. »Die Tätowierung an deinem Hinterkopf, Shara, dieses Kreuz, das –«

»Der Bitterstern«, unterbrach sie ihn. »Ein Stern mit vier Strahlen.«

»Lenk sie nicht ab!«, fuhr Kranit den kleinwüchsigen Piraten an.

Catbar zog sich lachend einen Schritt zurück. »Ich hab einen Haufen Geld auf dich gesetzt, Waffenmeister. Enttäusch mich nicht.«

Kranit knurrte unwillig und konzentrierte sich wieder auf Sharas Hand.

Neben Catbar verschränkte Hork die Arme vor der enormen Brust. Schon damals war er der persönliche Schläger des Roten Catbar gewesen, und daran hatte sich nichts geändert.

Sie waren zu neunt an Bord des kleinen Piratenschiffs, auf einer jener Missionen, die Fael in unregelmäßigen Abständen von Noa aus ins Kernreich entsandte. Der Pilot saß allein im Cockpit, die übrigen acht hatten sich im Mannschaftsquartier versammelt und schlugen die Zeit tot, bis das Schiff den Hyperraum verließ. Ihr Ziel war eine der Goldenen Welten, auf halber Strecke zwischen den Marken und Tiamande.

Auf Noa hatten sie vier versiegelte Container an Bord genommen, quadratische Würfel aus Panzerplast. Darin verschickte Fael erbeutete Ware an Hehler im Reich. Die Bezahlung gelangte über geheime Kanäle der Bankenclans zu Fael, nachdem die Container an vereinbarten Zielpunkten deponiert worden waren, abseits aller Zivilisation.

Drei Container hatten Shara und die anderen schon abgesetzt, die Lieferung des letzten war mit dem größten Risiko verbunden. Shara hatte sich lange nicht mehr so tief ins Reich vorgewagt, der Gedanke an die Goldenen Welten machte sie nervös. Die Allmacht der Hexen war dort tief verankert, und es würde vor Schiffen des Ordens nur so wimmeln.

Falls Kranit sich ebenfalls Sorgen machte, überspielte er sie mit demonstrativer Gelassenheit. Er hatte einmal behauptet, bereits auf Tiamande gewesen zu sein, um in den Palast der Gottkaiserin einzudringen. Dass selbst der letzte Waffenmeister von Amun an dieser Aufgabe gescheitert war, erfüllte Shara gleichermaßen mit Sorge wie mit Genugtuung. Entgegen seinem legendären Ruf war Kranit nicht unfehlbar. Er sah aus wie fünfzig, aber manchmal kam er ihr älter vor. Das Leben, das er geführt hatte, forderte seinen Tribut.

Auf die Stärke seines Arms hingegen hatte das keinen Einfluss. Sie war nicht sicher, wie lange sie ihm noch standhalten konnte.

»Alter Mann«, sagte sie, »es wird mir eine Ehre sein, dich geschlagen zu haben.«

Im Geflecht seines grauen Vollbarts erschien ein Grinsen. »Wenn du ein bisschen fleißiger mit der Spitzhacke gewesen wärst, dann hättest du vielleicht eine Chance.«

Der Rote Catbar spie einen Batzen panadischen Kautabaks in den zitternden Napf am Boden. »Ist das ein Kräftemessen unter Kerlen oder ein Wortgefecht unter Waschweibern?«

Hork lachte dumpf – alles, was er von sich gab, klang dumpf, vermutlich aufgrund des geräumigen Hohlraums in seinem Schädel. Manchmal, wenn ihn etwas besonders freute, trommelte er sich mit den Fäusten auf die Brust.

Der Pirat mit den gefeilten Zähnen fuhr sich mit der Zunge über die Spitzen. Seinen Namen hatte Shara vergessen, und sie würde versuchen, es mit seinem Gebiss genauso zu halten, sobald diese Mission beendet war. Unter all den unappetitlichen Gestalten an Bord war er zweifellos die hässlichste.

Kranit unternahm eine weitere Attacke, und diesmal stieß Shara einen herzhaften Fluch aus, als ihr Arm um einige Zentimeter nachgab.

»Komm schon«, sagte der Rote Catbar, »das kannst du besser!«

Erst nach einem Augenblick wurde Shara bewusst, dass er sie meinte, obwohl er Geld auf Kranit gesetzt hatte. Das irritierte sie, trotzdem nahm sie sich seine Worte zu Herzen und mobilisierte ihre Reserven. Ihr rechter Arm schmerzte von der Schulter bis zum Handgelenk, und sie hoffte, dass das kein Vorgeschmack auf einen Krampf war.

Es gelang ihr, Kranits Arm ein Stück weit zurückzudrängen.

Der Waffenmeister schnaubte, und endlich verriet seine Miene, dass ihn das ewige Hin und Her zermürbte. Für gewöhnlich war sie diejenige, die als Erste die Geduld verlor.

Geschieht dir recht, dachte sie. Genau genommen trug Kranit die Schuld an allem hier. Nachdem sie Iniza, Glanis und die Muse nach Noa gebracht hatten, hatte er kurzerhand für sie beide bei den Piraten angeheuert, damit Fael sein Gesicht wahren konnte. Sowohl Shara als auch der Waffenmeister waren in der Vergangenheit mit den Piraten aneinandergeraten, was Anlass zu der Befürchtung gegeben hatte, ihr Anführer werde sie standrechtlich erschießen lassen. Kranits Schachzug, sich Faels Leuten anzuschließen, hatte ihnen vermutlich das Leben gerettet.

Trotzdem verging kein Tag, an dem Shara nicht in die Nachtwärts steigen und verschwinden wollte. Doch die einzige intakte Hypersprungschleuse, die von Noa aus zu erreichen war, befand sich fest in Piratenhand. Ohne einen Sprung würde die Reise bis zum nächsten bewohnten System viele Jahre dauern.

Shara stieß einen zornigen Schrei aus und presste Kranits Hand zur Seite. Sekundenlang schwebte sein Arm über der Tischplatte, und sie wähnte sich schon als Siegerin, hörte kaum die Buhrufe der Zuschauer, die sich um ihren Einsatz gebracht sahen, spürte das Adrenalin durch ihren Körper schießen – und musste dann zusehen, wie Kranit ihren Arm zurück in die entgegengesetzte Richtung bog.

»Hab ich’s euch nicht gesagt?«, rief einer der beiden Männer, die nicht zu Sharas Söldnereinheit gehört hatten. »Der Mistkerl hat den verdammten Gott von Kartan umgelegt, da wird er doch eine dumme Hu-«

Weiter kam er nicht, denn Kranit ließ ihre Hand los, holte noch im Sitzen aus und grub seine Faust tief zwischen die Kiefer des Piraten. Shara sah die Lippen des Mannes platzen, und ihr wurde bewusst, dass der Waffenmeister die Partie tatsächlich abgebrochen hatte, um ihre Ehre zu verteidigen.

Ihre Ehre. Sie hatte geglaubt, die sei schon vor langer Zeit auf jenen Routen zurückgeblieben, die sie als Alleshändlerin und Söldnerin kreuz und quer durch den bekannten Raum geführt hatten.

Geschrei brach aus, als Kranit aufsprang und nachsetzte. Jähzorn war eine jener Eigenschaften, die er für gewöhnlich gut vor anderen verbarg; kam sie jedoch zum Vorschein, hatte jemand allen Grund, um sein Leben zu fürchten.

