DIE KURATORIN - Owen King - E-Book

DIE KURATORIN E-Book

Owen King

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Beschreibung

Eine Dickens'sche Fantasie voller Illusionen und Charme, in der Katzen verehrt werden, Gelehrte Revolutionäre sind, Diebe edel und Zauberer die wunderbarsten Verbrecher. Auf den ersten Blick hat sich die Welt nicht verändert. Straßenkinder spielen noch immer auf den beiden großen Brücken und die Schickeria geht noch immer ins Morgue Ship, um sich einen Abend lang zu amüsieren. Doch es braucht nur einen Funken, um eine Revolution zu entfachen. Auf der Suche nach der Wahrheit über ihren Bruder Ambrose schließt sich das junge Dienstmädchen Dora einem der radikalen Studenten an. Doch dann soll sie sich um das Museum des Arbeiters kümmern – ein seltsames, vergessenes Gebäude, voll mit beunruhigend lebensechten Wachsfiguren von Bergarbeitern, Krankenschwestern und Ladenbesitzern. Während Revolution und Gegenrevolution Kräfte der Liebe und des Verrats, der Magie und furchtbarer Dunkelheit freisetzen, wird Doras Suche eine monströse Verschwörung aufdecken und sie an den Rand der Welt bringen. In Die Kuratorin hat Owen King ein faszinierendes Zeitalter und einen außergewöhnlichen Ort erschaffen: historisch, fantastisch und doch fesselnd real; sowie eine Heldin, die mutig, neugierig und zutiefst bemerkenswert ist. Vorzugsausgabe im Schuber: signiert von Owen King & François Vaillancourt. Holly Black: »Halb Märchen, halb historischer Tatsachenbericht über eine Revolution, die nie stattgefunden hat, ist Owen Kings Die Kuratorin voller scharfsinnigem Humor, Sinnlichkeit und Skurrilität.« Kirkus, starred review: »Ein Roman von Dickens vereint sich mit einem Gemälde von Hieronymus Bosch – düsterer, chaotischer Spaß.« The New York Times: »Der Roman hat seine ganz eigene sanfte Lyrik und suggestive Bildsprache, die dazu beiträgt, dass die Seiten nur so dahinfliegen. King hat ein Händchen für farbenfrohe Metaphern und durchdachte Perspektiven.« Anthony Breznican, Vanity Fair: »Elegant und eindringlich ... spielt Die Kuratorin in einer Fantasiewelt namens Die Schönste ... einer Gesellschaft, die technologisch etwa ein Jahrhundert hinter der unseren zurückliegt, uns aber in Bezug auf Magie und Übernatürliches weit voraus ist.« Library Journal: »Kings neuestes Werk ist ein Meisterwerk der Erzählkunst.« The Guardian: »Die Kuratorin beginnt wie eine Geschichte aus einer alternativen Welt, die durch ihren Detailreichtum und ihre vielfältigen Charaktere einen fast Dickens'schen Ton anschlägt. Ein tolles Gemisch aus Realismus, Fantasie und Skurrilität.« Tor.com: »Kings Welt ist teils stimmungsvoll viktorianisch, teils Terry Pratchett, und es gibt neben der mutigen Hauptfigur eine Menge zu entdecken. Die Kuratorin ist ein wahres Kuriosum von einem Buch.« Crime Reads: »Eine entzückende neuartige Fantasygeschichte... Kings Roman fühlt sich an wie der Nachfolger von Terry Pratchetts Scheibenwelt-Romanen.« Booklist: »Kings außergewöhnlicher Roman ist teils ein Gothic-Thriller und teils eine absurde Regierungssatire. In diesem äußerst kreativen Roman werden Klassenkampf und Ressentiments, dunkle Komödie und bittersüße Romantik miteinander verwoben, was Fans verworrener dunkler Phantastik begeistern wird.« Publishers Weekly: »King erweitert seine gleichnamige Kurzgeschichte in dieser viktorianisch anmutenden Fantasy, die sowohl Momente des Grauens als auch des Humors enthält.«

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Seitenzahl: 718

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Ähnliche


Illustriert von

François Vaillancourt

Nachwort von

Joe R. Lansdale

Aus dem Amerikanischen von

Christian Jentzsch

Grimma

Buchheim Verlag

2025

Deutsche Erstausgabe

Limitiert auf 666 Exemplare

© 2025 Buchheim Verlag, Grimma

Alle Rechte vorbehalten

Cover & farbige Illustrationen: © 2024 François Vaillancourt

Nachwort: © 2023 Joe R. Lansdale

Lektorat: Dr. Frank Weinreich

Satz im Verlag

www.buchheim-verlag.de

eISBN 978-3-94633-050-9

Bei Fragen zur Produktsicherheit wenden 5ie sich an:

[email protected]

Hersteller: Buchheim Verlag, Inh. Olaf Buchheim,

Lausicker Str. 5, 04668 Grimma

Artikelnummer: VZ10, einmalige Druckauflage

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

THE CURATOR

Copyright © 2023 by Owen King

Publication has been arranged by

Jenny Meyer Literary Agency, Brooklyn, NY 11201, USA,

on behalf and in conjunction with

The Williams Company, Ossining, NY 10562, USA.

Illustrationen der Originalausgabe: © 2023 Kathleen Jennings

Die Prinzessin war eine so wundervolle Prinzessin, dass sie die Macht hatte, Geheimnisse zu kennen, und sie fragte die winzige Frau: Warum bewahrst du ihn dort auf? Damit zeigte ihr die Prinzessin, dass sie wusste, warum sie ganz allein und für sich lebte und an ihrem Rad saß und sponn, und die winzige Frau kniete zu Füßen der Prinzessin nieder und bat sie, dass sie sie nie hintergehen möge. Also versprach die Prinzessin: Ich werde dich nie hintergehen. Zeig ihn mir. Also schloss die winzige Frau den Laden vor dem Fenster ihrer Hütte, sperrte die Tür ab, öffnete von Kopf bis Fuß zitternd aus Furcht, jemand könnte sie verdächtigen, einen sehr geheimen Ort und zeigte der Prinzessin einen Schatten.

– Charles Dickens, Little Dorrit

Ich werde sogar noch weitergehen und sagen, dass alle Katzen niederträchtig sind, wenngleich oft nützlich. Wer hat nicht schon Satan in ihren verschlagenen Gesichtern gesehen?

– Charles Portis, True Grit

INHALT

I. TEIL: NEUE LEUTE

VIELLEICHT IN BESONDEREM MASS

NEUE LEUTE

EREIGNISSE, DIE ZUM STURZ DER REGIERUNG DER KRONE FÜHRTEN, TEIL 1

WAS IST MIT DEM GROSSEN HAUS DA?

GLEICH PASSIERT ETWAS

DAS NATIONALMUSEUM DES ARBEITERS

DER SANFTE

JEMAND, DER EIN PAAR WÖRTER AUFSCHREIBEN KANN

ZWEI FÜR DAS MÄDCHEN MIT DER HAUBE

EREIGNISSE, DIE ZUM STURZ DER REGIERUNG DER KRONE FÜHRTEN, TEIL 2

DER SALUT

ZUHÖREN

EREIGNISSE, DIE ZUM STURZ DER REGIERUNG DER KRONE FÜHRTEN, TEIL 3

DURCH GRÜNES GLAS

II. TEIL: STADT DER KATZEN

GENERAL M. W. GILDERSLEEVE, AN BORD DES FÜHRENDEN TRANSPORTSCHIFFS

DIE WIEDERERÖFFNUNG

GID

AUFRÄUMEN

WEISST DU, DASS ICH NIE AUFGEHÖRT HABE, AN DICH ZU DENKEN?

DAS LEICHENSCHIFF

DER GARTEN, TEIL 1

AUS AKT 1.3 VON EINE KLEINE WOLFSKISTE VON ALOYSIUS LUMM

VOR DEM BESUCH DES MUSEUMS

DAS METROPOL: DER LIEUTENANT

DAS METROPOL: DER SERGEANT

DAS METROPOL: XVII

NEUIGKEITEN

BREWSTER

DER GARTEN, TEIL 2

DAS VESTIBÜL

DER SCHWERARBEITER

III. TEIL: DIE KURATORIN

STREUNENDE KATZE

LORENA SKYE, AN BORD DES LEICHENSCHIFFS

DESTILLE

IKE

EIN DREITÄGIGER TRAUM

DER VORHERIGE KURATOR

EINE SAMMLUNG VON VISITENKARTEN

EREIGNISSE, DIE ZUM STURZ DER PROVISORISCHEN REGIERUNG FÜHRTEN, TEIL 1

IN DER TRAM

EREIGNISSE, DIE ZUM STURZ DER PROVISORISCHEN REGIERUNG FÜHRTEN, TEIL 2

DAS HOTEL LEAR

EREIGNISSE, DIE ZUM STURZ DER PROVISORISCHEN REGIERUNG FÜHRTEN, TEIL 3

DER KURATOR

NICHT DER, FÜR DEN ER SICH SELBST HIELT

DER GEHÄNGTE

ROBERT

MAN MÜSSTE EINEN HAUFEN TOTE BEGRABEN

DRAUSSEN

SEID IHR AUCH SCHLECHT?

SIEHST DU MICH? SIEHST DU MEIN GESICHT?

NEUE LEUTE

FREUNDE

DIE JAGD

WINTER

EINE ANMERKUNG

DANKSAGUNGEN

NACHWORT

AUTOR

ILLUSTRATOR

ILLUSTRATORIN

I. TEIL

NEUE LEUTE

VIELLEICHT IN BESONDEREM MASS

Die Stadt – von Dichtern und Gemeindeadvokaten wegen ihres Flusses, des gewaltigen Schön, »die Schönste« genannt – ragte aus der Hauptmasse des Landes wie ein Niednagel aus seinem Daumen.

Der Volksmund wusste zu erzählen, sie sei von einem Steinmetz gegründet worden, der dort eine Burg gebaut und diese zu Ehren Gottes leer gelassen hatte, woraufhin ihm zur Belohnung ewige Jugend gewährt wurde, bis sich nach einigen Hundert Jahren eine Familie von Bettlern einschlich und den Steinmetz durch ihr jähes Erscheinen so schockierte, dass er tot umfiel. Wahrscheinlicher war jedoch, dass Seefahrer nordischer Herkunft die ursprüngliche Siedlung gegründet hatten.

