Die Kunst zu sterben - Anna Grue - E-Book

Die Kunst zu sterben E-Book

Anna Grue

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Beschreibung

"Bücher, bei denen man vergisst, im Bus an der richtigen Haltestelle auszusteigen" - so beschreibt Annemarie Stoltenberg, NDR, die Fälle von Dan Sommerdahl. Dänische Krimikost vom Feinsten: raffiniert, packend und erfrischend bissig. Die dänische Provinzstadt Christianssund steht kopf: Die hoch angesehene Literaturkritikerin Ingegerd Clausen liegt ermordet im Atelier ihrer Tochter Kamille. Kommissar Flemming Torp hat einen Verdacht, aber keine Beweise. Als Kamille zusammen mit Torps Jugendfreund und Privatermittler Dan Sommerdahl in die TV-Reality-Show Mörderjagd eingeladen wird, wittert Torp eine Chance. Er bittet Dan, Kamille zu beschatten - und vor laufender Kamera verdeckte Ermittlungen anzustellen. Dan und Kamille werden gemeinsam mit den anderen Teilnehmern in den Mauern eines alten Sanatoriums auf einem Eiland untergebracht, das im Volksmund nur "Die Seufzerinsel" genannt wird. Die Show, in der die Zuschauer die Teilnehmer "ermorden", indem sie sie aus der Sendung wählen, beginnt. Als Dan kurz darauf in seinem Bettkasten eine schreckliche Entdeckung macht, muss er erkennen, dass neue Regeln auf der Seufzerinsel gelten - und dass das Morden plötzlich kein Spiel mehr ist.

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Für Jesper,

den Vormann meines Lebens

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Personengalerie

Die Familie Sommerdahl

Dan: kahlköpfiger Werber mit Hang zu Verbrechen

Marianne: seine Frau, praktische Ärztin

Laura: achtzehn Jahre alt, Gymnasiastin

Rasmus: zweiundzwanzig Jahre alt, versucht, an der Filmhochschule unterzukommen

Die Polizei von Christianssund

Flemming Torp: Polizeikommissar, hat eine Freundin namens Ursula

Frank Janssen: Ermittler

Pia Waage: Ermittlerin

Kjeld Hanegaard: Hauptkommissar

Knud Traneby: Leiter der Spurensicherung

Svend Giersing: Rechtsmediziner

Die Familie des Opfers

Ingegerd Clausen: pensionierte Literaturkritikerin

Jørn Clausen: Dichterkönig

Kamille Schwerin: ihre gemeinsame Tochter, Bildhauerin

Lorenz Birch: Kamilles Ehemann, Millionär, Mäzen, Machtmensch

»Mörderjagd«

Mahmoud Hadim: Produktionsleiter

Lilly Larsen: Krimiautorin mit Schoßhund

Kirstine Nyland: arbeitslose Schauspielerin

Tim Kiilberg: freigestellter Fernsehreporter ohne Bezüge

Kristian Ludvigsen: konservativer Politiker auf dem Weg nach oben

Jackie S: wurde in diesem Jahr bei X Factor Achte oder Neunte

Gunnar Forsell: junger Modeschöpfer mit Ambitionen

Gitte Sandlauw: alternde Expertin für Umgangsformen

Mads Krogsgaard: Bauer mit einem Händchen fürs Schafemelken

Jane Krogsgaard: seine ökologisch orientierte Ehefrau

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Vorgeschichte

August

1

Viertel vor zwei. Höchste Zeit, zu verschwinden. Kamille konnte jeden Moment nach Hause kommen, und Ingegerd hatte absolut keine Lust, noch einmal erwischt zu werden. Die kleinen donnerstäglichen Rundgänge im Haus der Tochter sollten möglichst geheim bleiben. Als sie zum ersten Mal entdeckt worden war, hatte sie gesagt, es handele sich um ein Missverständnis. Ich dachte, ich sollte heute die Blumen gießen, Schatz. Beim zweiten Mal war es ein wenig peinlich gewesen. Bitte entschuldige, Schatz, mein Gedächtnis ist auch nicht mehr, was es mal war. Aber ein drittes Mal? Es hieße, das Schicksal herausfordern.

Ingegerd war sich sicher, dass Kamille dann die Schlösser auswechseln lassen würde. Und man hätte es ihr nicht einmal verdenken können. Im Grunde war es eine Schande, die eigene Tochter auszuspionieren. Erbärmlich. Ingegerd hasste sich dafür. Die naheliegendste Lösung wäre natürlich gewesen, sofort damit aufzuhören und das zu tun, was sie ihrem Mann gegenüber immer zu tun behauptete. Ich gehe ein bisschen Rad fahren, Jørn. Soll ich was vom Netto mitbringen? Oder vom Bäcker?

Doch so entschieden ihre Vorsätze auch waren, sobald sie ihre Wohnung verlassen hatte, waren sie oft genug vergessen. Dann landete sie vor Kamilles rot lackierter Haustür, an der eine perfekt getrimmte Buchsbaumkugel Wache hielt und sie wie ein riesiger dunkelgrüner Augapfel anglotzte. Sie klingelte. Redete sich ein, dass sie wieder gehen würde, wenn niemand reagierte. Nach Hause zu Jørn. Ingegerd versuchte wirklich zu widerstehen, aber vergeblich. Den Schlüssel ins Schloss, Klinke gedrückt, Tür auf; ein letzter Blick auf das Buchsbaum-Auge, bevor sie lautlos die Tür hinter sich schloss und im dunklen Eingangsbereich stehen blieb. Sie nahm den vertrauten Geruch des Hauses wahr, während sie die vier Ziffern eintippte, mit denen die Alarmanlage abgeschaltet wurde.

