Die Kunst des Widerstands -  - E-Book

Die Kunst des Widerstands E-Book

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Beschreibung

Dieses Buch ist Marlies Krainz-Dürr anlässlich ihres Ausscheidens aus der Funktion der (Gründungs-)Rektorin der Pädagogischen Hoch schule Kärnten gewidmet. Aus ihrem breiten Tätigkeitsbereich wurden vier Themenbereiche gewählt – Schulentwicklung, Führen und Leiten, Lehrer*innenbildung sowie Zwei- und Mehrsprachigkeit –, die sie über einen langen Zeitraum theoretisch und/oder praktisch intensiv begleitet hat. Als Titel der Festschrift wurde "Die Kunst des Widerstands" gewählt, weil die Herausgeber*innen – und offensichtlich auch viele der Autor*innen – der Geehrten ein adäquates Maß an Widerständigkeit nach innen und außen, nach unten und oben, aber auch gegen sich selbst und andere zuschreiben. Marlies Krainz-Dürr ist und war nie eine, die auf Problemlösungen von anderen oder gar "von oben" gewartet hätte oder sich unreflektiert etwas "aufdrängen" ließe, ohne sich selbst ein Bild zu machen und aktive Bei träge und nötigenfalls kritische Rückmeldungen zu leisten.

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Gabriele Fenkart | Gabriele Khan-Svik | Konrad Krainer | Norbert Maritzen (Hrsg.)

Die Kunst des Widerstands

Klagenfurter Beiträge zur Bildungsforschung und Entwicklung Band 6

Die Reihe stellt Forschungsergebnisse der Pädagogischen Hochschule Kärnten – Viktor Frankl Hochschule zu aktuellen pädagogischen Themen und Entwicklungen vor. Dem liegt ein Bildungsverständnis zugrunde, das Bildung nicht nur auf die lernenden Individuen (Schüler*innen, Eltern, Studierende, Lehrer*innen, Leitungspersonen) und die gesellschaftlichen Bedingungen und Hindernisse bezieht, sondern auch auf lernende Organisationen und Systeme. Es werden sowohl theoretische Grundlagen, empirische Studien wie auch handlungsleitende Konzeptionen und Entwicklungsvorhaben präsentiert, um unterschiedliche Zugänge und Sichtweisen aufzuzeigen und zur Diskussion zu stellen. Die Reihe versteht sich als Brücke zwischen Theorie und Praxis.

Herausgegeben von der Pädagogischen Hochschule Kärnten – Viktor Frankl Hochschule

Gabriele Fenkart | Gabriele Khan-Svik | Konrad Krainer | Norbert Maritzen (Hrsg.)

Die Kunstdes Widerstands

Festschrift für Marlies Krainz-Dürr

 

 

© 2022 by Studienverlag Ges.m.b.H., Erlerstraße 10, A-6020 Innsbruck

E-Mail: [email protected]

Internet: www.studienverlag.at

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder in einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-7065-6275-1

Buchinnengestaltung nach Entwürfen von himmel. Studio für Design und Kommunikation, Scheffau – www.himmel.co.at

Satz und Umschlag: Maria Strobl – www.gestro.at

Umschlagillustration: © Creative Mood / Fotolia (Bearbeitung: Erweiterung der Grafik und Änderung der Farbgebung)

Dieses Buch erhalten Sie auch in gedruckter Form mit hochwertiger Ausstattung in Ihrer Buchhandlung oder direkt unter www.studienverlag.at

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Gabriele Fenkart, Gabriele Khan-Svik, Konrad Krainer, Norbert Maritzen

Prolog

Antigone oder Widerstand ist keine Kunst

Konrad Paul Liessmann

Schulentwicklung

Wie Schulen lernen können

Konrad Krainer

Vom Widerstand zum Blickwechsel – Lösungen durch Zweites Denken

Uwe Hameyer

Das Team als Ort der Lernquelle und Konfliktkultur

Martina Krieg

Schulentwicklung und Fachdidaktik – ein Gegensatz?

Peter Posch, Franz Rauch

Können Schul- und Hochschulentwicklung einander beeinflussen?

Bernhard Schmölzer, Christina Morgenstern, Christine Ragginer, Sabine Seidl, Claudia Taurer-Zeiner

Widerstand im Modell Fortbildung Kompakt

Isolde Kreis, Dagmar Unterköfler-Klatzer

Das pädagogische Paradoxon: Anleitung zur Selbstständigkeit

Thomas Stern, Heimo Senger

Führen und Leiten

Können Bildungsinstitutionen geführt werden?

Norbert Maritzen

Ready to be a teacher! Soziale Kompetenz als Missing Link in der Lehrer*innenausbildung

Ruth Erika Lerchster

Über österreichische Schulleiter*innen, die „Veränderung“ können (sollen) – erste Folgerungen aus der S-CLEVER Studie

Stefan Brauckmann-Sajkiewicz, Lorenz Lassnigg, Tobias Feldhoff, Katharina Maag Merki, Nina Jude, Falk Radisch

Gerechtes Schulleitungshandeln oder

the dark side of the moon Nils Berkemeyer

‚Autonomie‘ Pädagogischer Hochschulen: Entwicklungs- und Argumentationslinien

Katharina Soukup-Altrichter, Herbert Altrichter

Ein Blick in den Rückspiegel

Ewald E. Krainz

Über k. und k. – oder: der Widerstand der Freiheit

Erwin Rauscher

Lehrer*innenbildung

Nur die Besten bilden Lehrer*innen bilden Schüler*innen

Gabriele Fenkart

Genie und Urteilskraft: Nur die Besten sollen Lehrkraft werden

Stefan Hopmann

Pädagogische Hochschulen im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und berufspraktischer Ausbildung

Willi Stadelmann

„You see the impact that you are having on the students’ lives“: Förderung einer Lern- und Leistungskultur in hocheffektiven Turnaround-Schulen in England und Ideen für die Aus- und Fortbildung von Lehrkräften

Roland Bernhard, Ulrike Greiner

Wettbewerb 2018: Behindertengerechte Gestaltung der Aula

Inge Vavra

Was bedeuten die Widerständigkeiten der Praxis gegen Inklusion für die Lehrer*innenbildung?

Almut E. Thomas, Karin Herndler-Leitner

Pädagog*innenbildung im Verbund und darüber hinaus

Elgrid Messner

Zwei- und Mehrsprachigkeit

Zwei- und Mehrsprachigkeit als schulische Normalität

Gabriele Khan-Svik

Translanguaging für autochthone Minderheiten?

Georg Gombos

Paradigmenwechsel im Kontext von Zwei- und Mehrsprachigkeit an der Pädagogischen Hochschule Kärnten

Vladimir Wakounig, Magdalena Angerer-Pitschko

„Eine Vielzahl von Möglichkeiten [...], Mehrsprachigkeit sinnvoll in den Unterricht zu integrieren“ – mehrsprachige Ansätze in der Lehrkräfteprofessionalisierung

Stefanie Bredthauer, Evghenia Goltsev

Bildungserfolg trotz Schule? Visionen für eine Schule der Zukunft

Erol Yıldız

Mut zum (produktiven) Streit

Cristina Beretta

Knock, knock, knockin’ on heaven’s door. Des blinden Sehers Teiresias Prolegomena zur Apotheose der Magistra Carinthiae

Dietmar Larcher

Epilog

Persönliche Worte zu einem langen gemeinsamen Weg

Helmut Zwander

Wiederstand ist eine Kunst – Von Anfang bis Zuneigung. Ein Glossar als|über|zum Widerstand

Werner Wintersteiner

Lebenslauf Marlies Krainz-Dürr

Schriftenverzeichnis Marlies Krainz-Dürr

Autorinnen und Autoren

Einleitung

Dieses Buch ist Marlies Krainz-Dürr anlässlich ihres Ausscheidens aus der Funktion der (Gründungs-)Rektorin der Pädagogischen Hochschule Kärnten gewidmet. Es nimmt nicht Bezug auf das Erreichen eines bestimmten Lebensalters, denn das allein stellt nicht unbedingt eine Leistung dar, ist es doch eher ein unverschuldetes Ereignis, sondern es soll den würdigen Abschluss einer 15-jährigen Tätigkeit als Leiterin einer tertiären Bildungsinstitution in der stürmischen Phase des Aufbaus bilden.

Aus dem breiten Tätigkeitsbereich wurden von uns drei Themenbereiche gewählt, die sie über einen langen Zeitraum theoretisch und praktisch intensiv begleitet hat – Schulentwicklung, Führen und Leiten sowie Lehrer*innenbildung. Den vierten in diesem Buch vertretenen Bereich – Zwei- und Mehrsprachigkeit, ein Thema, dem angesichts der Zweisprachigkeit in Kärnten besondere Bedeutung zugemessen wird – hat sie organisatorisch in umfassendem Maße unterstützt.

Die genannten Themenbereiche werden in den vier Abschnitten des Buches behandelt. Jeweils vier längere Beiträge setzen sich theoretisch und praktisch mit den Themen auseinander, gefolgt von kürzeren Texten, die als „Beobachtungen“ entweder auf Marlies Krainz-Dürr als Person oder auf gemeinsame Erfahrungen Bezug nehmen. Im Prolog eröffnet Konrad Paul Liessmann die Auseinandersetzung mit dem Begriff und führt uns philosophierend in die Antike, wo so mancher „Widerstand“ Leib und Leben kostete.