»Kranit!«, rief sie, als sie von ihrem Platz federte und dabei das Gefühl hatte, ihr tauber Arm sei nicht mehr Teil desselben Körpers. »Lass ihn, er ist nur ein –«

»Rücksturz in den Normalraum in einer Minute«, ertönte die Stimme des Piloten aus den Lautsprechern. »Wenn sich die verehrten Reisenden bitte ihrer guten Manieren besinnen könnten und die Plätze einnehmen würden …«

Kranit stand mit erhobener Faust da und hielt mit der anderen den stöhnenden Piraten am Kragen fest. »Jetzt schon?« Sein Blick streifte Shara. »Bis zu den Goldenen Welten müssten es noch Stunden sein.«

Der Rote Catbar, sein Gefolgsmann Hork und die beiden anderen Männer, die früher Seite an Seite mit Shara gekämpft hatten, waren mehrere Schritte zurückgewichen. Um Platz für die Schlägerei zu schaffen, hatte Shara angenommen.

Nun erkannte sie die Wahrheit.

Vier Blaster waren auf sie und Kranit gerichtet, was dem lauschigen Beisammensein eine unschöne Wendung gab. Shara hatte schon befürchtet, sie würden bald gemeinsam Piratenlieder singen.

Kranit schleuderte den blutenden Mann wie eine Puppe in die Richtung der ehemaligen Söldner. Der Mann traf auf Hork und stieß ihn nach hinten. Der Blaster des Tätowierten ging los und schnitt den glücklosen Piraten fast entzwei. Er blieb gerade lange genug am Leben, um mit seinem Kreischen die Übrigen abzulenken.

Sharas Arm war noch immer halb taub, nicht aber ihre Beine, und so machte sie einen weiten Satz auf einen der Männer zu, einen drahtigen Kerl mit grüngefärbtem Haar, dem sie vor Jahren ihr Leben anvertraut hätte. Jetzt stieß sie seinen Blaster beiseite und rammte ihm die Schulter vor die Brust, entwand ihm die Waffe und brannte ihm damit ein faustgroßes Loch ins Gesicht. Instinktiv riss sie seinen Leichnam als Schutzschild vor ihren Körper, gerade rechtzeitig, um einen Schuss des vierten Mannes abzufangen. Sie kannte seinen Namen, hatte aber aufgehört, einen ehemaligen Verbündeten in ihm zu sehen. Er war jetzt ihr Feind. Er wollte sie töten. Er würde sterben.

Sie entging einem zweiten Laserbolzen und fürchtete, dass der dritte den Toten durchschlagen könnte. Ihr rechter Arm zitterte, als sie die Leiche in die Richtung des Schützen stieß. Was bei Kranit gutgegangen war, misslang ihr gründlich. Ihr Gegner feuerte auf den Toten, was den Leichnam kurzerhand aus der Schussbahn beförderte. Shara konnte den Schützen unmöglich erreichen, ehe der abermals abdrücken würde.

Derweil hatte Kranit den Metalltisch emporgerissen und damit mehrere Schüsse abgewehrt, die der Rote Catbar auf seine Beine abgefeuert hatte. Hork stand ebenfalls wieder aufrecht und schwenkte seinen Blaster in die Richtung des Waffenmeisters.

»Nicht umbringen!«, schrie Catbar ihn an. »Virikaan zahlt nur, wenn er lebt.«

»Scheiße ist das«, beschwerte sich Hork wie ein trotziger Junge. »So kann man gegen den nicht gewinnen.«

Den Tisch vorneweg stürmte Kranit auf die beiden zu. Ihm musste klar sein, dass das Metall einen dritten Treffer kaum aushalten würde, doch ließ er es darauf ankommen. Glutpunkte leuchteten auf der Tischplatte, wo die beiden Einschläge das Material erhitzt hatten.

Zumindest Hork schien nicht bereit, tatenlos abzuwarten, bis der Waffenmeister ihn rammte. Diesmal fraß sich sein Blasterstrahl durch das Metall und verfehlte Kranit nur um Haaresbreite. Mit zornigem Gebrüll trafen die Kontrahenten aufeinander, während sich der Rote Catbar mit einem Satz in Sicherheit brachte. Er hatte seine Kämpfe schon immer gern von anderen austragen lassen.

Shara sah all das nur aus dem Augenwinkel. Sie zog ihren eigenen Blaster und richtete ihn auf den Exsöldner, der sich breitbeinig vor ihr aufbaute und auf sie zielte.

»Tu’s nicht«, sagte er. »Ich bin schneller als du.«

Sie ließ die Waffe sinken. »Hör zu«, sagte sie, »egal, was ihr vorhabt, das ist keine gute Idee.«

Der Mann sah aus, als dächte er ganz ähnlich darüber, schüttelte aber den Kopf. »Noa ist eine verdammte Sackgasse. Die Belohnung, die Virikaan auf den Waffenmeister ausgesetzt hat, reicht aus, um –«

Sein Kopf verschwand in einem Glutball.

Shara fuhr herum und erkannte, dass der Pirat mit den spitzen Zähnen geschossen hatte. Er lag verletzt am Boden und schenkte ihr ein blutiges Grinsen. Dankbar nickte sie ihm zu. Offenbar war er einer von Faels geheimen Vertrauensmännern, die es auf jedem Schiff gab, das Noa verließ. Im Ernstfall sorgten sie dafür, dass keiner die Koordinaten des Planeten meistbietend verkaufte.

Während Kranit im Hintergrund mit Hork rang, legte der Rote Catbar auf den Piraten mit dem gefeilten Gebiss an. Shara erkannte die Gefahr einen Lidschlag zu spät, und so stanzte sein Schuss einen rauchenden Krater in seinen Rücken.

Sie feuerte auf Catbar, sah aber nicht mehr, ob sie traf, denn ein mörderischer Ruck fuhr durch das Schiff. Vor der einzigen Sichtluke des Mannschaftsquartiers erstrahlte eine Wand aus blauweißem Licht – das Energiefeld der Hypersprungschleuse, das sie beim Rücksturz in den Normalraum durchbrachen.

Alle vier wurden durch die Erschütterung von den Füßen gerissen.

Jenseits der Scheibe aus Transparentplast erschienen nicht die Goldenen Welten, sondern Formationen aus gewaltigen Kristallen, glitzernd vor einem tiefblauen Sternennebel.

Davor schwebten mehrere Schiffe – Schlachtkreuzer mit dem bronzefarbenen Emblem Virikaans.

2

Die Taverne war eine von vielen am Raumhafen von Noa, und es roch darin so elend wie in allen anderen. Die meisten Tische waren besetzt, Dutzende Gespräche vermischten sich zu wirrem Geräuschbrei. Alle paar Augenblicke schepperte es, wenn jemand versehentlich gegen einen der Spucknäpfe trat, die überall am Boden standen und immer wieder von wuseligen Kindern in Lumpen ausgetauscht wurden.

Glanis lehnte an der Theke, bestellte sein zweites Bier und schenkte dem Mädchen am Zapfhahn ein Lächeln.

»Du musst Camina sein.«

Sie erwiderte seinen Blick mit einer Spur von Verunsicherung. Auf ihrem Kopf saß eine Krone aus purer Energie, ein Gitterwerk aus glühendem Licht, das der zackigen Form eines Hexenkopfschmucks nachempfunden war. Die mikroskopischen Projektoren waren unter ihrem dunkelblauen Haar in die Kopfhaut eingesetzt worden. Auf ihrer Heimatwelt in den Marken mochte das Mode gewesen sein, hier allerdings hatten die Männer weit größeres Interesse an Caminas Körper als an dem bizarren Holoschmuck. Entsprechend knapp war ihre Kleidung in Violett und Blau. Glanis hatte sie lange genug beobachtet, um zu wissen, dass ihre Trinkgelder die der übrigen Schankmädchen bei weitem übertrafen.

