Die Kunst des Radfahrens - James Hibbard - E-Book

Die Kunst des Radfahrens E-Book

James Hibbard

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Beschreibung

Der ehemalige Radprofi und promovierte Philosoph James Hibbard erzählt in seinem Buch poetisch und literarisch von der Entdeckung des Fahrrads als Lebenselixier. Eingerahmt von der Schilderung einer dreitägigen Radtour mit zwei ehemaligen Profikollegen durch Kalifornien beschreibt er seine Entwicklung vom Amateur zum Profi, seine Erlebnisse als aktiver Fahrer und seine philosophischen Erkenntnisse. Das Buch ist einerseits eine Erzählung über die Liebe zum Radsport und die Erlebnisse, die er bieten kann, andererseits ein Streifzug durch 2500 Jahre abendländischer Philosophie. Breiten Raum nehmen auch die Aspekte des Dopings und die Verurteilung des Sportbetrugs als ethisch nicht tolerierbares Verbrechen ein, eindrucksvoll geschildert aus der Innensicht eines Profis. Offen schildert der Autor auch seine Depressionen und wie ihm Radsport und Philosophie geholfen haben, diese zu überwinden.

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Seitenzahl: 384

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Für meinen Sohn Graeme, den ich über alles liebe.

 

 

 

 

„In deinem Körper steckt mehr Weisheit als in deiner tiefsten Philosophie.“

 

Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra

Inhalt

Vorwort

Kapitel 1 Über Antriebe und Anfänge

Kapitel 2 Das Versprechen des Denkens

Kapitel 3 Das Material

Kapitel 4 Körper und Schmerzen

Kapitel 5 Über das Gewinnen

Kapitel 6 Die Welt, das Selbst und die anderen

Kapitel 7 Abschied von der Perfektion

Kapitel 8 Was man sieht und was man weiß

Kapitel 9 Nachdenken über das Denken

Kapitel 10 Das Nichts

Kapitel 11 Du bist mehr als das

Kapitel 12 Das Leben an sich

Dank

Ausgewählte Bibliografie

Vorwort

Seit ich zum ersten Mal auf dem gelben Schwinn-Varsity meines Nachbarfreundes saß, wollte ich nichts anderes mehr als Radfahren. Weit vornüber geneigt, die Hände am gebogenen Lenker, zog mit jedem Tritt der Asphalt schneller und schneller unter mir vorbei. Bis dahin kannte ich nur jene schwergängigen Räder mit breiten Profilreifen, die gerade gut genug waren, um sich fortzubewegen. Das Schwinn war ganz anders. Als ich auf ihm dahinraste, spürte ich Freiheit, ein Gefühl, als könnte ich fliegen. Ich hatte noch nie etwas Beglückenderes erlebt. Im Sommer nach jener Probefahrt nahm ich kurz vor meinem 13. Geburtstag zum ersten Mal an einem Rennen teil. Von da an ging es mit Riesenschritten voran, bis ich eines Tages in den US-Olympiastützpunkt eingeladen wurde. Knallharte Trainingseinheiten, Reisen und körperliche Schmerzen bestimmten fortan mein Leben. Schließlich unterschrieb ich meinen ersten Profivertrag bei einem Top-Team. Doch mein Können reichte gerade aus, um aus nächster Nähe mitzuerleben, welches Geheimnis meine Helden des Radsports in den späten 1990er Jahren zu verbergen suchten: Doping. Als ich meine Karriere mit Mitte zwanzig beendete, stand für mich fest, dass der Sport, den ich einmal über alle Maßen geliebt hatte, von Grund auf verdorben war. Wer vorne mitspielte, setzte nicht auf Fair Play und harte Arbeit, sondern warf sich alles Erdenkliche ein, nur um zu gewinnen.

Knapp zehn Jahre lang stieg ich auf kein Rad mehr. Als ich es schließlich wieder tat, kam mir die Person, die einst nach Siegen und Bestätigung von außen gelechzt hatte, unendlich fern vor. Mit jeder weiteren Ausfahrt rückten die positiven Seiten des Sports stärker in den Vordergrund, die Erinnerung an die Doping-Ära verlor allmählich ihr Gift. In der Folge gewann der Radsport für mich eine neue, komplexere Leuchtkraft. Mit der nötigen Distanz sehe ich heute nicht mehr nur seine Mängel, sondern auch wieder die unzähligen Momente der Schönheit und der Erkenntnis, die sich unabhängig von Sieg oder Niederlage allein daraus ergeben, dass du dich bemühst, eine Sache so gut wie möglich zu tun.

Über jeder Entscheidung für einen Lebensweg liegt wie ein sentimentaler Schatten all das, was auch hätte sein können. Ich weiß nicht genau, inwieweit der Radsport mich zu dem gemacht hat, der ich bin, auf welche Weise er mich möglicherweise verformt hat und wer ich hätte werden können oder geworden wäre, wenn ich ihn nicht mit einer solchen Hingabe, ja Besessenheit betrieben hätte. Was ich aber mit Gewissheit sagen kann, ist, dass es einen ungeheuren Verlustschmerz hervorruft, wenn man all sein Herzblut in den Sport steckt – weil man sich irgendwann von ihm verabschieden muss. Oder weil die Identifikation mit ihm so allumfassend ist, dass man sich unterwegs selbst verliert und andere Seiten der eigenen Persönlichkeit, die sich auch hätten entfalten können, für immer unentdeckt bleiben.

In dem Moment, da ich dies hier schreibe, bin ich gerade von einer Tour zurückgekommen. Ich spüre mein Rad noch unter mir hin und her pendeln, während ich die kurvigen Bergstraßen hinaufklettere, auf denen ich in meiner aktiven Zeit unermüdlich trainiert habe. Mein Atem geht heute schwerer als früher, und ich mache mir bewusst keine Gedanken mehr darüber, wie weit oder wie schnell ich gefahren bin. Ich versuche dagegen, all die Sinneseindrücke so tief wie möglich aufzusaugen: den Morgennebel, der sich auf meine Haut legt, das Sirren der Reifen auf dem Asphalt, die brennenden Muskeln auf den letzten Metern eines steilen Anstiegs. In Zehntausenden Trainingsstunden habe ich gelernt, die Signale meines Fahrrads und meines Körpers genauestens wahrzunehmen. Wie das Wasser bei Ebbe weichen in diesen Momenten Worte und Gedanken im Kopf zurück, bis plötzlich wieder alles möglich erscheint.

In diesem Buch will ich den vielen „kleinen Dingen“ meines Sports auf den Grund gehen, all den Aspekten, die auf den ersten Blick äußerlich und banal wirken. Ich will sie möglichst umfassend durchdringen, sodass sie irgendwann vollkommen natürlich und unbewusst werden, bis sie sich schließlich auflösen – bis es nicht mehr nur darum geht, in die Pedale zu treten, sondern bei jeder Umdrehung und jedem Herzschlag zu spüren, dass man wahrhaft existiert.

Als ehemaliger Radprofi mit abgeschlossenem Philosophiestudium werde ich oft gefragt, worüber ich während der endlosen einsamen Stunden des Trainings nachgedacht habe. Meistens antworte ich dann, dass die Zeit wie im Flug verging oder ich den Leistungsmesser an meinem Lenker fixierte. Auch wenn beides nicht per se gelogen ist, war das Faszinierendste, ja sogar Schönste am Radfahren aber in Wahrheit, dass ich dabei über so gut wie nichts nachdachte. In der Philosophie suchte ich nach Antworten auf die Rätsel des Lebens – auf die sogenannten letzten Fragen nach dem Dasein, dem Tod, dem Sinn all dessen. Doch tatsächlich offenbarte mir meine Beschäftigung mit Descartes und Nietzsche, Husserl und de Beauvoir lediglich die Grenzen der Philosophie. Bei all den unterschiedlichen Ansätzen, von denen ich mir Antworten erhoffte, kam es mir so vor, als würde ich vergeblich versuchen, mir im Dunkeln den Grundriss eines Hauses einzuprägen: Offensichtlich war es nicht möglich, über diese Dinge, die nicht nur mir so viel bedeuteten, rational nachzudenken oder zu sprechen.

