Die Kümmerer - Achim Albrecht - E-Book

Die Kümmerer E-Book

Achim Albrecht

0,0

Beschreibung

Probleme suchen nach Lösungen. Ungewöhnliche Probleme suchen nach ungewöhnlichen Lösungen. »Kümmerer« findet man nicht im Telefonbuch. Sie sind diskret, kreativ und lösungsorientiert. Sie operieren im Schatten. Das Dasein als Kümmerer hinterlässt Spuren. Spuren an Körper und Seele. Bei sich und bei anderen. So war es immer und so wird es immer sein.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 183

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



1. Auflage September 2023

© 2023 OCM GmbH, Dortmund

Handlungen und Personen sind frei erfunden.

Gestaltung, Satz und Herstellung: OCM GmbH, Dortmund

Umschlaggestaltung: Jens Korch

Verlag: OCM GmbH, Dortmund, www.ocm-verlag.de

ISBN 978-3-949902-11-6

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der ­Grenzen des Urheberrechtsgesetzes bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Dies gilt auch für die fotomechanische Vervielfältigung (Fotokopie/Mikrokopie) und die Einspeicherung und ­Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Achim Albrecht

... 1959 in Kaiserslautern geboren und in der Pfalz aufgewachsen. Entgegen seinen literarischen Neigungen studierte er Jura, schloss eine Bankausbildung an und komplettierte seine wirtschaftsrechtliche Ausrichtung mit beruflichen Einsätzen in den verschiedensten Ländern. Heute lehrt er als Professor Internationales Wirtschaftsrecht. Der Autor hat die ursprüngliche Idee, seine Fantasie und Liebe zur Sprache schriftstellerisch umzusetzen, nie aufgegeben. Achim Albrecht hat ein Faible für schräge Charaktere und skurrile Tötungsmethoden. Seine Bücher sind spannend, humorvoll, wortgewandt, manchmal verstörend und von einer detaillierten Beobachtungsgabe geprägt. Er experimentiert gerne und lässt sich auf literarische Ausflüge ein.

Inhalt

Der Paradiesvogel

Der Zettel

Die Bloggerin

Henri, der Kümmerer

Der Gast

Eine weitere Etappe

Irina

Die Reichsverweserin

Der Reichsinnenminister

Der Knall

Düzen

Der Deal

Landjunkers Albtraum

Abgesang in Blau

Der Hühnerbaron

Der 5. Mann

Ronin

Der Coup

Gedankenreise

Finale

In diesem ehrenwerten Haus

Episode 1

Intermezzo 1

Episode 2

Intermezzo 2

Episode 3

Intermezzo 3

Episode 4

Der Schlussakkord

Wer früher stirbt, ist länger tot

Bleiben Sie gesund

Im Bus

Im Zug

Im Auto

Auf dem Schiff

Das Ereignis

Die Wiederkehr

Der See

Der Besuch

Am Anfang

Die Forderung

Die Wiederkehr

Die Aktion

Der Neuanfang

I.

Der Paradiesvogel

Scheinwerfer schneiden die Nacht in Streifen.

Ein kalter Wind weht kleine Grüppchen Fußgänger auf einen unförmigen Quader zu, dessen Eingang grell erleuchtet ist. Ein gefräßiger kleiner Eingang für ein monströses Gebilde.

Die Stadt pulsiert im Hintergrund. Sie blinkt ihren üblichen Rhythmus. Niemand dreht sich nach ihr um. Die jungen Menschen sind gekommen, um ihr zu entfliehen. Sie ballen sich kurz vor dem gefräßigen Eingang, fädeln sich auf und verschwinden hinter dem Vorhang aus Licht und hämmerndem Beat.