Nach den Beiträgen in den vier thematischen Bereichen – jeweils von einem Mitglied des Herausgeber*innenteams eingeleitet – folgen zwei abschließende Texte: Helmut Zwander erinnert sich an den langen gemeinsam beschrittenen Weg und Werner Wintersteiner beschließt den Reigen mit einem essayistischen „Glossar als|über|zum Widerstand“, in dem er im bewusst falsch geschriebenen „Wiederstand“ mit der Kunst des Immer-wieder-Stehens, also der Resilienz, spielt.

Als Titel der Festschrift haben wir „Die Kunst des Widerstands“ gewählt, weil die Herausgeber*innen – und offensichtlich auch viele der Autor*innen – der Geehrten ein adäquates Maß an Widerständigkeit nach innen und außen, nach unten und oben, aber auch gegen sich selbst und andere zuschreiben. Marlies Krainz-Dürr ist und war nie eine, die auf Problemlösungen von anderen oder gar „von oben“ gewartet hätte oder sich unreflektiert etwas „aufdrängen“ ließe, ohne sich selbst ein Bild zu machen und aktive Beiträge und nötigenfalls kritische Rückmeldungen zu leisten. Es ist ihr wichtig, dass ein Team, ein Netzwerk, eine Organisation sich autonom Gedanken macht, kritisch reflektiert, nach konstruktiven Schritten und Strategien sucht. Wenn sich ein Team, ein Netzwerk, eine Institution, das/der sie angehört oder das/die sie sogar leitet, kritischen Auseinandersetzungen nicht stellen, sich nicht hinterfragen, bewegen oder erneuern will, so können diese ihre Widerständigkeit erfahren. Dann kann es auch ungemütlich werden mit ihr. Aufoktroyieren, Intransparenz, Stillstand, Trägheit, Verharren sind nicht ihres, dem muss etwas entgegengesetzt werden. Eine mündige Bürgerin widerspricht und widersteht, damit etwas Ungewolltes uns nicht widerfährt. Wo gearbeitet wird, da fallen auch Späne und manchmal auch starke Worte. Es muss nicht immer alles eitel Wonne sein, es braucht auch frische Luft und davor vielleicht auch einen Sturm oder starken Regen. Es kann auch zeitweilige Anflüge von Hartnäckigkeit, Irritationsfreude und Temperamentpeaks geben, aber es gibt ein Vielmehr an friedvoller Kreativität, konstruktiver Planung, ernsthafter Reflexion, gemeinsamem Lachen und künstlerischer Leichtigkeit. Diese Mischung aus süß-sauer, sanft-weich, schwer-leicht, aber immer nach vorn gerichtet, lockert Meinungen wie Stimmungen auf, wandelt Widerständigkeit oftmals in ein neues Betrachten der Situation durch die Betroffenen bis hin zu sich selbst. Ob man das als Kunst des Widerstands oder als kunstvolle Widerständigkeit oder etwas anderes bezeichnet, ist sekundär.

Wie auch immer, wir waren uns sicher, dass die Autor*innen ihre persönlichen und professionellen Zugänge zur „Kunst des Widerstands“ finden werden, von der Antike bis hin zur heutigen Zeit.

Zum Abschluss noch eine formale Bemerkung: Der Text der Autorin und der Text des Autors aus der Schweiz sind in Schweizer Rechtschreibung verfasst.

Die Herausgeberinnen und HerausgeberGabriele Fenkart, Gabriele Khan-Svik, Konrad Krainer, Norbert Maritzen,Klagenfurt 2022

Prolog

Konrad Paul Liessmann

AntigoneoderWiderstand ist keine Kunst

Den Begriff des Widerstands umgibt seit geraumer Zeit eine heroische Aura. Sie zehrt von den Widerstandsbewegungen und Widerstandskämpfern1, die sich unter extremen Bedingungen der totalitären Herrschaft des Nationalsozialismus entgegengestellt haben. Von paramilitärischen Aktionen über geplante und misslungene Attentate auf Adolf Hitler bis zum Kampf um das nackte Überleben in den Konzentrationslagern (Därmann, 2021, S. 84–85) reichten die Formen, in denen sich dieser Widerstand ausdrückte. Auf dem Spiel standen dabei immer das eigene Leben und Überleben. Dieser historisch eingrenzbare Widerstand und das davon später abgeleitete Widerstandsrecht setzte und setzt eine Herrschaft des Unrechts voraus, die den Widerstand dagegen, also gegen Organe, Einrichtungen, Intentionen und Institutionen des Unrechtsstaates, moralisch legitimierten. Dass Widerstand zur Pflicht wird, wenn staatliches Recht die Form des Unrechts, der Willkür, der Menschenrechtsverletzung annimmt und infolgedessen Individuen oder Gruppen aufgrund ihrer ethnischen, religiösen, sexuellen oder sprachlichen Identität verfolgt, vertrieben und vernichtet werden, gehört zu den Übereinkünften, auf denen die Zivilisation der Nachkriegsordnungen beruht.

Bei der terminologischen Einordnung von Aktionen und Bewegungen gegen totalitäre Herrschaftsformen gibt es dabei feine Unterschiede. So werden die Akteure, die gegen stalinistische und poststalinistische Systeme im kommunistischen Herrschaftsbereich kämpften, selten als Widerstandskämpfer, sondern eher als Regimegegner oder Regimekritiker bezeichnet. Darin drückt sich auch das lange Zögern aus, das vornehmlich die westeuropäische Linke in Hinblick auf die Einschätzung des Kommunismus an den Tag gelegt hatte. Bei allen Brutalitäten, die kommunistische Herrschaftsformen gezeitigt hatten, war man lange geneigt, darin nur Verirrungen auf einem an sich richtigen Weg zu sehen. Diese konnte man vielleicht kritisieren, aber dagegen prinzipiell Widerstand zu leisten, wäre den intellektuellen Sympathisanten des Kommunismus doch zu weit gegangen.

Fraglich jedoch, ob jede Form des Aufstands und der Rebellion gegen ein als unrechtmäßig oder überholt empfundenes Regime als Widerstand bezeichnet werden sollte. Revolutionen, Revolten und Rebellionen drücken eine politische Dynamik aus, die mit dem Begriff des Widerstands nur unzureichend erfasst werden kann. Der moralische Wert des Widerstands ist an ein individuelles Handeln gebunden, das oft ausweglos erscheint und nicht in Formen des organisierten Protestes und Kampfes eingebunden ist. Die Bereitschaft zum Widerstand erscheint dann als eine Frage des Gewissens, der Haltung, der Überzeugung, der Opferungsbereitschaft eines einzelnen Menschen, die durchaus in der Teilnahme an einer Bewegung, einer konspirativen und koordinierten Form ziviler und militärischer Einsatzbereitschaft münden kann.

Der Nimbus, der den Widerstand umgibt, ist nicht unabhängig davon, gegen wen und gegen welche Zustände Widerstand geleistet und moralisch legitimiert werden muss. Nicht jeder Putschversuch oder politisch motivierte Terroranschlag kann als Widerstand gewertet werden. Auch wenn es aus der Innenperspektive von Aktivisten immer so aussieht, dass sie gegen ungerechte und inhumane Verhältnisse aufbegehren und deshalb das Widerstandsrecht für sich beanspruchen, muss doch zwischen den politischen Ordnungen unterschieden werden, innerhalb derer der Widerstand gesetzt wird. Zum Selbstverständnis rechtsstaatlich verfasster Demokratien gehört, dass es für die Artikulation von Kritik und die Durchsetzung politischer Vorstellungen genug legale Mittel gibt, die ein Widerstandsrecht obsolet erscheinen lassen. Zivilgesellschaftliche Akteure, die dennoch mit dem Bruch der Legalität kokettieren, müssen deshalb auch demokratischen Staaten autoritäre Tendenzen, einen verborgenen Faschismus oder systemische Gewaltverhältnisse unterstellen, um ihren Widerstand moralisch zu nobilitieren.

Wie prekär solche Ansprüche auf Widerstand werden können, zeigte sich nicht nur im Falle der Roten Armee Fraktion (RAF), die glaubte, einen bewaffneten Kampf gegen eine funktionierende Demokratie führen zu müssen, und dabei vor Brandlegungen, Geiselnahmen, Erschießungen und Morden nicht zurückschreckte, sondern auch in jenen aktuellen Widerstandsposen, die im Zuge der Demonstrationen gegen die Maßnahmen, die verschiedene Regierungen gegen die Verbreitung des Coronavirus gesetzt hatten, zur Schau gestellt wurden. Die Verblüffung, die sich einstellte, als sich „Jana aus Kassel“, eine junge, von der Polizei völlig unbehelligte Demonstrantin, mit Sophie Scholl, die von den Nazis hingerichtet worden war, verglich, war dann auch unübersehbar. Unter den gegebenen Bedingungen schien die Berufung auf diese Widerstandskämpferin entweder Ausdruck mangelnder Geschichtskenntnisse oder blanker Hohn (Pichler, 2020). Die Frivolität, mit der bei genehmigten Demonstrationen gegen Coronamaßnahmen und Impfpflicht das Recht auf Widerstand auch von jenen beschworen wird, die in einer geistigen Nähe zum Rechtsradikalismus stehen, verweist darauf, dass der Widerstand zu einer pathetischen Geste entleert wurde, um nahezu jede Form von Unbehagen, Dissens oder auch nur eine pubertäre Lust am Protest mit einer politischen Weihe zu versehen. In diesem Sinne ist Widerstand wahrlich keine Kunst.