»Ist nicht schwer, meinen Namen herauszufinden«, sagte sie und nahm ein nasses Glas aus der Spüle, um es abzutrocknen. »Alle hier wissen, wie ich heiße.«

»Wahrscheinlich weißt du auch, wer ich bin.«

»Glanis Irgendwas … Keiner hat je deinen Nachnamen erwähnt.« Sie zuckte die Achseln. »Der Sicherheitschef.« Ihr Tonfall ließ keinen Zweifel an der Herablassung, die diesem Amt auf einer Welt der Gesetzlosen entgegengebracht wurde.

Glanis hatte während des vergangenen Jahres genug Zeit gehabt, um sich daran zu gewöhnen. Oft kam er sich selbst lächerlich vor, wenn er die zehnte Prügelei des Abends schlichtete oder volltrunkene Schläger von kreischenden Freudenmädchen zerrte.

»Woher kommst du, Camina?«

»Kaliopus.« Eine Schürferwelt in den Marken, unwirtlich wie die meisten Planeten der Grenzsektoren.

»Man hört keinen Dialekt.«

»Geb mir auch Mühe.« Ein wenig Farbe war in ihre blassen Wangen gekommen. Das Abtrocknen des Glases erledigte sie mit einer Eleganz, die entweder angeboren oder perfekt antrainiert war.

»Wie lange bist du schon hier?«

Sie stellte das Glas beiseite und zählte die Zeit an ihren langen Fingern ab. »Sechs.«

»Monate?«

»Jahre.«

»Dann warst du bei deiner Ankunft fast noch ein Kind.«

Sie zuckte mit den Schultern. »Hier bleibt keine lange ein Kind.«

Er musste an seine eigene Tochter denken, Tanys, gerade mal ein halbes Jahr alt, die in diesem Moment oben in der Festung von ihrer Amme Gavanqe betreut wurde. Er wollte sie von Noa fortbringen, ehe sie alt genug war, dass sich all das hier unauslöschlich in ihre Erinnerung brannte.

Noas Oberfläche bestand zum größten Teil aus Mooren und Seen. Die Festung und die Stadt an ihrem Fuß waren die einzige Ansiedlung auf dem Planeten, errichtet von Kultisten der STILLE, die vor beinahe tausend Jahren spurlos im Pilgerkorridor verschwunden waren. Draußen in den Marschen lebten nur Insekten und ein paar Echsenarten. Bis die Evolution es gut mit ihnen meinen würde, waren die Piraten das einzige intelligente Leben auf Noa. Und mit deren Intelligenz war das so eine Sache. Keine Umgebung für ein kleines Mädchen.

»Die Leute hier mögen keine Sicherheitsleute«, sagte Camina, nachdem sie ihn kurz gemustert hatte. »Erinnert sie an Gefängnisse und niedergeknüppelte Aufstände auf den Markenwelten.«

»Soll ich dir ein Geheimnis anvertrauen?«

Sie hob herablassend eine Augenbraue, weil ihr zweifellos dasselbe Angebot allabendlich ein Dutzend Mal gemacht wurde. »Leg los, Glanis-ohne-Nachnamen.«

»Wenn es hier einen Aufstand gäbe, wäre ich der Erste, der sich den Staub von den Händen klopft und seinen Abschied einreicht.«

»Ist das so?«

»Hängst du so sehr an all dem hier, dass du dein Leben dafür opfern würdest?«

Sie überlegte nicht einmal. »Nein.«

Glanis lächelte, trank noch einen Schluck und wollte es damit bewenden lassen.

»Aber du hast Familie«, sagte sie.

»Die fast überall besser aufgehoben wäre als hier.«

Nun hielt sie kurz inne, als zögerte sie, ihm eine Frage zu stellen.

»Nur zu«, ermunterte er sie.

»Ich hab von den sechs Briefen gehört, die du immer dabeihast«, sagte sie. »Ist das wahr?«

Er stellte das Glas ab. »Das hat die Runde gemacht?« Er dachte nach, wer überhaupt davon gewusst hatte, und dabei fiel ihm neben Iniza und Fael nur ein anderer Mensch ein. Hephestus. Möglicherweise benutzte Faels Berater Gerüchte und kleine Geschichten wie diese als Währung, um seine Informanten in der Stadt bei Laune zu halten.

»Darf ich sie sehen?«, fragte Camina.

Er griff durch einen Schlitz ins Innenfutter seiner Lederjacke und zog ein Bündel mit sechs kleinen Umschlägen hervor. Die Ecken waren verknickt. Glanis hatte die Briefe mit einer Schnur zusammengebunden und sich geschworen, sie erst zu durchtrennen, wenn er wieder zu Hause auf Koryantum war. Selbst Iniza hatte er erst Wochen nach ihrer Landung auf Noa davon erzählt.

Camina streckte eine Hand danach aus und berührte das Papier fast andächtig mit den Fingerspitzen. »Sind das wirklich die Abschiedsbriefe der Leibgardisten, die die Baroness nach Tiamande begleiten sollten?«

»Ich war der siebte«, sagte er. »Ihr Hauptmann. Alle haben vor dem Start einen Brief an ihre Familien geschrieben, weil sie geahnt haben, dass sie die Reise nicht überleben würden.«

»Und wo ist deiner?«

»Ich hab keinen geschrieben. Iniza und ich hatten geplant, mit den Männern zu fliehen, und daran habe ich fest geglaubt. Trotzdem hab ich den anderen versprochen, die Briefe für sie nach Hause zu bringen.«

Sie runzelte die Stirn. »Du selbst hast niemanden auf Koryantum?«

»Sieht man mir das an?«

»Manchmal kann ich spüren, was in anderen Menschen vorgeht.«

Er steckte das Bündel wieder tief ins Futter der Jacke. Er hatte den sechs geschworen, ihre Briefe nicht aus der Hand zu geben, ehe er ihren Eltern und Frauen gegenüberstand.

»Mit Loyalität über den Tod hinaus kann man sich an einem Ort wie diesem Freunde machen«, sagte sie.

Er verzog das Gesicht. »Ich bin sicher, Hephestus hatte nur mein Allerbestes im Sinn, als er diese Sache unters Volk gebracht hat.«

Die Schwingtür am Eingang quietschte, und eine Gruppe Raumfahrer kam herein. Sie gehörten zur Mannschaft eines Schiffes, das vor einigen Stunden durch die Hypersprungschleuse nach Noa zurückgekehrt war. Die Nachricht, dass sie ein Handelsschiff am Rand der Marken aufgebracht und gute Beute gemacht hatten, hatte sich wie ein Lauffeuer herumgesprochen. Nun suchten die Männer und Frauen der Crew nach Gelegenheiten, um ihre Anteile durchzubringen.

Camina fluchte leise, als sie die neuen Gäste eintreten sah. »Die kommen von der Umbrands Traum.«

Glanis nickte. Für die Besatzung des überfallenen Händlers war die Begegnung mit dem Kreuzer gewiss alles andere als ein Traum gewesen. Manchmal erstaunte ihn, wie zynisch er im Umgang mit dem Treiben der Piraten geworden war. Von Beginn an hatte er sich geweigert, an ihren Beutezügen teilzunehmen, darum hatte Fael ihm den Posten des Sicherheitschefs übertragen. Das klang verantwortungsvoll, doch in Wahrheit schlug der Herrscher von Noa auf diese Weise zwei Fliegen mit einer Klappe: Er gab Glanis etwas zu tun und hielt ihn zugleich nächtelang von Iniza fern. Fael hatte versucht, Iniza zu einer Hochzeit und der gemeinsamen Rückkehr an den Hof von Koryantum zu bewegen, und dabei stand ihm Glanis im Weg. Womöglich hoffte er, dass ein betrunkener Raumfahrer das Problem für ihn löste.