Weit draußen auf abgewetztem Asphalt ersterben die Motoren und spucken neue Menschentrauben aus. Die Männer mit ihren Dreitagebärten und dem gegelten Haar ähneln sich. Tattoos kriechen aus Kaschmirpullovern, darüber wattierte Jacken gegen den Frost. Die Frauen stöckeln in einem Hauch aus Nichts. Sie haben gelernt, ihre Ware anzubieten. So geht das Spiel. High Heels, Push-up-BHs, maskenhaftes Make-up und Glitzerfetzen. Die Frauen frieren nicht. Frieren ist uncool.

Vor dem gesichtslosen Bunker eine Absperrkordel. Daneben zwei dreieckige Kanten Menschenfleisch mit ausdruckslosen Gesichtern. Ab und zu einige Worte, ein Winken, ein rasch ersterbender Scherz und mädchenhaftes Kichern. Die herantröpfelnden Besucher kommen zu einem Halt. Routiniert sortieren die Hände der Türsteher die Besucher: die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen. Ihr Urteil erregt Unmut. Kurzes Gedränge, ab und an ein Fluch, aber die Autorität der Türsteher ist überwältigend. Ihr Urteil unabänderlich. Aufbegehren zwecklos.

Die Warteschlange wächst. Langsam geht es vorwärts. Jede Zurückweisung eine Blamage. Eilig suchen die Zurückgewiesenen das Dunkel, verstecken sich darin. Sie werden es wieder versuchen. Die Diskothek ist die Angesagteste der Stadt.

Ein Paradiesvogel mit schrillem Käppi drängt sich seitlich durch die Menge. Er geht wie einer, der weiß, was er tut. Er nickt den Türstehern zu. Man kann sehen, dass er zu alt ist für den Club. Zu alt und zu unerwünscht. Sein zerfurchtes Gesicht ist roh und herausfordernd. Der Mund ein zusammengepresster Strich. Um ihn herum entsteht Unruhe. Gemurmel wird zu einem Murren. Einer der Türsteher greift nach einem Walkie-Talkie.

Es riecht nach Ärger.

Der Paradiesvogel federt durch die Wartenden. Die meisten schauen in eine andere Richtung.

Der Ankömmling rempelt sich durch eine Gruppe aus zwei Männern und zwei Frauen am Rand der Schlange. Eines der Mädchen schreit auf. Ihre Handtasche liegt am Boden. Ihr Mund eine rot geschminkte Anklage. Sie reibt sich hilflos die Schulter und unterdrückt einen Klagelaut.

Der Paradiesvogel bleibt stehen, dreht sich ruckartig um. Sein Gesicht liegt im Schatten. Er streckt das Kinn vor. Er fixiert die Gruppe, wippt in den Knien.

Einer der Männer hebt die Handtasche auf und klopft sie unbeholfen ab. „Wir wollen keinen Ärger“, sagt er und hebt beschwichtigend die Hände.

„Fass mich nicht an“, zischt der Paradiesvogel. Ein heftiger Stoß lässt den anderen taumeln. Es bildet sich ein Kreis. Männergesichter schieben ihre Frauen hinter sich. Die Türsteher beobachten die Szene. Für sie ­Routine. Routine außerhalb des Clubs. Neutrales Gelände. Ihre Hände dirigieren die Neuankömmlinge weiter nach rechts an dem Kreis vorbei. Der Einlass geht weiter.

Im Kreis belauern sich die Männer. Geduckt. Adrenalin steuert ihre Impulse.

Der Mann aus der Gruppe ist ein Milchgesicht. Der andere scheint sich seiner sicher zu sein. Er vollführt die erste Finte. Das Mädchen mit der Handtasche schlägt die Hände vor den Mund. Sie sieht aus wie ein hilfloses goldfarbenes Bonbon.

Das Milchgesicht pariert.

„Ich mach dich fertig“, presst der Paradiesvogel zwischen den Zähnen hervor. Das Milchgesicht mustert ihn wortlos. Seine Mimik verrät Nervosität. Jemand wettet hastig auf den Angreifer. Eine andere Stimme hält die Wette. Niemand will, dass es aufhört. Es hat sie gepackt. Es ist gut so. Fight Club.