Der Radsport ermöglichte es mir, das Problem selbst neu zu fassen. In vielerlei Hinsicht waren die Herausforderungen des Sports die Antithese zu jenen, denen ich in der Philosophie begegnete. Die Fragen blieben dieselben, wenn ich allein auf dem Rad saß. Doch ich selbst veränderte mich. Mein unbedingtes Verlangen, zu verstehen und das Verstandene in Worte zu fassen, löste sich in Nichts auf – die Vernunft selbst schien zu verstummen, wenn ich mir die Lunge aus dem Leib strampelte. Der Sport eröffnete mir einen Ausweg aus meinem Kopf, und mein Rad wurde mir solchermaßen zum Heiligtum. Bei der instinktiven und unmittelbaren Erfahrung des Radfahrens erlebte ich die physische Welt neu: das Schattenspiel der Blätter, wenn die Sonne durch die Baumkronen drang, das Gefühl des Lenkerbands aus Kork in meinen Händen – treten, atmen, treten, atmen, treten, atmen. In einem sich unaufhörlich wiederholenden Rhythmus, bis auch der geistig regeste und willensstärkste Mensch kapituliert.

Oft verliere ich mich in Ideen, Plänen und Gedanken. Vermutlich geht das vielen so, die die Ungewissheiten des Lebens zu durchdringen und zu bewältigen versuchen. Hypothetische Szenarien wirbeln mir wie bei einer endlosen Schachpartie durch den Kopf, bis meine eigenen Abstraktionen alles Konkrete verdrängen, auslöschen.

Immer schon ahnte ich, dass jenseits des Geltungsbereichs der Vernunft noch eine andere Vorstellung vom Dasein liegt. In vielen Fällen lässt sich das vage Gefühl, zu diesem Weltverständnis keinen Zugang mehr zu haben, auf die grundlegende Frage zurückführen, wer man selbst eigentlich ist. Allzu leicht nehmen wir das, was in unserem Kopf vorgeht, sprich irgendwelche Vorstellungen oder Symbole der Wirklichkeit, für unser ganzes Dasein. Dadurch geht ein wesentlicher Teil verloren von dem, was Leben heißt. Unser eigener Körper wird uns fremd und zur Maschine. An die Stelle der konkreten Dinge treten Abstraktionen, denen die Lebendigkeit und Dynamik des Konkreten fehlt. Zweifellos hat das abstrakte Denken, das die Funktionsweise unserer Umwelt systematisch erkundet, weite Teile der Gesellschaft ins Licht der Vernunft geführt. Doch es wäre naiv zu denken, dass wir dafür keinen Preis zahlen müssten.

Dieser Preis wie auch der uralte Streit zwischen rationalen und romantischen Geistern prägten die Philosophie des 20. Jahrhunderts. Ihre zentralen Persönlichkeiten gingen der Frage nach, was sie hoffen konnten zu erkennen, und, vielleicht noch wichtiger, was nicht. Diese Frage nach den Grenzen des rationalen Denkens bildet in vielerlei Hinsicht den Kern der Spaltung zwischen der angloamerikanischen und der kontinentaleuropäischen Philosophie. Ludwig Wittgenstein – einer der bedeutendsten Philosophen des 20. Jahrhunderts – unternahm in seinem Tractatus logico-philosophicus den Versuch einer Bestimmung der vernünftig zu beantwortenden und somit „legitimen“ Fragen. Er läutete dies mit einer grundlegenden Aussage ein: „Die Welt ist alles, was der Fall ist.“ Hiervon ausgehend, entfaltete er Schritt für Schritt die logische Struktur der Welt und steckte die Grenzen der philosophischen Erkenntnis ab. Jedoch war Wittgenstein nicht etwa ein Positivist oder Materialist, vielmehr verblieb für ihn außerhalb des Geltungsbereichs der rationalen Sprache ein unaussprechlicher Rest. Gegen Ende des Tractatus formulierte er: „Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische.“ Beim Erscheinen des Tractatus zu Beginn der 1920er Jahre standen insbesondere in Großbritannien und den Vereinigten Staaten mystische „letzte“ Fragen nach Leben und Tod, Sinn und Dasein nicht mehr hoch im Kurs, ja, es wurde sogar der Begriff des Mystischen an sich abgelehnt, weil nicht klar sei, was er eigentlich meine. Seit der Aufklärung war der Fortschritt ein Ergebnis von nüchternem Pragmatismus, der nur Fragen als zulässig betrachtete, auf die sich empirisch antworten ließ – und das hieß in der Regel wissenschaftliche Fragen. In der Folge fanden Vorstellungen von Seele, Sinn und Bestimmung ihre Zuflucht in der Kunst, in der Religion, in einigen wenigen philosophischen Strömungen wie dem Existenzialismus und auch, so überraschend das zunächst klingen mag, im Sport.

Der Radsport war stets eine Bastion von Romantikern, von Außenseitern, die mitunter das Gefühl hatten, dass mit der modernen Gesellschaft – oder mit ihnen selbst – etwas nicht stimme. Insofern ist die Bedeutung der Gegenkultur der 1960er- und 1970er Jahre für das Revival dieses Sports in den USA kaum zu überschätzen. Freakige Fahrradläden, vollgestopft bis unter die Decke und beseelt von Einzelgängern, Hippies und Exzentrikern, wurden zu Tempeln des Sports. Dort wurde genauso ernsthaft über den eleganten Fahrstil von Tom Simpson und italienische Rennräder von Masi, Colnago, De Rosa und Pinarello diskutiert wie über Musik, Philosophie und Literatur. Das Interesse galt nicht allein technischen oder sportlichen Aspekten, vielmehr verband man mit dem Radsport die Vorstellung eines anderen Lebens, jedenfalls die Ablehnung der leeren, in sich erstarrten Konsumgesellschaft. Überspitzt lässt sich sagen, dass sich damals in den USA kein normaler Erwachsener mit gutem Job zum puren Vergnügen auf ein Fahrrad setzte. Auch wenn diese alternative Seite des Radsports zu meiner Zeit bereits der Vergangenheit angehörte, fühlte ich mich zu ihr hingezogen; der verbissene Wettkampf der Gegenwart hingegen war mir fremd.

Die Verbindung des Radsports mit der Gegenkultur – einschließlich ihrer psychedelischen Komponente – war in der Bay Area von San Francisco, wo ich aufwuchs, fest verwurzelt. Lange bevor die Sportwissenschaft und der vom Team Sky verfolgte Ansatz der „marginal gains“, also minimalen Vorteile durch Optimierung etwa des Materials, das Ruder übernahmen, war es nicht ungewöhnlich, nach einem erfolgreich bewältigten Anstieg einfach mal abzusteigen, um einen Joint durchzuziehen. Ich liebte die einsame Freiheit auf dem Fahrrad und vernahm die Botschaft meiner Mentoren, dass nichts so tödlich sei, wie sein Leben im Dienste eines seelenlosen Unternehmens hinter einem Schreibtisch zu verbringen. Die Außenseiterposition zeigte sich nicht nur in dem berauschenden Verlangen, dem Hyper-Rationalen zu entkommen, sondern bereits in der bloßen Tatsache, sich in einem Land ohne große Radsporttradition überhaupt auf ein Fahrrad zu setzen und an Rennen teilzunehmen. Beispielhaft stand für diese Verbindung zwischen dem Radsport und dem Sechzigerjahre-Geist der Bay Area mein erster Radsportklub, die Garden City Wheelmen.

