Die Kunst, zu glauben - Frank Berzbach - E-Book

Die Kunst, zu glauben E-Book

Frank Berzbach

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Beschreibung

Frank Berzbach schreibt über Die Kunst, zu glauben und macht dabei faszinierende Entdeckungen in der Welt der Musik, Literatur, Kunst und Architektur. Die edle Ausstattung dieses Buches spiegelt die lebensverändernde Kraft, die in ihm liegt. Als Wissenschaftsjournalist versteht es Frank Berzbach, komplexe spirituelle, philosophische, psychologische und geschichtliche Zusammenhänge auf unterhaltsame und tiefgründige Weise zu deuten. Und er kann wunderbar erzählen.  In diesem Buch schreibt er über die "Kunst, zu glauben". Und das ist angesichts weltweiter Verwerfungen, einer zunehmenden Säkularisierung und einer tiefgreifenden Kirchenkrise wahrhaft eine Kunst. Frank Berzbach folgt in seinen Betrachtungen den Spuren christlichen Glaubens in der Popkultur, ob in Patti Smiths Liedtexten über die Psalmen, Nick Caves Alltagsmystik, Bob Dylans weisen Geschichten oder in Johnny Cashs gnädiger Stimme. Sie alle erzählen von tiefen Erfahrungen, und das oft in einer Sprache voller Sanftmut und Liebe. Und auch in den Werken der bildenden Kunst, der Architektur und Literatur gibt es viel zu entdecken. Es gibt eine Art Gleichzeitigkeit alter Lehren und neuer Darstellungsformen; wir brauchen Teresa von Ávilas Einsichten ebenso wie die von Albert Camus und anderen. Der Bestseller-Autor lädt uns ein, tiefer zu schauen, weit unter die Oberfläche all dessen, was wir sehen. Freiheit und Schönheit – im Glauben können wir sie finden. Davon ist Frank Berzbach zutiefst überzeugt. »Der Glaube bewährt sich, indem er nicht zu beantwortende Fragen zulässt, sich dem völligen Verstehen entzieht und doch hörbar wird: ›God is in the house‹, wie Nick Cave es in einer nachdenklichen Ballade singt und uns seine Art zu beten mitteilt.« Frank Berzbach

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Seitenzahl: 194

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Frank Berzbach

Die Kunst, zu glauben

Eine Mystik des Alltags

Knaur eBooks

Über dieses Buch

»Ich suche Gott im Herzen der Kunst.«

 

Frank Berzbach folgt den Spuren christlichen Glaubens in der Popkultur, ob in Patti Smiths Liedtexten über die Psalmen, Nick Caves Alltagsmystik, John Coltranes weisen Geschichten oder in Johnny Cashs gnädiger Stimme. Und auch in den Werken der bildenden Kunst, der Architektur und Literatur gibt es viel zu entdecken.

Eine Einladung, tiefer zu schauen – weit unter die Oberfläche all dessen, was wir sehen.

Inhaltsübersicht

Motto

Vor einem langen Gedankenstrich

1 Anfangen

2 Schönheit als sichtbare Liebe

3 Die Tiefe der Klänge

4 Was sich fügt

5 Die Kraft des Denkens

6 Das innere Gebet

7 Im Weinberg Gottes

8 Das Leben der Bücher

9 Die Kunst zu glauben

Danksagung

Meine religiösen Lektüren

Ich glaube an Gott,

den gekreuzigten Christus etc.,

um Kleinkram kümmert sich

der Prätor nicht.

