Die längste Nacht - Isabel Abedi - E-Book

Die längste Nacht E-Book

Isabel Abedi

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Beschreibung

Es sind nur ein paar Sätze in einem noch unveröffentlichten Manuskript, das Vita im Arbeitszimmer ihres Vaters findet - aber etwas an ihnen verzaubert und verstört die Siebzehnjährige gleichzeitig. Wenig später bricht sie mit ihren Freunden zu einer Fahrt quer durch Europa auf und stößt in Italien durch Zufall auf den Schauplatz des Manuskripts: Viagello, ein malerisches kleines Dorf. Der Ort strahlt für Vita eine merkwürdige Anziehungskraft aus, die noch stärker wird, als ihr der Seiltänzer Luca buchstäblich vor die Füße fällt. Auf ersten Blick ist Luca für Vita etwas Besonderes, doch etwas an ihm und seiner Familie kann sie nicht fassen. Noch ahnt sie nicht, dass er sie auf eine Reise tief in ihre Erinnerungen führen wird, an deren Ende etwas steht, was einst in Viagello geschah - in jener längsten Nacht ...

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Seitenzahl: 474

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Isabel Abedi

Die längste Nacht

Roman

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Die längste Nacht ist auch als Hörbuch erhältlich.

 

 

 

 

 

 

1. Auflage 2016 © 2016 Arena Verlag GmbH, Würzburg Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: FAVOURITBUERO, München Umschlagabbildung: © briddy/Shutterstock ISBN 978-3-401-80466-8

Besuche uns unter: www.arena-verlag.dewww.twitter.com/arenaverlag

Für Albrecht Oldenbourg

 

Die Dichter sind gegen ihre Erlebnisse schamlos: Sie beuten sie aus.Friedrich Wilhelm Nietzsche

Wie wenig du gelesen hast, wie wenig du kennst – aber vom Zufall des Gelesenen hängt es ab, was du bist.Elias Canetti

Inhalt

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechzehn

Siebzehn

Achtzehn

Neunzehn

Zwanzig

Einundzwanzig

Zweiundzwanzig

Dreiundzwanzig

Vierundzwanzig

Fünfundzwanzig

Sechsundzwanzig

Siebenundzwanzig

Achtundzwanzig

Epilog

EINS

Früher habe ich nicht an Zufälle geglaubt. Doch seit an jenem heißen Sommertag in Viagello aus buchstäblich heiterem Himmel Lucas Buch vor meinen Füßen landete, hat das Wort für mich eine völlig neue Bedeutung bekommen. Ich hatte damals Angst vor allem, was fiel. Es war keine Höhenangst im herkömmlichen Sinne, sondern vielmehr die Panik, festen Boden unter den Füßen zu spüren, während von oben etwas auf mich zukam. Ich selbst hatte kein Problem damit, auf Leitern oder Gerüste zu klettern, aber einen anderen Menschen vom Zehnmeterbrett springen zu sehen, konnte einen Asthmaanfall bei mir auslösen, und wenn ein reifer Apfel vom Baum plumpste, schnürte sich meine Kehle zu. Es war mir irre peinlich, weil mir diese Angst so irrational vorkam. Aber ich litt darunter, seit ich denken konnte, ich hatte keinen Schimmer, warum, und konnte mich auch nicht erinnern, wann sie angefangen hatte. War ich vor jenem Sommer vielleicht selbst noch nicht bereit für die Wahrheit, die so tief in mir versteckt war?

Es ergibt wenig Sinn, was ich hier von mir gebe, das ist mir klar. Mein Vater kennt einen Autor, der sich Monate mit dem ersten Satz eines Buches quält. Ich bin keine Schriftstellerin, ich habe nicht den Anspruch, ein Buch zu veröffentlichen. Ich will nur meine Geschichte erzählen – aus meiner Perspektive, meinem Blickwinkel. Ich will die Wahrheit erzählen, sie loswerden und gleichzeitig festhalten, auch für meine Schwester.

Ja, vielleicht schreibe ich all das vor allem für Livia und stelle mir vor, dass es einen Ort gibt, an dem sie es lesen kann.

Mein Name ist Vita, und ich war glücklich an jenem heißen Sommertag in Viagello, genau wie in der Nacht drei Monate zuvor, als der erste Zufall die Kette von Ereignissen in Gang setzte.

Ich weiß nicht, was mich damals weckte. Es war eine stille und sternklare Nacht im März, ich war früh zu Bett gegangen und ziemlich schnell eingeschlafen. Kein Geräusch hatte mich aufgeschreckt, kein Albtraum oder Asthmaanfall, und ich war mir auch nicht irgendwelcher Sorgen bewusst, die sich sonst manchmal in meinen Schlaf schlichen.

