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Achim Albrecht

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Beschreibung

Eine obskure Internet-Gruppe, die Mutproben ins Netz stellt. Menschen werden gestalkt, Wohnungen 'besucht'. Es gibt keine Grenze. Kameras fangen das Geschehen ein. Dann ein erstes Opfer. Das Geschehen gerät außer Kontrolle. Einer der 'Besucher' wird in den Strudel aus Verdacht und Verfolgung gerissen. Die Schlinge zieht sich zu. Unaufhaltsam. Ein Psychothriller, der mit Urängsten spielt, der atemlose Spannung erzeugt und den Leser nie aus seinem Griff lässt. Erwarten Sie das Unerwartete.

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Die Besucher

Achim Albrecht

1. Auflage April 2019

© 2019 OCM GmbH, Dortmund

Gestaltung, Satz und Herstellung: OCM Verlag, Dortmund

Verlag: OCM Verlag, Dortmund, www.ocm-verlag.de

ISBN 978-3-942672-66-5

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Dies gilt auch für die fotomechanische Vervielfältigung (Fotokopie/Mikrokopie) und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Contents

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

Kapitel XII

Kapitel XIII

Kapitel XIV

Kapitel XV

Kapitel XVI

Kapitel XVII

Kapitel XVIII

Kapitel XIX

Kapitel XX

Kapitel XXI

Kapitel XXII

Kapitel XXIII

Kapitel XXIV

Kapitel XXV

Kapitel XXVI

Kapitel XXVII

Kapitel XXVIII

Kapitel XXIX

Kapitel XXX

Kapitel XXXI

Über den Autor

I.

Angefangen hatte es mit der Frau im blauen Mantel.

Im Rückblick erschien ihm seine amateurhafte Vorgehensweise fast lächerlich. Wie verängstigte Vögel hüpften seine Augen von Detail zu Detail, saugten sich für Augenblicke an dem Saum des Mantels fest und stießen sich unzufrieden davon ab, um die Umgebung zu kontrollieren. Gesichter flogen vorbei und Gesprächsfetzen verwehten. Der Platz mit dem Marktbrunnen verengte sich zu einer Gasse, vor der der Autoverkehr nach links wich, weil rotbäuchige Schilder mit weißen Balken die Einfahrt verweigerten.

Pflastersteine wetteiferten darum, es den modischen Absätzen der krampfhaft um Haltung bemühten Damenschuhe schwer zu machen und bildeten eine strenge Grenze zu der willfährigen Kolonie schmuckloser grauer Platten, die sich den Tritten der Fußgänger ohne Widerstand ergaben.

Er war sich nicht sicher, was seine besondere Aufmerksamkeit erregt hatte, glaubte aber, dass es das Blau des Mantels war, der sich um die Waden der Frau bauschte. Selbst an Tagen, die er in selbstzufriedener Gelassenheit verbrachte, war blau nicht seine Farbe. Am ehesten zu ertragen gewesen wäre ein gedecktes Dunkelblau, das bescheiden und seriös daherkam. Für Kinder mochte auch ein unschuldiges Hellblau angemessen sein, das ihre Unvoreingenommenheit kundtat. Was sich allerdings vor ihm seinen Weg bahnte, war ein stechendes Stahlblau, kompromisslos und Übelkeit erregend, weder fröhlich und unbekümmert wie ein flatterhaftes Gelb noch beruhigend und matronenhaft wie ein Tannengrün.

Er scherte im Strom der Flanierenden nach rechts aus, was ihn einige Anstrengung kostete, da er sich unbewusst gerne nach links hielt. In einem Kneipengespräch hatte ihn ein flüchtiger Bekannter darüber belehrt, dass wissenschaftliche Experimente den Beweis erbracht hatten, dass die Anhänger von Verschwörungstheorien immer einen Hang zur Abweichung nach links verspürten, während nüchterne Charaktere auch mit verbundenen Augen eine gerade Linie zu halten vermochten. Seltsamerweise hatte ihn die Bemerkung stärker getroffen, als er sich zugestehen wollte und so stellte er sich bei jeder Gelegenheit auf die Probe.

Er redete sich ein, dass seine inzwischen beträchtlichen Kenntnisse über Beschattungstechniken danach verlangten, von Zeit zu Zeit Stellungswechsel vorzunehmen, um nicht die Aufmerksamkeit des Objektes zu erregen. Er beschleunigte seinen Schritt und klopfte mit der Hand zum wiederholten Mal auf seine Jackentasche. Sein wichtigstes Werkzeug für diesen Tag war an seinem Platz und mit einem Griff sicher zu erreichen. Wenn es soweit war, musste es schnell gehen. Es musste natürlich aussehen und durfte keinen Verdacht erregen.

Die Frau im blauen Mantel fädelte mit kurzen energischen Schritten in eine Gruppe müßig tratschender Hausfrauen mit prall gefüllten Einkaufstaschen ein und drehte sich ruckartig um. Seine Augen hafteten gerade an den unmodischen Keilabsätzen ihrer Schuhe, die den militärisch präzisen Schwenk mit vollzogen. Die richtige Reaktion wäre gewesen, mit gesenktem Kopf im gleichen Rhythmus wie bisher an dem Objekt vorbeizuschlendern, ohne es eines Blickes zu würdigen oder aber die fortgeschrittene Version zu bemühen und den Blick über den Scheitel ihres dunklen Haares zu heben und angelegentlich suchend in die Ferne zu schauen, während man den Gesamtausdruck ihres Gesichtes auf sich wirken ließ, um zu entschlüsseln, welche Motivation hinter ihrem plötzlichen Manöver stand.

Seine Gedanken beschäftigten sich noch mit den formlosen Waden unter den cremefarbenen Strümpfen, die beim Gehen nicht die Teilung in separate Muskelbündel aufwiesen, aus denen man auf die sportliche Betätigung des Objektes schließen konnte. Er blieb mit der gleichen unnatürlichen Heftigkeit stehen wie die Verfolgte und verkrampfte sich augenblicklich, als ihm klar wurde, dass er sich mit der Bewegungslosigkeit entblößte und preisgab, bar jeder natürlichen Deckung. Im Widerstreit mit seinem Fluchtinstinkt schlenkerte er hilflos mit den Armen und brachte schließlich einen hilflosen Vertuschungsversuch zustande, der darin bestand, dass er umständlich nach einem Taschentusch kramte und sich ohne ersichtlichen Grund die Oberlippe abwischte, während er den Blick von dem Objekt abwandte.

Ihm war nicht entgangen, dass ihn die Frau forschend musterte, ihn taxierte und wieder losließ, um ihre hellbraune Handtasche zu durchsuchen, die sie beim Gehen unnatürlich weit von ihrem Körper weg hielt, als habe sie der Tasche die Zusage gemacht, dass diese keinesfalls mit dem Mantel in Berührung kommen müsse.

Tief Luft holend wandte er sich um und ging einige unschlüssige Schritte, bis er ein Schaufenster fand, das es ihm erlaubte, das Spiegelbild des Objektes in Augenschein zu nehmen. Die Frau fingerte eine Zigarette aus einer Schachtel und steckte sie unangezündet zwischen ihre Lippen. Ihr Gesicht war ein bleiches Oval ohne besondere Ausdruckskraft bis auf die entschlossen zusammengepressten Lippen, die die schlanke Zigarette malträtierten. Dem Verfolger fiel auf, dass er die Frau nur mit Mühe identifizieren könnte, wenn sie sich des Mantels entledigte, dessen marktschreierische Präsenz wie ein Leuchtturm hervorragte.

Seine Versäumnisse wogen nicht weniger schwer, wenn man zu seinen Gunsten in Betracht zog, dass er das Objekt schon eine geraume Zeit verfolgt und niemals aus den Augen verloren hatte. Es war ihm auch gelungen, die Handtasche als hochpreisige Ware zu identifizieren, die sich in ihrer gediegenen Langweiligkeit an das graue Kostüm anpasste, das der monströse Mantel bei jedem Schritt für kurze Augenblicke freigab.

Sie hatten gemeinsam Boutiquen besucht und Kaufhäuser durchwandert, wobei er stets eine respektvolle Entfernung einhielt. Nur ein einziges Mal war er weniger zaghaft gewesen und hatte die Distanz zwischen ihnen rasch verringert, um noch die Duftwolke zu erreichen, die sie aus einem umständlich ausgewählten Probefläschchen in Richtung ihres Halses gesprüht hatte, bevor sie zwischen den Werbewänden ihren Zickzacklauf fortsetzte. Jede Vorsicht außer Acht lassend hatte er unter dem missbilligenden Blick einer maskenhaft geschminkten Verkäuferin genießerisch die sich verflüchtigenden Reste von Nelke und Johannisbeere erschnuppert. Die Frau hatte ihn nicht enttäuscht. Sie hatte weder zu einer unpassenden sportlichen Note gegriffen, die einen jugendlich sehnigen Typus vorzuspiegeln versuchte, noch zu einer blumig unbeschwerten oder gar betäubend vulgären Mischung Zuflucht gesucht, wie es Frauen taten, die im Verblühen begriffen waren und sich eine Ausdünstung schufen, die vorspiegelte, dass auch sie noch vom Leben zum Tanz aufgefordert würden.

Abgesehen von dem unkleidsamen Mantel und der Tatsache, dass sie im Begriff stand, einen erneuten Selbstmordversuch zu unternehmen, verhielt sie sich in der Einkaufsumgebung in­stinktsicher wie jede andere Frau und blieb von Zeit zu Zeit stehen, um Waren prüfend zu betrachten oder zu betasten. Vielleicht erlahmte ihr Interesse ein wenig zu schnell, vielleicht verrieten ihre Gesten die tiefe Resignation, die sich in ihrem Inneren eingenistet hatte – er hätte es nicht mit Gewissheit sagen können.