 

Guy Patin

 

Vor einem langen Gedankenstrich

Nach meinem Realschulabschluss, einer Berufsausbildung, einigen Jobs, dem Zivildienst und dem nachgeholten Abitur war es mein Traum, zu studieren. Ich wollte intellektuellen Menschen beim Denken zuschauen und zuhören dürfen. Ich wollte denen begegnen, die das Denken, Lernen und Forschen zu ihrem Hauptberuf gemacht hatten und die Bücher schrieben. Von dieser Bewunderung für Geistesmenschen durchdrungen – sie erschienen mir als die wahren Helden – ging ich schon als Student in den alten Universitätsclub in Bonn und hörte den bildungsbürgerlichen Diskussionen zu. Meine Neugier war groß, aber ich gehörte nicht zu dieser feinen distinguierten Gesellschaft; und das ließ man mich immer mal wieder an den konservativen Universitäten spüren. Aber am Ende hielt es mich nicht ab, ich studierte weiter und hörte mir manches als Zaungast an.

 

An einem Abend saßen auf dem Podium unterschiedliche hochdekorierte Fachmenschen: eine Politologin, ein Philosoph und – ich hatte an ihm zuerst wenig Interesse – ein älterer, auch altmodisch wirkender Theologe.

Ich erinnerte mich an ein Interview mit dem berühmten Sozialphilosophen Jürgen Habermas, der Anfang der 1950er-Jahre in Bonn studiert hatte. Er sei damals zu den Theologen gegangen, weil die zu den wenigen gehörten, die in der gerade frisch verdrängten Nazizeit nicht in vorauseilendem Opportunismus mitgemacht hatten. Hinter dem Katheder standen integre Charaktere, und die brauchte man, um ernsthaft Philosophie zu studieren. Sogar Habermas, nach eigener Aussage »religiös unmusikalisch«, zog es also damals zu den Theologen. Vielleicht ist es kein Zufall, dass sein großes Alterswerk, das er zwischen dem 80. und 90. Lebensjahr schrieb, den Untertitel »zwischen Glauben und Wissen« trägt. Im Vorwort fragt er sich, warum er sich solch eine Arbeit im hohen Alter noch einmal angetan habe; seine Antwort: weil er an diesem Geschäft des Denkens eben immer noch unendliche Freude habe.

 

Der etwas unpassend wirkende Theologieprofessor vorn auf dem Podium hat leider keinen Namen, weil ich ihn damals nicht in mein Tagebuch geschrieben habe. Jedenfalls müsste er etwa im Alter von Habermas gewesen sein. Dennoch werde ich dem Mann, dem ich Mitte der 1990er-Jahre an jenem Abend begegnete, immer dankbar sein. Gar nicht nur für das, was er sagte, sondern für die Art, wie er war, dachte und formulierte. Seine Klugheit kam nur zum Teil aus dem Intellekt oder aus Büchern. Die Diskussion war bei ethischen Themen angelangt, man sprach abstrakt über den Tod, aber nur einer sprach anders – der Theologe. Er war für mich leichter zu verstehen und neben seiner Professur auch als Seelsorger tätig. Er begleitete Sterbende, kannte das örtliche Hospiz, sogar das Kinderhospiz – und zwar von innen. Er hörte den anderen aufmerksam zu, aber nach einer Weile ergriff er das Wort und fügte der hochfliegenden ethischen Begriffsakrobatik nur einen Satz hinzu: »Was Sie sagen, ist schlüssig, aber am Bett eines Sterbenden sieht es anders aus.«

 

Nicht nur ich, auch andere im Publikum waren von dem Satz getroffen. Es herrschte plötzlich völlige Stille. Ich stand auf und ging nach Hause. Alles war gesagt. Er hatte nicht erläutert, wie es an einem solchen Bett aussieht – jedenfalls anders; anders als in Fußnoten. Ob die Theologen die Vorstellung des Jenseits doch etwas konkreter ausgearbeitet hatten? Der Satz von der grundsätzlichen Andersartigkeit galt für viele Jahre, viele Gedanken und viele Bücher, die ich gelesen hatte. Aus der Perspektive von Leben und Tod rückt alles in ein anderes Licht. Und Licht besteht, wie die moderne Physik lehrt, aus Wellen und Teilchen zugleich. Das Licht ist also nicht einmal naturwissenschaftlich eindeutig erklärbar. Die weltlichen Erklärungen sind wichtig. Ich bin Anhänger der Aufklärung, ohne Verstand und Vernunft keine humane Religion – aber die wesentlichen Dinge lassen sich nicht zählen – sie lassen sich nur erzählen.