Donnerstags unterrichtete Kamille an einem Gymnasium in Kopenhagen. Und Ingegerd nutzte die Gelegenheit, sich ungestört in dem hellen, ordentlichen Heim aufzuhalten, das den Mittelpunkt des Lebens ihrer Tochter und ihres Schwiegersohns bildete. Eines Lebens, von dem Ingegerd sich von jeher ausgeschlossen fühlte. Sicher, man sah sich, so war es nicht, aber dennoch … Ingegerd hatte es im Grunde aufgegeben, wissen zu wollen, was an ihrem Verhältnis nicht stimmte. Eng war es jedenfalls nicht, aber so verhielt es sich vermutlich bei vielen Müttern und Töchtern. Daran lag es nicht. Oder nicht nur. Kamille und sie waren so verschieden, dass man nicht vermutete, sie seien Mutter und Tochter. Hätte Kamille nicht diese langen, seitlich gebogenen Finger geerbt, würde Ingegerd tatsächlich den Verdacht hegen, es könnte auf der Entbindungsstation zu einer Verwechslung gekommen sein. Ihrem Vater ähnelte sie schon mehr. Das Misanthropische hatte sie von ihm, jedenfalls bildete Ingegerd sich das ein. Ebenso die Haarfarbe. Hin und wieder zweifelte Ingegerd, ob sie ihr einziges Kind überhaupt mochte. Ein Gedanke, den sie mit aller Macht zu verdrängen suchte, der sich aber langsam und stetig in ihr Bewusstsein bohrte. Schwer zu ertragen. Es war eine Sache, dass sie ihren Mann satthatte, aber eine ganze andere, dass sie allmählich die Liebe zu ihrer erwachsenen Tochter verlor.

Ingegerd kannte durchaus auch Kamilles andere, die entgegenkommende, charmante Seite. Die zeigte sich allerdings eher bei offiziellen Anlässen, bei Empfängen, Vernissagen und Einladungen zum Abendessen. Andere Menschen bewunderten Kamille, hielten sie für eine gute Gesellschafterin, und gewisse ältere Kunstprofessoren eiferten geradezu um ihre Gunst. In Wahrheit war sie wohl nur gegenüber Ingegerd so distanziert. Kamille lud ihre Eltern häufig zu derartigen Veranstaltungen ein. Ingegerd versuchte dann, sich über die Aufmerksamkeit zu freuen, das gute Essen zu genießen und sich einzubilden, sie seien aus Freundlichkeit, ja vielleicht sogar aus einer Art von Liebe eingeladen worden. Tief in ihrem Inneren wusste sie jedoch genau, dass sie nur als glamouröse Staffage dienten. In Kamilles und Lorenz’ Kreisen war Jørn Clausen als einer der hervorragendsten Lyriker seiner Generation bekannt, und Ingegerds Ruf als scharfe und engagierte Literaturkritikerin bei Dänemarks größter Tageszeitung war noch nicht verblasst, obwohl sie bereits vor mehreren Jahren in Rente gegangen war. Die beiden hoben ganz einfach das Niveau bei gesellschaftlichen Ereignissen.

Die geselligen Anlässe verbesserten das Verhältnis zwischen Kamille und Ingegerd indes nicht. Im Gegenteil. Ingegerd fiel es unglaublich schwer, ihre Verwirrung zu verbergen, wenn Kamilles Gesicht sich innerhalb einer Viertelsekunde – der Zeit, die es brauchte, um den Blick von dem Gesicht eines einflussreichen Museumsdirektors auf das Gesicht ihrer Mutter zu richten – von zuvorkommender Nähe in eine ausdruckslose Maske verwandelte. Jedes Mal riss eine weitere Faser in dem Band, das sie eigentlich verbinden sollte. Jedes Mal wuchs in Ingegerd das Gefühl, ihre Tochter sei eine Fremde. Und jedes Mal zerriss sie der Kummer.

Vor knapp einem Jahr hatte Kamille ihr eines Tages plötzlich einen Schlüssel zu ihrem Haus gegeben. Ob die Mutter so nett sein und die Post aus dem Briefkasten nehmen könne, während sie und Lorenz für ein paar Wochen nach Los Angeles reisten? Ich erwarte ein Paket, das vom Postamt geholt werden muss, bevor es zurückgeschickt wird. Auf dem Schreibtisch liegt eine Vollmacht. Und wenn sie bei der Gelegenheit auch die Blumen gießen würde? Dann wäre sie ihr sehr dankbar. Ingegerd hatte selbstverständlich zugestimmt. Man ist doch ein hilfsbereiter Mensch, eine liebevolle Mutter. Sie hatte es in keiner Weise bereut. Denn dort, in Kamilles leerem Zuhause, empfand sie endlich – zum ersten Mal wieder, seit die Tochter klein war – eine Art Nähe. Ingegerd lief in Strümpfen über den kalten Fußboden, hob hier ein Kissen, rückte dort ein schief hängendes Bild zurecht und blätterte im Atelier in Kamilles Skizzenbüchern, während ihre Füße eiskalt wurden. Bereits beim zweiten Besuch nahm sie sich Hausschuhe mit, und von da an lagen immer ein Paar Slipper in einer ihrer Fahrradtaschen; ein physisches Zeugnis, dass sie trotz guter Absichten nicht im Sinn hatte, die heimlichen Besuche im Haus ihrer Tochter aufzugeben.

Sie fand es großartig, in Kamilles Atelier umherzugehen und die fertigen und halb fertigen Werke ihrer Tochter zu begutachten. Zum ersten Mal konnte sie sich ihre Kunst ansehen, ohne dabei scharf beobachtet zu werden. Wenn ihr danach war, konnte sie vor einer Skulptur stehen bleiben und sie eine ganze Stunde lang betrachten. Es gab niemanden, der ihr eine Meinung abnötigte und danach beleidigt war, weil sie gesagt hatte, was schließlich gesagt sein musste.