In der heutigen Zeit zeichnete sich die Stadt durch Folgendes aus: die Reihe gut aussehender Monarchen mit buschigen Brauen, die dort thronten; ihren Kongress und ihre Gerichte; durch Effizienz, Standhaftigkeit, Reichweite, Rentabilität und Vielfalt ihrer Söldnerarmee, von der es hieß, dass mehr als zwanzig verschiedene Sprachen in ihr gesprochen wurden; durch ihren Fluss – ebenden Schön –, der aus den bergigen Regionen des Landes herabfloss und die Metropole in eine östliche und eine westliche Hälfte teilte, bevor sich sein Süßwasser in den Ozean ergoss; durch die hohen Klippen der Halbinsel, die meerwärts und parallel zum Schön abflachten; durch die Geschäftigkeit und den Handel in ihrem Hafen; durch ihre zwei Auslegerbrücken; durch ihre modernen Annehmlichkeiten in Gestalt ihres Netzes elektrischer Straßenbahnen; durch ihre weitläufigen städtischen Parks, darunter der königliche Garten mit dem königlichen Weiher, wo Bootsfahrer in Gefährten ruderten, deren Bug zu Ebenbildern der buschbrauigen Monarchen der Nation geschnitzt war, von Macon I. bis hin zu Zak XXI.; durch den Wettbewerb ihrer Luxushotels darum, welches die prächtigste Katze als Maskottchen besitze; durch ihre kulturellen Wahrzeichen, wie die Theater und Museen und das Totenschiff; durch die drei hoch aufragenden monolithischen Steine, die das Plateau oberhalb der Großen Schnellstraße ein paar Meilen jenseits der Stadtgrenze beherrschten und zu denen traditionell frisch Vermählte aus der ganzen Welt mit Hammer und Meißel reisten, um sich als Zeichen ihres gegenseitigen Bekenntnisses zueinander Andenken daraus zu klopfen; durch die Ironie des Namens ihrer stinkenden grauen Wasserstraße; durch die Feuer ihrer Fabriken; durch die Wohnviertelbrände; durch die »Lees«, ihr wimmelndes Armenviertel; durch die fruchtbaren Armen, welche die Lees bevölkerten und die jeweils neuen Generationen hergaben, um die Seuchen und Armeen der Stadt zu nähren; durch ihre Überreste von Heidentum; durch ihre Geheimgesellschaften; durch die Säure der Salzlake, in der ihre Austern eingelegt wurden; durch die Banden fleißiger Delinquenten in den Straßen; durch den Mut und die Stärke ihrer Männer; durch die Weisheit und Beharrlichkeit ihrer Frauen; und, wie alle Städte, aber diese vielleicht in besonderem Maß, durch ihre grundsätzliche Unkartierbarkeit.

Die Stadt – genannt »die Schönste«

NEUE LEUTE

Vor dem Aufstand hatte sie als Teil des Gesindes der Nationalen Universität gearbeitet, nun jedoch plante D, sich eine Stellung in der Gesellschaft für Psychikalische Forschung zu verschaffen. Überall in der Stadt würde man neue Leute brauchen – nicht wahr? –, um die Posten neu zu besetzen, die zuvor Mitglieder des abgesetzten Regimes und deren Anhänger innegehabt hatten. Dies traf nicht nur für die Regierung und das Militär zu, sondern zog sich durch das gesamte alltägliche Leben, wo jede Stelle in Schulen und Geschäften, Gaswerken und Theatern unter der Fuchtel der herrschenden Eliten gestanden hatte, solange man zurückdenken konnte.

Obwohl sie sich nur ein einziges Mal, als junges Mädchen, innerhalb der Mauern der Gesellschaft aufgehalten hatte, war ein Bild davon in Ds Erinnerung verblieben, das Bild vom »Großen Saal«, wo sie eines Morgens darauf gewartet hatte, dass ein Dienstbote ihren älteren Bruder holte, der damals Juniormitglied gewesen war. Der rot-goldene Teppich auf dem Boden hatte für ihre Kinderaugen so dick ausgesehen, dass man eine Murmel darin verstecken könnte. Die hohen Regale an den Wänden waren voller Bücher. An einem Schreibtisch hatte sich eine Frau in dramatischem Blau über ein dickes Buch gebeugt und Linien mit Kompass und Lineal markiert. Auf einer ordentlichen kleinen Bühne war eine Ausstellung von Zaubertricks aufgebaut. Von der Decke hing ein großes Mobile des Sonnensystems, dessen Zentralgestirn so groß wie ein Krocketball war und dessen elf Planeten die Größe von Billardkugeln hatten. Und vor dem Kamin hatte ein feiner Herr in Tweedhose in einem Ledersessel gesessen und mit einem Lächeln auf den Lippen und unter den Achseln eingeklemmten Händen geschlafen.

In den schwierigen Jahren im Anschluss an ihren einmaligen Besuch hatte sich D oft in die Vorstellung von der Ruhe und den Möglichkeiten zurückgezogen, die dieser geräumige und zivilisierte Raum zu bieten schien. Wenn solch ein perfekter Raum in einer Stadt wie dieser in aller Stille existieren konnte, vielleicht verbarg sich dann dahinter noch etwas anderes, etwas mehr – ein anderer Teil des Lebens.

Ihr Besuch der Gesellschaft und ihres Großen Saals hatte vor etwa fünfzehn Jahren stattgefunden, zu einer Zeit also, als die Auflehnung gegen die Wohlhabenden und Mächtigen noch unvorstellbar war. Nicht lange danach war ihr Bruder Ambrose nach einem kurzen Anfall von Cholera gestorben. Die beiden Ereignisse, der Besuch und Ambrose’ Tod, waren in ihrer Gedankenwelt miteinander verknüpft.

D dachte oft an die letzten Worte ihres Bruders. Sie waren voller Ehrfurcht gewesen, heiser, aber klar. »Ja, ich sehe dich. Dein … Gesicht.«

Wessen Gesicht? Ambrose war absolut verschlossen gewesen, hatte immer Ausflüchte gemacht und manchmal Dinge gesagt, von denen D nicht wusste, ob sie sie glauben oder ernst nehmen konnte. Einmal hatte er ihr erzählt, es gebe andere Welten. Vielleicht stimmte das. D war beinahe sicher, dass er in jenen letzten Momenten etwas gesehen hatte; keine Halluzination, sondern etwas Reales und Erstaunliches. In seiner Stimme hatte Überzeugung gelegen.

Falls es ein Leben nach dem Tod gab, ein Jenseits – etwas anderes, überhaupt irgendetwas –, dann war es ihr Bruder, den D dort vorfinden wollte.

Im Erwachsenenalter hatte sie dieser Hoffnung nur noch verträumt nachgehangen, wenn sie Botengänge in die Legatenallee führten und sie innehielt, um einen Blick in die abzweigende Kleine Traditionsstraße und auf den prächtigen Ziegelbau im Schatten zweier Pappeln zu werfen, in dem die Gesellschaft für Psychikalische Forschung beheimatet war.

Bis sich diese Gelegenheit präsentierte. Die Revolution hatte die hellrote Tür der Gesellschaft praktisch aufgestoßen und sie hineingebeten.

D fragte ihren Liebhaber, einen Lieutenant der Freiwilligen Bürgerwehr namens Robert Barnes, ob er ihr helfen könne, und er antwortete ihr, er werde alles tun, was sie wolle, aber … »Psychikalische Forschung, Dora?« War das die Art Klub, in die frivole reiche Frauen gingen, um sich die Handfläche streicheln zu lassen und Gespräche mit verstorbenen Eminenzen zu führen? Denn danach hörte es sich für ihn an.

»Lieutenant«, erwiderte D, »wer gibt hier eigentlich die Befehle?«

Die beiden gingen zum Hauptquartier der Provisorischen Regierung auf dem Magistratsplatz unweit des Mittelostufers des Flusses.

Auf dem Platz fanden sie einen Adjutanten Crossleys. Studenten, die Hafenarbeitergewerkschaft und andere Radikale mochten die Unruhen geschürt haben, doch erst General Crossleys Annäherung an die Oppositionsführer hatte die Revolution beschleunigt und stabilisiert. Ohne die Muskeln von Crossleys Reservegarnison hätten sie das Regime niemals zu Rücktritt und Flucht aus der Stadt zwingen können.

Der Adjutant, ein Sergeant van Goor, war an einem kleinen Tisch postiert. Er trug große Smaragdmanschettenknöpfe und als er das Kinn auf die Faust stützte, reflektierte einer der Smaragde einen Fleck wässrig grünen Lichts in das Auge der Statue eines sich aufbäumenden Tigers, die das Zentrum des schiefergedeckten Platzes beherrschte. D argwöhnte, dass diese Manschettenknöpfe erst kürzlich in Sergeant van Goors Besitz gelangt waren.

Ds Lieutenant erklärte, was sie wollten, und gelobte, dass sie eine Patriotin sei.

»Ist das wahr?« Van Goor lächelte sie an. Sie schlug die Augen nieder und nickte.

»Reizend. Ich bin überzeugt. Also nur zu.«

Doch Robert wollte ihr etwas Offizielleres beschaffen. Er legte keinen Wert auf Ärger oder Konfusion. Er grub einen Zettel aus der Tasche und verfasste eine Erklärung darauf. Sie übertrug D die Autorität über das Haus der Gesellschaft und das dazugehörige Gelände, »um das rechtmäßige Eigentum der Öffentlichkeit zu erhalten, bis sich die frei gewählte Regierung etabliert hat und zu einem Urteil hinsichtlich seiner zukünftigen Verwendung gelangt ist«. Er las dem Adjutanten den Text laut vor.

Van Goor feixte, stellte fest, das sei hübsch formuliert, und zeichnete den Zettel am unteren Rand sorgfältig mit seinen Initialen ab.

Das Paar spazierte an den Ellbogen untergehakt nach Nordosten.

Ein aufrecht stehendes Klavier, ein zerrissenes Tischtuch, zerbrochene Weinflaschen, ein Gummibaum mit entblößtem Wurzelballen in den Scherben seines Topfes, zerfledderte Bücher und tausend andere Dinge verunreinigten den Nationalboulevard; Treibgut der abgesetzten Regierung und ihrer Anhänger, das aus Karren und Kutschen geworfen worden war. Nachdem so viele Dienstboten befördert worden sind, muss wohl jeder erst lernen, seinen eigenen Dreck wegzuräumen, überlegte D. Die Leute trauten sich gerade erst wieder auf die Straßen nach den Kämpfen, in deren Gefolge die Krongarde aus der Stadt vertrieben worden war.