Gewöhnlich schreibe ich Sachbücher mit philosophischen Bezügen, nur ein Roman fällt etwas heraus. Der Urgrund dieser Bücher war nie atheistisch, aber meine religiösen Bezüge wollte ich nie vor mir hertragen, und daher blieben sie im Hintergrund. Die Zeit ist aber nun da, sich offen dem Thema des Glaubens – meines Glaubens – zu stellen. Der eine Satz des alten Professors klingt mir bis heute im Ohr. Seither denke ich über die Kunst zu glauben nach. Was lässt sich über das veränderte Licht, in dem sich das Leben zeigt, erzählen? Welche Geschichten werden durch dieses Licht gezeigt?

Noch immer liegen Bücher auf meinem Tisch, wenn auch etwas andere als damals. Um eine Religion, selbst eine Buchreligion, kennenzulernen, reichen Bücher nicht aus. Um sie zu erkunden und schließlich auf sich zu beziehen, muss man ihre spezifische Ästhetik – Musik, Malerei, Literatur – wahrnehmen, ihre Räume betreten, erfahrenen Praktizierenden begegnen und mit ihnen sprechen. Schließlich der Versuch, glaubend zu handeln, eigene Erfahrungen zu machen. Aus diesen Quellen speist sich bis heute meine Glaubenserfahrung. In einem Raum, durch ein Bild, ein Gebet oder Musik, durch Innehalten und auch durch den Umgang mit Lastern nehme ich Spuren des Göttlichen wahr. Mit dem Beruf des Autors ist verbunden, jedes esoterische Sprechen zurückzuhalten. Gute Texte sollten erhellen, nicht vernebeln. Das Schreiben als Glaubender kennt aber eine besondere Herausforderung. Julien Green notierte in seinem Tagebuch, dass Schreiben »nichts anderes bedeutet, als auf das anzuspielen, was sich nicht sagen lässt«. Das Unsagbare schwingt mit – und strebt zugleich nach Ausdruck.

Statt sachbuchhafte Objektivität zu suggerieren und durch geschlossene Systematik mein Thema einzuquetschen, ziehe ich das essayistische Umkreisen vor. Dies ist weder ein Beitrag zur zeitgenössischen Theologie noch versteckte missionarische Propaganda; es ist kein gewöhnliches Sachbuch über die »Wiederkehr des Glaubens«, sondern es dokumentiert nur, was mir immer dringlicher durch Kopf und Herz geht, seit der alte Professor auf das Bett eines Sterbenden hingewiesen hat, auf dem wir schließlich alle liegen werden. Er hat die Papiertiger – auch mich – infrage gestellt.

Ich will nichts beweisen. Ich lasse andere Ansichten gelten, ohne sie abwerten zu müssen, und habe dennoch eine klare Meinung. Der französische Philosoph Michel Foucault sagte einmal: »Das Wichtigste im Leben und in der Arbeit ist, etwas zu werden, das man am Anfang nicht war. Wenn Sie ein Buch beginnen und wissen schon am Anfang, was Sie am Ende sagen werden, hätten Sie dann noch den Mut, es zu schreiben?«

 

Die Vorbereitung zu diesem Buch beginnt zwar in meiner Kindheit, aber vor mir liegt kein Plan, ich bin nicht auf Pointen aus und habe auch keinen Plot. Vielleicht habe ich daher erst jetzt den Mut, es zu schreiben. Wie anders mit so einer schwierigen und zugleich einfachen Sache wie dem persönlichen Glauben umgehen?

Auf dem Rückweg von der erkenntnisreichen Podiumsdiskussion lief ich an einem Plakat vorbei, auf dem stand: »Für eine gesunde Intoleranz!« Ich idealisiere nicht die Vergangenheit, glaube nicht, dass alte Menschen weiser sind als junge. Ich hatte auch kein tieferes Erweckungserlebnis, wie Johnny Cash, der von Drogen zerschunden und verzweifelt in einer Höhle lag und dort Gott wiederfand.