Dann geht es überraschend schnell. Das Milch­gesicht wehrt eine Serie von Schlägen ab.

Keuchen.

Der Kreis der Voyeure gerät in Bewegung. Anfeuerungsrufe.

Das Milchgesicht setzt einen Hebelwurf an, stürzt sich auf den Angreifer und landet Treffer mit den Fäusten.

Aufbäumen. Ein Schrei. Der Paradiesvogel hat genug.

Das Milchgesicht steht schwer atmend auf, tritt zurück. Sein Mädchen himmelt ihn an. Sie hakt sich ein, wischt sein Gesicht mit einer besitzergreifenden Geste ab, redet wie ein Wasserfall.

Schulterklopfende Männer. Anerkennende Worte. Milchgesicht hat es ihm gezeigt. Die Umstehenden machen respektvoll Platz. Der Türsteher spricht leise in das Walkie-Talkie. Es wird keine Polizei benötigt. Ein kurzes, heftiges Handgemenge. Nichts weiter.

Der Paradiesvogel hat sich davongemacht. Einige Blicke hatten ihn verfolgt. Ein Geschlagener. Keiner der Blicke zeigte Interesse an ihm. Einige Handys hatten Aufnahmen gemacht. Die Bilder zeigten geknäuelte Gliedmaßen. Futter für Blogs vielleicht. Vergessensware.

Später auf dem Parkplatz. Ein unauffälliger grauer Saab älteren Baujahres. Der Paradiesvogel hat sich verwandelt. Er trägt schwarz. Hat seine Verkleidung abgelegt. Seine Haltung, sein Gesicht, sein Habitus sind die eines anderen Menschen.

Ein Fingerknöchel klopft an die Scheibe des Wagens. Einer der Türsteher beugt sich zum Fenster hinunter. Er lächelt.

„Gut gemacht“, sagt er. „Ein voller Erfolg.“

Er reicht ein Kuvert herein. Der Mann nimmt es entgegen. Er lächelt ebenfalls, während er die Geldscheine zählt.

„Stimmt“, erwidert er mit überraschend sanfter Stimme. Die Blicke der Männer kreuzen sich. Der Saab gleitet aus der Parklücke und fährt der Stadt entgegen.

II.

Der Zettel

Er hält sich an alle Verkehrsregeln. Selbst in der Nacht. Sein Leben ist kompliziert genug. Jeder kleine Fehler kann es aus dem Gleichgewicht bringen.

Er hat klassische Musik eingeschaltet. Er kann die Streicherpassage nicht identifizieren. Händel wahrscheinlich. Er kann es nicht mit Sicherheit sagen. Er hat andere Talente.

Der Garagenhof sieht verlassen aus. Schäbige Verschläge aus Holz und Wellblech. Der gepflasterte Innenhof voller Unkraut und gestapeltem Müll. Es scheint niemanden zu stören.

Er greift nach einer Taschenlampe. Der Lichtschalter in der Garage funktioniert nicht.

Jetzt, da er die Perücke abgesetzt hat, fällt die dunkle Theaterschminke in seinem Gesicht mehr auf als vorher. Unter dem Haaransatz ein Streifen weißer Haut. Er widersteht dem Impuls, über sein Gesicht zu wischen. Er überprüft das Schloss. Unversehrt. Gut.

Die ramponierten Flügeltüren öffnen sich überraschend geräuschlos. Sofort frisst sich das Scheinwerferlicht ins Innere der Garage und weckt sie auf. Regale. Geordnete Utensilien. Ein sauber gefegter Beton­boden. Undefinierbare Inhalte in Müllsäcken verpackt. Zu einem der Säcke geht er hinüber und verstaut sorgfältig, was er in dieser Nacht nicht noch einmal brauchen würde.

Der Saab setzt sich in Bewegung. Seine Lichter erlöschen. Holz schabt über Beton. Leichte Schritte. Das Knirschen von Metall. Dann Stille.