Es war mehr eine Ahnung, die aus dem Wissen entsprang, dass die Frau mit dem unpassend zusammengestellten Ensemble aus Kostüm, Mantel und Tasche vor wenigen Tagen ihren Sohn verloren hatte, der sich in einem Moment der Unachtsamkeit von ihrer Hand losgerissen hatte und vor eine Straßenbahn gelaufen war. Eine Zeitung hatte ein Bild von der zusammengesunken Dasitzenden veröffentlicht. Sie hatte ein gelbes Minikleid getragen, das zu dem Anlass, einen Einkaufsbummel zu machen und ihren Sohn in den Tod zu schicken, schlecht gewählt war.

Dieses Mal hatte er die aufsteigende Erregung nicht ignoriert und den Fotografen kontaktiert, der ihm nach anfänglichem Sträuben gegen eine großzügige Vergütung eine Adresse nannte. Für die Welt war der Vorfall eine Momentaufnahme gewesen, die alsbald dem Strudel des Vergessens anheimgefallen war. Anders war es für die Frau im blauen Mantel und ihren Schatten, der getreulich in der Nähe des Reihenhauses mit dem unfertigen Garten wartete. Sie war die einzige Bewohnerin und er hatte keine Sorge, dass er sie nicht erkennen würde.

Er wusste, dass er lange warten würde, denn die Frau hatte sich noch am Unfallort mit einer Nagelfeile die Pulsadern aufgeschnitten, ohne sich um die Überreste ihres Kindes zu kümmern. In ihrer Betäubung war sie handlungsfähig geblieben und hatte die Konsequenz gezogen, bevor man sie versorgte und am Abend in die Obhut ihres geschiedenen Mannes übergab, der sein überhebliches Lächeln gegen eine Miene feindseliger Besorgnis eintauschte. Ein zweites Bild zeigte sie schweigend gegeneinander gelehnt wie erschöpfte feindliche Kämpfer, die sich auf eine Waffenruhe geeinigt hatten. Schon am nächsten Tag fuhr ein Krankenwagen vor dem Haus vor und entführte die von Beileidsbesuchen und einem Medikamentencocktail zu Tode Geschwächte auf die Intensivstation eines Krankenhauses, wo man die zum Selbstmord Entschlossene reanimierte.

Was ihn fesselte, war die Geduld, mit der die Frau ihre systematische Selbstzerstörung betrieb. Sie war erfüllt von einer zähen Sturheit, die ihre Handlungen diktierte und ein Aufweichen der bürgerlichen Konventionen nur an den Rändern der Existenz zuließ, wo es um passende Kleidung oder gesellschaftlich akzeptierte Verhaltensmuster ging. Er sah den blauen Mantel und die unangezündete Zigarette als Indizien an. Ganz sicher war er sich seiner Sache, als keine der Stationen, die sie bei ihrer Stadtbegehung gestreift hatten, Kaufinteresse auslöste. Natürlich hätte es geholfen, wenn sich die Frau im blauen Mantel auffällig verhalten hätte, wie jene es tun, die ihren Verstand auf eine publikumswirksame Art verlieren und sich laut klagend in Fußgängerzonen ihrer Kleidung entledigen, sich die Haut zerkratzen oder sinnlos alkoholisiert vor sich hin brabbeln.

Die äußerlich Funktionalen jedoch, die mit einer stupiden Effizienz zerbrachen, ohne eine Scherbe zu verlieren, waren schwer aufzuhalten, denn sie verhielten sich allenfalls ein wenig sonderbar wie vorübergehende Randexistenzen, denen man zutrauen konnte, dass sie sich bald wieder fangen würden.

Die Frau im blauen Mantel hatte ihren Weg fortgesetzt und strebte einer Stichstraße zu, die sie an einigen Antiquitätenläden vorbei zur lärmenden Betriebsamkeit der Hauptstraße bringen würde. Er konnte sich nur schwer aus seinen Gedankengebäuden lösen und war froh, dass er ihr wegen der beinahe erfolgten Enttarnung ohnehin einen Vorsprung gewähren musste. Aus den Augenwinkeln verfolgte er den Mantel. Er drehte sich einmal um die Achse wie ein Tourist, der sich nicht sicher ist, auf welchem Weg er seinen Müßiggang fortsetzen soll und schaute wieder in ihre Richtung. Die Gasse lag wie ausgestorben da. Er verfiel in einen hektischen Trab und stieß gegen einen Stapel Bücher, die ihre fleckigen Einbände präsentierten wie Wundmale. Er fluchte. Der ältliche Ladenbesitzer schüttelte hinter seinem Rücken mit geübter Geste eine Faust und stimmte ein undefinierbares Gezeter an, als seine Schätze auf die Erde polterten. Hektisch blickte er um sich. Er hatte sie verloren.

Frustriert stocherte er mit einer Hand hinter sich herum, bis er mit dem wackligen Büchertisch Kontakt hatte, der ihn daran zu hindern wagte, die Früchte seiner mühevollen Arbeit zu genießen. Ohne seinen Blick von den reglosen Schatten der Gasse abzuwenden, stieß er in den verbliebenen Bücherstapel hinein, der sich in schiefer Formation auf der Sperrholzplatte festkrallte. Zwölf Bände einer bei Touristen beliebten Esoterikreihe von zweifelhaftem intellektuellem Niveau rutschten über die Kante des provisorischen Tisches. Mit einem Wehlaut raffte der Antiquar, der seine zur Verkaufsförderung zur Schau getragene gelassene Bohemien Attitüde verlor, die Druckwerke an sich, kaum dass sie den Boden berührten. Er strich über ihre gekrümmten Rücken und inspizierte ihre Seiten, nicht ohne giftige Blicke in den Rücken des rücksichtslosen Fremden zu senden und halbherzig Verwünschungen zu murmeln, die aus merkantilen Gesichtspunkten die naheliegende Forderung nach Schadensersatz beinhalteten.

Die Wut des Verfolgers war noch nicht verraucht. Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen, ohne sich um den Alten zu kümmern oder daran zu denken, dass die ersten Gaffer in die Gasse schauten, um sich das Schauspiel nicht entgehen zu lassen. Die Frau musste den Augenblick der Unaufmerksamkeit genutzt und sich im Laufschritt entfernt haben, als er sich noch gockelhaft drehte. Ein Windstoß fegte an den unscheinbaren Läden entlang und trieb Papier und Laub vor sich her wie eine Lumpenarmada. Der Verkehrslärm der nahen Hauptstraße schwoll in unregelmäßigen Abständen zu einem dissonanten Klangbrei an und zerfiel wieder in gut unterscheidbare Melodien aus Rattern, Klingeln und Hupen.

Der Verfolger schaute im Vorwärtsgehen nach oben, als könnte der schmale Ausschnitt aus jagenden Wolkenformationen eine Quelle der Inspiration sein. Er fühlte, wie die Niedergeschlagenheit in seinen Körper kroch, und spürte die tiefe Müdigkeit, die die Reste von Adrenalin verdrängten.

Die Hand war ansatzlos aus dem Halbdunkel eines Treppenabsatzes geschnellt und hatte ihm eine schallende Ohrfeige versetzt. Er hielt sich sein Gesicht und rieb sein Ohr, während sich Taubheitsgefühl und Scham ein Stelldichein gaben. Die energische Hand holte erneut aus und hielt inne, als sie gewahr wurde, dass sich der Gezüchtigte in einem Reflex ängstlich duckte und hinter seinem angewinkelten Ellenbogen unzureichenden Schutz suchte. Die Hand sank herab und der blaue Mantel löste sich aus dem Hauseingang. Das ovale blasse Gesicht der Frau schwebte die ausgetretene Sandsteintreppe herab und beugte sich zu dem Gesicht des Mannes. Die Zigarette war verschwunden.

Die Augen der Frau waren grau und intensiv. „Perverser“, sagte der Mund und betonte jede Silbe mit schneidender Schärfe. Er sagte es noch einmal, dieses Mal lauter und bestimmter. Das böse Wort prallte gegen eine gelbliche Hauswand und füllte die Gasse mit seinem Klang. Der Ladenbesitzer griff es eilfertig auf, ohne der Frau zu Hilfe zu eilen. Mit in die Hüften gestemmten Ärmchen wiederholte er eifrig nickend „So ein Perverser“, als ob die plakative Anschuldigung die Erklärung für vieles wäre, was jemandem an einem solchen Tag widerfahren könne. Neugierige Passanten kamen vorsichtig näher, um die Szenerie in Augenschein zu nehmen. Jemand rief nach der Polizei. Erste Andeutungen von einer versuchten Vergewaltigung machten die Runde. Der Antiquar hob den näher Tretenden eine Auswahl Bücher entgegen. Mit Perversen verkaufte man Bücher.

„Tun Sie es nicht!“

Es war mehr ein Flüstern, tonlos und brüchig. Noch immer seine Wange massierend wiederholte er sich in bittendem Tonfall, als müsse er in der Anzahl der Äußerungen mit ihr gleichziehen.

Ihre Haltung änderte sich und das Leben in ihren Augen erlosch. Ohne ein Wort wehte ihr Duft an ihm vorbei, der Mantel streifte seinen Kopf. Er wagte es nicht sie festzuhalten. Seine linke Hand hatte sein Mobiltelefon ertastet, aber es war zu spät, das Foto zu machen. Es wäre ein annehmbares Foto gewesen, en passant aus der Hüfte geschossen, mit ihren zu Eis erstarrten Gesichtszügen und einem Teil des Mantelkragens als Motiv. So aber blieb ihm nichts weiter als die öffentliche Demütigung und das Gefühl des Versagens. Die Frau im blauen Mantel gehörte ihm nicht mehr. Er würde nicht zu einem neuen Versuch ansetzen, denn er hatte das unsichtbare Band zwischen ihnen zerstört. Die Zeit verrann ungenutzt.