Die Idee des Widerstands ist durch solch eine Ambivalenz allerdings grundlegend gekennzeichnet. Selten sind die Verhältnisse so klar, dass zwischen einer illegitimen Herrschaft, die jede Form des Widerstands zu einem legitimen und moralisch wertvollen Akt werden lässt, und Rechtsverhältnissen, die Widerstand selbst als prekären Akt der Durchsetzung partikularer Interessen am Rande oder jenseits der Legalität erscheinen lassen, ohne langes Nachdenken unterschieden werden könnte. Diskutieren lässt sich diese Ambivalenz am besten noch immer anhand der paradigmatischen mythischen Widerstandsfigur, an Antigone, vornehmlich in der uns von Sophokles überlieferten Tragödie.

Dazu vorab einige grundsätzliche Überlegungen. Was hält der Mythos, was halten Mythen an sich für uns bereit? Wollen wir uns vor allzu einfachen und doch naheliegenden Aktualisierungen hüten, stellt der Mythos vorab eine Provokation für das rationale Denken dar. Auch wenn die alte und beliebte These, dass es einen geradlinigen Weg des europäischen Denkens „vom Mythos zum Logos“ gegeben hätte (Nestle, 1940), mittlerweile an Plausibilität verloren hat und, nach einem Wort von Hans Blumenberg, der Mythos selbst ein „Stück hochkarätiger Arbeit des Logos“ darstellt (Blumenberg, 1979, S. 18), bleibt die beunruhigende Einsicht, dass in der mythischen „Rede“ die Welt in einer poetischen Form hervorgebracht wird, die sich weder an unseren Kriterien für Literatur noch an den Bedingungen für eine vernunftgeleitete Durchdringung der Welt messen lässt. Der Mythos repräsentiert aber auch nicht schlechthin ein religiöses Denken. Selbst wenn Götter in den meisten Mythen eine Rolle spielen – beileibe nicht in allen –, kennen Mythen weder Dogmen noch Gläubigkeit im strengen Sinn. Es gibt deshalb – zu unserer Freude – von jedem Mythos unzählige Varianten. Die literarisierten Formen der Mythen, an denen wir uns heute orientieren, stellen immer schon Versuche dar, den Mythos einem ästhetischen und im Falle der griechischen Tragödie auch einem politischen Programm anzuverwandeln.

Mythen verkünden keine Lehre, sondern erzählen Geschichten. Im Mythos ereignen sich Schicksale und Konflikte vor der Folie einer Welt und einer Weltsicht, die nicht mehr unsere ist. Dennoch markieren diese Erzählungen Bruchlinien, die aus unserem Leben weder eliminiert noch ein für alle Mal gekittet werden konnten. Das Spannende am Mythos ist diese Einheit von Vertrautheit und Fremdheit, von anstößiger archaischer Denkweise und einer unüberbietbaren Einsicht in die Verfasstheit des menschlichen Daseins.

In der Antigone des Sophokles verdichtet sich diese Ambivalenz in mehrfacher Hinsicht. Dies lässt sich an einigen Aspekten zeigen, die im weiteren Sinn das Feld der Moral, im engeren Sinn die Frage nach dem Bösen und in einem politischen Sinn das Recht auf Widerstand thematisieren. Antigone, die Tochter des Ödipus, will, gegen den Beschluss und Befehl Kreons, des alten und neuen Königs von Theben und Vater ihres Verlobten Haimon, ihren Bruder Polyneikes begraben. Kreon hatte angeordnet, dass der Leichnam des Polyneikes vor den Stadtmauern den Hunden zum Fraß dienen sollte. Da Kreon Polyneikes für einen Hochverräter hielt, der sich gegen seinen Bruder Eteokles und gegen Theben gestellt hatte, wollte er durch diese grausame Anordnung seiner Macht und dem Gesetz der Stadt Geltung verschaffen. Dem widersetzt sich Antigone, die ihren Bruder begräbt, dies Kreon gegenüber einbekennt, von ihm verurteilt wird und, kurz bevor Kreon durch die Mahnung des Sehers Teiresias einsichtig geworden ist, gemeinsam mit Haimon Selbstmord begeht.

Wir tendieren gerne dazu, dieses Stück in einer glatten Schwarz-Weiß-Manier zu lesen. Auf der einen Seite Kreon, machtgierig, grausam, unbeherrscht, jähzornig, tyrannisch (bei Bertolt Brecht mutiert er vom Verteidiger Thebens zu einem Aggressor und Kriegstreiber), auf der anderen Seite Antigone, die moralisch Integre, Unbeugsame, nur ihrem Gewissen Verpflichtete, Ur- und Vorbild für Zivilcourage, für den Widerstand der Ohnmächtigen, der Außenseiter, der Frauen gegen die illegitime Macht der Männer. Wie leicht war es zum Beispiel vor wenigen Jahren im Widerstand der Kapitänin Carola Rackete gegen die italienische Regierung, gegen den damaligen Innenminister Matteo Salvini, in der Frage der Seenotrettung dieses Modell wiederzuerkennen: der ewige Kampf von Gut gegen Böse, von Humanität gegen Grausamkeit, von Empathie gegen Hass und Unmenschlichkeit. „Nicht mitzuhassen, mitzulieben bin ich da“ – das ist das immer wieder zitierte und strapazierte Programm der Tochter des Ödipus2, und der Tagesspiegel nannte dann folgerichtig die mutige Kapitänin die „Antigone aus Kiel“ (Dernbach, 2019). Allein, der Mythos beziehungsweise die Gestalt, die ihm Sophokles gegeben hat, sprechen auch noch eine andere Sprache.

Das antike Denken kannte den schroffen Gegensatz von Gut und Böse, wie er vor allem durch die christliche Moral verbreitet wurde, gar nicht. In Kreon und Antigone stehen sich nicht Gut und Böse gegenüber, sondern zwei Personen, die auf mehreren Ebenen in einen tragischen Konflikt miteinander geraten. Und tragisch ist dieser Konflikt deshalb, weil es auf beiden Seiten gute Argumente und legitime Interessen gibt, diese aber nicht harmonisiert werden können. Georg Wilhelm Friedrich Hegel hat in seiner umstrittenen Interpretation der Antigone darauf hingewiesen, dass sich in dieser Tragödie der fundamentale Konflikt zwischen den politischen Interessen des Staates auf der einen und den religiös fundierten Bindungen der Familie auf der anderen Seite verdeutlicht: „Da kommt die Familienliebe, das Heilige, Innere, der Empfindung Angehörige, weshalb es auch das Gesetz der unteren Götter heißt, mit dem Recht des Staats in Kollision.“ (Hegel, 1969, S. 133) Der Staat, Kreon, will seine Interessen als Interessen der Polis in einem allgemeinen Gesetz durchsetzen – ohne Ansehen der Person. Antigone setzt dem die Pflicht dem toten Bruder gegenüber entgegen, sie beruft sich dabei auf das göttliche Recht, das über den irdischen Belangen steht.

In dieser Konstellation zeigen sich gleichermaßen archaische wie moderne Züge. Oder anders formuliert: Jede sinnige Aktualisierung müsste das Archaische in unserer modernen Gesellschaft durchschimmern lassen. Die Provokation dieser Handlung besteht nicht zuletzt darin, dass Kreon als der „moderne“ Typus gesehen werden muss. Er setzt auf den Staat, die Polis, als den verbindlichen Rahmen des Zusammenlebens. Das ist zwar noch kein Rechtsstaat, aber in der ersten Konfrontation mit dem Chor versichert Kreon, dass seine Herrschaft ihren Maßstab am Wohlergehen der Gemeinschaft hat. Diese weist nicht mehr die Struktur einer Familie oder eines Clans auf, sondern gründet in einem Recht, das zwar Kreon verkörpert, dem sich aber doch alle unterwerfen müssen – sein Sohn genauso wie die Königstochter Antigone. Antigone hingegen steht für eine soziale Ordnung, in der Religion und Familie dominant sind, sie beruft sich auf eine göttliche Ordnung, um ein altes Ritual gegen das Verbot von Kreon durchzusetzen. Antigone, scharf gefasst, verkörpert nicht eine „höhere“ Moral, sondern demonstriert die „Suspension“ der Moral, gefasst als Rechtsordnung, durch die Berufung auf ein göttliches Gebot. Interessanterweise hat Søren Kierkegaard diesen Konflikt nicht in seiner exzentrischen Deutung der Antigone thematisiert (Kierkegaard, 1993, S. 182–196), sondern in seiner Analyse der biblischen Geschichte von der Opferung Isaaks durch Abraham (Kierkegaard, 1988, S. 49–62). Die Moral der Antigone, die auf ein höheres Prinzip verweisen kann, steht quer zur Moral der Gesellschaft, und dieser Konflikt wird immer dann aufbrechen, wenn religiöse oder quasireligiöse Haltungen gegen die brüchige und auf gesellschaftlichen Konsens angewiesene Rechtsordnung eines Staates stehen, der nie den Prinzipien einer reinen, noch dazu transzendent begründeten Moral wird folgen können. Oder, um mit Hegel zu sprechen: Es stehen sich in diesem tragischen Konflikt zwei Konzepte von Sittlichkeit gegenüber: das „göttliche“ und das „menschliche“ Gesetz (Hegel, 1970, S. 328–332).