Leute, die ihnen begegneten, wirkten aufgeschreckt und warfen ständig Blicke hierhin und dorthin, als wären sie inmitten der versprengten Trümmer auf der Suche nach sich selbst.

»Jetzt ist alles in Ordnung«, versicherte der Lieutenant mehreren der desorientierten Fremden ungebeten. Sie blinzelten und lächelten zaghaft, tippten sich zur Antwort an den Hut und schienen wieder zu sich selbst zu finden.

»Seid Ihr sicher, Sir?«, entfuhr es einer Frau. Sie betrachtete Robert durch die zerkratzten Gläser einer winzigen Brille. Ihr Rock war schwarz und voller Staub. Ein Kindermädchen, mutmaßte D, oder eine Lehrerin.

»Ja«, erwiderte er.

»Sie haben kapituliert?«

»Sie sind weg«, antwortete der Lieutenant, »und kommen nicht wieder zurück.«

D sah, dass die Frau in dem staubigen Rock die Stirn runzelte, doch Roberts Worte schienen die anderen in der Nähe zufriedenzustellen: Mehrere von ihnen klatschten und johlten. »Na, dann los«, verkündete ein Zuschauer inspiriert und eine Gruppe versammelte sich um den Kadaver einer umgestürzten Kutsche, um ihn von den Tramschienen zu schieben.

D registrierte verstohlen, dass ihr Lieutenant verhalten grinste. Im Profil machte sein Aussehen seinem Rang alle Ehre: gelockte schwarze Haare, die die Spitzen seiner Ohren einfassten und bis in den Nacken reichten, und eine vorzüglich gerade Nase über einem starken Kinn. Ab und zu überkam sie der Gedanke, wie sehr sie ihn doch mochte. Wenn er behauptete, alles sei in Ordnung und werde auch so bleiben, konnte man glauben, dass dies auch stimmte.

Andere junge Männer mit den grünen Armbändern, die die Mitgliedschaft bei der Freiwilligen Bürgerwehr anzeigten, waren zur Bewahrung der Ordnung auf den Straßen stationiert. Robert, wie viele Freiwillige ehedem ein Student an der Universität, grüßte seine Kameraden lässig und ironisch im Vorbeigehen und alle erwiderten den Gruß.

Ein kleiner Junge, dessen Füße in den kanariengelben Abendschuhen einer reichen Frau steckten, die er irgendwo gefunden haben musste, kam angelaufen und salutierte vor dem Lieutenant. Robert blieb stehen, ließ den Jungen mit einem verdrossenen Blinzeln erstarren und erwiderte den Gruß dann unerwartet und zackig. Der Junge lief kreischend davon.

Ein Mann sprach den Lieutenant durch ein Fenster im ersten Stock mit halb geschlossenen Läden an: »Wie kann ein hungriger Mann zu Diensten sein, Herr Offizier?«

Ihr Lieutenant rief zu ihm hoch, er möge zum Feldlager auf dem Gelände des Magistratsplatzes gehen, und verriet ihm dann, wo er den Adjutanten finden könne, der Ds Erklärung unterschrieben hatte. »Sagt ihm, Lieutenant Barnes hat Euch geschickt.« Man werde ihm zu essen und auch etwas zu tun geben, denn es gebe keinen Mangel an Arbeit.

»Danke für Eure Hilfe! Ich mache Euch keine Schande! Ich bin ein Schwerarbeiter, was man mir auch aufträgt«, rief ihnen der Mann hinterher. »Wenn ich einmal dabei bin, übertrifft mich niemand. Möge Euch eine Katze gewogen sein, Sir! Und Eurer Dame!«

Es gab noch mehr Begegnungen wie diese. Jedes Mal blieb Robert stehen, sprach mit der Person und gab Ratschläge, wie man Nahrung oder Arbeit oder sonstige benötigte Hilfe erhalten könnte. D war beeindruckt, dass er nicht vor diesen Leuten zurückscheute, von denen viele sichtlich darbten, in Lumpen gehüllt und ungepflegt waren. Seiner Schulterhaltung nach jeder dieser Konsultationen glaubte sie entnehmen zu können, dass ihr Lieutenant ebenfalls von sich beeindruckt war.

Sie näherten sich dem Rand des Regierungsviertels, wo die Botschaften der Legatenallee auf die Stadtmitte trafen, und bogen auf die Allee ab. Hier gab es weniger sichtbare Spuren des Konflikts. In der Reihe der Botschaften hingen immer noch die Flaggen der anderen Nationen, deren Farben in der klaren Morgensonne prächtig leuchteten, obwohl die Botschafter und Diplomaten allesamt abgereist waren. In ihrer nie da gewesenen Leere schien sich die Allee nur für sie zu erstrecken – den ganzen Weg bis zu dem eisernen Pfahl mit dem Straßenschild, das verkündete: Kleine Traditionsstraße.

EREIGNISSE, DIE ZUM STURZ DER REGIERUNG DER KRONE FÜHRTEN, TEIL 1

Ein Mann namens Joven, der Besitzer einer Firma, die feine Keramikwaren herstellte, beschuldigte Finanzminister Westhover des schweren Betrugs.

Jovens Firma war beauftragt worden, über zweihundert Teller, Schüsseln, Vasen und Aschenbecher herzustellen, um die Schränke und Esszimmertische in Minister Westhovers Heim in der Stadt, seinem Haus auf dem Land und seinem Anwesen auf dem Kontinent zu bestücken. Jedes Stück sollte Westhovers Markenzeichen aufweisen, eine Illustration des Finanzministers in einem römischen Kostüm, wie er eine Waage hält, deren eine Schale mit Münzen und deren andere mit Weizen gefüllt ist. Die Garnitur für die jeweiligen Residenzen sollten unterschiedlich gefärbt sein: rot in der Stadt, grün auf dem Land, schwarz auf dem Kontinent.

Diese Einzelheiten wurden allgemein bekannt, als Joven, der geschädigte Hersteller, ein giftiges Pamphlet über die ganze Affäre drucken ließ mit dem Titel

EIN MANN, DESSEN WORT NICHT GEWOGEN WERDEN KANN.

Das Pamphlet wusste zu berichten, Westhover habe die Lieferung der Bestellung akzeptiert, einseitig den vereinbarten Preis gemindert und nur einen kleinen Teil der vereinbarten Summe angeboten. Joven, fuhr das Pamphlet fort, habe die geänderten Bedingungen abgelehnt und die Rückgabe seiner Waren gefordert. Der Finanzminister habe ihn ignoriert, die Ware behalten und seinen Einfluss bei den Gerichten geltend gemacht, um Jovens Bemühungen zu vereiteln, seine berechtigten Forderungen einzuklagen.

Der Minister ist mit dem Magistrat befreundet, der in dem Fall geurteilt hat, sie sind Nachbarn, was Empörend ist und sich in einer Gerichtlichen Anhörung Nicht Ziemt.

Des Weiteren implizierte der Aufschrei des Herstellers, das Bild des Finanzministers auf dem Geschirr sei eine in extremem Maße idealisierte Darstellung.

Ich habe ihn sogar nach seiner Vorstellung von sich selbst abgebildet, weil es ihm so gefiel und er es so Wollte, obwohl er Kein schlanker Mann ist.

Zur Vergeltung verfasste der Finanzminister sein eigenes Pamphlet. In diesem Papier wurde erklärt, Jovens Fabrik verwende minderwertige Materialien mit dem Resultat, dass die Teller dünn und unbefriedigend seien, und jeder wisse ja, dass Westhover einfach von stabiler Statur sei. »Es ist beklagenswert, dass es Individuen niederen Charakters ohne Familie gestattet ist, Höhergestellte zu beleidigen.« Der Minister klagte auf Diffamierung und bekam rasch Schadenersatz zugesprochen.

Bis hierher hatte sich die ganze Angelegenheit wie eine Komödie abgespielt und diente als willkommene Abwechslung angesichts der Stimmung zunehmender Unzufriedenheit in der Bevölkerung.

Die Cholera grassierte noch heftiger als üblich im Armenviertel der Lees an der unteren Spitze der Stadt; um Besucher davor zu warnen, Wasser aus der Gegend zu trinken oder Nahrung zu sich zu nehmen, wurden Handschuhe unter den Klopfern der Häuser befestigt, in denen die Krankheit ausgebrochen war, sodass ganze Wohnstraßen »die Hand trugen«. Ein Streik der Hafenarbeiter war beendet und seine Rädelsführer entlassen worden. In den Nordlandprovinzen hatte eine frühsommerliche Dürre die Ernte vertrocknen lassen und infolgedessen waren die Preise für Brot, Bohnen, Fleisch und Nahrungsmittel überhaupt gestiegen. Die Armee, auf dem Kontinent unter Fränkischem Vertrag und unter Befehl des großen Gildersleeve, saß nach einer Reihe von Niederlagen in den Bergen fest und erlitt schwere Verluste. Der ehemals beliebte General war zu einem Symbol tattriger Schwäche verkommen. Gerüchte besagten, in schäbigeren Gegenden der Stadt rissen einem Flegel die Ärmel von der Jacke und zwangen einen, sie an Ort und Stelle zu verbrennen, andernfalls werde man verprügelt.

Die Einzelheiten der protzigen Teller des Ministers waren eine köstliche Bestätigung der Verschwendungssucht einer Krone und einer Regierung, die die Öffentlichkeit über den Zusammenhang von deren eklatanten Ausgaben für Schnaps, Glücksspiel und Abgötterei einerseits und ihrer eigenen Armut andererseits belehrte. Die gleichzeitige Strafe für den herrischen Geschäftsmann mit seinen umnachteten Vorstellungen in Bezug auf Gerechtigkeit war auf eine noch bitterere Art befriedigend; ein antikes Schauspiel, gespielt mit frischem Elan. Alle wussten, dass Jovens Fehler nicht in der Verwendung minderwertiger Materialien bestanden hatte. Sein Fehler bestand vielmehr darin, vergessen zu haben, wie die Dinge funktionierten. Sicher, Joven war erfolgreich gewesen und hatte Geld verdient. Aber Männer wie Westhover – der nicht der erste und auch nicht der zweite Finanzminister in seiner Familie war –, solche Männer waren Geld.