Der Klub schaute auf eine mehr als 100-jährige Geschichte zurück, und seine Mitglieder schmückten sich mit einem unverkennbaren Trikot mit gelber Lilie auf der Brust. Als „Hauptquartier“ diente ein kleiner Laden in Santa Clara namens Shaw’s Lightweight Cycles. Dessen Besitzer, Terry Shaw, war zugleich Radsporthistoriker und Trainer. Terry hatte einen imposanten dunklen Bart und genoss einen hervorragenden Ruf, weil mehrere Junioren des Klubs es als Profis nach Europa geschafft hatten. Er war auf der Straße genauso zu Hause wie auf der Bahn – und er sprach Italienisch. Bevor er sich dem Radsport verschrieben hatte, war er in der U.S. Army Band-Klarinettist gewesen. Als typischer Baby Boomer der Bay Area war er vielseitig interessiert und dozierte bei unseren Ausfahrten genauso kenntnisreich über Herman Melville oder Thomas Mann wie über die Feinheiten des Trainings.

Bezeichnenderweise stand Geld nie ganz oben auf Terrys Liste. Radsport-Novizen, die sich in seinen Laden verirrten, hielt er oftmals davon ab, gleich zum Teuersten zu greifen. Stattdessen sollten sie erst einmal einige Jahre richtig Radfahren lernen, bevor sie viel Geld für eine teure Rennmaschine ausgaben. Respekt musste man sich verdienen, man konnte ihn sich nicht kaufen, ob es nun um die eigene Stellung im Peloton ging oder um die Frage, wessen Ratschlag etwas taugte. Radfahren war eine Kunst, wie Musik, Malerei oder Schreiben. Und wie in jeder Kunst hieß besser zu werden zugleich, dass die wahre Meisterschaft immer ferner und rätselhafter erschien.

Ein paar Fenster hätten Terrys Laden gutgetan; so war er ein finsteres Loch, in dem der Geruch von Schmierfett und Schlauchreifenkleber der Marke Phil Wood in der Luft lag. Von der Decke und an den Wänden hingen unzählige staubige Rahmen und Ersatzteile sowie Fotos und Trikots von ehemaligen Klubmitgliedern. An der Tür pappte ein Aufkleber eines legendären italienischen Komponentenherstellers, der sich an die Auserwählten wandte: „Campagnolo spoken here“. Auf der Ladentheke lagen stets dieselben zwei Bücher: The C.O.N.I. Training Manual und Bartlett’s Familiar Quotations, beide reichlich zerfleddert und schwarz vor Schmiere. Im Bartlett’s schlugen wir nach, wenn einmal nicht klar war, von wem ein bestimmtes Zitat stammte. Wesentlich häufiger jedoch konsultierten wir das heute weitgehend in Vergessenheit geratene C.O.N.I.-Trainingshandbuch, das einiges über den Radsport jener Zeit verrät.

Das C.O.N.I. Manual war Ende der 1960er Jahre vom Italienischen Olympischen Komitee herausgegeben worden und bis Mitte der 1980er Jahre eines der wenigen Fachbücher auf dem Markt, eine Bibel des Radsports. Wenngleich die englische Version aus abenteuerlichen Satzgebilden und fragwürdigen Übersetzungen bestand, änderte das nichts an ihrem Wert als eine der wenigen verfügbaren Quellen zu Training, Taktik, Ernährung und Pflege der Ausrüstung. Heute gilt die Zeit, in der das Buch entstand, als Goldenes Zeitalter des Radsports, doch bereits damals verklärte der seinerzeitige Präsident des Internationalen Radsportverbands in seinem Vorwort die Vergangenheit und prangerte den technischen Fortschritt an: „Die Vernunft mit ihrem kalten Schubladendenken lässt immer weniger Raum für freie Geister. Ob wir es nun freudig begrüßen, resigniert hinnehmen oder bedauern: Der Sport als Abenteuer, der improvisierte und erfindungsreiche Sport hat sich für immer verabschiedet, und mit ihm ist auch die Geisteshaltung einer vergangenen Zeit verschwunden.“ Wie alle wahrhaft großen Dinge befand sich offensichtlich auch der Radsport schon immer im Niedergang.

Shaw’s Lightweight Cycles war nicht nur der erste Anlaufpunkt für Teile und Reparaturen jeder Art, mehrmals in der Woche brachen wir von dort auch zu unseren Ausfahrten auf. Eine Standardroute führte durch das Santa Clara Valley nordwärts nach Palo Alto und von dort weiter über die Alpine Road in die kleine, wie aus der Zeit gefallene Ortschaft La Honda. Lange bevor Tech-Giganten wie Google die wirtschaftliche und kulturelle Landschaft südlich von San Francisco zu dominieren begannen, war die Gegend in den 1960er Jahren ein Epizentrum der Gegenkultur gewesen. Ende der 1990er Jahre konnten sich Menschen, die sich mit ihrem Denken und ihrem Lebensentwurf außerhalb des Mainstreams bewegten, das Leben im Valley nicht mehr leisten. Sie fanden Zuflucht in den Bergen, die das Tal vom Pazifik trennen. Auf den schmalen, gottverlassenen Straßen, ein El Dorado für Fahrradfahrer, traf man nach wie vor auf einfache Hütten, VW-Busse und Kommunen, deren Tore buddhistische Gebetsfahnen schmückten.

Wenn ich mit meinen Klubkameraden durch die abgelegenen Wälder fuhr, wo einige meiner frühen literarischen und geistigen Helden gelebt hatten, verschmolz der Möglichkeitssinn, den ich bei der Lektüre von Aldous Huxley, Alan Watts und anderen verspürt hatte, mit jener Form des Radsports, in die mich Terry und der Rest der Garden City Wheelmen einführten. Ich lernte eine Alternative zu den Schreibtischjobs der Elterngeneration kennen, eine Alternative, die romantisch, bedeutsam, mit einem Wort sinnvoller war als das, womit die meisten Erwachsenen ihr Leben zubrachten. Der Radsport erlaubte mir andererseits, mich nach außen hin weiterhin als anständiges Mitglied der Gesellschaft zu präsentieren, auch wenn mir in meinem tiefsten Inneren klar war, dass ich genau das nicht war. Intuitiv spürte ich, dass mein höchstes Ideal nicht bloßes Wissen war, sondern ich mich in einem dionysischen Rausch verlieren wollte, in Kunst und Denken, Irrsinn und Musik. Dennoch blieb ich innerlich gespalten. Die konservative Seite in mir verlangte nach Anerkennung von eben jenen „respektablen“ Menschen, von denen ich mir einzureden versuchte, dass sie unwichtig waren.

Wut, Schmerz und die Überwindung der eigenen Persönlichkeit durch körperliche Anstrengung und schiere Willenskraft spielten eine zentrale Rolle in meinem Sport. Das Beste war, dass anscheinend kein Außenstehender dies verstand. Wenn ich gewann, schoss man einfach nur ein Foto von mir und lobte mich für meine harte Arbeit und Hingabe.