Das Kreischen der Straßenbahn übertönte die gellenden Rufe, die die Hauptstraße in Aufruhr versetzten. Verwirrt erhob er sich und schüttelte seine Benommenheit ab. Martinshörner mischten sich mit ihrer penetranten Zweitonmelodie in die Geräuschkulisse ein und übernahmen die Vorherrschaft. Er stürzte vorwärts. Eine schwache Sonne wetteiferte mit pulsierenden blauen Lichtern, die Notfallmedizinern und Polizei ihre Autorität verliehen.

Mit groben Armbewegungen zerteilte er eine reglose Menschenmenge, die beständig zunahm und einen Halbkreis um ein Knäuel von Schienensträngen bildete. Hände überdeckten zum Zeichen des Entsetzens die Münder und ein gut gekleideter Mann besaß den Anstand, aus Ehrerbietung seinen Hut zu ziehen. Sein dünnes graues Haar zauste im auffrischenden Wind.

Ein Notarzt nahte von der anderen Seite. Die grell orangefarbenen Streifen auf seiner Jacke leuchteten voller Hoffnung, während sein Gesicht ausdruckslos und professionell war. Einige Polizisten versuchten die Menge zurückzudrängen. Ohne Murren folgten sie mit einiger Verzögerung den lauten Anweisungen der Ordnungshüter, um an anderer Stelle wieder in die Gafferstellungen zu drängen wie ein gärender Teig.

Der Verfolger aber trat mit gemessener Autorität an den blauen Mantel heran, der von den stählernen Radreifen der Bahn mit tonnenschwerer Zärtlichkeit festgehalten wurde. Er schwenkte mit geistesabwesender Geste seinen Bibliotheksausweis, um den Eindruck zu verfestigen, dass er in offizieller Ermittlungsfunktion und nicht als sensationsgieriger Leichenfledderer am Ort sei. Niemand würde dies in einem solchen Moment infrage stellen. Und mehr als einen Moment würde er nicht brauchen.

Die Frau im blauen Mantel lag in der Pose einer Gekreuzigten unter der Straßenbahn, die sie noch ein Stück mitgeschleift haben musste. Der Notarzt sah sich nach seinen Helfern um, denen er rasche Befehle zubellte. Infusionsbeutel und dickbäuchige Plastikkoffer wurden herbeigeschleppt. Der Verfolger beugt sich nach vorn. Er hatte keinen Blick für den abgetrennten Fuß, der noch im unversehrten Schuh stak. Er interessierte sich nicht für die unnatürlich verkrümmte Haltung der Schwerverletzten. Er war immun gegen die hastige Stimme der Marktfrau in seinem Rücken, die ihrer schockierten Nachbarin zum wiederholten Mal versicherte:

„Sie ist mit ausgebreiteten Armen vor die Straßenbahn gelaufen. Mit ausgebreiteten Armen, als wolle sie sie umarmen.“

Er interessierte sich nur für das Gesicht der vom Tod Gezeichneten, bevor ihre Züge hinter einer Sauerstoffmaske verschwinden würden.

Mit geschäftsmäßiger Routine und ohne den Kopf zu heben, blaffte ihn der Arzt an, er behindere die Rettungsmaßnahmen, wenn er hier herumlungere. Es gäbe noch nichts zu ermitteln. Er zeigte alle Anzeichen einer in vielen Einsätzen geübten Empörung, die keine weiteren Konsequenzen haben würde.

Mit einem Seitenblick vergewisserte sich der Verfolger, dass die Aufmerksamkeit der Menge auf eine lärmend heranrückende Journalistenmeute gerichtet war. Der Verkehr war vollkommen zum Erliegen gekommen. Die weiter hinten eingekeilten Autofahrer hupten ihren Zorn quer über die breite Straße. Eine bleigraue Wetterwand hatte sich vor die Sonne geschoben und es begann unaufgeregt zu nieseln. Dünne Regenfäden luden ein Heer verschiedenartiger Schirme dazu ein, sich wie ein Flickenbaldachin über die wartende Menge zu schieben.

Scheren hatten die Liegende von der blauen Mantelhülle befreit. Das blasse Oval ihres Gesichtes war nicht in Mitleidenschaft gezogen. Sie stöhnte. Infusionsnadeln bissen sich in ihre Arme. Der Beschatter hatte die Kamera seines Mobiltelefons mit steifem Arm auf sie gerichtet und drückte ab. Ihre Augen trafen sich und er sagte so laut er es wagte:

„Tun Sie es nicht … ohne mich.“ Er wiederholte sanft: „Ohne mich, hatte ich vorhin gemeint.“ Sie schloss die grauen Augen. Sie schien keinen Schmerz zu verspüren. Auch der Ausdruck von Trauer und Bitterkeit war aus ihrem Gesicht gewichen. Als sie die Augen öffnete, lächelte sie.

Es war ein denkbar ungeeigneter Moment für eine Erektion, aber es gelang ihm sie zu ignorieren. Es war ein Moment der Zwiesprache mit einer fußlosen sterbenden Frau, die jeglicher Würde beraubt in einem besudelten grauen Kostüm inmitten zerschnittener Streifen eines geschmacklosen blauen Mantels in einem schmutzigen Gleisbett lag und Buße tat für den Tod ihres kleinen Jungen. Der Mann mit dem Mobiltelefon griff nach seinem Werkzeug. Das handliche Teppichmesser in der Hand, trat er rasch einige kleine Schritte näher und bückte sich. Die Sanitäter hielten irritiert inne, als er ein herrenloses Stück Saum des Mantels an sich zog und mit einem kräftigen Schnitt einen Teil davon abtrennte.

Das Unfallopfer war zum Abtransport bereit. Sie hatte viel Blut verloren. Der Mann mit dem Teppichmesser hatte eine letzte Aufgabe zu erfüllen. Ohne sich um die ärgerlichen Zwischenrufe der Sanitäter zu kümmern, tastete er nach dem Probefläschchen des Parfums, das die Frau im blauen Mantel im Kaufhaus ausprobiert hatte. Er hatte es unbemerkt eingesteckt, ohne zu wissen, wofür er es brauchen würde. Jetzt wusste er es. Der Nieselregen und der Tod hatten den angenehmen Geruch der Frau weggewischt. Es roch feucht und erdig und nach Vergänglichkeit. Der Mann wischte sich die Regenspuren aus der Stirn.

Er lief dicht neben der Trage her und es gelang ihm, das kleine Gefäß über ihren Oberkörper zu halten. Der Sprühstoß blieb fast unbemerkt, zumal es einigen Journalisten gelungen war, die löchrige Absperrung zu überwinden und mit Kameras und Mikrofonen bewaffnet am Maul des Krankenwagens zu ihnen zu gelangen. Befriedigt ließ sich der Mann aus der Phalanx der Nachrichtenhändler herausfallen. Es roch nach Nelken und Johannisbeere. Lediglich einer der Sanitäter, der mehrfach versucht hatte den Arm des Mannes zur Seite zu drücken, glaubte zu wissen, was geschehen war und rief wütend über seine Schulter hinweg:

„Du Perverser!“

Der Mann lächelte und drehte das Stück blauen Stoff zwischen seinen Fingern, während er mit weit ausholenden Schritten davonlief. In Zukunft würde er seine Sache besser machen.

II.

Sie sah auf ihre Hände. Sie lagen vor ihr wie zwei Fremdkörper, rot aufgedunsen und knotig, als ob sie sich in harter Fron Erfrierungen, rheumatische Verformungen und eine schorfige Haut erarbeitet hätten und jetzt ihren Ruhestand genössen. Die eingekerbten Fingernägel waren kurz geschnitten und hatten schon lange keine Feile mehr gesehen. Sie waren bäuerlich breit, aber die Nagelbette präsentierten sich sauber geschrubbt hinter milchigen Halbmonden.

Die Finger trommelten nervös auf die graue Tischplatte. Bläuliche Venen rollten auf den Handrücken. Die Hände waren erst Mitte dreißig, genau wie die Frau, die steif auf einem Stuhl saß und auf ihre unruhigen Finger herabsah, die keinem bestimmten Rhythmus folgten. Die Frau und ihre Hände hielten sich in einem kleinen Raum auf, einer spärlich eingerichteten Zelle, nur mit dem Nötigsten ausgestattet. Es war nicht klar, ob es ihnen bewusst war, dass sie sich im Gefängnis befanden, denn sie waren in ihre eigenen Welten versunken, die Hände in eine Welt leichter Erschütterungen, die sich beruhigend fühlbar über ihre Haut fortpflanzten und die Frau in eine Welt, die im Wesentlichen aus zwei Briefen bestand, die sie von einer Aufseherin erhalten hatte.

Selbstverständlich hatte sie nach der Dokumentation, die in einem anspruchsvollen Nachtprogramm eines überregionalen Fernsehsenders ausgestrahlt wurde, körbeweise Post bekommen, die von der Gefängnisleitung mit zähem Missvergnügen zensiert und missbilligend weitergegeben wurde, bis das Interesse an ihrer Person auströpfelte und nur noch die Straffälligenhilfe ihren zweifelhaften Prominentenstatus durch vermehrte Hilfsangebote anerkannte.

Man hatte die Bilder mit erigierten Schwänzen, die emotional gestörten Elegien spät pubertierender Männer, die kommerziellen Angebote dubioser Verlage und Filmgesellschaften zur Vermarktung ihrer Lebensgeschichte und viele andere außergewöhnliche Ergüsse sorgfältig gefiltert, geschwärzt und entfernt, bis die Zensur einen leicht verdaulichen Einheitsbrei fabriziert hatte, der ohne Schaden an die Inhaftierte zur weiteren Verdauung weitergereicht werden konnte.

Sie hatte sich Zeit genommen und die Umschläge studiert, denen ein automatischer Öffner Gewalt angetan hatte. Manche der Umschläge waren cremefarbig und schwer. Zumeist trugen sie Sondermarken in Form farbenprächtiger Vögel, imposanter Schiffe oder ernst blickender Persönlichkeiten, von denen sie keine erkannte.