Glanis erledigte seine Aufgabe, so gut das an einem Ort wie diesem eben möglich war, doch nach einem Jahr auf Noa hingen ihm die Kaschemmen und Absteigen rund um den Raumhafen zum Hals heraus. Zudem war ihm bewusst, dass die Stadt jahrelang ohne Sicherheitschef klargekommen war – viele Konflikte regelte sich von selbst, wenn der erste Mann erschossen am Boden lag –, und so hatte er sich stillschweigend einer Angelegenheit angenommen, die ihm ernsthafte Sorge bereitete.

Camina war ein Teil davon. Ein weiterer Stein jenes Mosaiks, das er seit Wochen Stück für Stück zusammensetzte. Und das Bild, das dabei entstand, gefiel ihm mit jedem Tag weniger.

Die Piraten von der Umbrands Traum zerrten zwei Kerle von den Stühlen, die einen Sechsertisch blockiert hatten. Mehrere brüllten nach Bier, und zwei der Mädchen hinter dem Tresen setzten sich mit gequältem Lächeln in Bewegung.

Camina blieb bei Glanis stehen. »Abschaum«, sagte sie leise.

»Das klingt, als willst du das hier nicht ewig machen.«

Spöttisch verzog sie den Mund. »Willst du um meine Hand anhalten, o Hüter von Recht und Ordnung? Mich in deinem Sichelschiff hinauf zu den Sternen tragen und mir das All zu Füßen legen?«

Fast alle hier wussten, in welchem Schiff Iniza, Shara, Kranit und er nach Noa gekommen waren. »Die Nachtwärts ist nicht mein Schiff.«

In gespielter Enttäuschung zog sie eine Schnute. »Dann vergiss die Hochzeit. Pech für dich.«

»Aber das Angebot ehrt mich.«

»Du siehst zu gut aus für einen Piraten. Nicht mal deine Fingernägel sind schmutzig.«

»Ist noch früh am Tag.« Er deutete mit erhobenem Glas auf ihren glühenden Holokopfschmuck. »Was hat es mit der Hexenkrone auf sich?«

»Als Kind wollte ich eine Hexe sein.« Sie bemerkte sein Schmunzeln. »Na, und? Jungs träumen davon, Paladine oder Greiferpiloten zu werden. Oder Gardehauptmann einer echten Baroness.« Camina winkte ab. »Bestimmt ist sie nett und alles.«

»Ich bin nicht sicher, ob nett das richtige Wort ist.«

»Sie ist Faels Nichte. Keiner hier wird ein böses Wort über sie verlieren. Fael hat seine Spione überall.« Unter ihrem blauen Pony runzelte sie die Stirn. »Dir sieht man wenigstens gleich an, dass du zu seinen Leuten gehörst.«

Glanis trug eine lange Jacke aus schwarzem Leder, darunter einen Blaster am Gürtelhalfter, aber keine Uniform. Der einzige Hinweis auf seine Position war ein dreieckiges Abzeichen an seiner rechten Schulter. Strähnen seines langen braunen Haars fielen immer wieder darüber. Sein Vollbart war kurzgeschnitten und wies erste graue Haare auf, obwohl er gerade mal Ende zwanzig war. Iniza zog ihn manchmal damit auf.

Wie Glanis wollte auch sie schleunigst fort von Noa, aber solange der Orden Jagd auf sie und ihre Tochter machte, waren sie hier sicherer als irgendwo sonst im Reich. Nicht einmal Shara und Kranit, die auf niemanden Rücksicht nehmen mussten, hatten bislang den Versuch unternommen, sich aus dem Staub zu machen.

»Hauptmann ihrer Leibgarde«, sagte Camina. »Dir ist schon klar, was für ein Scheißklischee das ist, oder? Ihr Vater war bestimmt begeistert. Oder wusste nichts davon.« Sie lachte, als ihn sein Blick verriet. »Ach je. Das also auch noch.«

»Du weißt wirklich eine Menge.«

»Das hier ist eine stinkende Raumhafenspelunke. Es gibt keine Geschichte, die ich noch nicht gehört hab. Die Leute erzählen sich Tag für Tag den gleichen Unsinn. Vom letzten Beutezug oder erfundene Heldentaten von früher, bevor es sie hierherverschlagen hat. Wenn neue Gesichter auftauchen, dann spricht sich das herum. Und jeder erfindet ein wenig dazu, bis es schließlich die Gottkaiserin selbst ist, die Jagd auf deine Baroness macht.«

»Was ist mit deiner Geschichte?«, fragte er. »Was hat dich hergeführt?«

»Ich war Beute«, sagte sie unumwunden. »Sklavin auf einer Fleischbarke, die von Faels Leuten gekapert wurde. Anfangs war es hier nicht viel besser als in den Käfigen der Sklavenhändler, aber ich hab mich hochgearbeitet.« Mit unverhohlenem Spott fügte sie hinzu: »Auf Noa hat eben jeder eine Chance.«

»Wo würdest du lieber sein?«

»Im Ernst?«

»Sag jetzt nicht überall. Ich meine, auf welcher Welt. Tiamande? Bei den Hexen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Hast du mal eine echte Hexe gesehen? Sie stechen sich ihr linkes Auge aus. Nur um zu zeigen, dass sie dem Schwarzen Loch treu ergeben sind.«

»Kamastraka.«

Camina spuckte auf den Boden hinter der Theke. »Irrglauben ist das.«

»Und an was glaubst du?«

Sie neigte den Kopf ein wenig zur Seite, während sie ihm fest in die Augen sah. »An gar nichts«, sagte sie dann. Er hatte geahnt, dass sie lügen würde, noch ehe er es an ihrem Tonfall erkannte.

»Jeder sucht sich etwas, das größer ist als er selbst«, sagte er. »Einen Gott, eine Idee, ein Ideal. Irgendein Ziel. Von mir aus Kamastraka. Oder die STILLE. Es gibt genug vermeintliche Götzen zwischen hier und Tiamande.«

Sie bemerkte, dass das feuchte Handtuch Schlieren auf den Gläsern hinterließ, und wedelte es kurz durch die Luft. »Ich hol ein neues. Lauf nicht weg, dann reden wir weiter.« Sie verschwand durch eine schmale Tür zwischen den Flaschenregalen.

Glanis gab ihr dreißig Sekunden. Dann schwang er sich aus dem Stand über die Theke, zog seinen Blaster und folgte ihr. In seinem Rücken erklangen anfeuernde Rufe.

Hinter der Tür lag die Küche, ein langer Schlauch, dessen Ende durch die Wolken von fettigem Dunst kaum zu erkennen war. Ein Koch stellte sich ihm in den Weg, doch ehe er den Mund aufmachen konnte, hatte Glanis ihn bereits zu Boden gestoßen. Ein anderer Mann hielt auf ihn zu, sah den Blaster und tauchte im Nebel der Fettschwaden unter.

Glanis erreichte die Hintertür, sprang geduckt ins Freie und sah einen Laser aufblitzen. Der Schuss verfehlte ihn um eine Armlänge. Als er weiterlief, sah er Camina am Ende der Gasse, in einer Hand einen winzigen Blaster. Er war nicht sicher, ob sie gesehen hatte, dass sie ihn verfehlt hatte, deshalb hielt er kurz inne, um ihr Hoffnung zu machen. Dann erst setzte er sich wieder in Bewegung und lief die Gasse hinunter. Dank der Holokrone war das Mädchen nicht zu übersehen. Vermutlich hatte sie schon tausendmal verflucht, dass sie sich das Ding hatte einsetzen lassen.