Drei Querstraßen weiter weicht die Anonymität der Hinterhöfe geschäftigem Treiben. Ein bunter Mix aus Hoffnungsvollen und Hoffnungslosen. Ein Schmelztiegel von Träumen, Enttäuschungen und Existenz­gerangel, diffus und schwer zu durchschauen.

Genau die richtige Umgebung für den Mann, der sich mit Feuchttüchern eine bräunliche Masse aus dem Gesicht reibt. Niemand beachtet ihn. Kneipengelächter prallt neben ihm auf den Bürgersteig. Ein Punk trägt seine Gitarre spazieren. Im Hintergrund Gegröle. Eine alte Frau hakt ihre Handtasche unter und senkt den Kopf im Wind. Die Imbissbuden sind geöffnet. Vietnamesen bieten unverzollte Zigaretten an.

Der Mann stellt sich bei einem Kiosk unter. Er hat ein bläulich angeleuchtetes Hostel im Blick. Im zweiten Stock ist seine derzeitige Wohnung. Er ist einer der Dauermieter. Füllmaterial für Zimmer der einfachsten Kategorie.

Niemand stellt Fragen.

Er wartet auf das Taxi und überlegt, ob er noch etwas essen soll. Sein Magen sagt ja, seine Uhr sagt nein. Es ist bereits nach Mitternacht und er wird schlecht schlafen. Er fährt sich durch die eisgrauen Haare. Sie sind stoppelkurz, so wie er es gewohnt ist. Schon bald wird sich eine lähmende Schläfrigkeit über die Stadt senken, wie eine zu schwere Bettdecke. Die Betäubung wird in den Geschäftsvierteln als erstes weichen und sich mit dem beginnenden Morgengrauen in den Zipfeln der Stadt verstecken.

Er friert, als das Taxi endlich ankommt.

Er sieht die Goldfarbene aus dem Wagen steigen. Zum Schutz gegen die Kälte ist sie in eine Stola gehüllt. Die aufgetürmten blonden Haare machen die Frau größer als sie ist.

„Zimmer 23“, sagt er. Er steht direkt hinter ihr und kann ihr Parfum riechen. Es ist eine aufdringliche florale Note mit Vanille. Wahrscheinlich hat Naomi Campbell ihren Namen für das Produkt hergegeben. Drogerieware. Sie dreht sich erschrocken um. Große Augen mit einem dramatischen Lidschatten. Die Frisur ist unter dem Ansturm von Haarspray erstarrt. Das goldfarbene Kleid ist bei näherem Hinsehen unvorteilhaft geschnitten.

„Sie haben mich erschreckt“, sagt sie. Ihre Stimmlage ist ein Kleinmädchenton. „Sie sehen völlig anders aus.“ Das Gesicht hat einen trotzigen Ausdruck. Hände mit roten Fingernägeln umklammern die Handtasche. Sie überlegt, ob sie einen großen Fehler macht.

Als Antwort hakt er sie unter und führt sie an Getränke- und Snackautomaten vorbei zu seinem Zimmer. Er weiß, dass er ihr keine Gelegenheit zum Nachdenken geben darf.

Flüchtig sieht sie sich um. Stuhl, Bett, Schreibtisch. Ein Kunstdruck an der Wand. Und direkt am Fenster ein Käfig. Ein Fellbündel im Hamsterrad. Es quietscht und rattert. Leuchtreklame färbt die Vorhänge.

Sie fragt nach dem Bad. Die Standardfrage. Er setzt sich auf die Bettkante. Als sie wiederkommt, riecht sie intensiver. Sie hat kalte Hände.

„Wer ist das im Käfig“, fragt sie, während sich ihre Hände an ihm zu schaffen machen.

„Henri“, sagt er.

„Lustig.“ Sie windet sich aus dem Kleid. Ihr Fleisch wirkt bläulich. „Er heißt wie du.“

Er heißt wie ich, denkt er sich, als ob es ihm noch nie aufgefallen wäre. Er denkt gerne nach, während er tut, was von ihm erwartet wird.