Zeitungskarikaturen machten sich über Jovens untersetzte Figur und seinen beinahe kahlen Kopf lustig. Die Zeichner deuteten seinen Wahnsinn an, indem sie ihm einen verstörten Blick gaben und vier oder fünf Haare als wüste Zacken zeichneten. In einer Karikatur schwenkte er einen Teller hin und her, von dem aus einem Dutzend Sprüngen Klebstoff tropfte, und brüllte: »Sehen Sie? Beste Handwerkskunst!« In einer anderen saß er weinend auf einem Haufen Scherben und jammerte: »Ich glaube, ich will sie doch nicht mehr wiederhaben«, wobei jedes seiner vier erzürnten Haare selbst Tränen vergoss.

Vielleicht war Joven wahnsinnig oder das, was in diesen Tagen des Niedergangs der vorigen Regierung als wahnsinnig galt. Denn starrsinnigerweise weigerte er sich auch dann noch, die Angelegenheit auf sich beruhen zu lassen, als das Gericht gegen ihn entschieden hatte.

Joven war in den verarmten Vierteln der Lees aufgewachsen, nahe der Bucht. Er hatte nie eine Schule besucht, sondern sein Gewerbe von einem Töpfer gelernt und angefangen, indem er in steinernen Brennöfen krude Teller aus dem Lehm des Schön brannte. Später entwickelte er eine besondere Technik, bei der dieser Lehm mit Knochenmehl vermengt wurde, um handgeformte Stücke zu brennen, die so glatt waren, dass sie als Fabrikqualität durchgingen, und so hatte er allmählich und Schritt für Schritt sein Kapital erworben.

Als Kind hatte Joven Cholera und andere Krankheiten vermeiden können. Als Jugendlichen hatte ihn die Armee übersehen. Er hatte nie geheiratet. Eigentlich hatte er nur gearbeitet und sein Geschäft ohne Verbindungen oder Einfluss ausgeweitet, bis ihm eine Fabrik, ein Lagerhaus und außerdem ein Herrenhaus mit Giebeldach in den Anhöhen über dem Regierungsviertel gehörten – tatsächlich sogar ein Herrenhaus, das gar nicht so weit vom Familienbesitz des Ministers Westhover entfernt lag.

Jovens Fingerspitzen waren in seiner Kindheit und Jugend bis zur Gefühllosigkeit verbrannt worden, weil er die ganze Zeit mit provisorischen Werkzeugen nahe am Feuer gearbeitet hatte. Sein Gang wirkte bedrohlich, da er dabei den Kopf herunternahm, und ließ auch Leute, die sich gar nicht in seiner unmittelbaren Laufrichtung aufhielten, bei seiner Annäherung beiseitespringen. Niemand in seinem Bekanntenkreis hatte ihn je erwähnen hören, er möge oder ihm gefalle irgendetwas. Wenn etwas – ein Muster, eine Tasse Kaffee, ein Platz in einer Kutsche – seinen Ansprüchen genügte, blaffte er manchmal ein kurzes »Ja!«, aber mehr Lob gab es nicht. Er schien es zu genießen, fehlerhaftes Geschirr zu zerschmettern, das er seinen Vorarbeitern mit so viel Nachdruck vor die Füße schmiss, dass die Scherben manchmal in die Höhe spritzten und ihm in die Hände schnitten. In Jovens Firma hatten die Angestellten ihrem Chef wegen seines Mangels an Umgangsformen den Spitznamen der »Charmante« oder auch einfach nur »der Charme« gegeben.

Auch als Junge, als er noch einzelne Tassen und Schüsseln verkaufte, hatte Joven nie auch nur einen Penny Kredit gegeben oder ein Sonderangebot offeriert. Dutzende Gastwirte und Garküchenbesitzer in den Lees pflegten unsichtbare Denkmale für die Unverschämtheit des Charmanten: Dies hier war die Straßenecke, der Eingang, der Platz am Tresen, wo der junge Joven mit seinen dreckigen nackten Füßen gestanden, sie mit vorgeschobener Unterlippe angestarrt, einen gefühllosen Finger erhoben und ihnen eröffnet hatte, ein Handel sei ein Handel und sie könnten ihn abschließen oder es lassen.

Will sagen, nicht einmal seine eigenen Leute mochten ihn. Es spielte keine Rolle, dass er es zu einem Wohlstand gebracht hatte, wie ihn ungebildete Flussratten sonst nie erreichten. Er wurde für sein Genie bewundert und um sein Glück beneidet, aber der Charmante hatte sich nie Freunde gemacht und auch nie Wert drauf gelegt.

An einem kühlen Frühlingsmorgen öffneten sich die Tore von Westhovers Anwesen. Vier kastanienbraune Pferde klapperten durch einen knöcheltiefen Nebel und zogen die leuchtend weiße Kutsche des Ministers auf die Straße. Joven, der am Zaun gewartet hatte, trat vor und schleuderte einen Teller durch die Luft. Es handelte sich um eine Nachbildung, die er persönlich von einem der Teller aus Westhovers Bestellung gefertigt hatte.

Joven besaß immer noch das alte Geschick, das er durch das Werfen von Steinen am Ufer des Schön erworben hatte: Der Teller kreiselte rasant und traf genau ins Ziel. Er schnitt in die Kutschentür und hinterließ eine Schramme im glänzend weißen Holz.

»Da hast du dein dünnes Material, du betrügerischer Scheißkerl!« Er trippelte vorwärts und hob den Teller von dort auf, wo er aufs Pflaster gefallen war. Joven schwenkte den intakten Teller vergnügt über dem Kopf, um ihn den Passanten – Domestiken, Boten, Straßenkehrer, Schreiner auf dem Weg zu einer Baustelle – zu zeigen. »Perfekt! Nicht einmal ein Splitter ist aus seiner hässlichen Visage gebrochen!«

Der Kutscher zügelte seine Pferde. Der Finanzminister öffnete die beschädigte Tür und lugte hinaus. Der Kutscher stieg von seinem Bock, gefolgt vom Lakaien.

Joven ging auf sie los, in der einen Hand den erhobenen Teller, die andere zur Faust geballt, wurde aber von einem Schuss aus der Pistole von den Beinen geholt, die der Lakai aus seiner Jacke gezogen hatte. Die Kugel traf Joven in die Hüfte und er ging zu Boden.

Der Teller fiel und schlug diesmal unglücklich aufs Pflaster. Er zerbrach und blieb in Gestalt von zwei säuberlich getrennten Halbkreisen liegen.

»Haltet ihn fest«, rief Westhover aus der Kutsche; und Kutscher und Lakai gingen zu der Stelle, wo Joven lag, und drückten ihn an Armen und Schultern aufs Pflaster.

Ein kleiner Kohlenbrenner war in die Kutsche eingebaut, um den Chefökonomen der Regierung an kühlen Morgen wie diesem zu wärmen. Mithilfe eines Maschinistenfäustlings entnahm ihm Westhover eine der Kohlen, stieg aus und näherte sich der Gruppe.

Joven wehrte sich, doch die beiden Männer hielten ihn eisern fest. Der Minister hockte sich auf die Straße und versuchte, ihm die glühende Kohle in den Mund zu schieben. Joven presste die Lippen zusammen und schwenkte den Kopf hin und her. Er empfing zwar Brandwunden an Wangen und Nase, ließ sich vom Finanzminister aber nicht die Kohle in den Mund schieben. Während sein Kopf hin und her ruckte, knurrte er wie ein Hund. Durch das Getümmel geriet der Bodennebel in Wallung und die Schwaden leckten an Rücken und Gliedern entlang.

Nach einer Minute oder zwei grunzte Minister Westhover, warf die Kohle weg und streifte den rauchenden Handschuh ab. Er erhob sich schwankend von dem auf dem Boden liegenden Mann.

Der Minister war zwar mehr als eine Dekade jünger als der Geschäftsmann, aber übergewichtig und körperlich untüchtig und atmete schwer. Er schien durcheinander zu sein. An seinem blonden Schnurrbart klebte Rotz und die blaue Seidenkrawatte bauschte sich am Hals. Blinzelnd, schluckend und schnaufend klopfte er seine Taschen ab.

Die Männer des Ministers ließen Jovens Arme los und erhoben sich. Der Nebel sickerte langsam zurück in die kleine Lichtung, die durch das kurze Ringen entstanden war.

Joven stützte sich auf einen Ellbogen und spuckte Westhover auf die Schuhe. Auf der Nase und an den Wangen war die Haut teilweise abgeschält oder rot verbrannt, wo sie mit der Kohle in Berührung gekommen war.

Er war siegestrunken. »Du kannst mich nicht zwingen, deine Scheiße zu fressen! Auch wenn du mir die Nase wegbrennst, das werde ich nie tun!«

Die Menge, die sich in einiger Entfernung gebildet hatte, die Dienstmädchen und die Männer mit Handkarren, murmelten unbehaglich miteinander. Jovens Aufschrei gab nur wieder, was sie ebenfalls dachten: »Ihr habt es alle gesehen! Ihr habt es gesehen! Er wollte mich umbringen!«

Joven schob sich hinter dem Minister her, stieß sich wie ein Krebs mit den Handflächen vorwärts in dem augenscheinlichen Bemühen, ihm so nahe zu kommen, dass er mehr tun konnte, als nur zu spucken. Blut aus seiner Hüftwunde beschmierte die Pflastersteine und der Nebel trübte es zu schwarzer Farbe. Er lachte, während er auf Westhover zurobbte. Niemand hatte den Charmanten je zuvor lachen gehört. »Er glaubt, es ist alles seins, der betrügerische Scheißkerl, alles, was er haben will! Dass er jede Vereinbarung brechen kann! Er glaubt, er kann einen ehrlichen Handwerker auf offener Straße ermorden!«

Der Finanzminister atmete tief ein und spitzte die Lippen. Er rieb sich mit dem Daumen über die Fingerspitzen, als wollte er sich vergewissern, dass die Nägel glatt waren.

Unvermittelt schob Westhover die Hand in die Tasche des neben ihm stehenden Lakaien, riss die Pistole heraus und schoss Joven zweimal in die Brust.