Die Stadt unterhalb der Klosterfestung hatte sich während der letzten tausend Jahre kaum verändert. Das Labyrinth der Gassen war eng und unübersichtlich, die meisten Häuser nicht höher als drei Stockwerke. Bröckelndes Mauerwerk war hier und da ausgebessert, Fenster und Türen waren erneuert worden. An manchen Stellen ragten technische Gerätschaften zwischen den flachen Dächern hervor, und eine Vielzahl von Kabeln baumelte über den Straßen von Haus zu Haus. Pfützen bedeckten das Pflaster und bargen nicht selten Stolperfallen, wo Steine fehlten und nie ersetzt worden waren. Noas ferne Sonne war zu klein, um alle Winkel zu erhellen, darum brannten auch bei Tag die Lampen, die an Kabeln hoch über den Köpfen der Passanten schwangen. Kaum jede dritte funktionierte.

Glanis folgte Camina um Ecken und Biegungen, ohne sich ihr zu zeigen. Sie würde bald sicher sein, dass sie ihn zwischen den anderen Menschen abgehängt hatte, und dann hoffentlich diejenigen um Rat ersuchen, auf die er es abgesehen hatte.

Dass sich im Geheimen ein neuer Kult der STILLE auf Noa gebildet hatte, war Fael trotz seiner Spione entgangen. Glanis war durch Zufall auf einen der Anhänger gestoßen und versuchte seither, mehr über die Gruppe herauszufinden. Die Sekte verwischte geschickt ihre Spuren, doch schließlich hatte er den Hinweis auf Camina erhalten. Noas Piraten stammten von zahllosen Welten des Reichs, und viele gehörten exotischen Religionen an. Dass ausgerechnet hier, im Schatten der Tore von Tau, ein Kult Fuß gefasst hatte, deren glühendste Anhänger die Todfeinde der Piraten waren, konnte nicht toleriert werden. Das Haus Caudor, das die Minengilde der Marken anführte, war der STILLE fanatisch ergeben. Falls es unter den Piraten Kultisten gab, die sich den Caudors und ihrer Religion verbunden fühlten, war das ein massives Sicherheitsrisiko. Ein Verrat würde unausweichlich zu einem Angriff der Gilde führen. Und solange Iniza und Tanys auf Noa lebten, war Glanis jedes Mittel recht, um das zu verhindern.

Camina drängte sich zwischen Ständen mit Obst hindurch, das ein paar Idealisten draußen in den Marschen anbauten. Einige Mal schaute sie sich um, aber Glanis war sicher, dass sie ihn seit ihrem Blasterschuss hinter der Taverne nicht mehr gesehen hatte. Geschwind näherte sie sich den Felsen, aus denen die schwarzen Mauern der Festung emporwuchsen.

Das Gemäuer befand sich auf der einzigen Anhöhe weit und breit, dem höchsten Punkt eines steinernen Plateaus, das sich nur wenige Meter über den umliegenden Mooren und Seen erhob. Der größte Teil der Fläche wurde von der Stadt eingenommen. Lediglich für den Raumhafen hatte man vor langer Zeit Teile der Marschen trockengelegt.

Als Glanis im Schatten der wuchtigen Türme anhielt, fürchtete er schon, er hätte Camina verloren. Links von ihm blitzte Helligkeit auf, diesmal kein Laserschuss. Caminas Holokrone huschte durch eine dunkle Öffnung, die in das Gestein unterhalb der Festungsmauer führte. Die verbeulte Blechtür, die sie hinter sich zuzog, sah auf den ersten Blick aus wie ein Dutzend andere, die fliegende Händler vor Nischen und kleinen Höhlen angebracht hatten, in denen sie über Nacht ihre Waren aufbewahrten.

Glanis war sicher, dass er hinter dieser Tür etwas anderes als Kisten und Säcke finden würde. Kurz erwog er, über Funk Iniza davon in Kenntnis zu setzen, wo er sich befand. Aber er wusste, was sie heute vorhatte und dass ihr das schwer genug fiel, auch ohne Sorge um ihn. Kranit und Shara waren irgendwo im All unterwegs, und sonst gab es niemanden auf Noa, dem er vertraute, ganz gewiss nicht Fael und Hephestus. Das hier musste er allein erledigen.

Er hob den Blaster, zog die quietschende Metalltür auf und folgte dem Schein von Caminas Holokrone in die Dunkelheit.

3

Zur selben Zeit bewegte sich auch Iniza hinab in die Tiefen des Festungsberges. Sie war auf dem Weg zu Hadrath, dem Mann, der vor sechsundzwanzig Jahren ihre Mutter vergewaltigt hatte. Dem Mann, der sie gezeugt hatte, aber niemals ihr Vater sein würde.

Schon lange empfand sie keinen Triumph mehr, wenn sie seine Kerkerzelle betrat. Ihr Hass war hinter ein oberflächliches Gefühl von Abscheu zurückgetreten, und sie weigerte sich, der Last seiner Gegenwart mehr Gewicht als nötig zuzugestehen. Hass hätte bedeutet, ihn in ihrem Herzen zu tragen, und dort war kein Platz mehr für eine Kreatur wie ihn.

Alle zehn Tage kam sie hier herunter und brachte ihm Kopien aus den Festungsarchiven, Kopien von Schriften der frühen Kultisten. Faels Leute hatten auf Noa uralte Bücher und Dokumente gefunden, die wenig Zweifel daran ließen, dass der fanatische Glaube an die STILLE von den Maschinen geschürt worden war, und zwar lange vor ihrer Machtübernahme. Eine künstliche Religion hatte den brüchigen Zusammenhalt der Hegemonie zersetzen sollen, um den Boden zu bereiten für den Aufstieg der künstlichen Intelligenzen und ihren Sieg über die Menschheit.

Die STILLE war eine Farce, und alle Beweise dafür lagerten hier auf Noa. Hadrath Talantis, der sein Leben der STILLE verschrieben hatte, ein krankhafter Eiferer, der im Namen seiner Religion gemordet hatte, erhielt von Iniza seit einem Jahr Stapel um Stapel von Schriftstücken, die ihm seinen Irrtum vor Augen führten.

Anfangs hatte er sich geweigert, die Dokumente auch nur eines Blickes zu würdigen. Doch schon nach den ersten Wochen hatte seine Wissbegier die Oberhand gewonnen, und wenn Iniza ihn heute auf den Monitoren beobachtete, war er stets hochkonzentriert in die alten Aufzeichnungen vertieft. Niemals kommentierte er, was er gelesen hatte, wenn Iniza seine Zelle betrat und neue Papiere und Folien auf die alten häufte. Aber sie sah ihm an, dass die Wahrheit an ihm nagte und seinen Stolz allmählich zermürbte.

Auch heute trug Iniza eine Mappe mit Kopien unter dem Arm, während sie durch den großen Antigravschacht im Herzen der Festung glitt. Aufrecht stehend schwebte sie abwärts, vorbei an den Zugängen zu einem Dutzend Etagen. Die Hälfte davon lag an der Oberfläche, der Rest war tief in den Fels gegraben worden. Alle übrigen Antigravschächte der Festung waren stillgelegt, ihre Installationen ausgeschlachtet oder verrostet. Nur den Hauptschacht hielten Faels Techniker in Betrieb.

Seit dem Sturz des Maschinenherrschers durch die Hexen war es im ganzen Reich verboten, neue Technik zu entwickeln oder die alte zu verbessern. Selbst die Raumschiffe stammten aus der Zeit der Hegemonie und waren nicht selten weit über tausend Jahre alt. Lecks und lebensbedrohliche Schäden wurden behoben, doch war es niemandem erlaubt, die maroden Antriebe und Geräte zu modernisieren oder gar auszutauschen. Ganz zu schweigen davon, neue Schiffe zu bauen.