Unglücklicherweise erlaubte Ingegerd Clausens unbestechliche Rezensentenseele ihr nicht zu lügen. Nicht einmal ihrer Tochter gegenüber. Sie brachte es nicht fertig, begeistert über die kühl kalkulierten Skulpturen aus Gips, Stahl, Draht, Glas- und Spiegelstücken zu jubeln. Egal, aus welchem Winkel man sie ansah, das eigene Spiegelbild wurde zu einem Teil des Werkes, Seite an Seite mit einigen stark vergrößerten Details aus Kamilles eigener Physiognomie – eine riesige Brustwarze hier oder der Ausschnitt eines Ohres dort. Ingegerd gewöhnte sich nie daran, wie sie sich in den Skulpturen auf geradezu beunruhigende Weise mit ihrer Tochter vermischte. Es erschien ihr falsch, zumal wenn sie an die Distanz dachte, die in der Realität zwischen ihnen herrschte. So gesehen wirkte die Vermischung quälend intim und aufdringlich. Ingegerd hatte die Werke ihrer Tochter nie gemocht, doch durch die vielen Stunden, die sie allein mit ihnen verbracht hatte, war sie inzwischen vielleicht ein klein wenig immuner geworden. Auf ihren donnerstäglichen Runden konnte sie die Entstehung jeder einzelnen Skulptur verfolgen und sich langsam an sie gewöhnen; so überwand sie ihr Unbehagen und reagierte entspannter, wenn Kamille sie öffentlich präsentierte.

Das Atelier war ebenso aufgeräumt wie der Rest des Hauses. In hübschen, handgefertigten Schachteln lagen Spiegelreste, Zeichenkohle, Papier und andere Kleinigkeiten ordentlich aufgereiht in den Designerregalen. In der untersten Regalreihe standen glänzende viereckige Stahlbehälter, die sorgsam mit Deckeln verschlossen waren. In ihnen bewahrte die Künstlerin Gipspulver und einige größere Maschinen auf, die mit ihren unpraktischen Kabeln und klobigen Formen nicht einfach herumliegen sollten. Kamilles Arbeitstisch bestand aus einer drei Quadratmeter großen lackierten Holzfaserplatte, auf der nicht ein einziges Stück Papier an der falschen Stelle lag. Die Skizzen in einem Stapel, die Texte in einem anderen. Der Fußboden – ein auf Hochglanz polierter Betonboden, der wie feinstes Marmor schimmerte – war stets sorgfältig gefegt und geputzt. Sämtliche Spuren der täglichen Arbeit mit Gips, Draht und Lötzinn waren wie weggeblasen, wenn Kamille Feierabend machte. Pünktlich um fünf schenkte sie sich das erste von drei Gläsern Rotwein am Tag ein und begann, das Abendessen vorzubereiten. Pünktlich, präzise, ordentlich – es war fast schon neurotisch. Von wem hatte sie das bloß? Jedenfalls nicht von ihren Eltern, dachte Ingegerd. Ihre Wohnung glich der des Maulwurfs aus Der Wind in den Weiden, alles voller Möbel, Geschirr, Vasen und Kisten, Bücher und Fotos. Und einer reichlichen Menge Staub.

Außer den großen Oberlichtern gab es keine Fenster in dem hohen Raum. Eine Tür führte direkt in den atriumartigen Garten, in dem Kamille stand, wenn sie mit dem Schweißbrenner oder dem Winkelschleifer arbeitete, eine zweite Tür führte in den Eingangsbereich. Wenn man mit seiner Arbeit allein sein wollte, war dies der perfekte Ort. Ingegerd dachte an ihre eigene Arbeitsecke daheim im Wohnzimmer und erlaubte sich, zutiefst neidisch zu sein. Hier kriegte es ja niemand mit. Hätte sie solch einen Raum nur für sich, so abgesondert, so privat, so … Wer weiß? Vielleicht hätte sie den Roman geschrieben, von dem sie immer geträumt hatte? Vielleicht auch nicht. Aber sie hätte zumindest die Möglichkeit gehabt, ungestört zu arbeiten.

Es stand nur nie zur Diskussion. Sicherlich hatte Ingegerd in der Familie das Geld verdient, doch ein richtiges Arbeitszimmer mit einer Tür, die sich schließlich ließ, brauchte Jørn, der große Dichter. Jeder verstand, dass seine Kunst Ruhe erforderte, während ihre Arbeit eigentlich überall erledigt werden konnte. Diese paar Kritiken, so schwer konnte das nicht sein.

Ingegerd spürte, wie sehr die in vielen Jahren angestaute Frustration an ihr zehrte. Sie riss sich zusammen, bevor die Wut sie übermannte. Es dauerte Tage, um diese Wut wieder unter Kontrolle zu bekommen. Sie musste jetzt gehen; nach Hause zu Jørn, in ihre stickige Dreizimmerwohnung. Sie machte eine letzte Runde, ließ den Blick über die blanken Oberflächen wandern, überprüfte, ob alles so aussah wie vor ein paar Stunden, als sie gekommen war. Als sie sich ganz sicher fühlte, ging sie zur Haustür, wo ihre Schuhe standen.

Plötzlich hörte sie den Kies in der Einfahrt knirschen. Konnte das schon Kamille sein, die nach Hause kam? Die Angst ließ ihre Muskeln erstarren, ein paar Sekunden stand sie wie gelähmt da, mit der Jacke über dem einen und der Tasche unter dem anderen Arm, halb über ihre Schuhe gebeugt. Einen Augenblick später setzte sie sich in Bewegung. Sie griff ihre Schuhe, drehte sich um und lief die kurze Treppe zum Atelier hinunter. Ihr Blick war starr auf die Tür gerichtet. Konnte sie es schaffen, diese Tür zu erreichen, bevor Kamille die Haustür öffnete? Konnte sie sie wieder zuwerfen, bevor ihre Tochter das Haus betrat? Würde der Lärm sie verraten? Und wenn es gelang, was dann? Wie würde sie aus dem Atriumgarten wieder herauskommen? Sollte sie über die Mauer zum Nachbarn klettern? Was, wenn sie dabei einen Schuh verlor? Ihre Tasche? Oder die Jacke?

Die Entfernung zwischen den beiden Türen des Ateliers betrug knapp acht Meter, und Ingegerd Clausen lief die Strecke, so schnell sie nur konnte. Und doch nicht schnell genug.