Sie ist hübsch und verletzlich. Ein Mädchen mit ­Plänen. Sie will ihm gefallen.

Er bleibt ganz bei sich selbst. Kontrolliert.

Sie stützt sich auf die Arme, sieht ihn forschend an. „Woran denkst du?“ Ein Wispern. Ihre Wimpern­tusche ist zerlaufen.

Sein Kopf macht eine Bewegung. „An den Hamster.“ Das ist alles, was er anzubieten hat.

Er kann fühlen, wie sie erstarrt. Sie stößt ihn zur Seite. „Du Arschloch.“ Sie schlägt nach ihm. Er lässt es zu. Es ist ihre Belohnung. Ihre Hand zeichnet sich auf seiner Wange ab. Sie hat die Bettdecke an sich gerissen und stürzt ins Bad. Etwas fällt zu Boden und zerspringt. Gleich wird sie die Bonbonhülle überstreifen und aus seinem Leben stöckeln. Sie wird ihn keines Blickes mehr würdigen.

Das ist der Plan. Das ist der Auftrag. Anstrengend, aber nicht zu ändern. Sie ist ein Puzzleteil und spielt ihre Rolle. Sie weiß nichts davon. Wird es nie wissen.

Er macht sich keine unnötigen Gedanken.

Sie wirft die Zimmertür ins Schloss. Henri und Henri halten für einen Moment inne, bis der ohrenbetäubende Knall und der Luftzug verebbt sind. Dann geht jeder wieder seiner Arbeit nach.

Er hat dafür gesorgt, dass das Taxi auf sie wartet. „Höchstens 20 Minuten“, hatte er dem Taxifahrer gesagt. Er schaut auf die Uhr. 18 Minuten. Fast ein Rekord.

Er ist ausgelaugt. Trotzdem nimmt er das Buch zur Hand, das auf dem Nachttisch liegt. Er hat es in einem Antiquariat gekauft. Edgar Allen Poe. Er schlägt das Buch auf. Fast in der Mitte ein unschuldiger weißer Zettel. Einmal gefaltet. ‚Das war leicht‘ steht darauf.

Ihm ist klar, dass er verschwinden muss. Sofort. Am besten noch in dieser Nacht.

III.

Die Bloggerin

Er arbeitet präzise. Chirurgisch.

Er glaubt nicht, dass man sich die Mühe machen wird, nach Fingerabdrücken zu suchen. Dennoch besprüht er ein Mikrofasertuch mit Desinfektionsflüssigkeit und macht sich an Griffe, Klinken und glatte Flächen. Er arbeitet sich systematisch vom Fenster über das winzige Bad bis zur Tür vor. Den Käfig mit Henri hat er mit einem Tuch bedeckt.

Eine Reisetasche wartet im Flur.

Die Leuchtreklame wechselt von blau zu rosa, zu blau. Er hat das Bett abgezogen. Die Laken sind Futter für die Waschmaschinen im Keller. 3 Euro Einwurf, ein Becher Waschpulver und zwei Tasten drücken. Spurenfresser.

Er blickt in den Spiegel. Ein scharf geschnittenes Gesicht mit tiefliegenden Augen und einem energischen Kinn. Die Gesichtsfarbe kränklich im fahlen Zwielicht. Er ist müde, aber der Hunger und die Anspannung halten ihn wach.

Wenig später ist er verschwunden. Der Zimmer­schlüssel liegt auf dem Tresen der Rezeption. Das­ ­Zimmer ist bezahlt. Bar. Im Hostel lösen sich täglich Menschen in Luft auf. Er hat eine falsche Adresse hinterlegt. Routine.

Die Garage ist mehr Arbeit. Sie kostet ihn fast zwei Stunden.