Oftmals wird das jahrelange Training von Sportlern nicht als der wahrhaft radikale Akt der Selbstschöpfung und des Willens wahrgenommen, der es tatsächlich ist. Wie Nietzsche erklärte: „Wir aber wollen die werden, die wir sind – die Neuen, die Einmaligen, die Unvergleichbaren, die Sich-selber-Gesetzgebenden, die Sich-selber-Schaffenden!“ In vielerlei Hinsicht stellt dies den Gipfel des menschlichen Willens und Handelns dar. Gegen die Mächte der Behaglichkeit und des biologischen Instinkts setzt man den eigenen Willen und legt vor sich selbst den Schwur ab, der zu werden, der man sein sollte. Jede meiner Trainingseinheiten war von dem Wunsch motiviert, mich selbst neu zu erschaffen, mich nicht nur körperlich zu verwandeln und an die Herausforderungen anzupassen, sondern mich zu jemandem zu formen, dessen Geist immer mehr ertragen konnte. Jahrelang absolvierte ich den Großteil meines Trainings auf den Nebenstraßen an der nordkalifornischen Küste, wo sich der feucht-salzige Pazifiknebel mit dem süßlichen Duft der Mammutbäume entlang der Holpersträßchen vermischte. Die Geometrie und das Fitting meines Straßenrads waren mir damals in Fleisch und Blut übergegangen, sodass es sich beinahe wie eine Erweiterung meines Körpers anfühlte. Ich spürte sofort, wenn mein Sattel auch nur einen einzigen Millimeter falsch eingestellt war oder die Neigung meines Lenkers um ein Grad abwich. Wenn ich einen Anstieg hinaufkletterte oder bei Abfahrten die langgezogenen Kurven nahm, veränderte sich die Art und Weise, wie ich die Wirklichkeit wahrnahm. Im Lauf einer vier- oder fünfstündigen Ausfahrt traten meine Gedanken nach und nach in den Hintergrund. Unerwartet überkam mich eine Empfindung der Sinnhaftigkeit, ja sogar Transzendenz, man könnte auch sagen des Mystischen im Sinne Wittgensteins. Das geschah so gut wie ausschließlich, wenn ich allein durch Siedlungen im Nirgendwo fuhr. Meine Beine kreisten, als hätten sie einen eigenen Willen, das Vergehen der Zeit kam in einer ewigen Gegenwart zum Stillstand, alle Kränkungen und Fehlschläge erschienen mir plötzlich unbedeutend, und, so merkwürdig es bei einem Profisportler auch klingen mag, jeglicher irdische Ehrgeiz erschien mir unbedeutend. Was für einen Unterschied machte es schon, ob man ein Rennen gewann oder nicht? An die Stelle meiner Gedanken, meines Ehrgeizes, der Rationalität und Ängste trat eine neue, unbeschreibliche Möglichkeit, die nicht nur jenseits der Sprache, sondern jenseits meines rational begründeten Selbstverständnisses lag. Plötzlich sah ich die Welt um mich herum wie zum ersten Mal.

Mein „Ich“, was auch immer das war, ließ sich nicht auf mein Gehirn oder Denken reduzieren. Es besaß keinen Zweck und keine Absicht, die ich selbst aktiv hätte verwirklichen können. Ich war nicht einfach nur ein Teil einer Kultur, eines Sports oder einer bestimmten Zeit, ich war im grundlegendsten Sinne Teil des Daseins.

Insbesondere ein Erlebnis aus meiner aktiven Radsportzeit hat sich mir eingeprägt. Bei einem Zeitfahren war ich auf einer einsamen Straße am Fuße der Sierra Nevada Mountains unterwegs, als ein Unwetter aufzog. Während Böen das Gras an den Hängen peitschten, mühte ich mich einen Anstieg hinauf. Oben musste ich wenden, doch gerade als ich mich an die Abfahrt machte, bemerkte ich, dass ein Reifen platt war. Da ich keinen Ersatzschlauch dabeihatte, rollte ich langsam auf der Felge weiter und hielt Ausschau nach einem Servicewagen. Ich war mir sicher, die Hilfe würde nicht lange auf sich warten lassen, also blieb ich ruhig, obwohl die Luft bereits vor Spannung vibrierte. Der Himmel wurde immer finsterer, ein Blitz ließ die Luft erzittern, gefolgt von einem krachenden Donner, bei dem ich zusammenzuckte.

Als der Regen einsetzte, stieg ich ab und hockte mich ins Gras neben der Straße. Außer dem Zirpen der Zikaden und dem Pladdern der Regentropfen war nichts zu hören. Mich überkam das Gefühl, dass alles genau so war, wie es sein sollte. Nicht einfach nur irgendwie in Ordnung, sondern im wahrsten Sinne des Wortes richtig. Vielleicht zum ersten Mal in meinem Leben war ich tatsächlich froh, am Leben zu sein.

So quälend es oft war, bei Hitze oder Eiseskälte und am Rand der Erschöpfung auf dem Fahrrad unterwegs zu sein, wurde mir genau in diesen Momenten klar, dass ich mehr war als meine Gedanken. Immer wieder brachte mich mein Körper zurück in die Gegenwart und öffnete mir die Augen für eine Welt, die ich als Trugbild zu sehen gelernt hatte. Das Radfahren zwang mich loszulassen und förderte so eine tiefergehende Wahrheit ans Tageslicht. Mein Herzschlag verschmolz mit dem Sirren der Reifen, der Sauerstoff strömte in meine Muskeln, die Kette sprang von einem Ritzel zum nächsten und die Radlager rotierten unentwegt – bis ich schließlich mit dem Fahrrad zu einer Einheit verschmolz, fern aller Gedanken. Zurück blieb die ewige Stille eines unsagbaren Letzten. Und wenn man bereit war, es zu hören, flüsterte einem jeder Pedaltritt zu: Du bist, du bist, du bist.

Kapitel 1Über Antriebe und Anfänge

In meinem Anfang ist mein Ende.

T. S. Eliot

Ich weiß nicht mehr, wer von uns dreien auf die Idee kam, eine Radtour die kalifornische Küste entlang zu unternehmen. Wir gingen inzwischen stramm auf die vierzig zu und hatten kleine Kinder zu Hause. In einem früheren Leben waren wir einmal Radprofis gewesen, doch mittlerweile bekam von uns keiner mehr Geld dafür, dass er sich die Lunge aus dem Leib strampelte. Per Handynachrichten einigten wir uns auf die Eckdaten: Anfang November wollten wir rund 300 Meilen auf und neben dem Pacific Coast Highway von der San Francisco Bay Area bis Südkalifornien fahren. Mehr als drei Tage Auszeit konnten wir uns nicht nehmen, mussten also ungefähr 100 Meilen pro Tag schaffen. Für Radrennfahrer im Grunde gut machbar. Doch als ich genauer darüber nachdachte, worauf ich mich da eingelassen hatte, musste ich mir eingestehen, dass ich genau das nicht mehr war.

Rund 15 Jahre zuvor hatte ich meine Radsportkarriere beendet, geistig ausgebrannt und zunehmend unfähig, mich für die harten Trainingseinheiten zu motivieren und mich von ihnen zu erholen. Seither war ich nur noch selten aufs Rad gestiegen. Aber es lebte in mir ein Rest des alten Draufgängers fort, den ich eigentlich für überwunden gehalten hatte. Also redete ich mir selbst gut zu, dass ich nur ein wenig trainieren müsse, dann würde ich die drei Tage schon schaffen.