2

Die alte Dame war noch am Leben, als die Polizei eintraf. Sie lag halb auf der Seite, einen Arm auf dem Fußboden ausgestreckt, die Handfläche nach oben, mit leicht gekrümmten Fingern: die Hand einer Bettlerin. Das gestreifte Sommerkleid war hochgerutscht und entblößte die nackten Oberschenkel mit den deutlich sichtbaren Krampfadern, ein ausgelatschter roter Lederslipper war ihr vom Fuß gerutscht. Unter ihr hatte sich eine Pfütze aus Urin ausgebreitet, der scharfe Geruch stand in der Luft. Das dichte, dunkle Stirnhaar warf einen scharfen Schatten auf ihr Gesicht. Allerdings wirkte das Haar ein wenig zu dicht. Etwas zu dunkel. Und der Schatten ein bisschen zu scharf, der Winkel nicht korrekt, als hätte sie jemand skalpiert. Die Erklärung erwies sich als simpel: Durch den Sturz war ihre Perücke verrutscht. Noch ein unwürdiges Detail der Umstände um Ingegerd Clausens Tod.

Diese Beschreibung hörte Polizeikommissar Flemming Torp später von den zwei Streifenpolizisten, die sie gefunden und den Krankenwagen gerufen hatten. Man brachte Ingegerd Clausen noch mit Blaulicht ins Krankenhaus, allerdings vergeblich. Ihre Tochter hielt ihre Hand, als sie eine halbe Stunde später aus dem Leben schied, ohne noch einmal das Bewusstsein erlangt zu haben. Wäre sie auf der Stelle tot gewesen, hätte die Polizei die Möglichkeit gehabt, ihre Leiche zu fotografieren, den Abstand zur Wand und zu den Türen zu messen, festzuhalten, wie ihr Körper im Verhältnis zu dem riesigen Chaos im Raum lag. Nun konnte man sich lediglich auf die Zeugenaussagen der Polizeibeamten und der Sanitäter stützen.

Möglicherweise reicht das ja, dachte Flemming Torp. Er stand auf der Schwelle zum großen Ateliers, das durch die Oberlichter in das warme Licht der Abendsonne getaucht wurde. Er ließ den Blick über den unmöglichsten Tatort schweifen, den man sich vorstellen konnte. Was einmal eine Reihe fast fertiger Skulpturen gewesen war, hatte sich in Tausende Bruchstücke verwandelt. Überall lagen Gipsstücke, Glasscherben, Draht, verbogenes Metall, Papierschnipsel und zerfledderte Skizzenbücher in einer Schicht aus pulverisiertem Gips. Sollte es Spuren des Täters geben, würden sie weit schwerer als gewöhnlich zu finden sein.

Von der Zerstörungswut war nur dieser Raum betroffen, alle anderen Zimmer des Hauses sahen einwandfrei aus, geradezu klinisch sauber. Ein rascher Rundgang hatte gezeigt, dass sich offensichtlich alles an seinem Platz befand. Die drei Flachbildschirmfernseher ebenso wie die B&O-Anlage und die Computer in den beiden Arbeitszimmern. Flemming hätte sich gern ein wenig im Atelier umgesehen, aber er wusste, dass er es nicht betreten durfte, bis die Spurensicherung es freigab.

Er beschloss, die Wartezeit zu nutzen, um die Tochter des Opfers zu vernehmen – die Künstlerin, deren Skulpturen jemand komplett zerstört hatte. Kamille Schwerin, so hieß es, sitze in Tränen aufgelöst am Bett ihrer toten Mutter im Krankenhaus. Nur ungern wollte Flemming sie darum bitten, das Krankenhaus zu verlassen, lieber machte er sich auf den Weg und redete dort mit ihr. Er hinterließ eine Nachricht für den Leiter der Spurensicherung und zog sich an der Haustür gerade die blauen Plastiküberzieher von den Schuhen, als sein Handy klingelte. Er überlegte, ob er den Anruf sofort annehmen oder zuerst das Schuhprojekt zu Ende bringen sollte. Für den Bruchteil einer Sekunde nahm der Ermittlungsleiter dieselbe Stellung ein wie das Opfer, als es den Kies in der Einfahrt knirschen hörte. Allerdings würde keiner der beiden es je erfahren.

Flemming entschied sich, zog das Plastikfutteral von seinem zweiten Schuh und fischte erst dann das Telefon aus der Jackentasche. »Torp.«

»Hanegaard.«

Der Hauptkommissar. Was jetzt?»Ja, hallo«, sagte Flemming laut.

»Wie geht’s?«

»Ich bin an einem Tatort, vielleicht können wir uns morgen unterhalten?«

»Ich will dich nicht länger als unbedingt nötig stören, Flemming«, erwiderte sein Chef ein wenig pikiert. »Ich rufe lediglich an, um sicherzugehen, dass du weißt, in wessen Haus du dich befindest.«

»Hier wohnt Kamille Schwerin, eine Bildhauerin. Sie ist die Tochter des Opfers.«

»Und ihr Mann?«

»Ist verreist. In die USA, soweit ich weiß.«

»Aber du weißt nicht, um wen es sich handelt?«

»Schwerin … Sollte da etwas bei mir klingeln?«

»Er heißt nicht Schwerin. Du bist im Haus von Lorenz Birch.«

»Dem Lorenz Birch?« Flemming ließ den Blick mit erwachtem Interesse durch das geschmackvoll eingerichtete Entree schweifen, in dem sich eine stattliche Treppe hinauf zum ersten Stock wand – beleuchtet von einem beeindruckenden modernen Kronleuchter, der haargenau so aussah wie eine verkleinerte Ausgabe der Riesenkugeln im Foyer der Kopenhagener Oper. Vielleicht hatte ihn sogar derselbe Künstler entworfen?

»Bist du noch da, Flemming?«

»Ja, ja.« Er räusperte sich. »Das erklärt einiges«, fügte er dann hinzu.