Der Mythos erlaubte es uns so, das manichäische Denken unserer Zeit – Rackete gegen Salvini, Rechts gegen Links, Dunkeldeutschland gegen Helldeutschland, Impfgegner gegen Impfbefürworter, Maßnahmenkritiker gegen Regierungstreue, Aufgeklärte gegen Verschwörungsphantasten – zu relativieren und in richtige Perspektiven zu rücken. Es gibt einen objektiven Konflikt zwischen den Erfordernissen allgemeiner und verbindlicher Rechtsordnungen und moralischen Konzepten beziehungsweise dem subjektiven Moral- und Gerechtigkeitsempfinden von Menschen. Dieser Konflikt ist in vielen Fällen nicht oder zumindest nicht so einfach lösbar. Aber es gilt, die Tragödie zu vermeiden.

Verschärft wird bei Sophokles dieser Konflikt freilich durch die besonderen charakterlichen Ausprägungen der handelnden Personen. Kreon ist starrsinnig, brutal, besessen von der Idee, sein Verbot – das nicht mehr als ein symbolischer Akt ist – gegen jeden Widerstand und auch gegen jede abwägende Vernunft durchzusetzen. Antigone ist ähnlich starrsinnig, überzeugt von ihrer Mission, bereit, dafür ihr Leben und wenn es sein muss, auch das ihrer Schwester und ihres Verlobten zu opfern. Besessen von der Idee, das Richtige zu wissen und tun zu müssen, verachtet sie alle – zum Beispiel Ismene –, die sich hier etwas zögerlicher, abwägender verhalten. Antigone trägt, modern gesprochen, Züge von moralischem Fanatismus. So ist das bittere Ende unausweichlich. Im antiken Kontext auch deshalb, weil der Fluch, der über dem Geschlecht der Labdakiden liegt, sich hier fortsetzen muss. Antigone weiß: Sie ist die „Allerletzte des Königsgeschlechts“. Modern formuliert: Die Gespenster der Vergangenheit bestimmen auch die Deutung und damit die Schärfe aktueller politischer und moralischer Konflikte.

War der Mensch im Mythos wirklich nur Spielball der Götter? Sophokles’ Antigone enthält eine der berühmtesten Chorstrophen des antiken Dramas, die uns erstaunen lässt über die souveräne Selbstbeschreibung des Menschen, der hier Ausdruck verliehen wird: „Ungeheuer ist viel. Doch nichts / Ungeheuerer als der Mensch.“ Was aber ist dieses Ungeheure am Menschen? Was zeichnet den Menschen aus, dass er zu solch einem einzigartigen ungeheuren Wesen wird? In eindringlichen Worten beschwört der Chor den Menschen in all seiner Ambivalenz. Mit List, Erfindungsgabe und Kunstfertigkeit gelingt es dem Menschen, der Natur allmählich Herr zu werden. Er „fährt […] seinen Weg“ über das Meer auch bei „tobende[m] Sturm“, schlägt sich mit Hilfe seiner Technik durch die „grauliche Meeresflut“, er fängt der „sorglose[n] Vögel Schwarm“ mit seinen Netzen, er „beherrscht durch Scharfsinn auch der Wildnis / Schweifendes Tier“ und zähmt die „mähnigen / Rosse“ ebenso wie den „unbezwungnen Bergstier“. Der Mensch brachte sich die Sprache als unvergleichliches Kommunikationsmittel bei, ebenso das Recht, das „die Staaten gesetzt“, um gemeinsam der Natur zu trotzen: „Rat für alles weiß er sich, und ratlos trifft / Ihn nichts, was kommt.“ Nur „vorm Tod / Fand er keine Flucht“, doch gegen „heillos Leiden“ hat er sich „Heil ersonnen“. Und dann zieht der Chor daraus die entscheidenden Folgerungen:

Das Wissen, das alles ersinnt,

Ihm über Verhoffen zuteil,

Bald zum Bösen und wieder zum Guten treibt’s ihn.

Wer treulich ehrt Landesart

Und Götterrecht, dieser steht

Hoch im Staat. Doch staatlos, wer sich zugesellt

Aus Frevelmut bösen Sinn.

Nie sei der mein Hausgenoß

Und nie auch meines Herzens Freund,

Der das waget.

(Sophokles, 2015, S. 128–129)

In solchen und ähnlichen Chorstrophen ergriff bekanntlich der Dichter selbst, Sophokles, die Gelegenheit zu Reflexionen, die durchaus allgemeinen Charakter haben und nicht einen unmittelbaren Zusammenhang mit dem Geschehen aufweisen müssen. Das Ungeheure des Menschen, von dem hier die Rede ist, enthält in sich zwei Bedeutungen: das Schreckliche einerseits und das Großartige andererseits. Das griechische deinós bedeutet furchtbar, aber eben auch das Wunderbare, Staunenerregende. Es ist nicht die Rede davon, dass der Mensch ein Ungeheuer sei. Im Gegenteil: Die großartige Intelligenz und Kunstfertigkeit des Menschen, der sich die Natur untertan macht, die Erde ausbeutet, Krankheiten besiegt, wird benannt und gepriesen; nur der Tod stellt eine unüberwindbare Schranke dar. Der Tod verbindet diese Strophe mit der Handlung der Tragödie. Denn es geht um die Kraft, die in jenen symbolischen Handlungen liegt, mit denen der Mensch dem Tod, dem alle unterworfen sind, begegnet. Kreon möchte den Gegner über den Tod hinaus verfolgen, der Tod versöhnt die Feinde nicht. In diesem Sinn ist eigentlich Kreon moderner als Antigone. Denn er betreibt bewusste Gedächtnispolitik, das verweigerte Begräbnis sabotiert auch die Erinnerung an den Toten.

Das Ungeheure des Menschen liegt in einer besonderen Fähigkeit. Er kann seine Künste, seine Intelligenz, sein Geschick für das Gute oder für das Böse verwenden. Maßstab dafür ist, ob er die Gesetze und das Recht der Polis, des Staates, achtet. Und damit kehrt diese letzte Gegenstrophe zurück zum Geschehen: Es stellt sich die Frage, wer im Einklang mit den Gesetzen handelt, wer im Sinn und Dienste der Polis, wer im Sinne des Gemeinwohls agiert: Kreon oder Antigone? Aus heutiger Perspektive könnte man geneigt sein zu sagen: Keiner von beiden. Kreon missbrauchte offenkundig seine Macht; Teiresias macht ihn auf den Eigensinn als seine verhängnisvolle Triebfeder aufmerksam und führt ihm die Paradoxie seines Handelns vor Augen: Welchen Sinn soll es haben, Tote durch das Bestattungsverbot noch einmal zu töten? Kreon unterstellt Teiresias übrigens sofort, für seine Beratung bestochen und bezahlt worden zu sein. Aber dessen eindringliche Warnung, dass Kreon durch seine Hartnäckigkeit nur die Kette der Racheakte und Kriege fortsetzen und damit die Stadt gefährden würde, bringt diesen zur Räson – allerdings zu spät. Kreon hatte vehement gegen das antike Ethos verstoßen: Er hatte jedes Maß verloren. Im antiken Menschenbild gibt es weniger den an sich bösen Menschen, wohl aber den Menschen, der sich in Maßlosigkeit verirrt und damit alles ins Negative wendet. Vielleicht sollte man diese Einsicht reaktivieren. Die Besinnung auf eine Ethik des rechten Maßes täte einer Zeit wohl gut, zu deren Charakteristika die Maßlosigkeit, die Übertreibung, die medial erzeugte Hysterie zu gehören scheinen.

Antigone ist nicht frei von ähnlichem Starrsinn. Das Gemeinwohl kümmert sie wenig, sie verfolgt ein individuelles Programm, das sich gleichzeitig eingebettet weiß in eine vermeintlich höhere Ordnung. Ihr Tod wird, so betont sie es in ihrer letzten Rede, dem Vater, der Mutter und dem Bruder recht sein – vor allem dem Bruder. Wegen eines Gatten oder eines eigenen Kindes hätte sie sich dem Staat nicht entgegengestellt, denn ein Mann oder ein Kind kann ersetzt werden – der Bruder nicht! Diese Überlegungen zeigen, dass Antigone schlecht als Vorbild für eine allgemeine Humanität taugt. Nur für den Bruder, für keinen anderen hätte sie ihr Leben riskiert. Hegel hatte nicht unrecht: „Das Weibliche hat daher als Schwester die höchste Ahnung des sittlichen Wesens […] Der Verlust des Bruders ist daher der Schwester unersetzlich und ihre Pflicht gegen ihn die höchste.“ (Hegel, 1970, S. 336–338) Hier zeigt sich ein Denken in Familienstrukturen, die in der modernen Gesellschaft drastisch an Bedeutung verloren haben. Kommen jedoch traditionelle, religiös gebundene Moralvorstellungen mit dieser in Berührung, schimmern die alten Konflikte durch. An Sophokles’ Antigone könnte man zeigen, was es bedeutet, wenn Konzepte einer familiär gebundenen Moral, in der die Positionen und Werte der einzelnen Mitglieder genau festgeschrieben sind, in der die Familienehre über allem steht, mit einem Rechtssystem in Kontakt geraten, das diese Moral kaum akzeptieren kann, weil es sich an universellen Prinzipien orientieren will, die jenseits familiärer Bindungen gelten müssen.