Manch einer widersetzte sich den Verboten. Man munkelte von geheimen Raumschiffwerften der Minengilde, tief im Sternendschungel der Marken. Die meisten Verstöße gegen die Gesetze der Hexen fanden jedoch in kleinerem Maßstab statt: Werkstätten auf abgelegenen Welten; Techniker, die zwar keine neuen Schiffe entwickelten, aber in mühevoller Arbeit das Beste aus den alten herausholten; Tüftler, die ihr Leben aufs Spiel setzten, weil sie die Finger nicht von Steuerungen und Antrieben lassen konnten. Von ihnen gab es auf Noa eine ganze Reihe, und ihnen war es zu verdanken, dass zumindest der zentrale Antigravschacht der Festung noch benutzt werden konnte.

»Baroness!«, grüßten sie die drei Wächter im Vorraum des Kerkers. Iniza war es unangenehm, auf Noa so genannt zu werden. Es gab viele ehemalige Raumsoldaten von Koryantum unter Faels Leuten, Männer und Frauen, die vor sechzehn Jahren am Feldzug gegen die Piraten der Marken teilgenommen hatten und gemeinsam mit Fael zum Feind übergelaufen waren. Er hatte sich zum Anführer der Gesetzlosen aufgeschwungen, und jene Koryanter, die ihm treu geblieben waren, hatten für ihn noch heute einen besonderen Stellenwert. Dass er seinen verhassten Bruder Hadrath ausschließlich von ihnen bewachen ließ, bewies, dass er ihnen größeres Vertrauen schenkte als allen anderen Piraten auf Noa.

Einer der Wächter hatte seinen kleinen Sohn dabei, höchstens sechs Jahre alt, und brachte ihm gemeinsam mit den anderen ein Kartenspiel bei. Als Iniza das Kind bemerkte, setzte der Mann zu einer Entschuldigung an, doch sie winkte ab. Besser, der Kleine verbrachte seine Zeit hier unten bei seinem Vater als zwischen den Straßenkindern oben in der Stadt.

»Kann ich zu ihm?«, fragte sie.

Einer der Männer blickte zur Seite auf einen Monitor. »Er liest. Als täte er je was anderes.«

»Danke.«

Noch vor einigen Monaten hatten ihre Finger gebebt, wenn sie den Zahlencode in das Tastenfeld neben der Zellentür eingegeben hatte. Mittlerweile blieb ihre Hand ganz ruhig, nur tief im Inneren spürte sie einen Rest der alten Nervosität.

Wortlos öffnete sie die Tür und trat ein.

An allen vier Wänden lehnten hüfthohe Stapel aus kopierten Aufzeichnungen, die sich von der Luftfeuchtigkeit gewellt hatten. Zwei oder drei der Türme waren umgestürzt, aber das kümmerte den Insassen der Zelle nicht. Dokumente, die er einmal studiert hatte, verloren für ihn an Bedeutung. Nur selten schlug er etwas nach, und sein Erinnerungsvermögen schien mit der Zeit eher besser zu werden als abzubauen.

Iniza war das nur recht. Er sollte sich jedes Detail seiner Niederlage einprägen, jede Information wie einen Messerstich spüren. Sie wünschte ihm Schmerzen, die tiefer gingen als die körperlichen Wunden, die ihm die Piraten zugefügt hatten.

Hadrath blickte erst auf, als sie die Tür hinter sich schloss. Er saß an einem kleinen Tisch, den sie ihm nach den ersten Wochen hatte bringen lassen. Wie immer hatte er beim Lesen unter der trüben, vergitterten Deckenlampe eine Papierkante unter den Zeilen entlanggeschoben.

»Du kommst spät, Tochter«, sagte er. Er nannte sie bei jeder Gelegenheit so, vermutlich weil es seine einzige Möglichkeit war, ihr wehzutun.

Sie warf die Mappe mit den neuen Kopien auf den Tisch. »Ich hatte zu tun.«

»Die Pflichten einer jungen Mutter. Wie geht es meinem Enkelkind?«

»Bestens.«

»Ich hoffe, die Amme sorgt gut für das Kleine, da die Mutter ja offenbar Wichtigeres zu tun hat, als sich selbst darum zu kümmern.«

Er war niemals subtil in der Wahl seiner Waffen. Gerade weil sie ihn durchschaute, ärgerte es sie, dass sein Vorwurf sie trotzdem traf.

»Schuldbewusstsein ist der erste Schritt zur Läuterung«, sagte er genüsslich. »Sieh nur, was aus dir ohne die Zuwendung deines guten, alten Vaters geworden ist. Ein Piratenflittchen. Ich fürchte, ich habe wirklich allen Grund, mich schuldig zu fühlen.«

Äußerlich blieb sie gelassen. »Es freut mich, dass du dir Gedanken über deine Verfehlungen machst. Das ist der Sinn und Zweck einer Inhaftierung, nicht wahr?«

»Inhaftierung! Hätte es dafür nicht eine Verhandlung geben müssen? Eine Gelegenheit, mich zu verteidigen?« Jetzt klang er verbittert, was ihr eine gewisse Genugtuung bereitete. »Die Wahrheit ist, dass du und mein ehrenwerter Bruder mich hier unten verrotten lasst. Das ist kein Gefängnis. Es ist eine Gruft.«

»Es könnte schnell zu einer werden«, sagte sie. »Fael würde dich lieber heute als morgen umbringen. Ich bin diejenige, die ihn davon abhält.«

»Weil du mir erst meinen Glauben nehmen willst und dann mein Leben. Sehr großzügig.«

Es ließ sich nicht leugnen. Sie wünschte ihm jede nur mögliche Seelenqual, und manchmal hoffte sie, dass ihr mit der Zeit noch effektivere einfallen würden. Ihm mochte die Vorstellung schmeicheln, dass ihre Gedanken nur um ihn kreisten, doch damit lag er falsch. Zwischen ihren Besuchen verblasste er mehr und mehr in ihrer Erinnerung. Hadrath war wie eine Krankheit, die sich dann und wann durch kurze Schmerzattacken bemerkbar machte, um dann wieder tagelang aus ihrem Bewusstsein zu verschwinden.

Sein Gesicht war im Laufe seiner Gefangenschaft schmaler geworden, der scharfe Grat seiner Nase noch beherrschender. Schon in Inizas frühesten Kindheitserinnerungen hatten seine Augen tief in den Höhlen gelegen, aber nun sahen sie aus, als wollten sie sich in seinem Schädel verkriechen. Alles an ihm schien von Monat zu Monat härter, kantiger und spitzer zu werden. Seine Religion hatte ihm häufige Fastenzeiten auferlegt, aber die Veränderung, die auf Noa mit ihm vorging, hatte nichts mit seiner Nahrungsaufnahme zu tun. Vielmehr war es, als versuchte er, seinen Körper durch pure Willenskraft zu minimieren. Womöglich träumte er davon, selbst unsichtbar zu werden – wie die STILLE, von der er sich trotz aller Enthüllungen in den Aufzeichnungen nicht abwenden wollte.

Die Bitterkeit schwand aus seiner Stimme, sogar ein Lächeln brachte er zustande. »Tatsächlich ist es hier unten weniger schlimm, als man meinen sollte.« Eine seiner üblichen Hundertachtzig-Grad-Kehren, an die sich Iniza längst gewöhnt hatte. »Seit mich deine Leute nicht mehr misshandeln, beginne ich sogar, mich recht wohl zu fühlen. Ich lese und bete, wann mir der Sinn danach steht, und man lässt mich ausschlafen, wenn nicht gerade dieser kleine Schreihals vor der Tür herumkrakeelt. Ich bin sicher, er langweilt sich da draußen bei seinem Vater zu Tode und träumt davon, mich foltern zu dürfen.«

Sie wollte etwas entgegnen, aber wie so oft verlor er schlagartig das Interesse an ihr, zog die Blätter aus der Mappe und überflog, was sie für ihn ausgewählt hatte. Sie suchte nach der Zufriedenheit, die sie früher so intensiv empfunden hatte, sobald sie ihn in diesem Verlies vor sich sah. Viel war davon nicht mehr übrig.