»Was meinst du?«

»Du solltest dieses Haus mal sehen.«

»Der Mann ist Multimillionär. Was hast du erwartet?«

»Gar nichts habe ich erwartet. Ich wusste ja nicht, dass es sich um sein Haus handelt.«

Hanegaard stieß ein Geräusch aus, das irgendwo zwischen Husten und Lachen zu lokalisieren war. »Dachte nur, du solltest es wissen.«

»Danke.« Flemming öffnete die Haustür und sah sich ein letztes Mal um. Der kugelrunde Kronleuchter glitzerte im Abendlicht eines strahlend schönen Augusttages.

Er stieg ins Auto und blieb einen Moment still sitzen. Lorenz Birch. Sieh einer an. Flemming hatte gewusst, dass der einflussreiche Birch in Christianssund wohnte, gesehen hatte er ihn allerdings noch nie. Das Anwesen lag im ältesten Villenviertel der Stadt, in dem sich ausschließlich palastartige Kästen aneinanderreihten. Sie zogen sich den Hügel hinauf bis zum Wald, Christianssunds höchstem Punkt. Sämtliche Gärten waren hier terrassenförmig angelegt, weil es so steil war. Sie gaben dem Viertel einen südländischen Flair. Von jedem der wohlgepflegten Häuser hatte man eine grandiose Aussicht auf das Stadtzentrum, den Hafen und den Fjord. Natürlich wohnte Lorenz Birch hier im Viertel. Das hätte Flemming auch getan, würde er über finanzielle Mittel in dieser Größenordnung verfügen. Einen hübscheren Ort gab es in ganz Dänemark nicht. Jedenfalls nicht, wenn man in einer Stadt wohnen wollte.

Lorenz Birch, so viel wusste Flemming, hatte sein Vermögen mit einer Firma gemacht, die … Flemming erinnerte sich nicht mehr genau, um was es sich handelte – vielleicht Steckdosen oder Klettverschlüsse. Nicht sonderlich beeindruckende Alltagsgegenstände jedenfalls. Höchst beeindruckend war dagegen der Ertrag. Lorenz Birch hatte eine schwindelerregende Menge Geld verdient, als er seine Firma vor einigen Jahren an einen japanischen Konzern verkaufte. Theoretisch hätte er sich im Alter von noch nicht einmal fünfzig Jahren zurücklehnen und sein Dasein als ungewöhnlich wohlhabender Frührentner genießen können.

Ein derartiges Leben konnte er sich allerdings überhaupt nicht vorstellen. Lorenz Birch hatte schon immer ein glühendes Interesse an den Künsten gehabt, an Theater, Musik, Film, Literatur. Und vor allem begeisterte er sich für die bildende Kunst. Als er Vorsitzender eines ambitionierten internationalen Kunstförderungsprojekts wurde, war in der dänischen Kunstwelt niemand überrascht. Birch war wie geschaffen für diese Aufgabe, er saß in mehreren Museumsvorständen – vom Tate Modern bis zu Louisiana –, er war Ehrenprofessor an drei europäischen Universitäten, und erst kürzlich war ein Museumsflügel in Jütland nach ihm benannt worden, nachdem er den Neubau mit einer stattlichen Summe gefördert hatte. Die verantwortungsvollen Aufgaben zogen weitere Verpflichtungen nach sich, und Lorenz Birch wurde im Laufe weniger Jahre zu einer der wichtigsten Persönlichkeiten der europäischen Kunstszene.

Nun war seine Schwiegermutter tot in seinem Haus aufgefunden worden, inmitten der systematischsten Verwüstung, die Flemming seit Langem gesehen hatte. Vermutlich saß Birch bereits in einem Flugzeug auf dem Weg nach Dänemark. Flemming wusste nichts über die Ehe von Kamille Schwerin und Lorenz Birch, abgesehen davon, dass sie sechzehn Jahre hielt. Wenn sie auch nur eine einigermaßen intakte Beziehung hatten, war es vollkommen normal, dass sie eine derartige Situation gemeinsam bewältigten.

Flemming sah auf die Uhr. Schon nach sieben. Zu seiner Verabredung kam er nicht mehr rechtzeitig, dieser Tatsache konnte er ebenso gut in die Augen sehen. Er schrieb eine SMS: »Liebste Urs! Ich schaff es heute Abend leider nicht. Arbeit. XXX – Flemming«

Die Antwort kam nach einer halben Minute: »Schon okay. Liebe dich. Kuss – Urs«

Er lächelte, als er den Wagen anließ.

Vom Tatort zum Krankenhaus waren es nur einige Kilometer, aber er hatte das Gefühl, in eine andere Welt zu geraten. Je weiter der Wagen den Hügel hinabfuhr, desto kleiner und neuer wurden die Häuser zu beiden Seiten der Straße. Von den weiß verputzten Palästen der 1890er Jahre über solide zweistöckige Häuser aus roten Backsteinen aus den Zwanzigern bis hin zu den demütigen, gelb geklinkerten Reihenhäusern aus den Sechzigern und den braunen Ziegelhäusern der Siebzigerjahre, deren Giebelspitzen mit Holz verkleidet waren.

Schließlich wurden die Einfamilienhäuser von mehrstöckigen Gebäuden abgelöst, das letzte Stück bis zum Krankenhaus fuhr Flemming durch eines der trostlosesten Neubaugebiete in Christianssund. Hier trugen die Straßen Blumennamen, und ein Großteil der Bewohner wurde von der Öffentlichen Hand alimentiert. Die Behörden teilten ihnen das Geld für Lebensmittel zu und bezahlten die Miete, sie entschieden, ob ein Besuch beim Zahnarzt nötig war oder nicht, kümmerten sich um vernachlässigte Kinder und verwahrloste Haustiere, schlichteten häusliche Krawalle, verhafteten kleine Dealer und Autodiebe. Flemming wollte gar nicht wissen, wie viel Zeit er hier schon verbracht hatte. Immer mit dem Gefühl, einer hoffnungslosen Aufgabe nachzugehen. Denn sosehr sich Sozialbehörden, Schulen und Polizei auch bemühten, nur ein verschwindend kleiner Teil der Menschen in Violparken kam aus der Armut heraus.