 

Ich habe seit Kindertagen an Gott und Jesus geglaubt. Meine Mutter brachte mir früh bei: »Gott selbst ist nicht evangelisch oder katholisch, mit dem Trennenden beschäftigen sich nur die Menschen.« Die Konfessionen, Anlass für endlose Kriege, spielen für mich keine tragende Rolle, auch wenn ich immer mehr bemerke, wie katholisch ich wohl doch bin. Von meinen Großeltern bekam ich das Gotteslob, das Gesangbuch, zur Kommunion geschenkt. Ich lag in meinem Kinderbett und strich mit neongelbem Marker darin an, was mir gefiel – Textmarker auf Dünndruckseiten! – zum Entsetzen meiner Großmutter. Ich fand das Buch damals allein wegen dieser hauchdünnen Seiten und dem Goldschnitt gut. Und Textmarker fand ich gut, weil das lichte Neongelb durch den dunkelsten Tag hell strahlte.

Ich hatte unverschämtes Glück mit meinen Religionslehrern, Gemeinden und Pfarrern. Mir ist klar, dass dies in der Kirche ein nicht ganz gewöhnliches Glück ist, aber an Zufälle glaube ich auch nicht. Dies ist kein Buch über die alten Institutionen, zu der meine Meinung ziemlich klar ist, in zweifacher Hinsicht: Ich verehre und bewundere ungebrochen die Tradition katholischer Orden. »Die Orden waren immer die Reißnägel auf dem Stuhl der verfassten Kirche«, sagt die Franziskanerin Schwester Franziska Dieterle. Ich verabscheue die Machtpolitik einer Amtskirche, die Frauen diskriminiert, zu oft böse politische Machthaber hofierte und die ihr Verzeihen auch opportunistisch und ausgrenzend verteilt hat. Musste der Vatikan oder die verstorbene englische Queen, Oberhaupt ihrer Kirche, einen Donald Trump in Ehren empfangen? Wo sind die christlichen Werte, wenn es darauf ankommt? Zu glauben ist auch deshalb eine Kunst geworden, weil die christlichen Institutionen es den Gläubigen schwer machen können.

 

Zu keiner Zeit war ein tieferer Glaube durch ein schnelles Bekenntnis, eine bloße Unterschrift oder formale Mitgliedschaft zu haben. Gerade das Wirtschafts- und Kleinbürgertum liebt die strategische Anpassung ans Christliche, es wird angelegt wie eine äußerliche Verkleidung. Darunter finden sich aber seltener gelebte christliche Werte. Geld ist in diesen Kreisen oft wichtiger, Fasten oft eine Farce. An Weihnachten faltet man in der Kirche brav die Hände, um so gesehen zu werden, Parteiprogramme schmücken sich mit religiösem Jargon. Kirchliches Heiraten ist für manche ein prestigeträchtiges Event, vielleicht sogar auf Sylt; Billigfleisch wird gegessen, als habe Albert Schweitzer nie über die »Ehrfurcht vor dem Leben« geschrieben. Der Glaube, den ich meine, war nie etwas für Menschen, die es sich vor allem bequem machen, die um sich selbst kreisen und sich dem Luxus hingeben. Wer glaubt, jeder sei der Schmied eigenen Reichtums, der verleugnet den, der uns gottesebenbildlich geschaffen hat. Eine freie Wirtschaft favorisiert leider oftmals vor allem Hochmut, nicht Demut, schafft Ersatzgötter und negiert Gott.