Der ungehobelte, ungebildete Töpfer mit den verbrannten Fingern, der sich so weit über seinen Stand erhoben hatte, wurde vor den Augen von über dreißig Zeugen totgeschossen. Eine Nebelschwade wirbelte hoch und senkte sich dann langsam auf den Leichnam.

Jemand in der Menge schluchzte. »Mord«, verkündete eine Stimme und ein paar andere pflichteten bei. Der Finanzminister hielt die Pistole seinem Lakaien hin und der Lakai nahm sie.

»Wir haben es gesehen!«, brüllte eine Frau. Sie fand Unterstützung bei anderen und ein Mann wollte wissen: »Warum musstet Ihr das tun?«

Westhover antwortete nicht. Er schlich zurück zu seiner Kutsche, stieg ein und schlug die beschädigte Tür zu. Seine Männer kehrten auf die Bank zurück, wendeten die Kutsche, fuhren durch die geöffneten Tore des Anwesens und schlossen sie hinter sich.

Wenige Minuten später trafen Gendarmen ein und befahlen der Menge, sich zu zerstreuen. In der Zwischenzeit war Joven nur noch eine dunkle Erhebung im Nebel.

Am nächsten Tag fand eine Untersuchung statt und die Angelegenheit wurde begraben, ohne Anklage zu erheben. Der Finanzminister, stellten die Untersuchungsbeamten des Magistrats fest, habe in Notwehr gehandelt.

WAS IST MIT DEM GROSSEN HAUS DA?

Doch als sie auf die Kleine Traditionsstraße abbogen, sahen sie, dass das Gebäude der Gesellschaft abgebrannt war.

Ob es sich um einen Unfall oder um Brandstiftung handelte, ließ sich unmöglich feststellen. Bei ihrem Rückzug hatten die Krongarde und der Teil der Gendarmerie, der loyal zur Krone stand, in Teilen der Stadt wahllos Feuer gelegt. Die Provisorische Regierung hatte gerade erst mit dem Erfassen der Schäden begonnen. Andererseits war die Kleine Traditionsstraße nun wirklich keine Haupt- und Ausfallstraße. Der Grund mochten also ebenso gut eine umgefallene Kerze oder überspringende Kaminfunken gewesen sein. Ihr Lieutenant erklärte D diese offensichtlichen Dinge, während sie auf dem Gehsteig standen und die Ruinen betrachteten.

Die benachbarten Gebäude waren unbeschädigt. Die Stätte wirkte wie ein fauler Zahn in einem ansonsten strahlenden Lächeln.

D folgte dem Weg bis zu den Pappeln. Die rote Tür war sauber aus den Angeln gesprengt worden und steckte in Schräglage im Gras des Rasens. Das Dach war eingestürzt. Durch den offenen Eingang waren Berge aus verbrannten Holzbalken, Ziegeln und Dachpfannen zu sehen. Unter dem Aschegestank lag ein schweres, schlammiges Aroma, als wäre die Hitze so stark gewesen, dass sie die umliegende Erde festgebacken hatte. Die Trümmer strahlten noch Wärme ab und über den Ruinen des Gebäudes hing ein Nebel aus schwärzlichen Partikeln in der Luft.

Die Ansätze jenes Plans, an den aus tiefster Überzeugung zu glauben sie sich nie gestattet hatte, dass sie nämlich irgendetwas von ihrem Bruder in der Gesellschaft finden könnte, irgendeinen Beweis für die Sinnhaftigkeit seiner letzten Worte, lösten sich in Wohlgefallen auf. Das Modell der Sonne und ihrer Planeten war zu Asche zerfallen, der Schreibtisch, an dem die Dame mit dem Hut an ihrem Buch gearbeitet hatte, ein Trümmerhaufen, der Platz am Herd des schläfrigen Mannes unter Schuttbergen begraben. Der Große Saal existierte ebenso nicht länger wie der Rest des Gebäudes – wie Ambrose.

Doch sie konnte es sich nicht leisten, sich ihrer Enttäuschung hinzugeben, nicht in ihrer Position. Man konnte Bilder von perfekten Räumen und Erinnerungen an tote Brüder im Kopf bewahren, aber wenn man auf sich allein gestellt war, blieb man in Bewegung. Man schritt voran, immer, wenn man überhaupt noch auf den Beinen bleiben wollte.

»Dora?« Ihr Lieutenant war neben sie getreten. »Alles in Ordnung?«

Sie hängte sich bei ihm ein und machte mit ihm kehrt, um den Weg zurückzugehen, auf dem sie gekommen waren. »Bestens. Ich hoffe, dass niemand darin war.«

»Von den Geistern wurde keiner verletzt«, bemerkte Robert. »Ich glaube, dessen können wir uns sicher sein.«

D hatte damals nicht den Eindruck gewonnen, dass die Gesellschaft für Psychikalische Forschung viel mit Geistern zu tun hatte, aber sie wollte keine Haare spalten. In Wahrheit hatte sie nie genau verstanden, worum es in der Gesellschaft ging, sie wusste nur, dass ihre Mitglieder gewisse Nachforschungen und Studien anstellten – und dass Ambrose für eine kurze Zeit dazugehört hatte.

»Das ist sehr tröstlich, Lieutenant. Daran hatte ich nicht gedacht. Ein Geist zu sein, will mir trübsinnig erscheinen, aber zumindest kann man nicht verbrennen.« Seit der Gründung der Freiwilligen Bürgerwehr war sie dazu übergegangen, ihn mit seinem Rang anzusprechen.

Für den Rest seines Zirkels, die anderen jungen Revolutionäre von der Universität, war D das flüsternde kleine Mädchen, das sich Bobby clevererweise als Geliebte hielt, ein schlichtes graues Kleid mit Hut, das nahe bei den Mauern blieb. Sie konnten nicht wissen, wie es tatsächlich zwischen ihnen war. Und das gehörte für ihn mit zum Spaß, wusste sie.

»Selbst wenn Feuer ihnen etwas anhaben könnte«, fuhr Robert fort, »hätten sie sich beim ersten Anzeichen von Rauch aus dem Staub machen können. Geister können durch Wände und Fenster gleiten oder auch unter Türen hindurchschlüpfen. Oder sich durch den Briefschlitz verdünnisieren wie ein hindurchgeworfener Brief. Das bleibt jedem individuellen Geist überlassen.«

»Woher wisst Ihr das alles, Lieutenant?«

»Von meinem Kindermädchen.«

»Sie war eine Trinkerin?«

»Ja. Ich habe sie sehr gemocht.«

D teilte ihm mit, es spiele eigentlich keine Rolle, sie habe das Gebäude nur bewundert, das sei alles. Sie wollte nichts über Ambrose oder ihre Familie erzählen, und das machte es ohnehin leichter für sie beide. Sie gefiel Robert so, wie er sie sich vorstellte.

»Ich weiß, dass du deinen Beitrag leisten wolltest, Dora, aber es gibt unzählige andere Gebäude, um die man sich kümmern muss. Wir sind noch nicht einmal auf der Straße mit den guten Museen angekommen.«

Sie waren zum Anfang der Kleinen Traditionsstraße zurückgekehrt, wo sich das erste Gebäude der Stadt auf einem Fundament aus pockennarbigen Steinblöcken erhob. Robert zeigte nach rechts, die Legatenallee entlang und an der Botschaft des hervorragendsten Verbündeten der abgesetzten Regierung vorbei. »Lass uns zur Großen Traditionsstraße gehen, ich verspreche dir, dort finden wir …« Er hielt inne und richtete den Blick auf den enormen Haufen Steinblöcke neben ihnen. »Obwohl, warte mal. Was ist mit dem großen Haus da vorn?«

GLEICH PASSIERT ETWAS

Ein paar Jungen hatten sie eines Tages vor vielen Jahren gehänselt, als D mit ihrem Bruder unterwegs war. Sie war acht. Die Jungen lungerten vor einer Apotheke herum, trugen adrette blaue Schulmützen und Uniformen und sahen ein paar Jahre jünger aus als Ambrose, der fünfzehn und gar kein Junge mehr war. Ihr Bruder hielt Ds klamme Hand, während sie ihr kleines Puppenbaby in der Ellenbeuge trug.

»Ach, Schätzchen, ich kann nicht umhin zu bemerken, was für ein hübsches Baby du da hast!«, johlte einer der Jungs. Seine Haare waren weißblond und aus seiner Westentasche hing eine goldene Uhrkette wie bei einem Erwachsenen. Im Ladenfenster hinter ihm waren Tafeln mit gemalten Bildern ausgestellt – ein Mann mit bandagiertem Kopf, eine Frau mit einem vorquellenden Auge, ein geschwollener roter Zeh, der schwarze Schmerzwellen ausstrahlte –, um die Vielfalt von Beschwerden darzustellen, die die Tabletten und Elixiere dieses Apothekers zu behandeln vermochten.

»Ach, Schätzchen!«, krähte ein anderer Junge im Kielwasser des ersten. »Es ist ein Baby!«

Zufällig hatte sie ihre Puppe Baby genannt und sie glaubte tatsächlich, dass Baby sehr hübsch war in dem elfenbeinfarbenen Nachthemd mit Spitzenkragen. Die Häme der älteren, adrett gekleideten Jungs verwirrte D und war ihr peinlich und sie schniefte, als ihr Bruder sie wegführte.

Sie gaben Katzengeräusche von sich, Fauch- und Knurr- und Kreischtöne. Ihr Anführer fuhr fort mit seinen Hänseleien. »Und das muss Eure kleine Frau sein! Gut gemacht, Sir, gut gemacht!«

D fragte sich, warum ihr Bruder ihnen nicht Einhalt gebot: Er war größer als sie. Doch Ambrose sah nicht einmal in deren Richtung.

Stattdessen flüsterte er ihr zu, ohne innezuhalten oder sich zu ihr herunterzubeugen: »Still jetzt, D. Es gefällt ihnen, wenn du weinst. Ich würde nie zulassen, dass dir jemand wehtut. Glaubst du das?«

Sie bejahte es, war sich aber über nichts mehr sicher. Sie hatte nicht gewusst, dass es Jungen auf der Welt gab, die einen piesackten, nur weil man klein war und ein Spielzeug hatte, das man liebte. D weinte noch mehr und die Tränen tropften auf ihr Baby.