Und hinter all diesem Elend lag das Krankenhaus von Christianssund, ein viereckiger, wenig charmanter, drei Stockwerke hoher Backsteinkasten. Im Laufe der Zeit hatten eine höhere Bettenzahl und neue Untersuchungsmethoden Erweiterungen notwendig gemacht, sodass das Krankenhaus inzwischen aus mehreren kleinen und großen Gebäuden bestand, die durch eine aufwendige Parkanlage mit gepflasterten Wegen verbunden waren.

Auf die Beschilderung hatte man indes weniger Wert gelegt. Flemming suchte einige Minuten nach dem richtigen Gebäude. Schließlich gab er es auf und stellte den Wagen auf einem Parkplatz direkt vor dem Haupteingang ab. Die Höchstparkdauer betrug eine Stunde. Er legte das Schild POLIZEI an die Windschutzscheibe und ging zum Informationsschalter im Eingangsbereich. Ein junger Bursche mit kurz geschnittenen roten Haaren erklärte ihm den Weg, und schon kurz darauf stand er vor der Tür des Zimmers, das man Kamille Schwerin und ihrer toten Mutter zur Verfügung gestellt hatte. Auf sein Klopfen steckte Polizeiassistentin Pia Waage den Kopf zur Tür heraus.

»Ich habe gerade mit Giersing geredet«, sagte sie leise und drückte sich durch den Türspalt. »Er geht davon aus, dass er uns die vorläufigen Untersuchungsergebnisse morgen Nachmittag mitteilen kann.«

»Gut.« Der Rechtsmediziner Svend Giersing, eine Koryphäe seines Fachs, hatte sich eigentlich zurückgezogen, um sich nur noch der Forschung zu widmen. Bei lokalen Tötungsdelikten übernahm er jedoch die Obduktion, so war es mit der Polizei von Christianssund vereinbart. »Und sonst?«

Pia zuckte die Achseln. »Der Pastor ist gerade gegangen.«

Flemming schob die Tür auf. »Kommissar Flemming Torp, Polizei Christianssund«, stellte er sich vor. »Mein Beileid.«

»Danke.« Eine groß gewachsene Frau erhob sich und schüttelte seine ausgestreckte Hand. Die Augenpartie und die Nasenlöcher waren gerötet und ein wenig geschwollen, doch ihre Augen waren klar, und die Stimme klang gefasst. »Kamille Schwerin. Aber das wissen Sie sicher schon.«

Er nickte. Als die Tür zum Flur sich hinter ihm geschlossen hatte, lag das kleine Zimmer im Halbdunkel. Die Gardinen hatte man zugezogen, sämtliche Lampen gelöscht. Nur drei große weiße Kerzen warfen einen weichen Schimmer über den kleinen, eingefallenen Körper im Bett. Ingegerd Clausens Hände waren gefaltet. Irgendjemand hatte ein Spitzentaschentuch um den Stiel einer roten Rose gewickelt und sie zwischen ihre verblüffend langen, schlanken Finger gesteckt. Ihre dunkle Perücke saß wieder wie vorgesehen und bedeckte die Wunde an der Kopfhaut.

Erst jetzt fiel sein Blick auf eine dritte Person im Zimmer. In der dunkelsten Ecke des Raumes saß ein älterer, bärtiger Mann zusammengesunken auf einem gepolsterten Stuhl. Als Flemming auf ihn zuging, gab Jørn Clausen ihm die Hand, ohne aufzustehen. Er sagte nichts und wandte den Blick ab. Das Hemd, das er anhatte, war schief zugeknöpft.

Flemming richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf Kamille. »Können wir uns unterhalten? Es wird nicht lange dauern.«

Sie nickte. »Gehen wir vor die Tür.«

Als Flemming und Kamille das Zimmer verließen, schlüpfte Pia sofort wieder hinein. Man konnte die Angehörigen schlecht daran hindern, bei der Leiche zu bleiben, wenn der Tod während eines Krankenhausaufenthalts eingetreten war. Doch sie durften nicht mit der Toten allein gelassen werden. Das würde Flemming nicht zulassen. Nicht, solange die Todesursache ungeklärt war. Ein Vertreter der Polizei hatte sich ständig in dem kleinen Raum aufzuhalten.

Sie gingen hinaus in die Parkanlage, in der es noch immer warm und mild war.

»Es ist so schwer zu begreifen«, begann Kamille und setzte sich auf eine Bank unter einen Vogelbeerbaum, dessen Zweige sich unter der Last der feuerroten, reifen Beeren bogen. »Ich habe noch gestern mit ihr gesprochen … und jetzt …«

»Weshalb war Ihre Mutter denn heute bei Ihnen?« Flemming zog eine Packung Papiertaschentücher aus der Jackentasche und reichte sie ihr.

Kamille versuchte, ihre Stimme unter Kontrolle zu bringen. »Keine Ahnung«, murmelte sie in das Taschentuch.

»Hatte sie einen eigenen Schlüssel?«

Ein Nicken.

»Hielt sie sich öfter bei Ihnen auf, wenn Sie nicht zu Hause waren?«

Kamille putzte sich die Nase und richtete sich auf. »Nein, ganz bestimmt nicht.« Sie warf das benutzte Papiertaschentuch in den Abfalleimer neben der Bank. »Ich habe ihr erst vor knapp einem Jahr einen Schlüssel gegeben, damit sie die Blumen gießen konnte.«

»Haben Sie keine Haushaltshilfe?«

»Eine Putzfrau. Jette. Sie kommt an zwei Vormittagen in der Woche. Montag und Donnerstag. Den Rest schaffe ich allein.«

»Und Jette konnte die Blumen nicht gießen?«

Kamille sah einen Moment verwirrt aus. Dann verzog sie den Mund zu einem schiefen Lächeln. »Ach so, entschuldigen Sie, ich bin ein bisschen … Nein, das war ja der Grund, Jette befand sich auf irgendeiner Pauschalreise.«