Das Ungeheure des Menschen erweist sich in seiner Janusköpfigkeit. Er ist Einzelner und Mitglied einer Gemeinschaft; er meistert und beherrscht die Natur und schändet sie dadurch; er lehnt sich gegen sein Schicksal auf und ist doch dem Tod ausgeliefert; er kann all sein Vermögen, all seine Gewalt, all seine Fähigkeit zum Leiden und zum Herrschen, zum Erdulden und zum Aufbegehren für die eine und für die andere Sache verwenden: Er oszilliert zwischen Konformität und Widerstand. Letztlich, so ließe sich sagen, liegt das Ungeheure genau in dieser Unsicherheit: nicht zu wissen, wann man tatsächlich unrecht tut. Human wäre es, sich zu diesem Wissen des Nichtwissens – um endlich Sokrates zu zitieren – zu bekennen und jene Angemessenheit walten zu lassen, die Kreon vermissen ließ, aber auch jene Frage zuzulassen, die sich Antigone nicht gestattete: ob das für mich Richtige selbst dann durchgesetzt werden muss, wenn es nicht nur mein Verderben, sondern auch das anderer Menschen bedeutet, ob das für mich Richtige wegen seiner subjektiven Überzeugungskraft alle Ansprüche einer Gemeinschaft außer Kraft setzt.

Die Antigone kennt am Ende drei Tote – Antigone, Haimon und Eurydike – und einen gebrochenen Mann: Kreon. Ist nicht er die eigentliche tragische Figur? Der Politiker, der zu spät zur richtigen Einsicht kam, der erst durch das grausame Schicksal, das ihn traf, gezwungen wurde, einzubekennen, dass er allen anderen gegenüber Schuld auf sich geladen hatte: „O weh! Diese Tat nimmt kein Mensch mir ab. / Es bleibt meine Schuld, es ist meine Tat! […] Weiß nicht, wohin / Ich schaun soll, wohin ich gehn soll? Wohin? / Es wankt alles mir, es traf mich aufs Haupt / Ein Schlag […].“ (Sophokles, 2015, S. 163–164) Kreon muss mit diesem Schwanken fertig werden. Ist dazu, zu dieser Abkehr von der Selbstgewissheit und Selbstsicherheit, nicht auch eine Größe erforderlich, die in der Politik kaum noch jemand imstande ist aufzubringen?

Widerstand ist keine Kunst. Unter den Bedingungen der Unmenschlichkeit bedeutet er den Einsatz des Lebens um der Menschlichkeit willen. Kunst wäre dafür nicht das richtige Wort. In geordneten, rechtsstaatlich garantierten und demokratisch organisierten Gesellschaften sollte man mit dem Begriff des Widerstands jedoch vorsichtig umgehen. Geschützt vom Gesetz und unterstützt von der Gesinnungsgemeinschaft in den sozialen Medien ist es nicht besonders mutig, sich in der einen oder anderen Frage eine abweichende Position zu erlauben. Zu einem Akt der Zivilcourage kann es aber immer werden, sich gegen Usancen, normierte Vorstellungen, einen informell vorgeschriebenen Sprachgebrauch und vermeintliche oder wirkliche Denkverbote zu richten. Gerade in solchen Fragen alltäglicher kleiner Positionierungen schimmert ein Aspekt von Widerständigkeit durch, der selten thematisiert wird: Dass man, um widerständig zu sein, auch Widerstand gegen sich selbst leisten muss – gegen die Versuchungen und Verlockungen des Konformismus, gegen die Prämien, die man für die Übereinstimmung mit dem gerade Angesagten einstreichen könnte.

Natürlich: Wer sich dem wirklichen oder vermeintlichen gesellschaftlichen Fortschritt verweigert, gegen technische oder soziale Innovationen opponiert, wird Schwierigkeiten haben, dies pathetisch als Widerstand zu etikettieren. Und doch gibt es Formen zivilen Ungehorsams, die nicht unbedingt mit Nachteilen für die Akteure verbunden sein müssen, aber dennoch als Form berechtigter Kritik, als eine Weigerung, bei allem, was der Zeitgeist vorschreibt, mitzumachen, begriffen werden können. Der Widerstand, der sich etwa im Bildungsbereich gegen Ökonomisierung, Kompetenzorientierung oder die Bologna-Reform richtete und richtet, kann gute Argumente für sich geltend machen (vgl. dazu Liessmann, 2006, 2014). Erstaunlich ist hier eher die Willfährigkeit, mit der zweifelhafte, aber mit großen Phrasen übertünchte politische Vorgaben erfüllt werden. Hinter vorgehaltener Hand wird dann freilich gerne das Unbehagen artikuliert.

Widerstand ist keine Kunst. Wohl aber kann Kunst eine Form des Widerstands werden. Unter autoritären und totalitären Verhältnissen zeigen Zensur und Verfolgung drastisch, wann eine ästhetische Intervention zu einem Akt des Widerstands werden kann. Unter Bedingungen, in denen das Recht auf die Freiheit der Kunst garantiert ist, kann Kunst nur dann eine Form des Widerstands annehmen, wenn sie sich gegen informellen Druck, von welcher Seite er auch immer kommen mag, im Namen der ästhetischen Autonomie zur Wehr setzt. Im besten Sinn leistet Kunst, so wie die Antigone des Sophokles, Widerstand gegen die Vereindeutigung der Welt, gegen jede Form eines manichäischen Denkens, gegen jede Pose moralischer Überlegenheit, gegen jede Ideologisierung des Schönen. In der Kunst können wir uns ein Sensorium für die Ambivalenzen und Ambiguitäten menschlichen Daseins bewahren. Darauf zu beharren, kann in Zeiten der schnellen Urteile und Verurteilungen ziemlich widerständig erscheinen.

Literatur

Blumenberg, H. (1979). Arbeit am Mythos. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Därmann, I. (2021). Widerstände. Gewaltenteilung in statu nascendi. Berlin: Matthes & Seitz.

Dernbach, A. (2019, 27. Juni). Antigone aus Kiel. Deutsche Kapitänin gegen Italiens Salvini. Der Tagesspiegel. https://www.tagesspiegel.de/politik/antigone-auskiel-deutsche-kapitaenin-gegen-italiens-salvini/24499734.html

Hegel, G. W. F. (1969). Vorlesungen über die Philosophie der Religion II (Werke Bd. 17). Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Hegel, G. W. F. (1970). Phänomenologie des Geistes (Werke Bd. 3). Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Hölderlin, F. (1992). Sämtliche Werke und Briefe (Bd. II). München: Hanser.

Kierkegaard, S. (1988). Furcht und Zittern (L. Richter, Übers.) Frankfurt am Main: Athenäum. (Originalwerk veröffentlicht 1843)

Kierkegaard, S. (1993). Entweder-Oder I (H. Fauteck, Übers.). München: dtv. (Originalwerk veröffentlicht 1843)

Liessmann, K. P. (2006). Theorie der Unbildung. Die Irrtümer der Wissensgesellschaft. Wien: Zsolnay.

Liessmann, K. P. (2014). Geisterstunde. Die Praxis der Unbildung. Wien: Zsolnay.

Nestle, W. (1940). Vom Mythos zum Logos. Die Selbstentfaltung des griechischen Denkens von Homer bis auf die Sophistik und Sokrates. Stuttgart: Kröner.

Pichler, G. (2020, 23. November). Vergleich mit Sophie Scholl: Massive Empörung über Rednerin auf Corona-Demo. Der Standard.https://www.derstandard.at/story/2000121909069/vergleich-mit-sophie-scholl-massive-empoerungueber-rednerin-auf-corona

Sophokles (2015). Die Tragödien (H. Weinstock, Übers.). Stuttgart: Kröner.

Sophokles (2021). Antigone (K. Steinmann, Übers.). Stuttgart: Reclam.

1 Aus prinzipiellen und stilistischen Erwägungen verwendet der Autor durchgängig das generische Maskulinum.

2 In vielen gebräuchlichen Übersetzungen wird Antigone, V 523 „οὔτοι συνέχθειν, ἀλλὰ συμφιλεῖν ἔφυν“ übrigens nicht mit dieser klassisch gewordenen Phrase wiedergegeben. Hölderlin übersetzt „Zum Hasse nicht, zur Liebe bin ich“ (Hölderlin, 1992, S. 337), Kurt Steinmann „Gewiss nicht, um den Feind zu hassen, nein, den Freund zu lieben, lebe ich“ (Sophokles, 2021, S. 25) und Heinrich Weinstock, nach dessen Übersetzung wir auch sonst zitieren, überträgt „Nein! Haß nicht, Liebe ist der Frau Natur“ (Sophokles, 2015, S. 135).