Für meinen Glauben haben daher die Klöster, nicht aber die bürgerliche Kirche eine tragende Bedeutung. Aber auch die ist vielfältig, Engel wie Teufel. Ich begegne ihr personell mit Wohlwollen und im Hinblick auf ihre Untaten mit gesunder Intoleranz. Wenn, wie in Köln geschehen, ein Kardinal eine Liste mit den Namen von kinderschändenden Priestern vernichtet, aus Gründen des »Datenschutzes«, sollte die Staatsanwaltschaft aktiv werden. Es ist unchristlich, den falschen Männern große Macht zu übertragen. Irren ist menschlich, Fehler sind menschlich – aber aus Fehlern nicht zu lernen, aus Untaten keine Konsequenzen zu ziehen, das ist nicht nur unchristlich, sondern in manchen Fällen ist es schlichtweg kriminell. Straftaten von Kirchenleuten wurden und werden leider so lange mit wirrem, salbungsvollem Gerede ummantelt, bis die Strafverfolgung – intern wie extern – einschläft. Als ich lange erwachsen war, stand in der Regionalzeitung, dass der Pfarrer, in dessen Zeit auch mein Kommunionsunterricht fiel, Kinder missbraucht hatte. Der Schrecken der Kirche, die solche Taten bis heute milde bewertet, geschah unbemerkt hinter meinem Rücken. Ich war ihm nur durch Zufälle entgangen.

Die Distanz zur Institution schützt mich, um nicht an ihr zu verzweifeln. Mein Glaube findet daher seltener im Kirchenraum statt. Der Musiker Nick Cave ging eine Zeit lang erst zum Dealer, holte sich Heroin und sofort danach ging er in den Gottesdienst. Seine Frau riet ihm: Lass das mit der Kirche, das ist zu gefährlich für deine Gesundheit! Die Ironie rettete den großen Mystiker der Rockmusik, die unkreative Zeit der Drogen liegt lange hinter ihm, Texte mit christlichem Bezug schreibt er aber noch immer. Mich inspirieren derartige Geschichten. Ich suche Gott weiterhin außerhalb theologischer Schriften, im Herzen der Kunst. Im Tagebuch der Schriftstellerin Patricia Highsmith, einer homosexuellen Außenseiterin mit Hang zu Geschichten über das Böse, fand ich eine für mich überraschende, aber inspirierende Passage. Sie fasst meine Mission in Worte: »Ein Schriftsteller sollte nicht denken, dass er sich von anderen Menschen so sehr unterscheidet, denn das ist der Weg zum Elfenbeinturm. Er hat einen bestimmten Teil von sich weiterentwickelt, der in jedem Menschen angelegt ist: das Erkennen, das Niederschreiben. Nur wenn er diese demütige und heroische Tatsache erkennt, kann er das werden, was er sein muss: ein Medium, ein Fenster zwischen Gott auf der einen Seite und dem Menschen auf der anderen.«E

 

Am Tag nach der Podiumsdiskussion mit dem alten Theologen hörten für mich einige Bücher auf, glanzvoll zu schimmern, und einige Ersatzikonen verwandelten sich wieder in gewöhnliche Menschen. Jahrelang hatte ich den Wunsch, mit irgendeiner geistvollen und schönen Frau im Hotel zu leben, wie Sartre und Beauvoir, aber inzwischen bin ich froh, eine eigene Küche zu haben. An manchen weltlichen Denkern erkannte ich die egozentrische Manieriertheit, die vermessene Selbstadelung. Sie hielten sich nicht für Sucher, sondern für Götter, aber sie waren keine Fenster zwischen Mensch und Gott. Ihre Werke enthalten vielleicht interessante Thesen, aber am Bett eines Sterbenden verblassen sie. Ich musste anders und noch mal neu anfangen. Nach dem langen Gedankenstrich folgt wieder ein Wort. Damit ist das erste Thema angestimmt, eines meiner zentralen Glaubensmotive ist es, anzufangen.

1Anfangen

I. Ganz am Anfang sind wir, siehst du.

Wie vor Allem. Mit

Tausend und einem Traum hinter uns und

ohne Tat.

 

II. Ich kann mir kein seligeres Wissen denken

als dieses Eine:

daß man ein Beginner werden muß.