»Gut. Und jetzt bleib ganz nah bei mir und pass gut auf«, fuhr Ambrose fort. »Gleich passiert etwas.«

Die Jungen verfolgten sie nicht und ihre Stimmen verloren sich hinter ihnen, als die Geschwister an der nächsten Straßenecke abbogen. Ds Bruder hieß sie, stehen zu bleiben und sich gut umzusehen. »Schau dich so eingehend um, wie du kannst. Sieh dir alles an.«

D sah:

Hübsche Häuser, die ihrem eigenen ähnelten, dreistöckig bis auf die vierstöckigen, mit steinernen Aufgängen, die bis zum Gehsteig reichten; die dünnen parallelen Linien der Straßenbahngleise, die sich mitten durch die kopfsteingepflasterte Allee zogen, und im umzäunten Bereich der Tramhaltestelle einen Mann, der sich einen Stiefel ausgezogen hatte und auf dem anderen Bein balancierte, während er mit einem spitzen Gegenstand etwas von der Sohle des Stiefels kratzte; auf der gegenüberliegenden Seite der Allee eine Frau mit der Schürze und der Haube einer Dienstmagd, die einen Korb mit Salat auf dem Kopf trug; ein Stück weiter entfernt den Straßenkehrer dieser Gegend, der Pferdeäpfel in seine Schubkarre schaufelte, wobei das Schaufelblatt auf dem Pflaster klirrte; Grackeln, die auf der Oberleitung der Tram über den Gleisen saßen; den wolkenlosen grauen Himmel.

D richtete den Blick auf ihren Bruder. Wie die gemeinen Jungen trug Ambrose eine Schulmütze, doch seine hatte eine graue Farbe, nicht viel dunkler als der Himmel, und er hatte sie sich bis zu den Augenbrauen ins Gesicht gezogen. In den kommenden Jahren würde dieser Anblick Ds lebendigste Vorstellung von ihm sein, die spitze Nase und ein schlaues, ausladendes Lächeln, während die obere Zahnreihe unter dem Schatten des Mützenschirms hervorblitzte.

»Siehst du, was passiert ist?«

»Nein. Ich glaube, nicht.«

»Wir haben sie verschwinden lassen. Das ist unsere ganz besondere Magie, D.«

Sie wusste, dass das nicht stimmte. Man konnte Leute nicht einfach verschwinden lassen, sosehr man sie auch hassen mochte. Aber sie erkannte die Fantasievorstellung als das Geschenk an, das sie war, eine besänftigende Idee, die nur ihnen gehörte. Der hellhaarige Junge mochte eine schicke Uhrkette gehabt haben, aber er hatte nicht so einen Bruder wie D und würde nie dieses Kaninchengrinsen zu sehen bekommen, das ihr Bruder nur für sie reserviert hatte. Und er hatte auch keine Schwester wie D, der er vertrauen und auf die er sich unbedingt verlassen konnte.

Vielleicht wurden die Jungen auf diese Weise, durch den Vergleich mit dem, was D und Ambrose hatten, so klein, dass es einem Verschwinden gleichkam.

Mutter hasste es, wenn er sie D anstatt Dora nannte, aber das gehörte zu ihrer Nähe. Als sie noch ganz klein war, hatte Ambrose’ Zunge dazu geneigt, sich im Ende ihres Namens zu verhaspeln, und er war auf »D« als Alternative verfallen.

Kindermädchen erzählte diese Geschichte mit Wonne. »Der junge Sir hat verkündet: ›Ich werde mich nicht in dem Versuch erschöpfen, das ganze Ding auszusprechen. Warum sollte ich? Sie ist ohnehin nicht so groß, dass sie mehr als einen Buchstaben bräuchte!‹«

D konnte sich nicht erinnern, jemals auf andere Art von sich gedacht zu haben. Es gab ihr das Gefühl, besonders zu sein, von ihm gesehen und bemerkt zu werden. Vielleicht war ein Buchstabe eine Kleinigkeit, aber es gab nur sechsundzwanzig davon und ihr Bruder hatte ihr den vierten gegeben.

»Ich liebe dich«, stellte sie fest und er tätschelte ihre Schulter und antwortete ihr, er liebe sie auch.

Während sie dort standen, machte die Magd mit dem Salatkorb auf dem Kopf einen achtsamen Bogen um sie.

Bei ihrer Heimkehr war Kindermädchen im Durchgang zwischen dem rückwärtigen Flur und der Küche zusammengebrochen. Vater war auf der Arbeit und ihre Mutter sonst wo. Kindermädchen lachte und winkte ihnen mit einer Hand zu. Kindermädchen hatte ein verquollenes, runzliges, fröhliches Gesicht, ein Gesicht wie eine glückliche Wolke. D hatte sie nie ein unfreundliches Wort sagen hören und wenn sie nicht lachte, war sie doch immer kurz davor, zu lachen.

»Nun seht euch das an: Meine Beine wollten nicht mehr und haben mich hingesetzt! Wie gefällt euch das?« Kindermädchen gluckste noch ein bisschen. »Hab mir wohl irgendwas eingefangen. Das wird schon wieder.«

Ambrose half ihr aufzustehen. »Natürlich wird das wieder.« Er führte sie zu einem Stuhl am Küchentisch. D stieg ihr seltsamer süßlicher Geruch in die Nase, der sie an den Geruch von Äpfeln rings um die Wurzeln eines Apfelbaums erinnerte; die verdorbenen, auslaufenden, die niemand wollte.

D setzte sich Kindermädchen gegenüber und tätschelte ihre weiche, klamme Hand. Dann sagte sie zu Kindermädchen, was die zu D sagte, wenn sie sich nicht wohlfühlte: »Mach dir keine Sorgen, Schätzchen, es ist einfach nicht dein Tag.«

Dies veranlasste Kindermädchen zu einem entzückten Johlen, bevor sie den Kopf in die Ellenbeuge sinken ließ und fröhlich ächzte. D tätschelte noch ein wenig ihre Hand.

Ihr Bruder knöpfte seine Jacke wieder zu. Er würde losgehen und Kindermädchen irgendein Tonikum zur Beruhigung ihrer Nerven kaufen. »Kümmere dich um die Patientin, während ich weg bin, D.« Der Apotheker war gleich um die Ecke. Er nahm die Ascheschaufel vom Haken am Herd und versprach, bald wieder zurück zu sein.

Einen oder zwei Monate später kam ein Tag, an dem Kindermädchen wieder krank war.

Ambrose hatte D gewarnt, dass es vermutlich so kommen werde, und sie gebeten, die außergewöhnlich wichtige Verantwortung auf sich zu nehmen, ihn sofort zu holen, wenn das der Fall sei. Es sei von außerordentlicher Wichtigkeit, dass ihre Eltern nichts von Kindermädchens fragilem Zustand erführen. Der Grund dafür sei, dass er nach der Schule nicht gleich nach Hause komme, wie ihre Eltern annähmen, er treffe oft erst Minuten vor der Rückkehr ihrer Mutter von ihren täglichen Einkäufen und Verabredungen ein. Sollte Kindermädchen entlassen werden, könnte sich ihre Nachfolgerin als nicht so tolerant in Bezug auf Ambrose’ Säumigkeit erweisen.

»Ich bin nicht so, wie Mutter und Vater mich gern hätten, D. Ich will nicht in einer Bank arbeiten oder der Ehemann von einer sein, die nur einen Bankier heiraten will. Ich bin nicht wie unsere Eltern.« Ambrose hatte ihr aus dem Schatten unter dem Schirm seiner grauen Mütze zugezwinkert.

»Wie bist du denn?«, fragte D.

»Ich bin interessant.«

»Bin ich interessant?« Sie konnte sich nicht vorstellen, interessant zu sein, wie ihr Bruder interessant war, aber vielleicht gab es ja Abstufungen.

»Kennst du interessante Leute?«

»Dich.«

»Tja, siehst du? Du bist es. Oder du wirst es sein, weil es abfärbt. Ich habe mich mit einer interessanten Person angefreundet, eins hat zum anderen geführt und jetzt gehöre ich einer ganzen Gruppe von interessanten Leuten an und wir werden die Welt retten. Ich hoffe, du wirst dich uns irgendwann anschließen. Also, was sagst du? Kannst du mein Beobachter sein und sofort Bescheid sagen, wenn Kindermädchen krank wird?«

D hatte das bejaht. Gleichzeitig hatte sie sich gefragt: Die Welt retten? Wovor?

Bevor sie das Haus verließ, schob D Kindermädchen ein Kissen unter den Kopf, da, wo sie auf dem Fußboden des Badezimmers eingeschlafen war. Wie Ambrose ihr aufgetragen hatte, nahm sie die Tram, stieg zwei Haltestellen später aus und ging zu der Ecke, wo Große Traditionsstraße in der einen Richtung auf dem Straßenschild stand und Legatenallee in der anderen. Von dort folgte sie der Legatenallee einen Häuserblock weiter zu einem Straßenschild, auf dem Kleine Traditionsstraße stand. Das zweite Gebäude von der Ecke auf dieser Straße bestand, genau wie ihr Bruder es ihr beschrieben hatte, aus hellen Ziegeln und davor standen zwei hohe, dürre Bäume.

Sie eilte über die Straße und den Weg entlang zu der roten Tür mit dem silbernen Intarsiendreieck und klopfte.

Ein Empfangsdiener nahm den Namen ihres Bruders auf, hieß sie in der Gesellschaft für Psychikalische Forschung willkommen und bat sie hinein. Er brachte sie durch eine geflieste Eingangshalle zu einem Vorhang. Dieser führte zu etwas, das der Empfangsdiener »den Großen Saal, Fräulein«, nannte. Er instruierte sie, dort zu warten, während er den jungen Herrn aus seinen Studien hole, und ging zu einem zweiten Vorhang am anderen Ende des langen Raums.

D war froh, zu warten, wo sie stand. Ihre familiären Umstände waren mehr als komfortabel und es hatte ihr nie an Nahrung, Kleidung oder Unterkunft gemangelt, aber die ausnehmend erwachsene Erhabenheit des Raums, in den man sie geführt hatte, war überwältigend. Sie hatte das Gefühl, dass ihr Engagement für ihren Bruder sie so weit gebracht hatte, wie man es vernünftigerweise erwarten konnte. Außerdem bereute sie bitterlich, es unterlassen zu haben, Baby zu ihrer Unterstützung mitzunehmen.