Sie wandte sich zum Gehen, als er sie abermals ansprach. »Du weißt, dass Fael dich nur ausnutzt, nicht wahr?«

Iniza drehte sich um. »Das ist nicht besonders einfallsreich.«

»Aber die Wahrheit. Er träumt davon, nach Koryantum zurückzukehren, und er will dich als seine Braut, um seinen Anspruch auf den Thron zu legitimieren.«

Wer hatte ihm davon erzählt? Fael selbst? Gewiss nicht, er kam niemals hierher. Zudem bezweifelte sie, dass ihr Onkel seine Pläne an die große Glocke hängte. Wer also wusste noch davon? Glanis, selbstverständlich. Shara und Kranit. Außerdem Hephestus, Faels rechte Hand, jener Mann, der ihm einst dabei geholfen hatte, die Macht über die Piraten an sich zu reißen. Doch Hephestus plädierte bei jeder Gelegenheit für eine umgehende Hinrichtung Hadraths und hatte keinen Grund, ihm vertrauliche Informationen zukommen zu lassen.

»Das ist Unsinn«, widersprach sie schwach, doch Hadrath hatte einen guten Riecher für Lügen.

»Fael wird nicht aufgeben«, sagte er. »Ich kenne meinen Bruder. Er ist nicht der Mann, für den du ihn hältst. Die Menschen auf Koryantum haben ihn für den Aufrichtigen, den Besten unter uns drei Brüdern gehalten. Aber er und ich, wir sind uns ähnlicher, als du glaubst. Nur dass das, was ich im Laufe meines Lebens getan habe, etwas gedient hat, das größer ist als ich. Fael hat stets nur im eigenen Interesse gehandelt. Er ist ein Machtmensch durch und durch.«

»Sagt ein Kommandant der Minengilde.«

»Die Gilde, das Haus Caudor – alles nur Mittel zum Zweck. Ich bin immer nur ein Diener der STILLE gewesen, und das werde ich bleiben, ganz gleich, wie viele von diesen Pamphleten du mir bringst. Auch darin ähneln Fael und ich uns: Wir ändern uns nicht. Wir sind, wer wir sind. Er ist seinen eigenen Leuten in den Rücken gefallen, als sich ihm die Chance bot, auf Noa die Macht zu ergreifen. Es mag in dieser Festung keinen Thron geben wie auf Koryantum, aber faktisch ist er hier der Baron, der König, der Gottkaiser, wenn du so willst. Eine Weile lang mag ihm das gereicht haben, aber dann stand ihm der Sinn wieder nach der Heimat, nach den guten alten Baronien. Fael wird nicht zur Ruhe kommen, bis er Seffren verdrängt hat und selbst zum Herrscher von Koryantum geworden ist. Und du bist das wichtigste Werkzeug in seinem Plan.«

Iniza schüttelte den Kopf. »Er weiß, dass ich nicht mit ihm nach Koryantum gehen werde. Glanis und ich –«

»Dein Hauptmann!« Hadrath lachte sie aus. »Er steht Fael nur im Weg. Wie lange wird es dauern, bis er einem tragischen Unglück zum Opfer fällt? Das kann schnell passieren, wenn man zum Sicherheitschef dieses Sumpflochs ernannt wurde. Eine Schießerei am Raumhafen, ein Streit unter Tabaksüchtigen, vielleicht eine geheime Mission, von der es kein Zurück gibt … Es könnte jeden Tag so weit sein, und wenn dein Hauptmann ein wenig Verstand besitzt, dann ist er sich dessen bewusst. Glaub mir, Fael denkt wie ich. Und das sollte dir zu denken geben.«

Nichts von dem, was er sagte, überraschte sie. Glanis und sie hatten oft darüber gesprochen, allein im Dunkeln oder bei Ausflügen auf Raketenschlitten draußen in den Marschen. Was sie erstaunte, war die Tatsache, dass Hadrath die Pläne seines Bruders so mühelos durchschaute, selbst in der Abgeschiedenheit des Kerkers.

Sie wandte sich von ihm ab, hob die Hand zum Klopfen an der Tür und drehte das Gesicht zu einer der Kameras unter der Decke.

»Du weißt, dass ich recht habe.« Hadrath klang nun fast amüsiert. »Aber wenn du Gewissheit darüber brauchst, dass Fael dir einige Dinge verschweigt, dann frag ihn nach Virikaan.«

»Was ist mit Virikaan?« Sie blickte nicht zu ihm zurück, aber ihre Faust hatte eine Handbreit über der Tür innegehalten. Baron Tantor von Virikaan hatte Kranit angeheuert, um Iniza aus der Raumbarke des Hexenordens zu entführen und auf seine Heimatwelt zu bringen. Kranit hatte sich gegen seinen Auftraggeber gewandt und Iniza dabei geholfen, ihren Feinden zu entkommen. Nichtsdestoweniger hatte der Kamastraka-Orden von Tantors Plan erfahren, und es konnte den Hexen nicht gefallen haben, dass ein Herrscher der Äußeren Baronien versucht hatte, ihnen eine Braut der Gottkaiserin zu rauben.

»Geh zu Fael und frag ihn«, sagte Hadrath.

Sie fuhr auf dem Absatz herum. »Selbst wenn es so wäre, wenn die Hexen Virikaan bestraft hätten … Wie hättest dann wohl du davon erfahren?«

»Ich habe die Ordensmutter Setembra kennengelernt, und ich kann sie einschätzen.« Er begegnete Inizas wütendem Blick mit nahezu priesterlicher Ruhe. Sein hageres Gesicht wies noch immer Spuren der Misshandlungen auf, die ihm die Piraten während der ersten Wochen zugefügt hatten. Sein rechtes Auge hatte sich nie völlig von den Schlägen erholt. »Setembra hat keine Geduld mit Männern, die sie zum Narren halten. Eines Tages wird sie auch mich zur Rechenschaft ziehen wollen, weil ich sie vor den Klöstern der STILLE verraten habe. Ist es nicht eine bittere Ironie, dass ich hier bei euch vor ihr in Sicherheit bin? Tantor von Virikaan hingegen, nun, in seinem Fall mag sie es für angebracht gehalten haben, einen ganzen Planeten für seine Anmaßung büßen zu lassen.«

Er beugte sich wieder über die losen Blätter auf dem Tisch. Iniza war entlassen. Hadrath wusste auch nach einem Jahr im Verlies noch genau, wie man Rollen ins Gegenteil verkehrte.

»Fael hat noch mehr Geheimnisse vor dir. Größere Geheimnisse als das Schicksal Virikaans. Frag ihn danach.« Hadrath legte ein loses Blatt unter eine Schriftzeile. »Und, Tochter, schließ bitte die Tür hinter dir, wenn du hinausgehst.«

4

»Du hättest es mir sagen müssen!«

»Und wem wäre damit geholfen gewesen? Den Menschen auf Virikaan bestimmt nicht. Du hättest dir nur Vorwürfe gemacht.«

Sie hatte Fael auf den Zinnen der Festung gefunden, von hier aus überwachte er die Arbeiten an den Verteidigungsanlagen. Oft kam er bereits im Morgengrauen herauf und wanderte tief in Gedanken über die sternförmig angelegten Wehrgänge. An manchen Tagen verließ er sie bis spät in die Nacht nicht mehr. Iniza vermutete, dass er sich im Inneren des düsteren Gemäuers unwohl fühlte und deshalb jede Gelegenheit nutzte, um das offene All über sich zu spüren. In gewisser Weise war er ebenso ein Gefangener dieser Welt wie sein Bruder Hadrath. Und wie sie selbst.