Einer der das erste Wort schreibt hinter einen

jahrhundertelangen

Gedankenstrich.

Mit diesen Zeilen aus Rainer Maria Rilkes »Notizen zur Melodie der Dinge« begann ein Brief, der mich im richtigen Augenblick erreichte. Ich hatte gerade die Gedanken und Notizen zum ersten Kapitel geordnet. Die Briefschreiberin konnte nicht wissen, was auf meinem Schreibtisch lag. Meine Gliederung hatte ich noch niemandem gezeigt. Die mir unbekannten »Notizen« finden sich im fünften Band der Rilke-Ausgabe versteckt, unter weniger zentralen Werken, den kurzen Prosaarbeiten und Rezensionen, »Aufsätze, Anzeigen und Betrachtungen«. Ein Antiquar sandte mir schließlich, achtsam in Papier eingeschlagen, das Buch. Eine von vielen Fügungen meines gläubigen Alltags, einer von vielen Briefen an mich.

 

Gedichte sind eine komprimierte Darstellungsform, sie enthalten eine Essenz, wirken sinnlich. Schon Kinder lassen sich von Reimen und Liedern beruhigen. Mein Kindergebet war ursprünglich ein romantisches Gedicht von Luise Hensel aus dem 19. Jahrhundert; zwei Strophen daraus bilden das berühmte Liedchen, das auch meine Tochter jeden Abend singt:

 

Müde bin ich, geh zur Ruh,

schließe meine Augen zu.

Vater, lass die Augen dein

über meinem Bette sein. (…)

 

Alle, die mir sind verwandt,

Gott, lass ruhn in deiner Hand;

alle Menschen, groß und klein,

sollen dir befohlen sein.

Sie ersetzt »über meinem Bette« durch eine Liste von Namen, unter denen sich auch der ihres Lieblingsstofftiers »Bäri« befindet. Es reicht ihr nicht, dass nur ihr Bett unter dem Schutz Gottes steht; Mutter, Vater, deren Partner und ihr Kuschelbär sollen auch bedacht sein. Das Gebet erzeugt in mir eine Geborgenheit, die mich bis heute ergreift, wenn ich gute Gedichte lese. Meine Fähigkeit, mich ihnen hinzugeben, sie zu spüren, liegt begründet in den ersten Gebeten meiner Kindheit. Und meine Art, Bücher zu lesen, Stellen zu kennzeichnen und hinten die Seitenzahlen zu vermerken, ist noch immer gefärbt vom suchenden Blättern im Gotteslob, nur dass ich keinen gelben Textmarker mehr nutze, sondern Bleistift. Wenn ich Menschen sehe, die in Büchern mit Neongelb markieren, muss ich daran zurückdenken. Jedes gute Buch hat für mich den Zauber eines imaginären Goldschnitts meiner Erinnerung; und jeder gute Autor gelangt in Tuchfühlung mit etwas, das die materielle Welt übersteigt. Gut gemachte Bücher sind selige Gegenstände, weil sie mit den Heiligen Schriften verwandt sind. Drei der Weltreligionen sind Buchreligionen. Die erfolgreichsten Blockbuster und TV-Serien beruhen ebenfalls häufig auf Büchern. Das Versenken in literarischen Texten ist eine zentrale europäische Form der Meditation. Meine Tochter, die manchmal Wörter erfindet, wie sie sie braucht, bezeichnet innig lesende Menschen als »eingetieft«.

 

Anders als einen Roman, den man lesend weiter fortsetzt, beginnt ein Gedicht immer wieder von vorn, einfach deshalb, weil es kürzer ist und man es in der Regel bis zu Ende liest. Liest man es noch einmal, erlebt man den Anfang wieder neu – und jedes Mal ein bisschen anders als beim vorherigen Mal. Jeder neue Anfang hat Reiz und Unsicherheit zugleich. Der Anfänger genießt Welpenschutz, er ist voller nervöser Spannung, die Wahrnehmung ist unüblich weit geöffnet. Erster und letzter Eindruck wirken am stärksten, und Gedichte bestehen aus Erst- und Letzteindruck zugleich.