Schulentwicklung

Konrad Krainer

Wie Schulen lernen können

Letztendlich geht es in der Schulentwicklung um das Lernen der Schüler*innen und deren Rolle als zukünftige tragende Mitglieder unserer Gesellschaft. Dabei spielen Erziehungsberechtigte, Lehrkräfte, Schulleitungen, Vertreter*innen von Behörden sowie von einer Vielzahl an (kulturellen, pädagogischen, psychologischen, sozialen, sportlichen, wirtschaftlichen etc.) Einrichtungen eine bedeutsame Rolle. Aufgrund der komplexen Aufgabe von Schule und der Vielfalt an Akteur*innen ist Schulentwicklung ein breites Gebiet, in dem sich Praxis, Politik und Wissenschaft auf vielfältige Weise begegnen. Für Reinbacher (2016, S. 295) ist Schulentwicklung bestenfalls ein „unübersichtliches Gebiet, schlimmstenfalls ein vermintes Gelände“, jedenfalls aber eine „Gegend, die von induktiven Erfahrungen (aus der ‚Praxis‘) und von normativen Empfehlungen (für die ‚Praxis‘) beherrscht wird“. Er fordert einen theoretischen Bezugsrahmen für Schulentwicklung ein. Das ist sicher sinnvoll. Dennoch würde Marlies Krainz-Dürr vermutlich zu Recht einwerfen, dass diese Forderung nur eine von vielen sein kann. Natürlich ist Theorieentwicklung wichtig, selbstverständlich ist bei Schulentwicklung die Wissenschaft ein wichtiger Stakeholder. Dennoch sind auch die Praxis und die Politik im Sinne der Bildungssystemsteuerung im Blick zu haben.

Wenn Rolff (2009) Schulentwicklung als Trias von Organisations-, Unterrichtsund Personalentwicklung betrachtet, so ist das noch kein theoretischer Bezugsrahmen, aber die Dimensionen machen klar, dass es in der „Lern“-Institution Schule verschiedene Lernende gibt, vor allem die Schüler*innen, die Lehrer*innen und die Organisation selbst. Insofern ist die Frage „Wie kommt Lernen in die Schule?“ (Krainz-Dürr, 1999) eine klug gestellte und zugleich provokante. Schulen als lernfähige Organisationen sollten auch eine gelingende regionale Einbindung (in das Netzwerk von anderen Schulen, Hochschulen, Bildungsdirektion, Wirtschaft etc.) aufbauen, sich den Herausforderungen des Bildungssystems (neuen gesetzlichen Rahmen, Lehrplänen etc.) stellen und dazu (z. B. durch Kooperationen) beitragen, dass Schulentwicklung erforscht und neues Wissen darüber generiert werden kann: In diesem Sinne sollte man die Trias wohl um Regional-, Bildungssystemund Wissenschaftsentwicklung ergänzen. Vielleicht würde Hans-Günter Rolff gar nicht widersprechen.

Die Beiträge im Bereich „Schulentwicklung“ greifen die Thematik der „Kunst des Widerstands“ im Bildungsbereich in vielfältiger Weise auf.

Uwe Hameyer betrachtet in seinem Beitrag „Vom Widerstand zum Blickwechsel – Lösungen durch Zweites Denken“ Widerstand primär im Kontext vom Umgang von Schulen mit Neuerungen. Oft bauen Betroffene in ihrem ersten Denken – eventuell gepaart mit Selbsttäuschung und Scheingewissheit – einen emotionalen Widerstand gegen Neues auf, können aber durch Blickwechsel zu einem zweiten Denken gelangen. Dann kann man manchem, das zunächst mit Widerstand bekämpft wurde, auch positive Aspekte und Chancen abgewinnen. Nötig sind Kommunikation und kritischer und selbstkritischer Dialog, im Idealfall unterstützt durch systemische Beratung.

Für Martina Krieg geht es in „Das Team als Ort der Lernquelle und Konfliktkultur“ um die Herausforderung, wie Individuen gemeinsam zu echten Teams oder gar Hochleistungsteams werden können. Auf diesem Weg heißt es, mit Irritationen und Störungen umzugehen, Meinungsverschiedenheiten auszutragen, konstruktiv kritische Diskussionen zu führen, vom Kuscheln zu manchem Streitgespräch zu wechseln, kurz, eine Konfliktkultur aufzubauen. Dabei spielen Zielorientierung, Aufgabenorientierung, Kommunikation und Zusammenarbeit sowie Verantwortung eine überragende Rolle, ebenso wie ein Paradigmenwechsel von „Ich und meine Klasse“ zu „Wir und unsere Schüler*innen“.

Peter Posch und Franz Rauch stellen die Frage „Schulentwicklung und Fachdidaktik – ein Gegensatz?“, also etwas möglicherweise nicht gut Zusammenpassendes, vielleicht Widersprüchliches, in den Mittelpunkt ihrer Erörterungen. So manche Fachlehrkräfte sehen zwar fachbezogene Unterrichtsentwicklung und Kompetenzen als zentral, betrachten aber Bemühungen zur Organisationsentwicklung eher als Ablenkung vom Wesentlichen (dem Lehren und Lernen im Fach). Ganz anders sehen dies häufig andere, die Schule in ihrer Gesamtheit betrachten (Schulleitung, Steuergruppen etc.) und eventuell die Bedeutung fachlicher und fachdidaktischer Bemühungen unterschätzen. Die beiden Autoren belegen an Beispielen, dass eine enge Verbindung von Fachdidaktik und Schulentwicklung produktiv ist, wobei sich die Arbeit in Fachteams als gute Brücke erweist.

Bernhard Schmölzer, Christina Morgenstern, Christine Ragginer, Sabine Seidl und Claudia Taurer-Zeiner betrachten Initiativen in den unterschiedlichen „Welten“ Schule und Hochschule und fragen: „Können sich Schul- und Hochschulentwicklung gegenseitig beeinflussen?“ Sie tun dies auch mit dem Hintergrund, dass sie die Entwicklung der Naturwissenschaften an ihrer von einer Geisteswissenschaftlerin geleiteten Hochschule skizzieren, wo es durchaus auch Gegenwind und Widerstand gegen eine naturwissenschaftliche Schwerpunktbildung hätte geben können. Im Beitrag wird deutlich, wie interdisziplinäre Teamarbeit an einer Hochschule, gepaart mit Ambitionen, einen fachlichen Bereich (Naturwissenschaften) erfolgreich zu einem Zentrum aufzubauen, und vorausschauende Leitungsunterstützung dazu führen, dass Hochschulentwicklung gelingt und zugleich fachbezogene und wissenschaftlich begleitete Schulentwicklung angestoßen wird.

Eine ähnliche Entwicklung – am Beispiel eines innovativen Fortbildungsmodells – beschreiben Isolde Kreis und Dagmar Unterköfler-Klatzer mit ihrem Beitrag „Widerstand im Modell Fortbildung Kompakt“. Es werden Ablehnungen und Widerstände von zentralen Stakeholder*innen gegen das neue Modell beschrieben, die jedoch durch partizipative Zugänge sowie durch Wahrnehmen und konstruktives Umgehen mit Widerständen in ein Sehen von Chancen verwandelt werden konnten.

Bei Thomas Stern und Heimo Senger geht es in „Das pädagogische Paradoxon: Anleitung zur Selbstständigkeit“ um den scheinbar unlösbaren Widerspruch zwischen Eigenständigkeit und Fremdbestimmung, der die Ebenen Unterricht, Schule und Bildungssystem zu beherrschen scheint. Ein sinnvolles Umgehen damit liegt darin, sich dem Paradoxon – zum Beispiel als Studierende, Lehrerin, Fortbildnerin, Hochschulleiterin – zu stellen und für eine adäquate Balance zwischen Aktion und Reflexion sowie Autonomie und Vernetzung zu sorgen.

In allen Beiträgen wird ein Bezug zu Marlies Krainz-Dürr hergestellt. Sie wird als erfolgreich Agierende, kritisch Reflektierende, autonom Denkende und zugleich für Zusammenarbeit und Vernetzung Sorgende dargestellt. Es ist keineswegs immer leicht, die nötige Balance zu finden, mit Widersprüchen umzugehen und die Chance im Irritierenden zu finden. Marlies Krainz-Dürr scheint es offenbar nicht selten gut gelungen zu sein.

Literatur

Krainz-Dürr, M. (1999). Wie kommt Lernen in die Schule? Zur Lernfähigkeit der Schule als Organisation. Innsbruck: StudienVerlag.

Reinbacher, P. (2016). Ein theoretischer Bezugsrahmen für „Schulentwicklung“. Schweizerische Zeitschrift für Bildungswissenschaften, 38 (2), 295–318. https://doi.org/10.25656/01:14782

Rolff, H.-G. (2009). Schulentwicklung als Trias von Organisations-, Unterrichtsund Personalentwicklung. In T. Bohl, W. Helsper, H. G. Holtappels & C. Schelle (Hrsg.), Handbuch Schulentwicklung (S. 29–36). Bad Heilbrunn: Klinkhardt.

Uwe Hameyer

Vom Widerstand zum Blickwechsel – Lösungen durch Zweites Denken

Widerstand – was ist das eigentlich? Meistens schwingt ein Geräusch des Ärgernisses mit, gelegent lich wird Be droh li ches wie beim Anblick einer Baggerschaufel erkannt. „Meine Ideen werden verrissen. Die Schule ist wieder einmal gegen alles Neue und meine Mühe, das plättet jede Lust.“ In Gremien einer Schule oder Fakultät mag sich das im verbalstrategischen Abwinken widerspiegeln: ein Geist des Nichtwollens und das Aufb äumen eines traditionellen Habitus. Viel leicht ist es so oder sind es doch nur die wahrgenommenen Bilder oder Déjà-vu-Erlebnisse von Nörgelei und vermeintlichem Widerstand einer „trägen Masse“? Wie wenn die Diktatur des Sitzfleisches (Weinreich, 1972), des Durchhaltens im inneren Lehnsessel, erneut obsiegt.