Anfang November würden die Touristenströme, die im Sommer den Highway 1 verstopften, abgeflaut sein. Zugleich war es noch früh genug im Jahr, um mit etwas Glück den ersten Regenfällen der Saison aus dem Weg zu gehen. Ich unternahm noch einen letzten Versuch, die anderen zu einem verkürzten Trip zu überreden, vielleicht nur einen oder zwei Tage lang. Doch Jackson, unser heimlicher Anführer, beharrte darauf, dass das Ganze nur Sinn ergeben würde, wenn die Tour so hart wäre, dass wir sie nie vergessen würden. Also gab ich klein bei – zumal ich insgeheim wusste, dass er recht hatte. Sobald wir erst auf Achse waren, würde alles wieder so sein wie früher – das hoffte ich zumindest, obwohl sich so viel seit damals verändert hatte.

Zach trainierte immer noch gelegentlich, ebenso wie Jackson, der mittlerweile Sportlicher Leiter bei einem europäischen Spitzenteam war. Ich dagegen war seit dem Ende meiner Karriere nicht mehr regelmäßig aufs Rad gestiegen. Hin und wieder hatte es mich gepackt, und ich war bei einem Showevent oder einem Mannschaftsrennen angetreten. Allerdings konnte ich mich nicht erinnern, wann ich zuletzt zwei Tage hintereinander gefahren war. Ich hatte ein neues Kapitel in meinem Leben aufgeschlagen und nur ein paar alte Trikots und Medaillen behalten, den Rest meiner Ausrüstung hatte ich verscherbelt – bis auf mein letztes Straßenrad und mein kostbares Bahnrad, ein Eddy Merckx, das speziell für mich in der inzwischen geschlossenen Werkstatt in Flandern handgefertigt worden war. Wenn ich meinen Körper im Spiegel musterte, erinnerten nur die Narben von lang zurückliegenden Stürzen an meinen Beinen und meinen Hüften noch daran, dass ich einmal Radprofi gewesen war. Da ich nun darüber nachdachte, wieder ein bisschen zu trainieren, erschien mir diese Person, die sich nichts sehnlicher gewünscht hatte, als es im Radsport nach ganz oben zu schaffen, unendlich fern. Was hatte mich damals bloß dazu getrieben, so viel in den Sport zu investieren?

Aus einer bestimmten Perspektive kann jeglicher Sport nicht nur als überflüssig, sondern sogar als vollkommen sinnlos erscheinen. Wie die Kunst besitzt auch der Sport keinen Wert, wenn Nutzen und Fortschritt alles sind, was für einen zählt. Einen Ball zu schlagen oder ihm hinterherzurennen, zu schwimmen, zu laufen oder, wie ich es in diesem Buch versuche, sich mit den Feinheiten des Radsports auseinanderzusetzen – das alles kann man angesichts der existenziellen Probleme unserer Zeit für puren Luxus oder Zeitverschwendung halten. Zwangsläufig stellt sich die Frage, warum man sich überhaupt mit dem Radfahren beschäftigen sollte. Die Antwort darauf kann nur persönlicher und, in gewisser Hinsicht, künstlerischer Natur sein. Für all jene, die sich in der glücklichen Lage befinden, dass ihre Grundbedürfnisse nach Sicherheit, Nahrung, Wohnung befriedigt sind, stellen sich andere Fragen: etwa nach ihrer mentalen Stärke, ihrem Durchhaltevermögen, ihrem Charakter und dem Sinn des Lebens. Die Antworten hierauf liefern uns seit Jahrtausenden die Religionen – oder sportliche Wettkämpfe, in denen wir freiwillig bis an unsere Grenzen gehen. Damit will ich keineswegs sagen, dass der Sport aus sich heraus einen Sinn hätte. Ganz im Gegenteil. Der Wert jeder sportlichen Leistung liegt gerade darin, dass sie für das Überleben nicht notwendig ist. Wie überall im Leben entzieht sich auch im Sport der eigentliche Sinn allen praktischen Erwägungen. Seine Großartigkeit und seine Tragweite stehen und fallen mit dem Einsatz und dem Temperament der Sportlerinnen und Sportler. Jede sportliche Aktivität lässt sich als so etwas wie eine persönliche Antwort begreifen und muss, wie ein Medium in der Kunst, nicht nur der jeweiligen Zeit und Kultur entsprechen, sondern auch der spezifischen Persönlichkeit. Und mein Medium war das Radfahren.

Der Radsport verkörperte für mich jene unerreichbare Freiheit, nach der ich mich sehnte. Ich kann mich noch lebhaft an den Tag erinnern, an dem ich in der Middle School am Zaun stand und meinen Augen nicht traute, als ein Radteam im Windschatten eines Begleitwagens auf der breiten Allee vorbeirauschte. Es traf mich wie ein Blitz: Dies war meine Chance! Mein Ausweg aus einer Zukunft, in der ich im Stau stehen und in einem dieser Jobs arbeiten würde, die viele Erwachsene offenkundig aus vollem Herzen hassten. Mein Ausweg aus dem Leid und der Ignoranz, die vor nichts und niemand Halt machten. Ich stellte mir vor, wie ich stundenlang mit dem Rennrad durch die Landschaft rasen würde, bis ich irgendwann so gut wäre, dass die ganzen sinnlosen und willkürlichen Regeln, die Kinder einhalten sollen, für mich nicht mehr gelten würden.

Einige Monate darauf besuchte ich im nächstgelegenen Velodrom, dem Hellyer Park, zum ersten Mal ein Rennen. Das gelbliche Licht der in regelmäßigen Abständen um die Bahn verteilten Laternen ließ die Anlage wie eine Filmkulisse wirken. Großgewachsene und kleinere, schmale wie kräftige Fahrer umrundeten die zur Mitte hin abschüssige Betonbahn. Jeder hatte offensichtlich dieselbe Chance. Einige Rennen schienen gar kein Ende zu finden, andere waren nach einem kurzen fieberhaften Sprint schon wieder vorbei. Am meisten reizte mich die überschaubare Zahl von Parametern, das hieß offenbar, es war möglich, Fehler zu korrigieren. Eine Runde glich der anderen, die Ziellinie befand sich stets an derselben Stelle, die Räder wiesen keinerlei Schnickschnack auf und die Distanzen und Regeln der einzelnen Wettbewerbe waren genau festgelegt, wodurch das Geschehen noch beherrschbarer erschien. Die Fernsehübertragungen von der Tour de France erweckten den Eindruck, dass Straßenrennen eine ziemlich chaotische Angelegenheit waren, bei denen man ständig mit Wind, Regen und Reifenpannen rechnen musste. Zudem waren es Strecken, die die Fahrer in der jeweiligen Saison genau ein einziges Mal fuhren. Dagegen war der Bahnsport von chirurgischer Präzision. In ihm verbanden sich die Geschwindigkeit und mechanische Präzision von Autos oder Flugzeugen (von denen ich wie viele Jungs fasziniert war) mit einem psychologischen Aspekt, der mich besonders fesselte: der Fähigkeit, Schmerzen auszuhalten, die für den Sieg notwendig schienen.