Wer im Straßenverkehr noch neu ist, klebte sich früher einen Aufkleber aufs Auto, »Anfänger«. Er ist noch unsicher, aber bereits unterwegs. Er tastet sich innerhalb des großen Verkehrs teilnehmend in ihn hinein. Als Student lief ich zu den Buchläden, in denen reduzierte »Mängelexemplare« zu bekommen waren; dann ging ich zu einem Café und stöberte in den Neuzugängen. Eines Nachmittags, ich hatte Bücher von Jean-Paul Sartre gefunden, saß ich wieder dort. Ich las mich ein in die inspirierende Aufforderung, die Freiheit zu nutzen. Es gibt schließlich keine humane Alternative, wir sind zur Freiheit verurteilt. Sein kühles Plädoyer für die Eigenverantwortlichkeit und seine Vorstellung von Engagement steckten mich an. Im Café saßen die üblichen Verdächtigen. Menschen, die einsam sind, und andere, die froh sind, endlich etwas Zeit allein verbringen zu können. Ich bin ein Liebhaber von Wien und seinen Kaffeehäusern. Ein buntes, alltägliches Treiben. Eine Kellnerin brachte mir Espresso und Wein, blieb an meinem Tisch stehen und wandte sich zu ihrer Kollegin, die an der Theke saß. Sie rief durch den großen Raum: »Wann fängst du an?« Der Satz hallte doppeldeutig in mir nach. Ja, wann fange ich mal wieder an?

 

Ein japanischer Meister hat den Geist des Anfängers in einem Buch beschrieben, ein Klassiker der zen-buddhistischen Literatur. In einer Krise, mein Leben war zum Hamsterkäfig geworden, stieß ich auf Shunryu Suzuki. Eigentlich wurde ich darauf gestoßen, von zwei Männern, mit denen ich seit Jahren abends in einer Bar stand und von denen ich nie erfahren hatte, was sie eigentlich trieben. Der eine war übersät mit Tätowierungen, und ich wusste, dass er Sänger einer Punkband war; den anderen traf man nie ohne Espresso, Zeitung und Zigarette an. Dass beide keinen Alkohol tranken, fiel mir erst später auf. Eines Abends, ich klagte über mein Leben, empfahlen sie mir das Buch von Suzuki. Ich erfuhr schließlich, dass der eine das örtliche Zen-Dojo leitet und der andere eine etablierte Yogaschule. Das hatte ich nicht erwartet. Männer mit religiösen Bezügen hatte ich mir anders vorgestellt. Und vorher hätte ich mir auch nicht vorstellen können, dass Zen-Dojo in der Folge einige Jahre meines Lebens prägen würde. Der Yogalehrer, der jedes Jahr viele Wochen in Indien verbrachte, teils zur weiteren Ausbildung, aber auch als Reisender, nannte mir zum ersten Mal den Namen von Pater Hugo Lassalle, einem Jesuitenpater, der in Japan als Zen-Lehrer ausgebildet worden war. Er brachte die Meditation nach Europa und machte die Menschen mit den strengen Übungstechniken bekannt. In seinem jesuitisch offenen Geist kombinierte er die Geistesruhemeditation mit Texten christlicher Mystik, und in den Praktizierenden entstand so ein innerer interreligiöser Dialog. Ich finde das zeitgemäß. Von islamischen und jüdischen Mystikern, von buddhistischer Praxis und Psychologie … aus allen Religionen können wir etwas lernen, das uns Gott einen Schritt näherbringt. Dabei geht es nicht darum, alles beliebig so zu mischen, wie es gefällt. Aber eine Begegnung von Praktiken und Texten, die eine starke innere Verbindung haben, bereichert alle.