Er checkt die sozialen Netzwerke. Das Handy ist mit Bildern und Einträgen geflutet. Er findet, was er gesucht hat. Bilder von dem Kampf vor dem Bunker. Er ist kaum zu erkennen. Die Kommentare wenig schmeichelhaft.

Die Influencerin hat er sich bis zum Schluss aufgehoben. Sie enttäuscht ihn nicht, schreibt, was für ein Riesenarschloch er ist. ‚Abgeschmackter Rummel­boxer‘ nennt sie ihn. Auf ihrem Porträtfoto ist sie eine schmollmündige Liebesgöttin, in ihren Kommentaren eine rachsüchtige Göre. Sie lässt es wie einen Skandal aussehen. Sie warnt vor ihm. ‚Verkleidet‘ und ‚unheimlich‘ kommt in den kurzen Texten häufig vor.

Er hat sie erschüttert. ‚Geil‘ und ‚krass‘ und ‚oh, mein Gott‘ sind in den Chats ihre Lieblingswörter. Hier fehlen sie.

Leser mischen sich ein. ‚Vergewaltiger‘, ,Zuchthäusler‘, ‚Drogenfreak‘, ‚KO-Tropfen‘ werden in die Diskussion geworfen. Sie verteilt Emojis.

Er klinkt sich aus. Hat genug gesehen. Er ist zufrieden. Die Ereignisse sind viral.

‚Wirf dein Brot auf die Oberfläche des Wassers‘. Er kann sich nicht erinnern, woher das Zitat stammt. Jesus, Paulus, der Dalai-Lama. Er ärgert sich über die Lücken in seinem Gedächtnis. Er wird es nachlesen müssen.

Erste Anzeichen der Morgendämmerung. Eine sanfte Röte kämpft sich aus der Schwärze wie ein leichter Dunst. Die Morgensonne noch eine unsichtbare Pustel im Osten, die bald aufbrechen wird. Er atmet tief durch. Er braucht einen Kaffee und ein Croissant.

Der Saab ist beladen und wartet. Er wird ihn bei einer Hinterhofwerkstatt gegen einen Audi tauschen. Ein Bündel Bargeld beantwortet alle Fragen. Jedes Netzwerk hat seine eigenen Regeln.

Er ist unterwegs. Im Rückspiegel kontrolliert er, ob ihm jemand folgt. Macht der Gewohnheit. Das Frühstück hat ihn aufgeheitert. Einschmeichelnde Musik der Carpenters. Alles ist gut. Die Bälle sind in der Luft. Alle, bis auf ‚Das war leicht‘. Er wird warten müssen. Warten ist kein Teil seiner Persönlichkeit.

Er geht in Gedanken die letzten Tage noch einmal durch.

Der Auftrag kam kurzfristig. Eine ungewöhnliche Sache. Gut bezahlt. Normalerweise nichts für ihn, aber es brachte ihn auf eine Idee.

Er traf den Auftraggeber in einer Fabrikhalle im Ostteil der Stadt. Früher eine Werkstatt der Reichsbahn, heute ein Indoor-Boulder-Park. In einer abgetrennten Ecke gestapelte Matten.

Der Mann war nervös. Feuchte Hände, unstete Augen, fahrige Gesten. Er stellte sich als ‚Henri‘ vor. Der Name so falsch wie der ganze Rest. Henri lächelte viel und sagte: „Kein Problem.“

Der Mann wirkte linkisch. Er hatte sich verliebt. Die Frau, eine junge Influencerin mit Schmollmund. Hübsch auf eine etwas marktschreierische Art. Anspruchsvoll. Schwer zu beeindrucken. Sie stand auf harte Typen, tätowiert, Dreitagebart.

Der Mann ein Milchgesicht. Aus gutem Haus. Betucht, aber schüchtern. Introvertiert.

Henri entwarf den Plan.

Eine Prügelei vor Zeugen. Vielen Zeugen. Die Türsteher informiert und geschmiert. Der Angreifer ein unverschämter Gockel. Ein Paradiesvogel. Rücksichtslos, Großmäulig.