»Hat Ihre Mutter den Schlüssel danach behalten?«

»Ja, warum nicht? Eigentlich ist es doch vernünftig, wenn jemand einen Zweitschlüssel hat.«

»Aber sie benutzte ihn nicht?«

»Sie ist einmal da gewesen, ohne dass wir es verabredet hatten. Sie war vollkommen durcheinander und unglücklich. In den letzten Jahren ist sie ein bisschen …« Kamille machte eine flatternde Bewegung mit ihren langen, schmalen Händen. »Bisweilen konnte sie ziemlich konfus sein.«

»Es würde Sie also nicht überraschen, wenn es sich heute ähnlich abgespielt hätte? Dass Ihre Mutter irrtümlich zu Ihnen ins Haus gekommen ist?«

Kamille zuckte die Achseln. »Ich kann es mir nicht anders erklären.«

»Und die Verwüstung?«

»Ich weiß es nicht. Vielleicht hat sie jemanden überrascht?«

»Wann sind Sie nach Hause gekommen?«

Sie sah ihn mit runden graubraunen Augen an. Das kurz geschnittene Haar lag dicht am Kopf. Sie hatte etwas Asketisches an sich, diese schlichte dunkle Kleidung, die sehr gepflegten Fingernägel, das blasse Gesicht, der schlanke Körper.

»Stehe ich unter irgendeinem Verdacht?«

»Wie kommen Sie auf den Gedanken?«

»Wenn ich mich hier für mein Verhalten rechtfertigen muss …« Es gab keinerlei Hinweis auf Aggression in ihrem Gesicht.

Flemming hielt ihrem Blick ruhig stand. Er antwortete in einem ebenso neutralen Ton wie sie. »Ich versuche nur, mir einen Überblick zu verschaffen. Das ist alles. Sie sind eine wichtige Zeugin, Kamille. Und das Chaos betrifft vor allem Sie.«

»Entschuldigung. Sie haben recht.« Sie schluckte. »Ich war um 16:15 Uhr zu Hause, plus, minus ein paar Minuten.«

»Kommen Sie gewöhnlich um diese Uhrzeit nach Hause?«

Sie schüttelte den Kopf. »Normalerweise bin ich bereits gut zwei Stunden früher zurück. Ich arbeite bis eins an einem Gymnasium, die Rückfahrt dauert eine gute Stunde.« Sie biss sich auf die Lippe. »Ich wusste, dass irgendetwas nicht in Ordnung war.«

»Sind Sie deshalb erst später nach Hause gekommen, weil etwas nicht in Ordnung war?«

»Wie meinen Sie das?« Die runden Augen richteten sich wieder auf sein Gesicht. »Ach so. Nein, ich bin im Frederiksberg Centret gewesen. Ich habe eine Tasse Kaffee getrunken und war shoppen.«

»Was haben Sie gekauft?«

»Ein Kleid. Wir sind eingeladen.« Sie kniff die Augen zusammen. »Egal, was Sie sagen, Herr Torp, es klingt, als würden Sie mich verhören. Gleich wollen Sie wahrscheinlich auch noch die Quittung sehen.«

»Weshalb haben Sie gesagt, Sie wussten, dass etwas nicht in Ordnung war?«

»Als ich nach Hause kam, meinte ich.« Ihre Schultern senkten sich eine Spur. »Die Tür war nur angelehnt.«

»Die Haustür?«

Sie nickte. »Ich habe mich nicht getraut hineinzugehen.«

»Sie haben noch nicht einmal den Kopf hineingesteckt und gerufen? Es hätte doch sein können, dass Ihr Mann ein paar Tage früher nach Hause gekommen ist?«

Kamille schüttelte langsam den Kopf. »Warum sollte er? Und warum sollte er die Haustür offen stehen lassen? Auf den Gedanken bin ich jedenfalls nicht gekommen.«

»Haben Sie das Fahrrad Ihrer Mutter nicht bemerkt?«

»Nein.« Sie spürte seine Skepsis und fügte hinzu: »Es klingt eigenartig, das weiß ich, aber ich habe nichts anderes als diese angelehnte Tür gesehen. Ich hatte Angst.«

»Der Streifenwagen war um 16:29 Uhr bei Ihnen.«

»Ja.«

»Und was ist dann passiert?«

»Sie baten mich, im Auto sitzen zu bleiben, dann gingen die Beamten ins Haus.«

»Und wann wurde Ihnen klar, was geschehen ist?«

»Die Beamten kamen heraus und teilten es mir mit. Kurz darauf kam der Krankenwagen.«

»Sind Sie mitgefahren?«

Wieder schüttelte sie den Kopf. »Ich wollte zuerst sehen, was mit meinen Skulpturen passiert war, und bin fünf Minuten später hinterhergefahren.«

Interessante Prioritätensetzung, dachte Flemming. Die meisten anderen Menschen hätten sich vermutlich entschieden, ihre sterbende Mutter zu begleiten. Aber was versteht der Bauer schon vom Gurkensalat? Vielleicht war das ja ein völlig normales Verhalten für eine Künstlerin. Laut sagte er: »Die Skulpturen, die zerstört wurden, waren die wertvoll?«

Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Sie sollten verpackt und an eine Galerie in München geschickt werden. Ich habe eine Ausstellung dort, beziehungsweise hätte ich eine Ausstellung haben sollen. Vernissage in zwei Wochen. Jetzt …«

»Es ist nichts zu retten?«

»Nein.« Sie richtete sich auf und sah ihn direkt an. »Ich muss von vorn anfangen. Mit etwas Glück kann die Galerie mich in einem Jahr wieder in ihren Ausstellungskalender einbauen.«

»Dann wurde also die Arbeit eines ganzen Jahres zerstört?«

»Mehr. Aber wenn ich mich entscheide, alles anhand der Fotos zu rekonstruieren, die ich zwischendurch aufgenommen habe, schaffe ich es vielleicht etwas schneller.«