 

Die Bücher von Suzuki und Lassalle stehen seit vielen Jahren weit vorn in meinem Bücherregal, immer griffbereit. »Zen-Geist Anfänger-Geist«, schreibe ich von Hand ab. Die Methode des Kopierens hat im ostasiatischen den Charakter eines Gebets. Es ist tätige Anverwandlung der Inhalte. Die Handschrift wirkt auf unseren Geist. Meister Suzuki schreibt: »Im Anfänger-Geist gibt es viele Möglichkeiten, im Geist des Experten nur wenige.«

 

Der Weg führt eben nicht nur, einem Aufstieg gleich, vom unsicheren Laien zum souveränen Experten. Die von Moderne und Kapitalismus geprägte Ideologie suggeriert: Es gibt Karrieren, Aufstiege, Fortschritt, Wachstum und Profitmaximierung. Wir denken zu schnell an einen Weg, der bergauf führt, an »Aufstieg«. Zugleich enthält dieser Weg die Gefahr, sich in gewohnten Bahnen zu bewegen und nur noch fremden Hinweisschildern zu folgen. In der Routine vergessen wir, was wir tun. Und dass es jenseits etablierter Bahnen noch vieles andere gibt. Je mehr wir wissen, desto eher mauern wir uns darin ein, desto stärker denken wir in vorgefertigten Schemata. Im Gespräch mit Kindern, die irgendwann alles hinterfragen und erklärt haben wollen, fällt es einem auf. Als ich mit meiner Tochter im Buchladen war, nahm sie ein Philosophiemagazin aus dem Regal, das ein Porträt von Michel Foucault zeigte. Sie fragte mich, was Philosophie sei. »Du hast das studiert, du musst das wissen.« Ich überlegte und erläuterte, dass diese Berufsgruppe das Denken zum Hauptberuf machen würde und sich den großen, wichtigen Fragen des Lebens widme. Sie sah mich verständnislos an und sagte, das sei doch ganz einfach! »Dafür soll ich lange studieren? Die drei wichtigen Fragen sind: Soll ich dieses Buch kaufen? Wann gehen wir nach Hause? Was essen wir zu Mittag?« Ihre Antworten könnten in einem der Bücher stehen, in denen die Meister auf die abstrakten Fragen mit dem schlichten Verweis auf das antworten, was als Nächstes ansteht. Die Antwort auf die Fragen nach dem Sinn des Lebens lautet dann: Hast du deine Teeschale schon gespült?

Zum Foto von Foucault meinte meine Tochter, man würde sehen, dass Philosophen zu viel nachdenken würden, sie sähen viel zu ernst aus. Ich sagte ihr, dass er als Franzose sicher ein geregeltes Mittagessen, wahrscheinlich mit einem Glas Wein, nicht vergessen hätte – sie war zufrieden und sah zumindest für die französischen Philosophen noch Hoffnung. Ein Leben ohne Pausen und ohne Genuss hat jedenfalls keinen höheren Sinn.

Am Anfang der Entwicklung des menschlichen Denkens steht eine Weisheit, die uns verloren geht. Matthäus erzählt von Jesus, der die Kinder zu sich ruft und sagt: »Wer so klein sein kann wie dieses Kind, der ist im Himmelreich der Größte.« Jeder, der Kontakt zu Kindern hat, weiß um die Weisheit, die von ihnen ausgehen kann. Ich habe die Passage nie psychologisch gelesen. Kinder sind auch grausam, grob, ungeschickt – aber ihr Geist ist der von Anfängern, er ist frisch und gegenwärtig, er hängt nicht an Bewertungen. Geheult wird nur so lange, wie es wehtut – eine Minute später ist alles vorbei, und sie lachen aus vollem Herzen. Diese Fähigkeit führt in den Himmel. Die Welt ist, in abstrakter Sicht, furchtbar – ganz im Gegensatz zum Alltag vieler Menschen, der mehr als passabel ist. Viele Klagegeister sitzen in Friedenszeiten gesund vor einem guten Kaffee und malen sich das Leben schwarz; während Menschen in Not die Hoffnung aufrechterhalten und das Lebenswerte am Leben erkennen.