Ich habe keine Ahnung mehr, wer damals im Hellyer Park gewonnen hat. Woran ich mich jedoch noch genau erinnere, ist, wie einer der Radfahrer von der Bahn auf die Grasfläche des Innenraums rollte und dort zusammenbrach. Sein Brustkorb hob und senkte sich schwer, seine verzerrten Gesichtszüge verrieten völlige Erschöpfung und Sauerstoffdefizit. All diese Outsider, die ich an jenem Abend erlebte, wirkten auf mich wie ein verschworener Haufen: Sie lebten jenseits der Konventionen. Dagegen kam mir die übrige Welt wie erstarrt vor, höflich, nett, beherrscht von Anstandsregeln und Schularbeiten. In meiner Vorstadtumgebung galt es als primitiv, sich bewusst körperlichen Schmerzen auszusetzen oder seinem Gegner wehzutun. Die Radrennbahn war ein Ventil für das, was unter der dünnen Schicht der Zivilisation brodelte. Dort war es nicht nur erlaubt, sondern wurde sogar belohnt – die ideale Bühne, um meine Ambitionen und verborgenen Antriebe auszuleben. Ich weiß noch, wie ich Jahre später, in der Form meines Lebens, einmal an den Start rollte, meinen Blick über meine Gegner streifen ließ und sadistisch dachte: Heute Abend quäle ich jeden Einzelnen von euch so, wie er noch nie gequält worden ist. Beim Radsport geht es nicht nur darum, selbst zu leiden, sondern auch darum, die anderen leiden zu lassen. Und das zu genießen.

Zum Zeitpunkt meines ersten Besuchs im Velodrom hatte ich bereits begonnen, auf der Straße zu trainieren. Kurz darauf spendierten mir meine Eltern mein erstes Bahnrad, ein gebrauchtes Pinarello Amatore in einem markanten Azurblau und mit den olympischen Ringen auf dem Steuerrohr. Jahre, bevor ich den Führerschein machen durfte, wurde das Fahrrad für mich wie für unzählige Altersgenossen zu einer Fluchtmöglichkeit. Die Ehe meiner Eltern war eine ziemliche Katastrophe, und wenn sie sich wieder einmal anbrüllten, brauste ich auf meinem Rad davon und kehrte erst wieder heim, wenn es im Haus still und dunkel war und die geschlossenen Schlafzimmertüren anzeigten, dass sich der Sturm vorerst gelegt hatte.

In jenem ersten Radsportsommer 1995 nahm ich sowohl an Bahn- als auch an Straßenwettbewerben teil. Oft brachen mein Vater und ich schon in der Morgendämmerung zu einem Ort irgendwo in der Pampa auf. Ende des Jahres war ich zum ersten Mal bei den kalifornischen Juniorenmeisterschaften dabei. Gegen eine lächerlich kleine Konkurrenz gewann ich jede Disziplin. Auch wenn diese Leistung nicht gerade in die Geschichte unseres Sports eingegangen ist, war sie genau die Bestätigung, die ich brauchte. Von nun an wollte ich alles tun, um ein erfolgreicher Radrennfahrer zu werden. Besessen von dem Gedanken, besser zu werden, begann ich mit meinem ersten richtigen Trainer zusammenzuarbeiten, Christopher Campbell. An eisigen Wintertagen ebenso wie an brütend heißen Sommertagen verfolgte er endlose Stunden lang aus dem Innenbereich des Velodroms mein Training. Mit einem Käppi auf dem Kopf und einer Sonnenbrille auf der Nase rief Christopher mir in seinem dröhnenden Bariton die Zeiten zu und gab mir Anweisungen, wie ich auf dem Rad sitzen oder mich bewegen sollte, zum Beispiel: „Arme gerade halten“, „Po weiter nach hinten“, „Schau durch den Vordermann durch“. Von ihm lernte ich, was Radtraining tatsächlich bedeutete, nämlich nicht nur, alles zu geben, sondern auch, durch endlose Wiederholungen ins zentrale Nervensystem einzuschleifen, wie man zugleich natürlich und effizient fuhr.

Als ich anfing, war mir der Radsport als überschaubare Angelegenheit vorgekommen. Daher stellte ich einen einfachen Plan auf: Ich wollte hart trainieren, die Ausrüstung stets tipptopp halten, meine Energie taktisch klug einsetzen – dann würde sich der Erfolg einstellen. Doch je besser ich wurde, desto komplexer wurde es. War das Mentale oder das Körperliche wichtiger? Sich zu verausgaben oder sich zu erholen? Kraft oder Aerodynamik? Natürlich wird jede vermeintlich einfache Aktivität immer komplizierter, wenn man erst einmal anfängt, sie in ihre grundlegenden Einzelteile zu zerlegen. Doch etwas anderes machte mir mehr zu schaffen: Immer, wenn ich dachte, jetzt hätte ich etwas begriffen, wurde genau dieser Aspekt so rätselhaft, dass er fast schon paradox anmutete. Um mich zu verbessern, musste ich aufhören, besser werden zu wollen. Ich musste natürlich trainieren, aber ohne Regenerationspausen brachte alles Training nichts. Am merkwürdigsten war, dass ich gerade dann die beste Leistung ablieferte, wenn ich nicht mehr auf Teufel komm raus gewinnen wollte.

Bis zu unserer Küstentour bleiben mir gut zwei Monate zum Trainieren. Ich habe noch ein paar Outfits von früher, Helme und ein Paar Schuhe. Vor allem besitze ich immer noch das Straßenrad von meinem letzten Sponsor. Es ist mattschwarz, und das Set-up entspricht meiner früheren Rennposition. Der Sattel ist millimetergenau auf die richtige Höhe eingestellt, der Lenker befindet sich, solange ich zurückdenken kann, exakt 61 Zentimeter vor der Spitze meines Lieblingssattels.

Ich fülle meine Trinkflaschen und ziehe mich um – oder lege vielmehr, wie es bei uns immer hieß, die Rüstung an: ein schlichtes schwarzes Trikot, schwarze Shorts und einen Helm meiner alten Mannschaft. Zuletzt ziehe ich die Schnallen an meinen leicht verschrammten Rennschuhen fest und checke noch einmal das Rad durch, dann rolle ich aus der Garage in das helle Nachmittagslicht. Bereits nach wenigen Sekunden kommt mir mein Tritt, auf dessen Geschmeidigkeit ich einst stolz war, irgendwie unrund vor. Ich halte mehrfach an, um die Sattelhöhe nachzumessen. Irgendetwas stimmt mit dem Rad nicht. Auf dem Serpentinenweg bergab stelle ich erleichtert fest, dass ich immer noch genau weiß, wann ich bremsen muss und wie schnell ich am Scheitelpunkt einer Kurve sein darf. Unten in der Ebene angekommen, biege ich von der Hauptstraße ab und lasse mich durch eine Siedlung im pseudofranzösischen Stil treiben. Außer mir sind nur ein paar Jogger und Hundebesitzer auf ihrer nachmittäglichen Runde unterwegs. Die Häuser mit den akkuraten Rasenflächen und makellosen Betonzufahrten gleichen einander wie ein Ei dem anderen – ein einziges, mit Ready-made-Bedeutung aufgeladenes Zitat.

Wir sind erst vor kurzem in meine Heimatstadt Morgan Hill zurückgekehrt. Obwohl die Straßen selbst mehr oder weniger wie früher sind, hat sich die Gegend verändert. Soweit mein Auge reicht, haben neue Siedlungen die früher für das Southern Santa Clara Valley typischen Obstplantagen und Felder verdrängt. Aus der Ferne dringt das Rauschen des vielbefahrenen Highways herüber, der, wie einst die Eisenbahntrasse, die Stadt in zwei Teile trennt. Der Wind zerrt an meinem Rad. Bei einem der wenigen verbliebenen Obsthöfe liegt der süßliche Schwefelduft von in der Sonne trocknenden Aprikosen in der Luft.