Missfallend ballten sich die Hände, wenn sie auf plakative Unterstreichungen oder fett gedruckte Worte fielen, die das besonders betonte Attribut vollkommen unglaubwürdig machten und ein verächtliches Fingerschnippen ernteten Streichungen, die den Autor der Zeilen als wankelmütigen Wortklauber ohne Verve entlarvten.

Schließlich hatte sich der Postberg auf ein kleines Häuflein versprengter Briefe reduziert, die wieder in ihren Hüllen staken und ungeduldig warteten, dass sie mit einer Antwort gewürdigt wurden. Die Frau allerdings wartete mit akkurat nebeneinander abgelegten Händen. Sie hatte das Warten perfektioniert, denn es war alles, was ihr vom Leben verblieben war. Ihre Leidensgenossinnen im Trakt gingen an ihrer offenen Zellentür vorbei, ohne ihre Neugier offen zur Schau zu tragen, denn sie wussten um ihre Verfassung und ihre Fähigkeit das in sich gekehrte Brüten in ein aggressives Zischen zu verwandeln, das von einem bösartigen Starren begleitet wurde.

Ansonsten war die Frau ein Geist in Anstaltskleidung, die sich in das Unvermeidliche fügte und die unbeugsamen Regeln einhielt, die den Alltag beherrschten. Sie zeigte wenig Regung und antwortete einsilbig und nichtssagend, wenn jemand das Wort an sie richtete. Nach ihrer Inhaftierung war sie von einer schlanken Frau zu einer hageren mutiert, die außer einer unparfümierten Fettcreme keine Kosmetika benötigte. Dennoch war sie von einer unterschwelligen Schönheit, die sich erst auf den zweiten Blick erschloss, wenn ihre schwarzen Haare einen langen Hals freigaben oder ihr abgewandtes Gesicht ein Profil offenbarte, das man bei vielen Mannequins schon einmal gesehen zu haben glaubte.

Wäre ihre Beckenpartie nicht eine Spur zu breit gewesen, um den knabenhaften Modelmaßen zu entsprechen, wäre sie geradezu perfekt gewesen. Eine Vorsehung hatte für die Frau einen solchen Weg nicht im Sinn und so kam es, dass sie vor einigen Jahren nach einer großen Tasse Kakao ihre erste alte Frau umbrachte.

Als der zweite Brief des gleichen Absenders eintraf, erwartete sie ihn mit einer scheinbar ruhigen Gelassenheit. Lediglich ihre Hände, die für den gesamten Rest des Körpers Strafarbeit zu verrichten schienen, verknoteten sich ineinander und straften ihre stoische Ruhe Lügen. Aus der kargen Auswahl potenzieller Brieffreundschaften war niemand verblieben, der ihr Schweigen als Aufforderung zu einem erneuten Versuch begriff. Alle hatten kapituliert bis auf den einen, der sein erstes Anschreiben mit einer selbst gemalten, unbeholfen wirkenden Lakritzschnecke verziert hatte. Neben wohlgesetzten höflichen Worten, die weder in ihren Intimbereich drängten, noch abgedroschen oder mitleidig wirkten, teilte er nur mit, dass er seine demenzkranke Mutter pflege und seine wahre Berufung nach frustrierenden Studien- und Berufsjahren in der Süßwarenindustrie gefunden habe.

Die Lakritzschnecke verbarg sich am oberen Rand des Briefes unter einem Passbild, das einen gutmütigen Blonden mit Nickelbrille und wachen Augen zeigte. Die vollen Wangen lächelten gehorsam dem Objektiv der Kamera entgegen und gehörten sicher zu einem wohlgenährten Körper, der eher vordergründigen Vergnügungen nachging als sich asketisch zu kasteien. In einer ersten Reaktion schlug die Frau eine Hand vor ihren Mund und verzog das Gesicht zu einem Grinsen, als sie die Zeichnung unter dem Bild entdeckte. Ihre hohen Wangen glühten und die dunklen Augen flogen über die Zeilen des Briefes bis zu der Stelle, an der der Mann schrieb, die Schnecke sei ein Ersatz, falls das Bild abhanden gekommen sei. Er offerierte keine weitere Erklärung für seine sonderbare Auswahl und Handlungsweise, sondern schilderte mit viel Enthusiasmus seine Hingabe an die immense Vielfalt von Süßigkeiten und deren segensreiche Gabe, das Glück in die Gesichter von Kindern und Erwachsenen gleichermaßen zu zaubern.

Ohne sie wie die meisten anderen aufzufordern, bestimmte weitere morbide Details über ihre Karriere als Mörderin preiszugeben oder stark verfrühte Hingabegelübde vor ihr auszubreiten, ihren straffen Körper betreffend, schloss er seinen Brief lediglich mit dem Satz: „Ich kann Sie verstehen. Meine Mutter leidet an Alzheimer. Bestimmt verstehen Sie auch mich.“

Sie hatte dem Impuls widerstanden, über die Herstellung von Lakritz nachzudenken oder dem Geheimnis des bittersüßen und auch salzig herben Geschmacks der schwarzen Delikatesse mithilfe der beschränkten Mittel der Leihbücherei nachzugehen. So war sie schon immer gewesen und sie hatte bereits als Kind gelernt, diesen Hang zur Besserwisserei zu bedauern.

„Das Mädchen ist verrückt“, seufzte die Mutter, wenn sie Fragen über den Inhalt der Höcker der Kamele stellte. „Das Kind ist verrückt“, zuckte der Vater mit den Achseln und bediente sich aus einer Flasche Korn, die so unweigerlich zu ihm gehörte wie seine übrigen Gliedmaßen. Auf die eindringliche Frage, wie wohl der Mond rieche, wusste er keine Antwort. „Da kommt die Verrückte“, unkten die Schulkameraden, wenn das hoch aufgeschossene Mädchen mit Zahnspange im Biologieunterricht zu dem Thema referierte: „Das partnerschaftliche, instinktgelenkte Jagdverhalten von Zackenbarsch und Muräne am Rande der Korallenriffe.“ „Du kannst einen wirklich verrückt machen“, stöhnte ihr Mann, wenn er nach ihr griff, um seinen Anspruch auf den Vollzug der ehelichen Pflichten zu demonstrieren und sie sich mit einem geübten Manöver entwand, auf seine brennende Zigarette wies und ihn mit ernstem Unterton fragte, ob er dem Forschungsergebnis glaube, dass 221 Gene den Unterschied zwischen Rauchern, die aufhören können und solchen, die scheitern, ausmachen.

Und so war es mit ihr geblieben. Alles, was sie hörte und las, musste sie auf Waagschalen legen, in einen Fragenkokon einspinnen, drehen und wenden wie einen wertvollen Stein, der durch das Schleifen mit Wissbegierde und das Polieren mit Wahrheit erst den richtigen Glanz erhielt.

Fast hätte sie diese Prozedur auch der Lakritzschnecke angedeihen lassen. Vielleicht hätte sie es noch getan, weil sie es gewohnt war, keine Antworten von anderen zu erhalten. Und dann kam der zweite Brief.

Er war im gleichen vertraulichen Plauderton gehalten, als hätte sich die Frau nicht in Schweigen gehüllt, das leicht als Ablehnung verstanden werden konnte. Ohne belehrend zu wirken, ließ der Schreiber einige Ideen zur Lakritzherstellung folgen und reicherte die bekannten Tatsachen zur Verwendung der Süßholzwurzeln mit kleinen Anekdoten an, die sich um die Zugabe von Salmiak in nordischen Ländern bis zur Befürchtung, die Nascherei rufe wegen ihrer hormonähnlichen Struktur Impotenz hervor, rankten. Zwischen zwei Abschnitte des Briefes hatte sich die Zeichnung einer Nase geschmuggelt, die bei der Leserin einen Heiterkeitsausbruch auslöste, den sie erst unterdrückte, als sie sich beobachtet fühlte. Sie kramte das Passbild des Mannes hervor und konnte genau erahnen, wie seine Augen schalkhaft blitzten, als er die Nase als Symbol des überragend wichtigen Geruchssinns für die Süßwarenherstellung einfügte. Sein Name war Mark und der Vertrieb von Süßigkeiten passte zu ihm.

Sie glaubte nicht, dass sich der Schreiber tief greifende Gedanken über ihre Gefühlswelt und Befindlichkeiten gemacht hatte. Er schien von einem Mittelungsbedürfnis beseelt zu sein, das sich mit ihren Informationsinteressen deckte, denn er fabulierte in lockerem Ton und ohne Angst, die Angeschriebene zu langweilen oder abzustoßen. Ernster wurde sein Stil, als er erneut auf die Motivation zu sprechen kam, die ihn dazu gebracht hatte, sie anzuschreiben.

Schnörkellos verzichtete er auf die üblichen Beteuerungen, dass er kein verschrobener Sonderling sei, der den Kontakt mit einer Gefangenen als besonderen Kick erlebte. Er wies auch kein Helfersyndrom auf, das viele Gutmenschen auszeichnete, die sich gesellschaftlich engagieren wollten und sich heute für die Rettung der Flussauen, morgen für den in seiner Existenz bedrohten Feldhamster und später für die Resozialisierung von Strafgefangenen einsetzten. Solche Menschen waren edel und sie wollten, dass dieses Prädikat öffentlich bekannt wurde, um sich in aller Bescheidenheit damit schmücken zu können.

Mark dagegen war erfrischend anders. Er erwähnte die Dokumentation des Fernsehsenders und schilderte die Schlüsselszene, die ihn dazu gebracht hatte, ihr zu glauben. Die Einstellung war eine Halbtotale, die die Frau in der Wäscherei zeigte. Ihre Hände hantierten ungeschützt mit einer Lauge und schweren Bottichen. Ihr Gesicht war friedlich und die Schatten des Verlustes ihrer Existenz umgaben sie wie Gespenster der Vergangenheit. In den feuchten Dunst hinein kommentierte ein Sprecher die Geschehnisse in dem Altenheim in kirchlicher Trägerschaft, das die bürgerliche Gesellschaft erschauern ließ und die Sensationsgier vieler befriedigte.