Eine ausgeklügelte Choreographie. Zwei, drei Grundübungen. Fallwürfe, Gewälze. Schlag, blocken, Schlag. Packen. Abrollen. Hundert Mal geübt.

Dazu strenges Stillschweigen und ein Honorar von 500 Euro vorab an den Türsteher, der den Auftrag klargemacht hat.

Danach die Sonderabrede mit Türsteher für zwei Scheine.

Er wartet auf die Bonbonfarbene vor den Damentoiletten. Sie ist erhitzt. Glücklich. Ihr Begleiter ist ein Held. Sie hat es nicht erwartet. Fühlt sich unwiderstehlich hingezogen.

Der Türsteher nimmt sie beiseite. Spricht. Klärt sie auf. Sie schüttelt konsterniert den Kopf. Will es nicht glauben. Der Türsteher grinst sie hämisch an. Die Wahrheit sickert in ihr Bewusstsein. Sie ist außer sich. Gießt ihren Abscheu über dem Milchgesicht aus. Sein Ego zerplatzt. Er sackt in sich zusammen. Wagt es nicht, zu ihr aufzusehen. Er ist erledigt. Sie stürmt davon.

Erneut der Türsteher. Blockiert ihren Weg. Flüstert. Sie will es nicht hören. Er nimmt sie beim Arm. Redet auf sie ein. Ein Abenteuer. Ein wirkliches Abenteuer. Bringt sie nach draußen.

Eines von vielen Taxis setzt sich in Bewegung. Sie steigt ein. Der Türsteher spricht mit dem Fahrer. Drückt ihm Geld in die Hand.

Sie ist verwirrt. Widerstrebende Gefühle. Neugierde und Trotz siegen. Was soll schon passieren? Es ist ein Abenteuer. Gut für ihren Blog. Gut für mehrere Tausend Follower. Sie überprüft ihr Äußeres im Schminkspiegel. Kleine Korrekturen. Sie ist zufrieden. Das Taxi ist geheizt und weiß wohin.

Sie weiß es auch. Zu Henri.

Soviel hat man ihr gesagt.

IV.

Henri, der Kümmerer

Er lässt sich von der unaufgeregten Stimme des Navigationssystems leiten. Die Strecke ist blau markiert und tastet sich über Autobahnnetze, die immer spärlicher werden, als ob sich der Gott der Straßen gegen Osten hin eine Auszeit genommen hätte.

Er greift nach dem Kaffeebecher. Lauwarm und süß ist der Inhalt. Zu lau und zu süß. Er trinkt. Verzieht das Gesicht. Berufsrisiko.

Drei Billighandys und ein kleiner Stapel SIM-Karten liegen in einer Kuhle unter dem Armaturenbrett. Er schaut auf die Uhr. Zeit.

Die Nummern sind gespeichert. Alle Nummern, die er in den nächsten beiden Tagen brauchen wird. Er wählt aus und drückt die grüne Taste.

Er spricht sachlich. Seine Stimme verrät keine Gefühlsregung. Er nickt beim Sprechen. Es ist seine Angewohnheit. Er kann die Bewegung seines Kopfes erahnen. Aus den Augenwinkeln behält er den Rückspiegel im Blick. Der Kopf im Rückspiegel nickt bekräftigend. Daran muss er arbeiten. Er presst die Lippen zusammen. Angewohnheiten sind verräterisch. Er spielt den Gedanken, der ihm durch den Kopf schießt, zu Ende.

‚Ich kann den Mann nicht identifizieren. Er war irgendwie verkleidet, glaube ich. Aber er nickte mit dem Kopf‘. Eine junge, weibliche Stimme. Ein Polizeirevier. Ein körniges Überwachungsvideo. Ein Mensch, der ihm entfernt ähnelt. Der Mensch spricht zu einer Gruppe anderer Menschen. Er nickt.