Die Straße führt zu einem Staudamm, dessen karge Erdhänge sich in den Hügel graben. Dahinter mache ich kehrt und stemme mich auf der langen schnurgeraden Strecke gegen den heftigen Gegenwind. In der Ferne entdecke ich einen anderen Radfahrer, dem ich bereits zuvor begegnet bin, ein schlaksiger Mittvierziger mit dunklen Haaren auf einem Serotta aus Titan, die Gabel in demselben Orangeton lackiert wie die berühmten Räder von Eddy Merckx’ Molteni-Radrennstall. Ich grüße ihn lächelnd, dann wende ich, um mich noch einmal mit dem Hügel zu messen.

Als ich später den steilen Anstieg nach Hause in Angriff nehme, brennen meine Beine. Mein Atem geht tief und schwer, und mein Herz rast. Rechts von mir führt ein schroffer Abhang in die Tiefe. Mir kommt der rostige Chevrolet in den Sinn, der einst dort unten wie ein Gerippe in der Wildnis lag. Ich wende den Blick ins Tal, doch außer hohen spätsommerlichen Gräsern und Gifteichensträuchern ist nichts zu erkennen. Die Strecke wird immer steiler und mein Tritt immer schwerer. Ich schalte runter, um noch nicht aus dem Sattel gehen zu müssen. Ein Ritzel folgt rasch dem nächsten, bis es nicht mehr klickt. Ich schaue nach hinten auf den Zahnradkranz und kann nicht glauben, dass ich bereits in der niedrigsten Übersetzung unterwegs bin. Direkt vor mir lässt sich eine Krähe auf dem Asphalt nieder und flattert erst davon, als ich sie fast schon überrolle. Da ich keinen Herzfrequenzmesser angelegt habe, nehme ich eine Hand vom Lenker und taste nach meinem Puls. Mindestens 175 Schläge die Minute. Es liegt noch ziemlich viel Arbeit in ziemlich wenig Zeit vor mir, wenn ich die drei harten Tage unserer Tour überstehen will.

Alan Watts, ein Kenner der asiatischen Philosophie und Spiritualität, unterschied in seinem Vortrag „The Nature of Consciousness“ (Das Wesen des Bewusstseins) zwei menschliche Grundtypen: die Stacheligen (englisch prickly) und die Klebrigen (englisch gooey). Während die Stacheligen im Wesentlichen analytisch vorgehen und ein Problem in seine einzelnen Elemente zerlegen, betrachten die Klebrigen die Welt als unteilbare Einheit, die unauflöslich mit einem größeren Ganzen verbunden ist. Watts Kategorien gehen über eine simple Unterscheidung zwischen dem analytischen und dem künstlerischen Naturell hinaus. Ihm zufolge bestehen diese zwei grundlegenden Weltsichten nicht einfach nebeneinander, vielmehr sind beide auf ihren jeweiligen Widerpart angewiesen, damit die eigene Auffassung Sinn ergibt. Jeder von uns neigt zwar einer der beiden Richtungen zu, gleichwohl tragen wir alle die damit verbundenen Spannungen und Gegensätze in uns. Und kein anderer Sport verlangt so sehr nach beidem, nach dem Stacheligen wie dem Klebrigen, wie der Radsport.

Auf den Gelegenheitszuschauer wirkt der Radsport wie eine Domäne der Stacheligen: Die Akteure sind drahtige, von jedem Gramm besessene Fanatiker, die über Cw-Werte und Carbon-Komponenten fachsimpeln. Das trifft schon zu, aber es greift zu kurz. Meine Vorbilder waren nicht analytisch und datengetrieben, sondern sahen den Sport als Möglichkeit, ihren ureigenen Stil und ihre Persönlichkeit auszudrücken – oder, um mit Nietzsche zu sprechen, als Möglichkeit „zu werden, wer sie sind“.

Nietzsche griff sein Leben lang die Vorstellung vom Stil als Medium der Selbstschöpfung auf. Stil war für ihn keineswegs, wie heute für uns, ein oberflächliches Phänomen, ein bloßes Ornament, sondern etwas sehr viel Grundlegenderes. So erklärte er: „Seinem Charakter ‚Stil geben‘ – eine große und seltne Kunst! Sie übt der, welcher alles übersieht, was seine Natur an Kräften und Schwächen bietet, und es dann einem künstlerischen Plane einfügt, bis ein jedes als Kunst und Vernunft erscheint und auch die Schwäche noch das Auge entzückt.“ In Nietzsches Manier begann auch ich mich meinen Stärken und Schwächen zu stellen, den mentalen wie den körperlichen. Meine Bewunderung galt Fahrern wie Frank Vandenbroucke, der bei einer völlig verregneten Straßen-WM auch dann nicht aufgab, als er sich bei einem Sturz beide Handgelenke brach; Wjatscheslaw Jekimow, der oft auf den letzten Kilometern eines Rennens aus dem rasenden Feld heraus attackierte, so aussichtslos das auch sein mochte; oder dem Bahnradweltmeister und Stundenweltrekordler Graeme Obree, einem Außenseiter des Radsport-Establishments, der sein Rad selbst konstruierte und eine vollkommen neue, aerodynamisch überlegene Sitzposition entwickelte. Solche Fahrer waren immer schon rar gesät, heute gehören sie durch die Fortschritte in Wissenschaft und Technik und das zunehmend aus den Begleitfahrzeugen kontrollierte Renngeschehen zu einer aussterbenden Spezies. Dabei offenbart sich die Schönheit des Radsports gerade in den Momenten, da er zum persönlichen Ausdrucksmedium wird und der Prüfung der eigenen Stärken und Schwächen dient; wenn man seinen Willen und seine Persönlichkeit an ihre Grenzen treibt und die Qualen und Herausforderungen des Wettkampfes das eigene Dasein in den Rang eines Kunstwerks erheben.

Die Besessenheit von jedem Gramm und das Messen der eigenen Laktatschwelle haben im modernen Sport zweifellos ihre Berechtigung. Doch ohne die romantische, wenn man so will „klebrige“ Seite von Zufall, Schicksal und Tapferkeit könnte man die Rennen genauso gut ins Labor verlegen und den Gewinner durch einen Vergleich der Leistungsprofile bestimmen.

Als ich Mitte der 1990er Jahre mit dem Radsport begann, lag die Blütezeit dieses Sports in den Vereinigten Staaten bereits Jahrzehnte zurück. Wie bei einer ehemals bedeutenden, inzwischen aber dem Untergang geweihten Herrscherdynastie kursierten jede Menge Geschichten aus dem goldenen Zeitalter des Radsports. Man erzählte uns, wie sich die Zuschauer einst auf den Tribünen gedrängt hatten und die Radrennfahrer des Jazz Age zusammen mit Boxern und Baseball-Spielern im Weißen Haus empfangen worden waren oder wie Ernest Hemingway von der Schönheit und Eleganz des Radsports geschwärmt hatte, den er in seiner Zeit in Frankreich kennengelernt hatte. Von meinen ersten Schritten in diesem Sport an fühlte ich mich als Bestandteil einer im Niedergang begriffenen Tradition, deren einstiger Glanz nur noch in dem kollektiven Gedächtnis ihrer Protagonisten weiterlebte. Bei gemeinsamen Ausfahrten und in bis unter die Decke vollgestopften Fahrradläden wie Shaw’s Lightweight Cycles, wo verblichene Poster früherer Helden die Wände zierten, kursierten Geschichten von glanzvollen europäischen Legenden wie Merckx und Gimondi, Simpson und Hinault. Diese Erzählungen aus einer vergangenen Epoche erweckten in mir eine große Ehrfurcht. Trotz aller Veränderungen waren die Ausrüstung und die großen Events letztlich immer noch dieselben, und aus eigener Erfahrung heraus begriff ich die Qualen und die tiefe Menschlichkeit, die den Leistungen der ganz Großen zugrunde lagen. Jung und unerschrocken, wie wir waren, hofften meine Kameraden und ich, irgendwann in ihre Fußstapfen zu treten. Wenn sie es geschafft hatten, konnten auch wir es schaffen. Davon waren wir überzeugt – auch wenn das verdammt hochgegriffen war.