Wochenlang zeigten die Nachrichtensender die gleiche Verhaftungsszene. Zwei Polizisten und mehrere wichtig aussehende Männer in Zivil führten die Altenpflegerin in Handschellen ab. Ihr Kopf war gesenkt, aber man konnte erahnen, dass sie eine Schönheit war. Aus ihren leicht erhobenen Händen, die noch schwanenweiß und jungfräulich wirkten, machten die Gazetten die bittende Geste einer Verzweifelten, obwohl sie nur nach einer Zigarette gefragt hatte und dabei war, diese entgegenzunehmen. So wurde sie in ständiger Wiederholung bis zu ihrem Prozess in einer Endlosschleife derselben Aufnahmen verhaftet. Ihre Hände hoben sich immer aufs Neue der Zigarette entgegen. Die Verhaftete wurde dieser Sequenz bald überdrüssig, die sie zu einer öffentlichen Person und dem ‚Todesengel‘ machte, bildlich reduziert auf zwei gefesselte Hände, die sich wie Komplizen der Presse in das Bild schoben, das für sich in Anspruch nahm, die ganze Wahrheit zu erzählen. In der Haft würde sie die vorwitzigen und gedankenlosen Hände mit harter Arbeit und Nichtachtung strafen, denn sie warf ihnen Verrat und Illoyalität vor.

Acht Heimbewohner waren während der Schichten des Todesengels ums Leben gekommen. Es waren allesamt Frauen, schwere Pflegefälle mit leeren Augen und verwirrten Gesichtern. Man schätzte, dass die Pflegerin Dutzende alter Menschen umgebracht haben könnte und nahm umfangreiche Exhumierungen vor. Eine Überprüfung ergab, dass erhöhte Mengen an Insulinen, Neuroleptika und Tranquillantien aus den Beständen des Altenheims angefordert wurden, wenn der Todesengel Schicht hatte, ohne dass medizinische Notwendigkeiten vorlagen. Eilig herbeizitierte Experten überschlugen sich in Wertungen und Kalkulationen, stellten für die Kameras tödlich wirkende Medikamentencocktails zusammen und schwelgten in der Motivsuche, nur um zu dem Schluss zu kommen, dass man es mit einem Monster in Engelsgestalt zu tun habe.

Der Todesengel stritt nicht ab, die Demenzkranken, die Hinfälligen und Bettlägerigen besonders intensiv betreut zu haben. Gefasst schilderte sie ihre Zuneigung zu ihren Schutzbefohlenen, die umso mehr zunahm als sie hilfloser und schwächer wurden.

Was blieb ihr anderes übrig als die körperlich agile Alzheimer Patientin mit Gummischläuchen an ihr Bett zu fesseln, die beständig auf der Wanderschaft war, medizinische Geräte mit der immer gleichen Bemerkung „Geht nicht, geht nicht!“, ausschaltete, auf Notknöpfe drückte und sich in fremde Flure verlief, bevor sie mit einem markerschütternden „Geht nicht, geht nicht!“, schluchzend in ihr Zimmer abgeführt wurde.

Wer konnte eine bessere Lösung für die Gehbehinderten und durch Dekubitus Geschädigten finden als das Anlegen von Windeln, in die sie sich erleichtern konnten, so oft sie wollten, bis die richtige Zeit gekommen war, die besudelten Beweise ihrer Inkontinenz in Reichweite moderner und heller Bäder von den nörglerischen Alten zu reißen und fahlgelbe, rissige Haut und wund gescheuerte Stellen mit Schwämmen und Tüchern zu reinigen. Man hatte die Handgriffe perfektioniert, packte Gelenke, drehte Extremitäten und ignorierte das undankbare Gejammer der infantilen Alten, die zappelten und strampelten wie ungehorsame Kinder.

Wie konnte man individueller auf unbotmäßiges und aufsässiges Verhalten reagieren, als die Schnabeltasse mit Tee außerhalb der Reichweite der dehydrierten Rollstuhlfahrerin zu stellen, die mit zeternder, durchdringender Stimme zur Unzeit forderte, dass man ihr Kissen aufschüttele, das sie als Rückenstütze benutzte, dabei aber die Agilität besaß, jeden erreichbaren Gegenstand mit ihrem Kot zu beschmieren, um ihren Standpunkt zu untermauern.

Wie anders war ein geregelter Ablauf möglich, als die besonders Aufsässigen mit Medikamenten ruhig zu stellen und sie von geifernden, nach Menschenmüll stinkenden Ungeheuern zu verzückt sabbernden fügsamen Alten zu machen, denen man nicht gram war und die man frisierte, wusch und fütterte, wie es der Plan vorsah.

Was war dagegen einzuwenden, den Widerstand der fetten Cholerikerin mit der Magensonde durch das Anlegen von Bauchgurten zu brechen, die mit hervorquellenden Augen und Wahnsinn in der überschnappenden Stimme ihre Obszönitäten herausschrie und erst aufhörte, ihr Geschlecht zu stimulieren, wenn man ihr einige Ohrfeigen zur Ernüchterung verabreichte.

Der Todesengel war viel zu klug, um sich in diesem Sinne zu äußern. Eine zu große Dosis Wahrheit macht unsympathisch und nutzte niemandem. Besser war es, die in der Hauptverhandlung gezeigte Haltung zu perfektionieren und trotz offenkundiger depressiver Kraftlosigkeit die volle Verantwortung für das eigene Tun zu übernehmen.

All das kam in dem einen von ihr selbst geäußerten Satz in der Filmsequenz aus der Waschküche der Haftanstalt zum Ausdruck. Ihre Haltung straffte sich und ihr entschlossener Mund schloss einen Pakt mit ihren Augen, die ihre nachdenkliche Sanftheit verloren hatten. Ihre Hände verbarg sie auf dem Rücken. „Ich weiß jetzt, dass meine Art der Hilfeleistung gegen das Gesetz war, aber von einem moralischen Standpunkt aus würde ich es noch einmal tun.“ Der Todesengel trat zur Seite und wurde von der Kamera verfolgt. Noch einmal nahm die Frau Stellung. Dieses Mal schoss eine gerötete Hand nach vorne und stach mit dem Zeigefinger zu. „Wer tatenlos zusieht, wie Menschen unrettbar leiden, handelt verwerflich.“ Die Frau machte eine effektvolle Pause. „Mein Leben ist verpfuscht – wenn es aber den Sinn gehabt haben sollte, dass über die Erlösung als Akt der Barmherzigkeit ernsthaft nachgedacht wird, bin ich gerne bereit, den Preis zu zahlen.“ Der Mund schloss sich und wirkte zufrieden. Die Augen nahmen den gewohnten sanften Glanz an und über das Gesicht breitete sich Melancholie.

Genau diese Szene war es, die den Briefpartner von ihrer Aufrichtigkeit überzeugt hatte. Wie oft hatte er die Erfahrung gemacht, dass die mobilen Pflegekräfte, die er für seine Mutter engagierte, überfordert waren. Es hatten sich die Vorkommnisse gehäuft, bei denen fremde Menschen mit einem verlegenen Lächeln oder die Polizei mit einer markigen Ermahnung zu mehr Sorgfalt seine hohlwangige, gebeugte Mutter von einem ihrer Ausflüge zurückbrachten und sie ihn zitternd in die Arme schloss wie einen verloren geglaubten Schatz, um kurz darauf mit Argwohn in der Stimme zu fragen, ob er auch in diesem Haus wohne. Er ahnte wie ein Mensch an einer Aufgabe, die sich täglich vor ihm auftürmte wie ein unüberwindliches Hindernis, zerbrechen konnte.

Die Dokumentation des Fernsehsenders hieß „Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein“ und verkürzte die Tötungen zu der von Mitleid getragenen, aus einer tiefen seelischen Erschöpfung geborenen Euthanasie. ‚Burn-out‘ war das Modewort der Saison, lediglich überflügelt von ‚Stress‘. Die Dreharbeiten wurden in dem Bewusstsein genehmigt, dass man mit dem Aufdecken alltäglicher Gewalt gegen Ältere ein dringend der Lösung harrendes Problem identifiziert habe. Der Todesengel war eine bestens geeignete Person die Mischung aus emotionaler Leere, täglich neu erlebten Frustrationen und kaum kontrollierbarer Gereiztheit zu verkörpern. Natürlich konnte man die Handlungsweise nicht für Gut heißen, aber verstehen, ja verstehen konnte man sie. Wieder ein Täter, der zugleich Opfer war. Wieder ein Schlachtopfer herzloser Abläufe, diktiert von Einsatzplänen, Pflegehandbüchern, Uhren, Vorgaben und Verwaltungsarbeit.

Niemand wusste von den verschwundenen Gegenständen, die die attraktive Pflegerin mit geduldigem Lächeln oder einem verstohlen zugefügten Schmerz von den Pflegebedürftigen erpresste. Uhren, Geld und Wertpapiere. Es gab nichts, was sie verschmäht hätte, denn sie hatte Zukunftsvisionen, für die sie Geld benötigte. Niemand schenkte den weinerlichen Geschichten der Alten Glauben, die in Angstzustände verfielen, wenn sie der Pflegerin ansichtig wurden und erstarrt verstummten, wenn sie ihnen begütigend über die fahlen Wangen strich, während ihre Augen ihnen den nahen Tod verhießen.

Sie achtete sorgfältig darauf, sich vor dem Verabreichen der Todesspritzen eine Unterschrift unter vorbereitete Dokumente geben zu lassen, die Vermächtnisse für sie aussetzten. Unglück­licherweise konnte sie davon nie Gebrauch machen, da die Erben eine listige Bande raffgieriger Erbschleicher waren, die unter dem Deckmantel familiärer Fürsorge Nachtschränkchen und Schubladen durchwühlten und jeden Ring und jede Brosche beim Namen riefen.

Mehrfach erregte sie den Argwohn spitzzüngiger Verwandter, die mit immer neuen Forderungen das Personal piesackten und sich mit der verschwörerischen Übergabe einer Packung Kaffees oder einer Schachtel Pralinen der besonderen Dienstfertigkeit einer Fachkraft versichern wollten.