Nun, die „Wahrheit“ kann anders sein. Vielleicht setzt die an sich doch sonst so nette Kollegin nur ein Fragezeichen – was denn das Neue leiste und ob es durchführbar sei; andere dagegen könnten meinen, die Idee sei gut, jedoch der Einführungszeitpunkt sei ungeeignet. Unruhe, so die sich aufspreizende Befürchtung, würde sich „bei uns“ wie ein Lauffeuer ausbreiten; bei der Einführung abteilungsübergreifender Teams sei das vor geraumer Zeit doch offenkundig gewesen. „Das können wir uns nicht nochmals leisten. Jetzt nicht. Jedenfalls bin ich nicht dabei.“ Besorgnis, Mauern oder Widerstand?

Mit politischem oder gesellschaftlichem Widerstand befasst sich der Beitrag nicht. Es geht mir ausschließlich um Widerstand im Prozess der Schulentwicklung und kommunikativen Interaktion. Widerstand kann ein Bedenken oder Einspruch sein – ein Frühwarnsystem, das durchaus nützlich sein könnte. Vielleicht geht es tatsächlich nur um einen markanten Hinweis und Rat, der im gewähnten Widerstand durchscheint. Oder entspricht der vermutete und gefühlte Widerstand doch einer echten Blockade, einer Drohung oder positionellen Machtgebärde? Situationsfrei lässt sich das nicht entscheiden.

Wer als widerstandswähnender Mensch empfindlich ist und sich stets freudige Zustimmung wünscht, wird eine Deutlichkeit der Kritik nicht annehmen können, sofern diese Person sich in einer emotionalen Spirale des Ersten Denkens befindet (Hameyer, 2020b), vergleichbar dem, was Kuhl (2016, S. 71ff) mit seiner Erstreaktion – gleichsam eine affektive Erstbefangenheit – meint. Ich spreche vom Ersten Denken (und nicht von einer Reaktion), weil die „Wahrnehmung“ in der Erstbegegnung mit „Widerstand“ durchaus auch kognitive Anteile im Sinne von pre-conceptual thoughts und einer vorbewussten Wahrnehmungslogik einschließt. Spontan abgerufenes Wissen ist ebenso dabei wie es affektgesteuerte Glaubenssätze sind, die das zunächst Empfundene oder Gedachte, das Erste Denken, verstärken.

Immer wieder wettert der Stufenleiter gegen unser neues Projekt, wie wenn er das nicht anständig sagen könnte. Er ist doch Deutschlehrer und macht bei uns Moderationen. Warum sucht er für seinen ewigen Widerspruch und die Nörgelei immer wieder die Konferenzbühne? Worum es ihm wirklich geht, ich weiß es nicht. Nie ist er auch nur ansatzweise konstruktiv. Das ist anstrengend, zumal die Schulleitung nichts dagegen unternimmt.

Der Schritt zum Zweiten Denken erfordert Abstand zu überschnellen Reaktionen oder Befindlichkeiten, die aus einem Affekt hervorgehen. Aus einer nicht vorgefassten Gelassenheit kann über die Station des eigenen Fehler-Zooms (Kuhl, 2016) ein „wahrhaftiges“ Bild leichter entstehen, vor allem weil es nicht mehr mit Selbsttäuschungen, Verletzungen oder Irritationen arbeitet, sondern durch die Kontrolle der eigenen Reflexion und Rationalität muss (ausführlicher s. Kapitel 3).

1 Begriffswelt Widerstand

Das ist in der Schulentwicklung und Hochschulpolitik nicht anders. Wer aus diesen Welten wie Marlies Krainz-Dürr kommt, kennt das; wer in diesen Welten wie die laudanda grenzüberschreitend über viele Jahrzehnte erfolgreich ist, hat die conditio sine qua non erkannt: Widerstand kann nicht mit einem Knopfdruck ausgeschaltet werden, auch nicht durch innere Entrüstung oder moralische Gebärdensprache unter vertraut solidarischen Menschen. Es geht um die Erkenntnis, was wi derstän dig scheint, wel chen Namen der Wi der stand trägt, was man durch einen klugen Umgang mit dem Wi der stand oder Wi derspruch ge winnt.

Aus systemischer Sicht – einem Zwei ten Den ken – ist es zu meist möglich, das Ärgerliche am Widerstand zu überwinden und in inspirierende Energie umzuwandeln, anstatt die potenzielle Erkenntnis aus der Befassung mit einem gewähnten „Widerstand“ auszuhungern.

• Vom Widerstand zum Blickwechsel – das ist der Referenzpunkt für meine Betrachtungen sowie die Frage, wie Lösungen zustande kommen, ohne in eine Emotionalisierungsfalle zu geraten. Wie können wir ein Widerstandsphänomen auf der Ebene Zweiten Denkens wahrnehmen, bearbeiten und nutzen? Das setzt voraus, im zeitlichen Abstand zu einem „ersten inneren Schrei des Entsetzens“ die Methode des Zweiten Denkens einzusetzen. Wer sich im Zweiten Denkmodus befindet, schaltet seine vorschnellen Bewertungssysteme und Normierungen aus; man hört hin und fragt nach, beobachtet und versucht zu erkennen, was daraus für die weitere Innovationsarbeit wichtig sein könnte, wo man in Selbsttäuschungen verstrickt ist und was man tatsächlich so noch nicht bedacht hat.

• Widerstand entsteht mental, kann jedoch als Ausdruckskondensat oder als emotionaler Marker (Storch et al., 2021, besonders S. 35ff) sichtbar werden. So ist es möglich, dass eigene Bilder wie eine offensichtliche Phalanx gegen „mich“ antreten. Sie sind jedoch nichts als ein Konstrukt, auch wenn ähnliche Bilder von anderswoher übernommen und in das eigene Bild integriert werden.

• Ein Mensch fürchtet Widerstand, wenn seine biografisch oder berufsbiografisch gebahnten Wahrnehmungscodes manch irritierendes Signal auslösen: Angst, Befürchtung, Ärger, Ahnung, Wut, Abneigung, Feindseligkeit. Oder der Betreffende kennt sich aus und wird sehen, dass aus einem Widerstand tatsächlich neue Gedanken hervorgehen. Neue Aussichten mischen sich in das Gespräch, unerkannte Herausforderungen verlangen neue Lösungsstrategien. Das zuweilen etwas platte Bild vom Widerstand als mein Freund ist hinreichend bekannt.

• Widerstand als Ärgernis, Widerstand als Chance … die Bilder sind in solchen Fällen sekundenflinke, voreilige Boten oder Plaudertaschen. Sie verdichten reflexionsfrei die Gefühle und Vermutungen im Spiel der Kommunikation. Das Bild eines Blitzes wird zum Gefahrenschild, während das vielleicht auch aufscheinende romantische Bild einer Anlegestelle gleicht mit dem Hinweis, dass der Widerstand nur vorübergehend auft ritt – aus der Anlegestelle wird eine den Widerstand verabschiedende Ablegestelle (verborgenes Reframing).

Wir kennen die Bedeutung des Bildes hinlänglich aus dem Streit über Konflikte und das, was aus Sicht von Konferenzmitgliedern zu tun oder zu unterlassen sei. Widerstand „entsteht“ durch Sprache, Vorstellung und Kommunikation, in belichteten Bildern vom Widerstand und seiner wahrgenommenen Wucht, die bei genauerer Hinsicht das Ergebnis eines Zuschreibungsprozesses ist. „Fotografisch exakt“ kann sowas nicht abgebildet werden.

Bilder von Widerstand können im Sprachspiel der Parteien latent sein (im Schlafzustand) oder sie werden durch Sprache manifest, so etwa im Disput der Streitenden, in der verbalen und nonverbalen Kommunikation. Die Frage ist, wie man vom Widerstand oder seiner furchterregenden Kralle zu einem Kontrapunkt gelangt … Die Frage lohnt: Kaum eine Fuge von Bach ohne kontrapunktische Basslinie. Wie wenn wir Widerstand als etwas Antipodisches durchaus brauchten in der Komposition unserer Welt. Und die Kralle, das zunächst Irritierende, wird im ästhetischen Spiel durch den Zweiten Blick umgeformt. Das Bedrohliche wird zugunsten von etwas „Gutem“ aufgelöst. Gelassenheit und Reflexionsabstand zu sich selbst erweisen sich dabei als kluges Verhalten.

Vom Widerstand zum Blickwechsel, vom Bild der Baggerkralle zum Spiel mit ihrer Schönheit – das ist ein zweites Hinsehen, eine Rekonstruktion aus einem systemischen Blickwechsel heraus (Hameyer, 2023). Einfacher gesprochen: Widerstand kann zu einem ästhetischen Artefakt werden.

Widerstand als Macht. Widerstand kann hartnäckiger auft reten – durch die stille oder laute Nutzung positioneller Macht im System gegen Wandel. Widerstand hat in diesem Gewand keine Ratgeberabsicht, sondern ist Fallensteller, Ordnungsstrategie, governance policy der Stellwerke im System (Hameyer, 2020a), gelegentlich auch das Gesicht einer kalten, berechnenden Autorität. Reines Reframing oder Zweites Denken hilft nicht weiter.