»Ich hätte gern Abzüge von diesen Fotos, wenn das okay ist. Sie können das Ausmaß der Zerstörung dokumentieren, wenn wir irgendwann mit dem Fall vor Gericht gehen.«

»Kein Problem. Ich brenne Ihnen eine DVD.«

»Haben Sie eine Idee, wer Ihre Skulpturen zerstört haben könnte?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Ich vermute nur, dass dabei große Gefühle im Spiel gewesen sein müssen.« Flemming sah sie an. »Gibt es jemanden, der einen Grund dafür haben könnte, Sie zu hassen, Kamille? Jemanden, der neidisch auf Sie ist?«

»Eine Menge Leute sind neidisch auf mich. Überlegen Sie mal, mit wem ich verheiratet bin. Alle glauben, Lorenz würde mir eine Ausstellung nach der anderen verschaffen, was natürlich nicht der Fall ist. Er würde seine Position niemals auf diese Weise ausnutzen.«

»Eine Menge Leute würden wohl kaum so weit gehen, bei Ihnen einzubrechen, Ihre Werke zu zerstören und Ihre Mutter zu überfallen. Fällt Ihnen irgendjemand ein, der Sie so sehr hassen könnte?«

Kamilles Blick flatterte einen Moment. »Nein, nicht so ohne Weiteres …«

»Sagen Sie’s ruhig.«

»Was meinen Sie?«

»Es ist nicht zu übersehen, dass Ihnen etwas durch den Kopf geht.«

Sie schaute auf ihre Hände. »Ach, das ist so … ich weiß nicht.«

»Haben Sie einen Verdacht?«

»Es klingt furchtbar, aber meine Mutter war ein bisschen …«

»Ihre Mutter?«

»Sie konnte sehr verwirrt sein. Möglicherweise war sie sogar auf dem Weg, dement zu werden. Ich habe es schon seit einiger Zeit befürchtet.«

»Könnte Ihre Mutter imstande gewesen sein, mit einem schweren Hammer immer wieder zuzuschlagen, bis alle Skulpturen zerstört waren?«

Kamille zuckte die Achseln.

Flemming richtete sich auf. »Die Spurensicherung ist noch bei der Arbeit, sie können also noch nichts mit Sicherheit sagen. Ihrem ersten Eindruck nach muss man zwischen einhundert bis einhundertfünfzig Mal zuschlagen, um die Skulpturen derart zu pulverisieren. Das erfordert nicht nur ein hohes Maß an Entschlossenheit und ungewöhnlich starke Gefühle, sondern auch eine beträchtliche physische Kraft. Nur den wenigsten dreiundachtzigjährigen Damen dürfte so etwas gelingen.«

»Ja, das passt irgendwie nicht zusammen, oder?«

»Dennoch war es Ihr erster Gedanke.«

Kamille nickte. »Ich halte es einfach für ein ungewöhnliches Zusammentreffen, dass meine Mutter genau dann zufällig dort gewesen sein soll, als der Verursacher dieses Vandalismus auftauchte. Sie nicht?«

»Dennoch gab es jemanden, der sie erschlagen hat. Denn das wird sie ja kaum selbst getan haben?«

Erschrocken riss Kamille ihre großen runden Augen auf. Sie begrub ihr Gesicht in den Händen.

»Entschuldigen Sie, Kamille. Ich kann gut verstehen, wenn das alles zu viel für Sie ist.« Flemming erhob sich. »Sie sind mich jetzt los. Wir können morgen Nachmittag weiterreden.«

Sie hob die Finger einer Hand zu einer Art Gruß und weinte weiter, ohne den Kopf zu heben.

3

Sollen wir Sie nach Hause bringen?«

»Meine Tochter fährt mich.«

»Ich warte hier, bis sie zurückkommt.«

»Machen Sie sich keine Umstände.«

»Das sind doch keine Um…«

»Es kann Stunden dauern, bis sie fertig ist.«

»Nein, ich glaube, sie ist unterw…«

»Es kann aber auch nur Sekunden dauern.«

»Ja …?«

»Meine Tochter ist unberechenbar. Sie ist Künstlerin. Wie ihr Vater. Zwei Künstlerseelen.«

Pia Waage blickte verwirrt auf und traf auf Flemmings Blick. Er stand ein paar Meter entfernt und hatte die Unterhaltung verfolgt, ohne sich einzumischen. Jetzt zuckte er die Achseln, um zu signalisieren, dass sie den alten Mann ruhig schwatzen lassen sollte. Dem intensiven Geruch nach zu urteilen, verlor er sich langsam im Cognacnebel – und das konnte man ihm nicht einmal verübeln. Immerhin hatte der Mann gerade seine Frau verloren.

»Zeit ist nur ein Begriff, völlig irrelevant. Vom Kapital geschaffen, um das arbeitende Volk zu kontrollieren.« Jørn Clausen starrte sie durch seine dicken Brillengläser an. Ob seine Augen aus Trauer oder wegen einer Augenkrankheit konstant tränten, ließ sich nicht sagen. Mitten auf dem Flur des Krankenhauses blieb er stehen, seinen kleinen, untersetzten Körper auf einen Stock gestützt, die Beine leicht gespreizt, sodass er sicheren Halt fand. »Für einen Künstler ist Zeit gleichgültig. Feste Arbeitszeiten sind für Sklaven, die nicht selbstständig denken können!« Er brüllte beinahe. Ermunternde Worte für die in öffentlichen Institutionen angestellten armen Teufel um ihn herum – einige in Zivil, andere in weißen Kitteln.

»Wissen Sie, was Ihre Frau bei Kamille wollte?«, fragte Flemming und versuchte, den politisch-philosophischen Vortrag zu unterbrechen, zu dem Jørn Clausen ansetzte.

Einen Moment sah es aus, als hätte sich der alte Mann entschlossen, die Frage zu überhören, doch nach einer Pause antwortete er: »Sie wollte zum Supermarkt. Kaffee holen.« Er wandte Pia den Kopf zu und fuhr in einem vorwurfsvollen Ton fort: »Richtigen Kaffee. Nicht diese Pulverscheiße!«

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