Neulich habe die Großmutter noch eine größere Geldsumme in ihrem Nachttisch verwahrt, äußerte eine picklige Göre mit abgeknabberten Fingernägeln und einem penetrant brombeerfarbig geschminkten Mund. Sie riss die Augen auf und ließ die unausgesprochene Anschuldigung im Raum schweben. Wo denn wohl die Brosche abgeblieben sei, fragte zögernd ein wohlerzogener Mann, der älter wirkte als seine Mutter, die zu jedem seiner Besuche ihrer Fesseln entledigt und frisiert wurde. Seine Finger beschrieben einen Halbkreis und er erläuterte umständlich die Porzellanarbeit, die seiner Mutter so viel bedeutete. In Wirklichkeit bedeutete die Brosche dem Wrack aus gelblichen Hautfalten und porösen Knochen nichts, denn sie hatte sich in bunten Träumen verloren, in Welten, die nur Psychopharmaka auslösen konnten, in weit entfernten Welten, die ein Lächeln auf ausgetrocknete Lippen zauberten. Lange nachdem sich der Sohn mit einer liebevoll hilflosen Geste verabschiedet hatte, würde die alte Frau wieder fahrig und verwirrt in die Realität eintauchen, mit welken Händen um sich tasten und kleine Schreie ausstoßen, weil sie sich erinnerte. Dann wurde es Zeit für die Gurte und die erzieherischen Mittel, um sie in den Griff zu bekommen, denn die Abläufe durften unter keinen Umständen gestört werden.

Der Todesengel hatte die Pose der hoffnungslos Überlasteten perfektioniert und schenkte den Angehörigen, die Ihre Unsicherheit hinter einer Mischung aus Aggressivität und Hilflosigkeit verbargen, achselzuckende Sympathie. Sie entkrampfte deren schlechtes Gewissen mit beruhigenden Bemerkungen, die sie mit Anteil nehmender Schwermut und einer Portion Fachbegriffe würzte. Wie ein verständiger Dozent berührte sie verspannte Arme und drehte starre Rücken in die Richtung eines Zimmers, in denen Bewohner wie mumifizierte Puppen saßen und lagen, einige geschäftig murmelnd, andere mit abwesendem Blick. Sie verstand sich auf die Erläuterung der Krankheitsbilder, die das Alter mit sich brachte und warb für Verständnis, dass die flehentlichen Bitten der Alten, ihre Wahnvorstellungen und Erpressungsversuche Teil eines normalen Ablaufes waren, dem man mit Nachsicht und einer gnädigen Ignoranz begegnete.

Sämtliche Klagen über Misshandlungen und Vernachlässigungen seien widerlegbar. Dabei pflegte sie gewichtig auf das Pflegehandbuch zu klopfen, dessen Standards peinlich genau eingehalten würden. Allein die Wahrung der Würde der ihnen Anvertrauten sei entscheidend, weshalb man den Pfleglingen so viel Freiraum gewähre wie nur irgend möglich. Mit einem peinlich berührten Gesichtsausdruck räumte sie dann ein, dass diese Zugeständnisse auch zu Gefährdungen führen können. Friedliches Spiel könne zu kreischendem Zank ausarten. Manche Bewohner nutzten unbewachte Augenblicke, um sich in fremde Zimmer zu stehlen und Gegenstände zu entwenden. Bei einem alten Mann, der seinen Bewegungsdrang auf dem kahlen Stationsflur in langen Märschen auslebte, habe man eines Tages in einem getarnten Schrankwinkel einen Vorrat an Klistieren und Nierenbecken entdeckt, die schon lange als Totalverlust abgeschrieben worden waren.

Zumeist tauchten Wertgegenstände wieder auf, beruhigte sie die Aufgebrachten mit einem Augenzwinkern. Dennoch häuften sich Nerven zehrende Beschwerden, die sie unsicher werden ließen und ihren Spielraum einengten.

Sie wollte die Brosche bei einem Juwelier in einer Nachbarstadt schätzen lassen. Selbstbewusst hatte sie das Schmuckstück als Familienerbstück deklariert und war von dem Stirnrunzeln des glattgesichtigen Juweliers überrascht worden. Mit höflicher Skepsis stellte er Fragen nach der genauen Herkunft der seltenen Preziose, ignorierte mit einem wissenden Hüsteln ihre gestammelten Erklärungen und gab die Kostbarkeit der errötenden Frau ohne weitere Erläuterung zum Wert der Brosche zurück. Mit formvollendeter Geste komplimentierte er sie aus der Enge seines Geschäftes hinaus und gab der schlanken Gestalt den unerwünschten Rat mit auf den Weg, sich doch zuerst über die Eigentumsverhältnisse klar zu werden, bevor sie zu einem Verkauf schritte. Die albernen Glöckchen des Türsignals klingelten noch lange in ihren Ohren und sie musste sich zusammenreißen, um nicht fluchtartig davon zu stürzen.

Mithilfe einer abgewandelten Medikamentengabe vermochte sie es, die Halluzinationen der Heimbewohnerin, die weder ihren umständlichen Sohn noch die Brosche vermisste, zu verstärken und die lauernden Schatten aus den Zimmerecken und Gangkrümmungen zu beschwören, sich mit der weißhaarigen Alten zu befassen, die die Schattenrissdämonen auf sich zukriechen sah und ihre gefesselten Arme vergeblich zu ihrem Schutz nach oben schlagen wollte, bis ihr Herz stehen blieb.

Der Todesengel fand für jeden Patienten die eigene ihm angemessene Behandlung und mehrte mit Disziplin und Fleiß ihre Bargeldbestände und barg herrenlosen Schmuck in einem hübschen Kästchen.

Es waren nicht die Tode der alten Menschen gewesen, die die Untersuchungen auslösten, sondern eben dieses Kästchen und ihre Hände, die sie nicht mehr von ihrem Tun abhalten konnte, nachdem sie einmal von dem Plan erfahren hatten. Ihre Erinnerung an den Vorfall war erstaunlich verschwommen. Sie war nach Hause gekommen wie immer, war übel gelaunt und erschöpft die Treppe zu der Eigentumswohnung hinauf gegangen und hatte den Geruch nach fettigem Essen gegen den Gestank nach gealtertem, lebendem Fleisch eingetauscht. Sie hatte sich unter die Dusche gestellt und sich gewünscht, dass hinter der braunen Tür am Ende des Flurs der geräuschvoll schlafende Männerkörper verschwunden sein möge, der so viel Abscheu in ihr auslöste. Wie immer zögerte sie den Augenblick des Zusammentreffens hinaus und schrie auf, als ihr der Mann, der ihr fremd geworden war, anklagend das geöffnete Kästchen entgegen hielt. Sein irritierter Blick und die fordernde Haltung warteten auf eine Erklärung für den Fund. Er hatte das Geheimfach in dem von den Großeltern vererbten Sekretär entdeckt und bei einer seiner Schnüffelaktionen den Mechanismus ausgelöst, der ihm den Schatz in die Hände spülte. Er hatte Unterschlagung vermutet und Mord gefunden.

Alles an ihm wirkte anklagend: die geschürzten Lippen, die haselnussbraunen, um den Schlaf betrogenen Augen, die unattraktive Schlafanzugshose mit dem verwaschenen Streifenmuster und die Lederpantoffeln, die seine Schritte unhörbar gemacht hatten.

Sie hatte sich sorgfältig abgetrocknet und geschminkt. Mit einem hohen Geräusch im Kopf, das von Schläfe zu Schläfe reichte und ihre Empfindungen betäubte, war sie stumm durch die Wohnung gewandert, den Kästchenmann an ihrer Seite. Ihr Zeigefinger auf den Lippen verhinderte, dass er das Wort an sie richtete. Sie würde ihm ihr Geheimnis offenbaren, aber dazu bedurfte es einiger Vorbereitung. Wie eine Schlafwandlerin regelte sie die Beleuchtung und warf Licht und Schatten über die akkurate Anordnung fantasieloser Qualitätsmöbel. Alles war an seinem Platz. Alles, bis auf das Kästchen und den stumm geschalteten Mann.

Als sie im Schlafzimmer das Kästchen seinen Händen entwand und ihn sanft auf das Laken drückte, war sie sich nicht im Klaren, was sie als Nächstes tun würde. Früher, so erinnerte sie sich mit einem Schaudern, hatte seine dichte Körperbehaarung eine wohlige Faszination bei ihr ausgeübt. Geistesabwesend fuhr sie ihm mit spitzen Nägeln über die Brust. Er hatte die Augen geschlossen.

Sie nestelte an seiner Hose. Wahrscheinlich war es sein sonnengebräunter Optimismus, sein ungestümes Verlangen und seine Leichtigkeit gewesen, die sie in seinen Bann gezogen hatten. Aber unter der Oberfläche des Eroberers hatte sich der Mann mit den markanten Gesichtszügen als flach und ambitionslos erwiesen. Er war mit seinem Leben und der Frau an seiner Seite zufrieden, aß, arbeitete und sah fern, reihte Ignoranz an Bedürfnislosigkeit und ersäufte sie in einem Meer ehelicher Gleichförmigkeit, die nur von gelegentlichen Eifersuchtsszenen unterbrochen wurde. Ihm fehlte das Streben, der Ehrgeiz etwas Besonderes erreichen zu wollen, der Antrieb zu anderen Ufern aufzubrechen. Seine Zuneigung war zunehmend erstickend wie ein Schlinggewächs, das sich auf die Sinne legte und jede Wachheit erdrosselte. Sie nahm ihn hin wie eine Last, deren man sich nicht entledigen konnte, bis er das Kästchen auf sie richtete.