Widerstand als Energiequelle. Auch das ist eine Wahrnehmungsmöglichkeit. Wer widerspricht oder auf andere Optionen verweist, ist bei näherem Hinsehen kein Querulant, sondern führt in den Diskurs eine andere Sichtweise ein, die in der Sache als wichtig erscheint, neue Wege aufzeigt und durch das Umoder Weiterdenken zu neuen Einsichten, zu neuer Energie führt. So wie eine Batterie durch Negativ- und Positivpol eine Spannung erzeugt, die erst dadurch zu nützlicher Energie wird.

Widerstand als Konstrukt. In einigen Bildern zu Widerstand und Blickwechsel wird nachfolgend gezeigt, wie Widerstand beim Menschen aufscheint, wie der Mensch Widerstand wahrnimmt oder wittert. Wie Widerstand zu einem Bild wird, das man sich vorstellt – zu einer Ein-Bildung. Das ist meistens Ausdruck einer ersten, spontanen Reaktion auf etwas, von dem man meint, dass es geschieht. Solche Erstreaktionen können sich hochschaukeln. Widerstand wird zur intuitiven Konstruktion – eine flüchtige Fotografie der gefühlten Wirklichkeit.

2 Auf der Hinterbühne

Widerstand ist also kein eindeutiges Phänomen, und viele, die von Widerstand reden, können nicht verstehen, dass andere diesen Widerstand gar nicht sehen oder als solchen erkennen. Widerstand wirkt wie ein flüchtiges Wesen, das mal erscheint und ein andermal volatil ist – auf der Flucht. Das hat mit Phänomenen auf der Hinterbühne unserer Kognitionen, Emotionen und Wahrnehmungen zu tun. Ich denke dabei unter anderem an die Blindheit der Selbstbilder, an den Trotz in der flüchtigen Moderne und den Jargon der Eigentlichkeit im schulischen Diskurs.

2.1 Transformationsprozesse

• Schulen und Universitäten befinden sich in Transformationsprozessen, auch wenn das unterschiedlich gesehen wird, auch angesichts merkwürdiger Internalitäten, so etwa wenn manche Universität sich viel Zeit nimmt, Lehrstühle zu besetzen – oftmals sind es Mehrjahreszeitspannen. Oder wenn die Institution Schule immer noch keine fortlaufende professionelle Beratung für die jungen Menschen anbieten kann, obgleich deren Lern- und Lebensbiografien immer individueller werden und individuelle Beratung oder Lerncoaching erfordern (Hameyer, 2020b). Der Deutsche Bildungsrat wie auch die Kultusministerkonferenz (KMK) in Deutschland weisen bereits seit 1970 darauf hin, dass das Beraten eine der fünf grundlegenden Kompetenzen von Lehrenden sein müsse (neben Unterrichten, Erziehen, Innovieren, Bewerten; später fügt die KMK hinzu, dass zudem die Schulentwicklung eine elementare Aufgabe für jeden Lehrer und jede Lehrerin sei).

• Eine sich den structural challenges der Zeit widersetzende Organisation kann sich gleichwohl dem Umbruch, den Transformationen, nicht auf Dauer entziehen, auch wenn sie sich sicher wähnt in mancher Selbstbeschäftigung (Internalität und Selbstreferenzialität). Eigentlich geht es wie früher um die Verantwortung, die jungen Menschen in Schule und Universität auf ihre Lebens- und Arbeitswelten bestmöglich vorzubereiten und sie auf dem Weg zur selbstverantworteten Eigenständigkeit nachhaltig zu unterstützen (Trilling & Fadel, 2009). Im Modus der Internalität gelingt das nicht zwingend. Dort steht das tradierte Selbstverständnis der Organisation vornan und nicht etwa die externen Standards oder ein ihnen auferlegter Erwartungskodex. Durch internales Organisationsverhalten kann eine Attitüde des Trotzes entstehen – in den Farben eines selbstgefälligen Widerstands aus Bitterkeit, Blindheit oder Egoismus. Ich gehe jedoch davon aus, dass dieses Modell auslaufend ist. Viele Schulen und Universitäten stellen sich den postmodernen Herausforderungen in vielfältig kreativer Weise.

Transformationsprozesse sind überall unterwegs. Das kann man an unserer Lebenswelt ablesen, an Kontraktions- und Umstrukturierungswellen am Arbeitsplatz. Öffentlichkeit und Medien spiegeln die flüchtige Moderne, wie sie Bauman (1983 und in nachfolgenden Werken) vortrefflich beschrieben hat. Nichts scheint mehr von Bestand als die Flüchtigkeit. In weniger als einer Jahresfrist kann sich gegenwärtig alles verändern.

Schulen sind unterwegs. Die Zahl der Modell- und Netzwerkschulen, auch der stillen Schulen, die ohne Öffentlichkeit viel bewirken, ist in den letzten Jahrzehnten gewachsen. Schulpreise, Netzwerke, Landesprojekte und lokale Engagements bringen den Prozess voran. Manche Schulen und Universitäten realisieren jedoch nicht hinreichend, dass sich die Lebens- und Bildungsverhältnisse längst einschneidend ändern, dass neue Bildungsvorstellungen aufkommen und dass sie sich in der Organisations- und Personalentwicklung neu aufstellen müssen. Widerstand dagegen kann die Zeit nicht anhalten.

Wer das nicht einsieht, taucht unter oder verharrt im fixed mindset (Dweck, 2016). Auf Dauer kann das nicht gut gehen, die Umklammerung des Vertrauten als Widerstand gegen Wandel, das Verweilen in alten Kuchenformen – ein Prozess des Cocooning: Personen und Systeme igeln sich ein. Widerstand wird zum Ausdruck des Nichtwahrhabenwollens, der Bequemlichkeit, gegebenenfalls durch einen ignoranten Habitus oder auch Rechthaberei untermauert. Wozu Lehrer*innentausch zwischen Schulen? Warum über den Beamt*innenstatus nachdenken? Wieso sollen Studierende bereits im ersten Semester forschen?

2.2 Jargon der Eigentlichkeit im schulischen Diskurs

Mancher Refrain wirkt wie Common Sense – Schulentwicklung brauche immer den Rückenwind von Schulleitern oder Schulleiterinnen. Gegen ihren Widerstand gehe gar nichts. Sie, die Schulentwicklung, müsse an der Tradition ansetzen, Anschlüsse zu den Schätzen der Schule herstellen, viele Menschen einbeziehen. Und praktisch müsse sie sein, erfolgssicher, ohne Riesenaufwand an Zeit. Komme sie nicht alsbald im Unterricht an, sei sie Unsinn. Widersprüche und Widerstände seien Bremsen im System und daher aufzulösen. Schulische Netzwerke brauchten weder Leadership noch Regeln. Theorie habe sich der Praxis unterzuordnen und dergleichen. Sätze der Scheingewissheit, so auch die Rede vom Widerstand.

Dieser Jargon der Eigentlichkeit ist gefährlich, weil er nicht mehr gegen Selbsttäuschung immun ist, sondern sich des Arsenals von Dogmen und Ideologien bedient. Der Jargon der Eigentlichkeit verzichtet auf Wissen und Beweis. Er besteht aus Floskeln, Vereinfachungen und einem vermeintlichen Common Sensezur einzig richtigen Wahrheit. Die Wertediskussion über Schule ist für solche Entwicklungen prädestiniert …

2.3 Selbsttäuschung durch Scheingewissheit

Aus mancher Selbsttäuschung können allerlei Scheingewissheiten aufkeimen. Umgekehrt ist es nicht anders. Eine Scheingewissheit nährt sich aus der trügerischen Einbildung, man kenne die Wahrheit. „Bildungsstandards verbessern Schulqualität“ – diesem weder empirischen noch logischen Statement aus der politischen Welt liegt ein Verwechslungsfehler zugrunde. Bildungsstandards sind gesetzte, schulisch eingeführte Normen und nicht Beweismittel für Schulqualität. Sie können zur Schulqualität beisteuern, das ist jedoch erst zu erforschen.

Sofern gesagt wird, PISA-Ergebnisse würden beweisen, dass es mit der Leistungsfähigkeit der deutschen Schulen schlecht bestellt sei, ist das ein ähnlicher Fehlschluss, wobei international vergleichende Befunde zur Leistungsfähigkeit von 15-jährigen Jugendlichen vorhanden sind; die Kompetenzen der 15-jährigen Jugendlichen wurden in mathematischen, naturwissenschaftlichen und Lesefähigkeiten sehr gründlich untersucht. Nicht mehr und nicht weniger. Die Hinbiegung der öffentlich bekannten PISA-Erkenntnisse (ab 2000, vgl. Deutsches PISA-Konsortium 2002) auf ein Gesamturteil über die Leistungsfähigkeit der deutschen Schule ist unzulässig und falsch, weil sie nicht über systemisch relevante Einflüsse im Gesamtsystem abgeglichen sind.

Die Scheingewissheit kann sich im Menschen schnell einnisten, wenn die Fakten nicht auf ihren Geltungsbereich hin diskutiert werden oder aus normativen Sätzen oder Bildern Wissen abgeleitet