Bücherregale erstreckten sich über die gesamte Länge des Saals und bis zur hohen Decke, wo eine Konstellation farbiger Bälle – Planeten, wie ihr aufging – an einem Gespinst aus gebogenen Silberdrähten hing. In der Mitte dieser Apparatur befand sich der größte Ball, die gelb gefärbte Sonne. Die ganze Konstruktion bewegte sich langsam im Uhrzeigersinn und dabei huschten Lichtfunken die Krümmungen der Planeten entlang.

Im Saal selbst herrschte stille, konzentrierte Aktivität. In der Mitte eines, wie es schien, hektargroßen goldgemusterten roten Teppichs saß eine Frau mit einem dicken Buch an einem Schreibtisch. Eine aufwendige, mit Perlen und Blumen bestickte Schirmmütze saß schief auf ihrem Kopf und schirmte ihr Gesicht ab; sie zog mithilfe eines Messinstruments Linien in dem Buch. Ganz oben auf einer an der Wand befestigten Leiter hockte ein Mann und studierte die Titel im obersten Regal. Abseits in einer Ecke stand eine kleine Gruppe zusammen und trank etwas aus Tassen auf Untertassen, während man sich unterhielt. Zwei identische Frauen – Zwillinge! – in Kleidern mit hohem Kragen hatten sich an einem Globus auf einem Ständer aus Bronze in ein Gespräch vertieft.

Nicht weit von D schlummerte ein älterer Mann in einer Tweedhose in einem ledernen Sessel am Marmorkamin. Sogar im Schlaf schien er eifrig beschäftigt zu sein: Seine Hände waren unter die Achseln geklemmt, sein schlafender Mund war zu einem nachdenklichen Lächeln verzogen und infolge der Wärme des Feuers hatte er rote Flecke auf den Wangen.

Der Saal roch wunderbar, nach Zeder und Holzrauch, Leder und Bohnerwachs.

D balancierte auf der Kante des riesigen Teppichs, sodass ihre Schuhspitzen im burgunderroten Flor versanken – er war mit Dreiecken wie dem in der Tür der Gesellschaft gemustert, aber diese hier waren aus Gold anstatt Silber – ‚ während ihre Absätze auf der Kante blieben. Der Stoff des Vorhangs strich über ihren Rücken. Wie hatte ihr Bruder nur die Courage aufgebracht, jemals über diese Schwelle zu schreiten?

Sie starrte zu den Planeten in die Höhe und dachte, wenn sie ihre ganze Aufmerksamkeit auf etwas richtete, würde sie sich hier einfügen und niemand sich mit ihr abgeben. Unter dem Wispern geflüsterter Unterhaltungen erzeugte der sich langsam drehende Apparat ein hohes, dünnes Summen.

»Willkommen, willkommen! Es ist das Blut der neuen Mitglieder, das unser Unternehmen frisch und spritzig erhält.« Der Mann aus dem Sessel neben dem Kamin war vor ihr aufgetaucht. Er lächelte immer noch – nun, da er wach war –, und seine Hände waren immer noch unter die Achseln geklemmt, als hätte er kalte Finger. Seine Haare hatten die weißgraue Farbe von Fabrikqualm und hingen in losen Locken um sein Gesicht. Die Weste unter seiner Tweedjacke hatte einen schimmernden Goldton. D hatte nicht gewusst, dass es Westen in dieser Farbe gab. Sie dachte, er müsse sehr angesehen sein.

»Ich bin kein Mitglied, Sir. Ich warte nur auf meinen Bruder Ambrose«, erwiderte D. Sie trat von der Teppichkante und zog sich in den Vorhang zurück. Falls sie in Schwierigkeiten war, konnte sie darunter hinwegtauchen und durch die Eingangshalle zur Tür rennen.

»Ambrose, fabelhaft. Ah, also bist du ein Gast. Und ein liebes, liebes Mädchen. Nun, ich hoffe, du entschließt dich, uns beizutreten. Wie du siehst, haben wir mehrere weibliche Mitglieder.«

Sein freundliches Gebaren und die Art, wie er seine Hände zurückhielt, beruhigten sie. D hatte das Gefühl, dass es sicher war, vom Vorhang weg- und vor ihn hinzutreten. »Ich musste mein Kindermädchen auf dem Boden im Badezimmer zurücklassen. Sie hat zu viel Medizin genommen.«

»Ein verbreitetes Problem. Du kennst die Lösung, nicht wahr?«

D schüttelte den Kopf.

»Die Lösung ist mehr Medizin. Merk dir das.«

»Das werde ich, Sir.«

»Gut. Was hältst du von diesem Ort?«

»Er gefällt mir«, erklärte D.

»Hast du die Planeten bemerkt?«

»Ja, Sir.«

»Machst du dir Sorgen, einer könnte sich lösen, dir auf den Kopf fallen und dich auf der Stelle töten?«

»Nein, Sir.«

»Gut! Das ist auch noch nie vorgekommen. Die Drähte sind sicher befestigt. Hat dich schon jemand herumgeführt?«

»Nein, Sir. Mir wurde aufgetragen, hier zu warten.«

»Das ist aber keine Art, ein potenzielles Mitglied zu behandeln. Lass uns etwas ansehen gehen. Würdest du mich auf einem kurzen Spaziergang begleiten?« Mit zur Sicherheit unter den Achseln verstauten Händen zeigte der freundliche alte Mann durch eine Neigung seines Kopfes an, in welche Richtung er durch den Saal zu gehen gedachte.

»Ja, Sir.«

Sein Weg führte sie zwischen Schreibtischen und Sitzecken hindurch. D hielt den Blick auf die Absätze seiner Halbschuhe gerichtet, während sie ihm folgte. Sie widerstand einem starken Drang, nur auf die goldenen Dreiecke im Teppich zu treten. Niemand hatte einen Blick für sie übrig.

»Jetzt wirf mal einen Blick auf das hier, meine Liebe, einen richtig guten Blick, und sag mir, was du davon hältst.«

Sie hatten eine Plattform erreicht, die sich zwischen zwei der massiven Bücherregale ausbreitete. Auf der Plattform standen ein Beistelltisch und ein tiefer, hoher, rechteckiger Kasten mit Seiten aus rotem Samt und einer roten Tür – ein Schrank. Die Tür des Schranks war mit kleineren Versionen des silbernen Dreiecks bedeckt, das in die Eingangstür des Gebäudes eingelassen war. Auf dem Tisch lagen ein schwarzer Hut – eine Melone –, ein schwarzer Stab, ein aufgefächertes Kartenspiel und ein silbernes Ei.

»Nun?«

Er sah sie humorvoll an, ein Auge so weit wie möglich geöffnet, das andere beinahe geschlossen. Der Mann war so freundlich, dass es D die nötige Zuversicht verlieh, eine ehrliche Antwort zu geben, anstatt nur zu sagen, sie wisse es nicht.

»Sind das Sachen für ein Geschichtenspiel? Man kann die Sachen auf dem Tisch mit in den Schrank nehmen, den Hut aufsetzen und dann mit den anderen Dingen wieder herauskommen und mit ihrer Hilfe eine Geschichte erzählen?« Genauso würde sie nämlich diese Dinge auf der Bühne nutzen. Daheim benutzte sie ihren eigenen Schrank als Umkleideraum für die Aufführungen von Märchen, die sie für Kindermädchen veranstaltete.

»Nahe dran«, nickte der fröhliche Mann. »Was für ein gescheites Mädchen!« Er ließ ein schnaubendes Lachen folgen und rieb sich die Nase an der Schulter. »Dies ist die Bühne eines Zauberkünstlers und das waren die Requisite eines ganz besonderen Zauberkünstlers, tatsächlich eines geschätzten Mitglieds unseres kleinen Klubs. Ich weiß nicht, was du über die Zauberkunst weiß. Aber sie ist etwas wie Geschichtenerzählen. Eigentlich handelt es sich um Geschichtenerzählen. Der Zauberkünstler erzählt einem eine unmögliche Geschichte und dann liefert er einem den Beweis dafür, dass sie stimmt. Ein pfiffiges, pfiffiges Geschäft. Wie Diebstahl, aber was der Zauberkünstler stiehlt, ist der Glaube, und der Mann, der auf dieser Bühne seine Tricks vorgeführt hat, war der wundervollste, wundervollste Dieb, den man sich nur vorstellen kann.«

DAS NATIONALMUSEUM DES ARBEITERS

Weder Gärten noch Ziersträucher umfassten das Steinblock-Fundament des massiven Bauwerks an der Ecke Legatenallee und Kleine Traditionsstraße. Es war kein Platz für sie. Das große graue Gebäude kauerte direkt an der Straße. Seine Mauern erhoben sich gerade und tief, nur unterbrochen von fünf Gürteln verkrusteter grüner Läden, einer für jede Etage. D glaubte, es hätte bereits in ihrer Kindheit existiert, aber seine Riesenhaftigkeit war unscheinbar und im Gegensatz zum fröhlichen Heim der Gesellschaft mit seiner frischen Ziegelfassade war die Ausstrahlung dieses Hünen schwach und unsicher. Das Gebäude schien nicht gebaut worden zu sein, vielmehr sah es aus, als hätte es sich niedergelassen, wie ein Felsen auf einem Feld.

Über den hohen Eingangstüren angebrachte Messingbuchstaben taten den Namen und Zweck des Gebäudes kund:

DAS NATIONALMUSEUM DES ARBEITERS: »ZU EHREN DER NAMENLOSEN ERBAUER«

Die Metalltüren hatten die Höhe eines Pferdes. Eine kleinere Tafel an der Wand neben der Tür informierte Besucher, dass sie aus geschmolzenen Werkzeugen gegossen worden seien. Identifizierbare Fragmente von Köpfen verschiedener Hammerarten und Ambossspitzen wölbten sich aus der Oberfläche der Türen wie Menschen unter einem Bettlaken.

Robert drückte die Klinke der rechten Tür nieder und sie ließ sich öffnen – das Museum war unverschlossen. D konnte erkennen, dass ihrem Lieutenant das nicht gefiel. Es ließ sich unmöglich sagen, ob sie die Ersten sein würden, die dieses Haus nach dem Sturz der Regierung der Krone betraten.