Mit dem Zeigefinger auf den Lippen war sie in den Abstellraum gehuscht und hatte gefunden, was sie suchte. Schon lange hatte sie sich ihm nicht mehr genähert. Er dünstete seine Dankbarkeit förmlich aus, als sie begann ihn zu kneten. Ihre sexuellen Erfahrungen erschöpften sich in den verschiedenen Spielarten des Koitus, die man voller Erwartung ausführt, ohne die erhoffte Belohnung zu erfahren. Der gebräunte Bauch zitterte unter ihrer Berührung. Er war ihr erster und einziger Mann gewesen und hatte sie gelehrt, dass der Geschlechtsverkehr ein weit überschätzter, gänzlich unzulänglicher, roher und schwächlicher Vorgang war, bei dem sich Körper ungelenk und stets am Rande von Muskelkrämpfen aneinander rieben und in lächerlichen Posen verharrten, um verbissen fortzufahren bis zu einem fadenscheinigen Erguss, der im schlimmsten Fall zur jahrzehntelangen Alimentierung eines undankbaren Balges führte.

Sie war bei seinem Schamhaar angelangt und knetete sein pralles Glied mit der Inbrunst, von der sie hoffte, dass sie ihn von dem durchdringenden Spiritusgeruch ablenken würde. Ihre Finger arbeiteten die Paste ein, die sie sich in die Handflächen gedrückt hatte. Er hielt den Atem an. Gleich würde er einen leisen, jammernden Ton der Befriedigung von sich geben, den sie schon zu Beginn ihrer Beziehung gehasst hatte. Es wurde Zeit. Sie führte seine Hände zu seinem Glied, wo sie sofort ihre Arbeit aufnahmen. Er hatte den Kopf zur Seite geworfen. Sein Körper war angespannt. Er schwitzte.

Das Sturmfeuerzeug setzte zuerst sein Schamhaar in Brand. Zuerst züngelte es dürftig, fraß sich dann rasend weiter und erfasste die Hautpartien und den Penis wie einen Flächenbrand. Entflammte Männerhände schwenkten die brennende Männlichkeit wie ein Opfertier. Die Frau hatte sich bis zur Wand des Zimmers zurückgezogen und wischte ihre Hände an ihrem Bademantel ab. Sie fühlte sich nicht verantwortlich für das Schauspiel.

Der Mann wälzte sich, schrie mit hervortretenden Adern, schrie mit sehnigem Hals, schrie mit überschnappender Stimme, schrie mit verbranntem Unterleib, auf den er mit einem Bettlaken fortwährend einschlug. Dann hörte er auf zu schreien. Glotzend wie ein Frosch kollabierte er und beschmutzte den rohweißen Hirtenteppich. Rosa Schaum quoll aus seinem Mund. Er hatte sich in dem vergeblichen Versuch, die Schmerzen zu kontrollieren, auf die Zunge gebissen.

Mit distanziertem Interesse sah sie auf ihn herab. Der Klang in ihrem Kopf war dumpfer geworden, nicht mehr so drängend. Sie hatte den ersten Schritt unternommen. Sie hoffte, dass er die Botschaft verstanden hatte. Es war ganz alleine ihr Kästchen und ihr Leben. An der Seite des Lakens machte sie eine feuchte Stelle aus. Sie zerrieb einen Überrest Sperma zwischen ihren Fingern. Irgendwie fand sie es beruhigend, dass er auf seine Kosten gekommen war.

Noch in der gleichen Nacht entsorgte sie das Kästchen samt Inhalt und schleppte den Winselnden zur Notaufnahme des Krankenhauses. Gleichmütig bekannte sie, dass es sich um einen Unfall gehandelt habe. „Sicher ein Unfall“, pflichtete der Arzt bei, dem über die Jahre das Staunen abhandengekommen war und für den es ein beinahe alltägliches Erlebnis war, Duschköpfe aus einer Vagina oder Champagnerflaschen aus einem Männerafter zu entfernen. „Ohne Zweifel ein Unfall“, wand sich der Verletzte, dem noch zahlreiche Operationen bevorstanden und dessen Narben an der Seele erst zu verblassen begannen, als die zerstörten Schwellkörper durch ein funktionierendes Implantat ersetzt wurden. Das Kästchen ruhte in einem Abfallcontainer des Krankenhauses. Es war nie mehr aufgetaucht, aber seine Geschichte stahl sich in die Nacht hinaus.

Ein anonymer Hinweis erreichte die Polizei, die zögerlich ihre Ermittlungen aufnahm. Die Pflegerin musste geahnt haben, dass ihre Maßnahmen nicht ausreichend sein würden, um sich abzusichern. Seit dem Tag, an dem sie das Band der Ehe versengt hatte, wurde sie kummervoll und nachlässig. Sie sah zweifelnd auf ihre Hände, die Dinge vollbrachten, vor denen sie zurückschreckte. Sie meldete sich krank und verbrachte die Tage in einem Dämmerzustand. Die Wohnung wurde nicht mehr gelüftet und aufgeräumt. Zeitungen und Müll stapelten sich neben den Türen. Gebrauchte Kleidung fiel auf dem Boden übereinander her und Nahrungsmittel verdarben halb aufgegessen in der Küche.

Der Mann, dem sie das Schweigevermächtnis eingebrannt hatte, verbat sich jeglichen Besuch und setzte seine Mutter wie einen Zerberus vor sein Krankenzimmer. Offiziell blieb er bei der Unfallversion, aber er konnte schreiben und wahrscheinlich hatte er Gebrauch davon gemacht. So wartete sie auf das Unvermeidliche, kam mit strähnigen Haaren und glasigen Augen zum Dienst, während um sie herum das Getuschel zunahm und die Leitung des Pflegeheimes ihre Suspendierung verfügte. Die Festnahme erfolgte wenig später.

Man fand sie über ein halb aufgetautes Kaninchen gebeugt vor, in das sie ihre Zähne schlug. Sie hatte mit einem Kaffeelöffel Honig darüber verteilt und Estragon darauf gestreut. Sie schätzte die moderne Gourmetküche und war nur momentan nicht in der Verfassung, ihre Ideen in die Praxis umzusetzen. Um sie herum faulte der Müll. Die Polizisten forderten Atemmasken an. Sie senkte den Kopf, als man ihr Handschellen anlegte. Dann übernahmen die Kameras und die Blitzlichter.

Der Todesengel galt als Prototyp der massiv Gestörten. Die Dokumentation transportierte den Gedanken erfolgreich nach draußen und eine Entlassung auf Bewährung war bei entsprechender geistiger Gesundung durchaus denkbar. Sie war in aller Stille geschieden worden, nachdem sie eingewilligt hatte, dass ihr Mann den gesamten Erlös aus dem Verkauf der Eigentumswohnung für sich vereinnahmen konnte. Sie würde wieder auf die Beine kommen. Geduld war eine ihrer Stärken.

Die Inhaftierte drehte den Brief zwischen den Fingern. Sie hatte ein gutes Gefühl. Sie würde dem Mann schreiben. Er war der Richtige für sie. Sie freute sich über ihre gesunde Erregung.

Der Mann hatte auch eine pflegebedürftige Mutter. Sie wusste besser als jeder andere, was es bedeutete, eine Demenzkranke zuhause zu pflegen. Sie schnippte mit den Fingern. Wenn alles gut verlief, würde sie ihm bei der Betreuung seiner Mutter eine große Hilfe sein. Sie wusste, er würde sich darüber freuen.

III.

Wie immer hatte er sich ausgezeichnet vorbereitet und wie immer war er auf Überraschungen gefasst. Die Überraschungen waren die Würze seines Freizeitausgleichs. Schon oft hatte er geglaubt, darauf verzichten zu können, war aber nach den selbst auferlegten Pausen reumütig zu seiner Passion zurückgekehrt.

Es gab Gleichgesinnte, die seine Art der Akribie belustigen würde. Das waren die Schwergewichte in seinem Feld, die ihr Hobby perfektioniert und den Amateurstatus hinter sich gelassen hatten wie nach einer Häutung. Er zupfte den Blouson zurecht, den er gewählt hatte, weil er die unverzichtbaren Utensilien verdeckte, die er mitführen musste und der Wetterlage gerecht wurde, die nach einigen sonnigen Tagen wechselhaft zu werden versprach.

Und jetzt der Supermarkt. Ein lichtdurchfluteter Tempel voller einladender Gerüche und einer grandiosen Auswahl. Die lebenssatten Rentner schlurften dahin, ohne zu wissen, dass sie in der Obstabteilung eine Minute und vierundvierzig Sekunden zu verharren hatten, wenn sie dem Durchschnitt entsprechen wollten. Die rotzfrechen Jugendlichen mit den Baseballkappen und dem schlenkernden Gang, der die Coolness ihrer Markenklamotten auf die Person übertragen sollte, standen nicht die prognostizierten sechs Minuten in den stark frequentierten Außengängen mit den Frischeprodukten. Den Säufern war es einerlei, ob sie die Regalwelten von links oder rechts betraten. Sie erfüllten die Vorgaben jedoch zuverlässig in dem Punkt, dass sie niemals bis zur Mitte des Ganges vordrangen, weil die Flaschen mit dem Doppelkorn am Rande eines abseits angesiedelten Schamsortimentes in Bücktiefe aufgereiht waren.

Der Mann im Blouson hatte den Markt mehrfach durchstöbert und ihn auf wissenschaftlich fundierte Marketingstrategien abgeklopft. Er war gewissermaßen ein Insider. Es verschaffte ihm eine grimmige Befriedigung, dass er die kühle Leere der ersten Meter nach dem Einlass als ‚Landezone‘ identifizieren konnte, in die die Käufer hineingingen, bevor sie von freundlichen Gemüsehindernissen gestoppt und manipuliert wurden. Er wusste, dass sein limbisches System mit Markeninformationen angefüttert wurde, um seine Kaufentschlossenheit zu festigen. Mit einem Kopfnicken begrüßte er die Kassenschleusen, die ihre Verlockungen streng nach Planogramm feilboten.