Mit jeder Trainingseinheit fühle ich mich auf dem Rad wieder wohler. Zum ersten Mal seit Jahren erlebe ich die Ruhe und Zufriedenheit, die nach einem harten Training Körper und Geist erfassen. Langsam verschmelze ich erneut mit dem Rad, bis ich vollkommen unbewusst in die Pedale trete oder nach dem Bremshebel lange. Da ich mich noch nicht bereit fühle, gemeinsam mit anderen Fahrern zu trainieren, verausgabe ich mich allein auf denselben Straßen wie früher: Rodeo Gulch, Redwood Retreat und Old Mt. Madonna. Schon ihre Namen verraten, wie einsam und abgelegen sie sind – nicht selten führen sie nur zu irgendwelchen Hütten, deren Bewohner keinen Wert auf Besuch legen.

Wenn ich im Morgendunst auf diesen rissigen, holprigen Straßen unterwegs bin, steigt mir stets derselbe unverwechselbare Duft von Eichen und Kiefern in die Nase. Für den großen Philosophen Martin Heidegger war das wahre philosophische Denken wie eine Wanderung, und sogar das Verb „lernen“ bedeutet in seinen indogermanischen Ursprüngen „einer Spur nachgehen“. Auf dem Fahrrad erfährt man den Weg stets als etwas erst Werdendes. Er verweist auf ein endgültiges Ziel, das man jedoch nie erreicht. Wenn am Mythos vom amerikanischen Leben überhaupt etwas dran ist, etwas Wundervolles und Erlösung Verheißendes, so ist das die Vorstellung, für sich allein die grenzenlose Weite zu erleben, sei es in Gestalt des Cowboys, der auf dem Rücken seines Pferdes die Steppe durchquert, oder des Cadillac-Fahrers, der in der sengenden Sonne über verlassene Highways rauscht. Es ist ein uramerikanischer Gedanke, dass die Landschaft, in der wir unterwegs sind, den Kern unseres Daseins prägt. Als ich wieder zu trainieren beginne, erkenne ich in der Tat, dass ich diese alten, ins Nirgendwo hinführenden Straßen die ganze Zeit in mir getragen habe, wohin auch immer es mich in der Zwischenzeit verschlagen hatte.

Ich genieße die Stunden auf dem Rennrad. Zugleich fressen sie meine Zeit auf – nicht einberechnet all die Dinge, die damit einhergehen und die ich vollkommen verdrängt habe. Dehnübungen, das Rad pflegen und warten, Berge an Sportkleidung waschen. Am zeitaufwendigsten ist mein ständiger Heißhunger, denn mein Körper hat sich wieder daran gewöhnt, täglich Tausende Kalorien zu verbrennen. Wie soll ich sie ihm nur zuführen? Ursprünglich hatte ich mir von unserer Drei-Tage-Tour schlicht Abwechslung versprochen, um mich dann mit neuem Schwung an den Schreibtisch setzen zu können. Stattdessen geht all meine Energie für das Training drauf, sodass ich mich zu nichts anderem mehr aufraffen kann. Meine Frau Denika, eigentlich der nachsichtigste Mensch auf Erden, will wissen, warum ich mich bloß auf diese Geschichte eingelassen habe, und mein fünfjähriger Sohn Graeme, der mich bis jetzt noch nie im Radleroutfit gesehen hat, fragt mich, ob ich wieder Profi werden wolle. Nein, versichere ich ihm. Angesichts von Job und Familie kommt mir mein wöchentlicher Trainingsumfang maßlos vor, dabei ist es noch nicht einmal ein Viertel von dem, was ich früher Woche für Woche abgerissen habe.

Während ich mich nach dem Training dehne, kommt mir in den Sinn, was Zach einmal sagte. Das war einige Jahre, nachdem wir beide unsere Karriere an den Nagel gehängt hatten und von unserer hart erarbeiteten Fitness so gut wie nichts mehr übriggeblieben war: „Findest du es nicht merkwürdig, dass wir all die Jahre für etwas geschuftet haben, und jetzt ist alles weg? Wenn wir uns heute auf ein Rad setzen, sind wir nicht besser als andere, die das alles nicht hinter sich haben.“ Unweigerlich drängt sich mir der Gedanke auf, was wohl aus uns geworden wäre, wenn wir dieselbe Zeit für etwas Nachhaltigeres aufgewendet hätten, für etwas, das weniger vergänglich als das Radfahren ist. Auch wenn ich mich allmählich wieder wie ein Leistungssportler fühle, ist mir klar, dass ich mein früheres Niveau nie mehr erreichen werde.

Zunächst wurde ich nur gelegentlich in den Olympia-Stützpunkt eingeladen, zu einem kurzen regionalen Trainingslager oder einem sogenannten Sichtungslehrgang. Mit der Zeit wurden die Aufenthalte länger und intensiver. Eines Tages schließlich holte meine Mutter mich von der Schule ab und eröffnete mir, der Nationaltrainer habe angerufen, weil ich fürs Team nominiert worden sei.

Das olympische Trainingszentrum war in einer ehemaligen Air Force Base in Colorado Springs untergebracht, hoch oben in den Rocky Mountains. Die Wände der jugendherbergsartigen Zimmer bestanden aus Schlackenbetonsteinen, die unzählige Male weiß überpinselt worden waren. Wir schliefen zu viert in einem Zimmer, pro Stockwerk gab es ein Gemeinschaftsbad. Für unsere Verpflegung wurde gesorgt, außerdem standen uns Mechaniker und Physiotherapeuten zur Verfügung, und die Radrennbahn lag direkt um die Ecke. Bei den Trainingseinheiten auf der Straße fuhren wir im Nationaltrikot in Zweierreihen. Uns war bewusst, dass die Trainer im Begleitfahrzeug hinter uns jeden einzelnen Pedaltritt mit Argusaugen registrierten. Unser Schicksal lag in ihren Händen. Doch am lebhaftesten erinnere ich mich an den Raum mit den Rollentrainern.

Lange vor dem Zeitalter der digitalen Hometrainer, auf denen man sich in virtuellen Rennen mit anderen im Internet messen kann, haben Radprofis, insbesondere die Bahnfahrer, diese sogenannten Rollentrainer genutzt. Das ist ein Gestell mit zwei Rollen hinten, von denen ein Riemen nach vorne führt und eine dritte Rolle antreibt. Als Fahrer muss man die Balance halten und seine Kraft während des gesamten Trittvorgangs gleichmäßig einsetzen, will man nicht unsanft auf dem Boden landen. Das erfordert einige Übung. Ein Amateur mit unrundem Tritt produziert auf dem Rollentrainer ein Geräusch wie ein hochdrehender Motor, bei einem Könner mit gleichmäßigem Tritt vernimmt man dagegen nur ein monotones Sirren. Wenn wir bei schlechtem Wetter nicht draußen trainieren konnten, versammelten wir uns in einer Reihe auf den Rollentrainern und strampelten mit dem Gesicht zur Wand drei oder vier Stunden ohne Pause. Genauso würden es die Athleten in der Sowjetunion und in der DDR machen, versicherte man uns. Das Ziel war nicht nur körperliche Fitness, sondern auch mentale Abhärtung.