»Ich kann mir eine andere Beschäftigung suchen. Es spielt keine Rolle«, versicherte ihm D. Das tat es wirklich nicht. Es gab weitere Häuser, andere Aufgaben.

»Aber all das ist jetzt von Bedeutung«, wischte er die Ausflucht vom Tisch, die sie ihm angeboten hatte. »Es ist öffentliches Eigentum.«

Robert hielt die Tür fest, während D einen eisernen Stopper auf dem Boden im Haus fand und ihn in die Lücke klemmte.

Tageslicht fiel durch den Spalt der angelehnten Tür und auf die breite Treppe zur Galerie im Erdgeschoss. Robert erklärte, er wolle vorangehen – »nur für den Fall, dass sich hier unten irgendwelche Verweigerer verkrochen haben« –, und trottete die wenigen Stufen von der Eingangshalle hinauf. D folgte ihm jedoch, ohne zu warten.

Am Ende der Treppe befand sich links und rechts jeweils ein Eintrittskartenschalter. Dahinter wartete die Galerie im Erdgeschoss in dunstiger brauner Düsternis, da nur wenig Licht durch die Schlitze zwischen den Latten der geschlossenen Läden drang. D roch Staub, Eisen und den Rauch aus den Ruinen des Hauses der Gesellschaft nebenan.

»Hallo! Ist hier jemand? Ich bin Lieutenant der Freiwilligen Bürgerwehr und habe ein Dokument der Provisorischen Regierung, das mir Zutritt zu diesem Haus und die Verfügungsgewalt darüber gewährt.« Ihr Lieutenant hatte seine Pistole aus dem Holster gezogen. »Es wird keinen Ärger geben – legt einfach alles nieder, was ihr an euch genommen habt, und kommt mit leeren Händen heraus, dann lasse ich euch unbehelligt eurer Wege gehen.« Seine Worte hallten durch das Haus, verfolgten einander, bevor sie sich verloren.

Robert sah sie mit einem leichten Zucken im Mundwinkel an. Sie konnte erkennen, dass er ängstlich war, dass er mit seiner Miene fragte, ob er bereit sein solle, jemanden zu erschießen, und, mehr noch, ob sie glaubte, er könne es.

Sechs Monate zuvor, als sie sich kennengelernt hatten, war er noch Student an der Universität. In den achtundvierzig Stunden der Scharmützel, die größtenteils in der Gegend des Regierungsviertels stattgefunden hatten, war Robert nicht an Kämpfen beteiligt gewesen. Er war mit einer Handsäge ans Westende der Südbrücke über den Schön beordert worden, um die Telegrafendrähte durchzuschneiden, wenn der entsprechende Befehl kam. Über diese wenig aufregende Erfahrung hatte er in Ds Gegenwart Scherze gemacht. Um sich die Zeit zu vertreiben, habe er in und um die Laternenpfähle geritzte Graffiti gelesen und sich das mitgebrachte Brot mit einer Bettlerin aus den Lees geteilt.

»Ich will damit nicht sagen, dass ich die Kämpfe entspannend fand«, hatte Robert D eröffnet, »aber ich bin derweil dazu gekommen, einige lehrreiche Dinge zu lesen. Hast du zum Beispiel gewusst, dass das Bier in der Destille hauptsächlich aus Flusswasser gebraut wird, man es aber mit Pisse und Essig vermischt, damit man es bedenkenlos trinken kann?«

D wusste nicht, ob Robert ein Feigling war oder nicht. Woher auch? Er wusste es selbst noch nicht. Sie wäre froh, wenn er es nie herausfinden müsste.

Sie richtete das um seinen Bizeps geknotete grüne Armband. »Falls hier Plünderer waren, Lieutenant, sind sie wohl wieder verschwunden.«

»Ganz deiner Meinung.« Er holte tief Luft, schob die Pistole vorsichtig zurück ins Holster und knöpfte es zu.

D küsste ihn auf die Wange.

Er gab einen kehligen Laut von sich, während seine Hand über ihr Kleid strich und gegen ihre Rippen drückte.

D drehte sich weg von ihm. Sie trat zum nächsten Fenster, klappte die Läden zurück und ging dann weiter durch den Saal, um sie alle der Reihe nach zu öffnen.

Die Läden klapperten und der Holzfußboden der Galerie wurde in Streifen staubigen Sonnenscheins entrollt. Das erste Ausstellungsstück, das sich ihnen so enthüllte, war das Modell eines übergroßen Getriebes aus Zahnrädern, das mitten auf dem Boden stand. Auf einer von der Decke hängenden Tafel stand MASCHINEN UND IHR PERSONAL. In dieser Etage drehte sich alles um mechanische Erfindungen: die Druckerpresse, die Sägemühle, die Dampfmaschine, die Uhr, das Fahrrad – und die Ingenieure sowie das Personal, das mit ihnen arbeitete. Größere Ausstellungsstücke wechselten sich mit kleineren gläsernen Schaukästen auf hölzernen Podesten ab.

Dem Tageslicht geöffnet, blickten die Fenster auf der linken Gebäudeseite auf die Legatenallee, während die mit Asche von dem Brand verklebten Fenster auf der rechten Seite Aussicht auf die Ruinen des Hauses der Gesellschaft boten. Durch die Fenster in der Rückwand sah man auf die Botschaft der Imperialisten und deren rückwärtigen Hof.

Das Museum war nicht mit Elektrizität versorgt und angelaufene Gaslampen hingen an den Wänden. D öffnete den Hahn von einer und hörte es zischen. Sie schloss ihn wieder.

Robert rief sie zum Getriebe zurück. Es war ein interaktives Ausstellungsstück. Es gab drei Zahnräder, alle so groß wie der Lieutenant. Er setzte das oberste Rad in Bewegung, das wiederum seinen Bruder in der Mitte anstieß, der sich ebenfalls drehte und das dritte Zahnrad antrieb, was den gesamten, ein wenig erhöhten runden Boden des Ausstellungsstücks veranlasste, sich langsam zu drehen. Die Zahnräder schepperten ineinander und die Drehung der Plattform erzeugte ein knirschendes Murmeln. »Braucht Öl«, stellte er fest.

Mehrere Exponate waren von Wachsfigurenarbeitern bevölkert. Ein Drucker mit Ärmelhaltern betrachtete eine große Zeitung, die sich aus der Druckerpresse schob. An der Sägemühle stand ein Holzarbeiter mit einer Pfeife im grimassenhaft verzogenen Mund und in die Hüften gestemmten Händen und beobachtete den Vorgang. Zwei Wachsfiguren mit langen Lederhandschuhen und Lederschürzen beschäftigten sich mit ihrer Dampfmaschine, die Wangen rosa bemalt und mit weißlichen Tropfen gesprenkelt, da sie in der von der Maschine ausgehenden Hitze schwitzten. Ein junger Mechaniker hielt einen Schraubenzieher an die Radnabe des Fahrrads, während dessen lang berockte Fahrerin es hilfsbereit am Lenker in die Höhe hielt. Alle Wachsfiguren waren individuell gestaltet. Wie die echte Bevölkerung der Stadt hatten sie unterschiedliche Hautfarben und waren von vielfältiger Statur.

Eine Treppe am Ende der Galerie führte sie in die erste Etage, die dem HANDWERK gewidmet war. Hier öffnete D die Läden für Exponate aus Berufen wie Maurer, Jäger und Abdecker, Teppichweber, Seiler, Schneider, Töpfer und Bäcker.

Die Bäckerin holte ein Blech mit mehreren hölzernen Brotlaiben aus dem Ofen, die durch vielfache Berührungen beinahe weiß gerieben waren. Robert nahm eines vom Blech, wog es in den Händen und legte es mit einem Klirren wieder zurück. »Es ist vertrocknet«, eröffnete er der Wachsfrau in ihr gemaltes hageres Gesicht. D fand, sie könne zurecht müde sein, nachdem sie das Blech nun wie viele Jahre auch immer gehalten und Leute über ihr hölzernes Brot lachen gehört hatte. Ihre Augen waren mit Staub bedeckt.

Die Seilerin – die sofort irgendwie vertraut aussah – saß in einem Gewirr aus Hanfsträngen und hatte auf eine fröhliche Art die Wangen aufgeblasen, und den Maurern war weiße Schnur durch die Gürtelschlaufen gezogen worden, damit ihre Arbeitshosen nicht rutschten. D nahm an, dass jemand ihre Gürtel gestohlen haben musste. Auch die Augen dieser Wachsfiguren waren mit Staub bedeckt. Mehrere der Schüsseln und Vasen des Töpfers waren ganz eindeutig irgendwann zerbrochen und wieder zusammengeklebt worden.

Die zweite Etage trug den Titel SCHIENEN, STRASSEN UND MEERE. In dieser Galerie bemannten Schaffner aus Wachs Abteile von Zügen und Straßenbahnen, Kutscher lenkten Kutschen und Karren und eine Mannschaft aus Matrosen widmete sich ihren Pflichten auf dem Halbdeck eines Walfängers, der etwas über die anderen Exponate erhoben von einem Gerüst gehalten wurde.

Überall im Museum wiesen viele der Wachsfiguren, wenngleich beeindruckend detailliert und lebensecht, kahle Stellen auf den Köpfen auf, wo ihnen die Haare ausgefallen oder ausgerissen worden waren. Ein paar hatten ernsteren Schaden davongetragen: Finger fehlten, Haut war eingeritzt, Augen waren gesprungen oder fehlten gänzlich. Andere Figuren schienen wie die Maurer ihrer korrekten Ausrüstung beraubt worden zu sein – zum Beispiel trug die Muschelsammlerin anstelle eines Eimers eine Kohlenschütte. Die meisten zu Demonstrationszwecken aufgestellten Maschinen waren defekt. Von dem halben Dutzend Zugpfeifen, die zum Testen für Kinder auf einem Tisch lagen, reagierte nur die kleinste auf Druck ihres Knopfes und gab ein verwundetes Stöhnen von sich. Und aus der Pumpe, die eigentlich das Rad der Sägemühle bewegen sollte, floss kein Wasser. Die improvisierten Reparaturversuche – die Schnur bei den Maurern, die Kohlenschütte – machten einen nachlässigen Eindruck: vage Wartungsspuren einer desinteressierten Hand.