Seine Beute, ein Mann mit Vollbart, steuerte eine dunkle Ecke an, in der sich aufgerissene Kartons stapelten und eine ramponierte Kühltruhe ihre Pensionierung angetreten hatte. Es war eine der Ecken, die ein vorübergehender Verlierer der Modernisierungswut war. Der Verfolger war einige Schritte zurückgeblieben und beschäftigte sich angelegentlich mit Spülmitteln in einem Hochregal. Er wusste, was jetzt kommen würde. Der Vollbärtige blieb stehen und warf einen Blick auf das klägliche Häuflein seiner Einkäufe. Es war das typische Sortiment aus Dauerwurst und Schmelzkäse, durchsetzt von einer Packung Industriebrot und einem Liter Milch als Hommage an die Gesundheit.

Der unschlüssig Dastehende schnäuzte sich in ein Papiertaschentuch und schnippte es auf den Haufen Papierabfall. Er bog nach links ab und kehrte mit nachdenklichem Gesicht wieder an den Ausgangspunkt zurück. Der Vollbart und der unsichere, gebückte Gang machten ihn älter als er war. Der Verfolger wusste Bescheid. Der Mann war dreiundvierzig, ein arbeitsloser Bauingenieur, der nach Jahren der Arbeitslosigkeit Frau und Kind gegen einen Straßenköter und seinen neuen besten Freund eingetauscht hatte. Soeben griff er danach. Beim Bücken wäre er fast ins Straucheln geraten. Es war eine Flasche Weinbrand.

Der Verfolger hatte genug gesehen. Es würde sein wie immer. Zu dem Weinbrand würde sich noch eine Flasche Korn gesellen und eine billige Flasche Wein, denn der Vollbärtige war bei seiner Reise noch nicht am Abgrund angekommen. Noch legte er Wert darauf, wenigstens den Anschein von Bürgerlichkeit zu wahren. Zwar trug er fast immer die gleiche abgenutzte Kleidung, aber er wusch sich und schnitt seinen Bart, wenn ihm der Alkohol Spielraum dazu ließ. Der Verfolger hatte beobachtet, dass der Mann Pfefferminzpastillen lutschte, die seinem Atem die Unschuld wieder geben sollten.

Es war noch nicht ganz schlecht um ihn bestellt. Dabei hatte er ein Problem, das um ihn herum wucherte und ihn einspann. Es war ein Problem, das er in seiner Einbahnstraßenexistenz nicht wahrnahm. Das Problem war zur Expresskasse geeilt, um die Alibieinkäufe zu verstauen und aus anderer Perspektive auf den Bärtigen zu warten. Das Problem war, dass der Trinker Besuch erhalten würde. Der Besucher tastete über die Taschen seines Blousons und fühlte die familiären Gegenstände. Alles war an seinem Platz. Er lächelte.

Die freundliche junge Frau verfehlte ihre Wirkung auf den Besucher nicht. Es war nicht seine Art, freundliche Menschen zurückzuweisen. Es war etwas anderes, wenn er sie besuchte. Dann verhielt er sich professionell. Hinter der Kasse, neben dem Zeitschriftenterminal war er fast privat. Er erwiderte den Gruß und schaute nach rechts. Seine Beute stand vor dem Süßigkeitenregal. Es würde noch einige Minuten dauern. Er war zufrieden und wandte sich dem Mädchen zu, das seine einführenden Worte virtuos herunterleierte und die Tempi mit einem Wippen auf den Zehenspitzen untermalte. Er unterbrach ihren Monolog nicht, obwohl ihm längst klar geworden war, dass es sich um die Umfrage eines Instituts handelte, von dem er glaubte, einmal gelesen zu haben. Im Wesentlichen sollte klassifiziert werden, zu welchem Typus Käufer er gehörte.

Die Fragen stiegen aus einem dezent geschminkten Mund zu ihm auf und rochen nach Erdbeere. Er antwortete spontan und ernsthaft. Seine Augen glitten an den eifrig ankreuzenden Fingern hinunter zu den Füßen der Fragerin. Ihre Zehen waren für offene Schuhe ungeeignet. Er war für einen Moment abgelenkt und blickte sich hastig um. Der Bärtige kam den Gang herunter. Der Besucher glaubte, dass er eine Tüte in die Außentasche seines Parkas gesteckt hatte. Ein anderer Kunde mit lauernden Augen und einem merkwürdigen Dauerinteresse für Tiefkühlware starrte ebenfalls auf den Trinker. Dann wandte er sich abrupt ab und verließ die Zone, ohne seinen Einkaufskorb eines Blickes zu würdigen.

Die Interviewerin schrieb das Desinteresse des Mannes ihrer Stimmlage zu und redete laut und hastig auf ihn ein. Er begriff, dass seine Kundentypologie zwischen der eines Hedonisten und eines Genießers lag. Das Ergebnis war durchaus annehmbar. Er wischte den Arm des Mädchens unwirsch beiseite, als sie versuchte seine Aufmerksamkeit durch Zupfen an seinem Ärmel zu erhöhen. Mit einem höflichen Dank und dem Hinweis, dass er es eilig hatte, versöhnte er die Frau. Er griff sich einen Werbezettel und begann ihn aufmerksam zu studieren. Wenn er richtig beobachtet hatte, konnte es zu einem unangenehmen Zwischenfall kommen. Beschwörend schaute er zur Kassenzone. Er hatte Glück. Zwischen die Männer, die von ihren Einkaufszetteln zu Sklaven degradiert worden waren, hatte sich ein Mutter-Tochter-Paar fortgeschrittenen Alters geschleust, von denen er sich eine Störung des Ablaufs erwartete, die es ihm ermöglichte, seine Notstrategie umzusetzen. Er wurde nicht enttäuscht.

Die ältere der beiden Frauen musterte die Kassenzone mit einem geschulten Blick. Mit einer herrischen Handbewegung dirigierte sie ihre Tochter zu der unwesentlich längeren Schlange, nachdem sie die Wartenden und ihre Einkäufe kritisch begutachtet hatte. Sie war ein Alphatier mit einem auftoupierten Haarschopf, signalroten Lippen und einem Kugelbauch in knallengen Leggins, die im Bereich ihrer knochigen Knie jeden Dehnungswiderstand aufgegeben hatten. Die Tochter stand optisch im Begriff, in wenigen Jahren zu einem Klon der Mutter zu mutieren. Noch war sie weicher und ansehnlicher, aber ihre gebeugte Haltung mit dem nach links gewinkelten Hals verlieh ihr die gleiche raubvogelartige Ausstrahlung. Auch sie verriet einen wenig schmeichelhaften Hang zu protzigem Modeschmuck und unpassender Kleidung.

Mit einem geschickten Manöver stach das Alphatier den gefüllten Einkaufswagen in eine Lücke und behauptete mit einer kaum verhohlenen Gebärde der Herablassung einen Raum, der es ihr ermöglichte, jederzeit auch die andere Schlange an gesicherter Position zu erreichen, falls sich ihre Überlegungen als falsch herausstellen sollten. Die Tochter folgte mit gelangweiltem Gesicht. Ihre Augen fixierten den Zigarettenspender. Der Trinker blieb in respektvoller Entfernung stehen. Er war nicht auf eine Auseinandersetzung aus. Alles, was er wünschte, war ein baldiges Rendezvous mit der ersten Flasche. Er fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund. Die freien Flächen seines Gesichtes waren aufgedunsen und bläulich.

Der Besucher drängte sich unter dem missbilligenden Blick einer alten Dame durch eine der nicht besetzten Kassen in den Verkaufsraum zurück. Inzwischen waren die Anstehenden nach vorne gerückt. Drei Jugendliche verschwanden lärmend durch die Glastür, um ihre unappetitlichen Gedanken in einer unappetitlichen Umgebung auszuleben. Die blasse Kassiererin zog verbissen Angebotsware über den Scanner. Routiniert zählte sie Geld, hantierte mit Kundenkarten und nannte Beträge, ohne jemals aufzusehen.

Mutter und Tochter hatten in schweigender Eintracht ihre Einkäufe auf das Band getürmt, als es passierte. Mit einem herrischen Klingen ihrer Armreifen wies die Mutter die gelangweilt dastehende Tochter an, noch eine Schale Speisequark zu besorgen. Die Stimme verriet den exquisit erstickten Tonfall einer langen Raucherkarriere. Die gebräunte Tochter setzte sich schlendernd in Bewegung. Die bedachten Bewegungen ließen den Rückschluss zu, dass die beiden in ein lieb gewonnenes Ritual verfallen waren, das bei einkaufenden Frauengruppen des Öfteren zu beobachten war.

Wahrend Männer mit verbissener Effizienz vorgefertigte Aufgabenzettel abarbeiteten, verstanden sich Frauen auf die Inszenierung einer nonchalanten Ablaufstörung, begegneten geplant ausgelösten Missstimmungen unter Miteinkäufern mit hochnäsiger Gleichgültigkeit und brachten Kassenaktivitäten durch immer neue Manöver zum Erliegen. Die Geübtesten unter ihnen vollzogen ein zusätzliches Abschlussritual beim Bezahlvorgang, indem sie umständlich nach einer Geldbörse kramten, mit peinlicher Gewissenhaftigkeit Fächer öffneten und mit gerunzelter Stirn Kleingeldbeträge umher schoben, bevor sie nach einem Zeitraum schier unerträglicher Spannung und einem entschuldigenden Seufzen einen größeren Geldschein hervornestelten und mit kleinlauter Boshaftigkeit bekannten, dass sie den Betrag doch nicht passend zur Hand hätten.

Ein unterdrücktes Stöhnen aus der Mitte der Wartenden zeigte, dass man die Finte der beiden Frauen erkannt hatte. Das Alphatier nahm die Würdigung hoch erhobenen Kopfes entgegen und zündete sich zum Unterstreichen ihrer Vormachtstellung direkt unter dem ‚Nicht Rauchen‘ Hinweis eine Zigarette an. Die Kassiererin hatte jede Bemühung eingestellt und starrte graugesichtig auf ihre Fingernägel.