Die Szene flutet sein Bewusstsein. Er dehnt sie aus. Kostet sie. Sie schmeckt bitter wie Galle. Er wischt die imaginäre Situation mit einer Handbewegung zur Seite. Das Frühstück rumort in seinen Eingeweiden. Er muss diese Sache abstellen.

Tief einatmen, in mehreren Stößen langsam aus­atmen. Kontrolle. Er spürt, wie sehr ihn sein Körper dazu verleiten will zu nicken. Er gräbt die Fingernägel in die Handinnenfläche. Kein Nicken. Der Innenspiegel zeigt ein unbewegtes Gesicht. Gut soweit. Ein Anfang.

Er legt das zweite Handy zurecht. Der Blick zur Uhr. Zeit genug. Die blaue Linie auf dem Navi führt hinaus aus der Gegenwart. Ein Horizont aus Pixeln.

Tagträume.

Einige Jahre zurück. Einige Leben zuvor.

Unbarmherzige Sonne. Verbrannte Landschaft. Zerklüftete Felsen. Wüste. Verirrte Grasbüschel. Eine unregelmäßige Sandpiste, die sich durch planlos dahingeworfene Lehmbauten windet. Die Fenster tote Augen.

Die Hitze wabert über verwischten Reifenspuren. Mit dem untergehenden Feuerball kommt der Wind, dann der Frost.

Irgendwo zwischen Burkina Faso und Mali. Sie sind fünf Mann östlich von Mopti.

Gestern hatte es hier ein Feuergefecht gegeben. Dschihadisten der Jama’ al Nasr al-Islam wal Muslimin und der Almansour Ag Alkassoum, wie man hört. Fünf Mann zur Wiederherstellung der staatlichen Ordnung. Teil der Operation Sabre.

Der Mann in Tarnkleidung hebt sich kaum vom Untergrund ab. Halb eingegraben in eine Sanddüne kauert er hinter einem bizarr geformten Felsen. Das Scharfschützengewehr ruht neben ihm. Eine gelbfleckige Plane spendet die Illusion von Schatten. Der Mann hat das Zielfernrohr ausgerichtet. Er belauert eine Häusergruppe in einiger Entfernung. Rissiger Lehm, ein staubiger Innenhof. Verdurstete Palmen. Ein Fetzen Tuch um ein rostiges Eisengitter geknotet. Der aufkommende Wind spielt damit.

Die Häuser beobachten den Mann. Er kann es spüren. Salz auf seiner Haut. Es ist erstickend heiß. Er kaut auf einem Klumpen Kaugummi ohne Geschmack. Der Speichel reicht nicht für die aufgeplatzten Lippen. Der Mann blinzelt, um seine Konzentration wiederzugewinnen.

Es muss bald passieren. In einer Stunde ist es zu spät. Zuerst ein Sandsturm, dann die Dunkelheit, die plötzlich hereinbricht wie ein wildes Tier.

Die Daten sind präzise. Keine Luftunterstützung möglich.

Sand schmirgelt über sein Gesicht.

Er hat im Schutze der letzten Nacht das Tuch angeknotet. Die feindlichen Kämpfer haben kein Nachtsichtgerät. Das Tuch verrät seinem Gewehr, wie der Wind steht. Scharfschützen-Einmaleins.

Die Kameraden haben die Häuser eingeschlossen. Er muss entscheiden, wann der Angriff erfolgen soll. Das Funkgerät wartet auf seinen Befehl.

Ein Zug feindlicher Pritschenwagen mit aufmontierten Maschinengewehren wird in den Nachtstunden eintreffen.

Er muss sich jetzt entscheiden.

Eine Person im schwarzen Tschador erscheint im Türrahmen des mittleren Baus, einen alten Kinderwagen schiebend. Zögerliche Schritte. Die Räder des Kinderwagens pflügen durch den weichen Sand.

Von dem Mann zwei kurze Sätze, die der Wind verweht. Dann Funkstille. Leises statisches Rauschen.