Iniza spazierte oft mit Tanys im Arm hier oben entlang, weil es möglich war, eine Runde um die gesamte Festung zu drehen, ohne ein einziges Mal den Fuß auf den Erdboden zu setzen. Sie vermied es, mit der Kleinen hinaus in die namenlose Stadt zu gehen; nicht weil sie die Piraten fürchtete – die meisten behandelten sie mit einem Mindestmaß an Respekt –, sondern weil sie Tanys dem Schmutz und den Krankheitserregern in den engen Gassen nicht aussetzen wollte.

»Was genau ist passiert?«, fragte sie.

Fael lehnte sich mit dem Rücken gegen eine Zinne. Weit unter ihm breiteten sich die Dächer der Stadt aus, uraltes Mauerwerk und Lehmziegel, verstärkt durch Metallstreben, ohne die viele der morschen Wände längst die Gassen unter sich begraben hätten. Dahinter erstreckte sich das Landefeld des Raumhafens mit zahlreichen Schiffen. Dort standen Transporter und Kampfkreuzer wie gigantische Eisenkäfer, viele in Kreisformationen, außerdem Pulks von Einmannjägern.

Zwischen den größeren Schiffen wartete auch die Nachtwärts auf ihren nächsten Start, eine silberne Sichel wie ein Mond, der sich auf dem gebrochenen Asphalt zum Schlafen gelegt hatte.

Am Ende des Raumhafens, von wo die braungrünen Marschen von Noa bis zum Horizont reichten, ruhte das gewaltige Wrack der Caudor Terminus. Das Oval des zerstörten Gildekreuzers, den Hadrath einst befehligt hatte, lag halbversunken im Schlamm. Iniza würde nie die Reihe aus provisorischen Metallkreuzen oben auf dem Rumpf vergessen, an denen die Besatzung zu Tode gemartert worden war. Sie waren längst abgebaut worden, doch wann immer Iniza das Wrack sah, hatte sie die sterbenden Männer und Frauen vor Augen. Faels Piraten wurden von der Gilde gnadenlos gejagt, entsprechend unbarmherzig war ihre Rache an den Soldaten gewesen.

Der Rumpf der Caudor Terminus war an mehreren Stellen aufgerissen wie ein geplatzter Kadaver. Sein Innenleben war geplündert, alle brauchbaren Teile entfernt worden. Seitdem wurde die leere Stahlhülle nur noch von den Reptilvögeln der Marschen heimgesucht. Ganze Schwärme saßen auf den gezackten Rändern der Explosionswunden und reckten ihre Schnäbel in gespenstischen Synchronbewegungen zu etwas Unsichtbarem am Himmel empor. Vielleicht zu den Toren von Tau.

Fael hatte Inizas Frage nicht beantwortet, darum stellte sie sie erneut: »Was ist auf Virikaan geschehen? Und wann hast du davon erfahren?«

Fahrig strich er sich mit der Hand durch das weiße Haar, wirkte fast unangenehm berührt. »Vor ein paar Monaten. Es stand in einem der Berichte, die ich von meinen Spionen in den Baronien bekomme. Eines Nachts ist eine Kathedrale der Hexen über Fadra aufgetaucht.« Fadra war Virikaans Hauptkontinent, Sitz des ehemaligen Kolonialregenten und heutigen Barons. »Der Orden hat alles in Schutt und Asche gelegt.«

»Baron Tantors Palast?«

»Nicht nur den Palast.«

Sie schloss kurz die Augen. »Sie haben wegen mir eine ganze Stadt zerstört?« Es kam ihr falsch vor, dass ihr der Name der Stadt nicht mehr einfiel, so als wäre mit der Zerstörung durch die Kathedrale auch jede Erinnerung daran ausgelöscht worden.

»Den ganzen verdammten Kontinent!« Fael schnellte auf sie zu, bis seine vernarbte rechte Gesichtshälfte ihr Blickfeld füllte. Das Feuer, dem er die Entstellung zu verdanken hatte, hatte sein ehemaliges Flaggschiff vernichtet. Seither benutzte er die kleinere und sehr viel wendigere Sternenlos, die schwer bewacht draußen auf dem Raumhafen stand. »Die Hexen haben Fadra für Jahrhunderte unbewohnbar gemacht. Millionen sind dabei umgekommen. Frauen, Kinder, aufrechte Männer, die nichts mit Tantors Verrat an den Hexen zu tun hatten. Sie alle sind tot, weil Tantor sich in den Kopf gesetzt hatte, dich zu heiraten.« Ihm konnte die Ironie in Bezug auf seine eigene Situation nicht entgehen. »Und – bist du nun zufrieden? Geht es dir besser, jetzt, da du die Wahrheit kennst?«

Beinahe hätte sie ihm eine Ohrfeige verpasst, aus Wut auf ihn und seinen herablassenden Tonfall und weil sie keine Möglichkeit hatte, stattdessen der Hexe Setembra Schmerzen zuzufügen. Es gab keinen Zweifel, dass die Ordensmutter hinter dem Massaker steckte. Iniza trat einen Schritt zurück und stieß mit dem Rücken gegen die Brüstung zum Innenhof.

»Falls dich das beruhigt«, sagte Fael, »es wäre genauso gekommen, wenn man dich zu Tantor gebracht hätte und du seine Frau geworden wärst. Was hat dieser greise Narr denn erwartet? Dass er eine Braut der Gottkaiserin entführen kann, ohne dass der Orden erfährt, wer dahintersteckt? Dass er es vor Tiamande hätte geheim halten können, wenn er dich mit großem Tamtam geheiratet und damit die Regentschaft über Koryantum beansprucht hätte? Ich hörte ja, er sei senil geworden und habe seine eigenen Söhne beseitigen lassen, aus Angst, sie könnten ihn vom Thron drängen – aber dass es so schlimm um ihn steht, hätte ich nicht gedacht.«

»Millionen von Menschen«, flüsterte Iniza benommen. Es klang unwirklich, nicht wie eine Größenordnung, die sie auch nur annähernd erfassen konnte. Wären zehn Menschen um ihretwillen ermordet worden, hätte es sich schrecklicher angefühlt. Zehn Menschen besaßen Gesichter und Individualität. Millionen aber, ein ganzer Kontinent, überstiegen ihre Fähigkeit, mehr als ein abstraktes, irreales Grauen zu empfinden.

Fael hob eine Hand und berührte ihre Wange. »Du trägst nicht die Schuld daran.«

Sie starrte durch ihn hindurch. »Sie sind wegen mir gestorben.«

»Nein. Sie sind gestorben, weil Baron Tantor sich einen Dreck um sein Volk geschert hat. Und um gesunden Menschenverstand. Er mag krank sein, geisteskrank vielleicht oder einfach nur verwirrt vom Alter, aber das …« Er schüttelte den Kopf. »Niemand hätte ihn davon abbringen können.«

»Kranit hat –«

»Der Waffenmeister hat einen Auftrag angenommen«, fiel Fael ihr ins Wort. »Wenn er es nicht getan hätte, hätte Tantor einen anderen gefunden.«

»Das meine ich nicht. Ich wäre auch ohne Kranit von dieser Barke geflohen oder hätte es zumindest versucht. Aber er hat es in Kauf genommen, genau wie ich.«

»Er ist ein Waffenmeister von Amun«, entgegnete Fael schulterzuckend, und das war Erklärung genug.