Ich war siebzehn Jahre und zwei Monate alt und stand – frühzeitig eingeschult – kurz vor der großen Freiheit. Seit Anfang des Schuljahrs sprachen Danilo, Trixie und ich von nichts anderem als von unserer Reise durch Europa. Neun Wochen hatten wir geplant, von Hamburg aus Richtung Süden; Schweiz, Italien, Frankreich, Spanien und Portugal, alles im VW-Bus – unserem zukünftigen Zuhause auf vier Rädern, für das wir seit Jahren sparten. Im Juni gleich nach dem Abiball sollte es losgehen, und der erste Schritt zum Abi war schon geschafft. Die schriftlichen Klausuren hatten sich angefühlt wie ein Spaziergang. Im Gegensatz zu Trixie litt ich nicht unter Prüfungsangst und gehörte zu den Glücklichen, die für gute Noten keine Nächte durchbüffeln mussten. In drei Wochen würde ich die letzte mündliche Prüfung haben, aber auch die war kein Grund, mir den Schlaf zu rauben.

Ich war einfach ohne jeden Grund hellwach. Ich ging nach unten in die Küche, trank Milch aus der Flasche und genoss, wie mir die kühle, cremige Flüssigkeit die Kehle hinunterlief. Ich schob ein Stück von der Quiche hinterher, die meine Mutter am Abend gebacken hatte, und eigentlich wollte ich danach gleich wieder ins Bett. Dass im Arbeitszimmer meines Vaters noch Licht brannte, fiel mir erst beim Rückweg in mein Zimmer auf. Aber auch das war nichts Ungewöhnliches. Mein Vater arbeitete oft nachts, eigentlich arbeitete er immer, und ich sah ihn mit einem Manuskript auf dem Schoß in seinem Sessel sitzen, noch bevor ich die Tür öffnete, unter deren Spalt sich ein schmaler goldener Strahl durch den dunklen Flur zog.

Mein Vater war Verleger und der Hamburger Verlag, den er vor elf Jahren gründete, trug seinen Namen: Thomas Eichberg Verlag. Sein Programm aus klassischer und moderner Literatur war klein, aber besonders. Die noch lebenden seiner Autoren kannte mein Vater alle persönlich und pflegte die Beziehung zu jedem einzelnen mit großer Sorgfalt.

Vor meiner Zeit waren meine Eltern wohl auch privat viel in Künstlerkreisen unterwegs gewesen. Damals war mein Vater noch Programmleiter in einem Berliner Verlag, und meine Mutter eine bekannte Architektin. Die Partys, die meine Eltern in Berlin gegeben hatten, waren legendär gewesen, aber wenn ich einen Autor oder den besten Freund meines Vaters davon schwärmen hörte, kam es mir immer unwirklich vor. Dass es einmal eine Zeit gegeben hatte, in der meine Mutter Gäste bewirtete oder fünfgängige Dinner kochte, war mir unvorstellbar.

In dieser Nacht lag sie längst in ihrem Bett und schlief. Meine Mutter war wie ein Schweizer Uhrwerk. Sie lief perfekt, von morgens um sieben bis abends um zehn, sie kaufte ein, kochte, putzte, bügelte, faltete Wäsche und rückte alles an den rechten Platz, aber sie lebte in ihrer eigenen Welt, tickte still und regelmäßig in ihrem einsamen Rhythmus. Ich konnte mich nicht daran erinnern, je auf ihrem Schoß gesessen, je mit ihr im Bett gekuschelt oder mich an ihrer Schulter ausgeweint zu haben, aber was man nicht kennt, das kann einem nicht fehlen, jedenfalls glaubte ich das damals.

Auch mein Vater war kein Schmusedaddy, die meisten körperlichen Aktivitäten lagen ihm fern, und früher war es mir immer unnormal vorgekommen, wenn ich Väter mit ihren Kindern Fußball spielen, toben oder herumalbern sah. Meinen Vater interessierte, was ich dachte, wie ich die Welt sah, und wenn ich als Kind nicht einschlafen konnte oder einen Asthmaanfall gehabt hatte, dann ging er oft mit mir raus.

In manchen Nächten liefen wir stundenlang durch die menschenleeren Straßen und unterhielten uns. Sprachlos erlebte ich ihn nur in den Nächten, in denen ich schreiend aus einem Albtraum erwachte, was in meiner Kindheit ziemlich oft der Fall gewesen war. In einem der schlimmsten, immer wiederkehrenden Albträume stand ich vor einem Brunnen, in dessen Tiefe ein kleines Mädchen gefangen war. Es hatte keinen Mund und blickte mit großen, verzweifelten Augen zu mir hinauf. Ich wollte es aus seinem dunklen Gefängnis befreien, aber es gab keine Möglichkeit, zu ihm hinabzusteigen. Als ich meinem Vater von dem Traum erzählte, fand er keine Worte und nahm mich stattdessen mit in sein Arbeitszimmer, damit ich mich dort einkuscheln und weiterschlafen konnte.

Mit seinen alten Möbeln, den bis unter die Decke reichenden Bücherregalen, den Stapeln von bedrucktem Papier, die sich auf, unter und neben dem Schreibtisch, kleinen Hockern und Beistelltischen türmten, war das Arbeitszimmer meines Vaters das komplette Gegenteil unseres durchgestylten Hauses. Auch mein Zimmer widersetzte sich dem monochromen Einrichtungsstil meiner Mutter, aber bei mir war es eher ein chaotisches Durcheinander, während das Arbeitszimmer meines Vaters Atmosphäre hatte, als wollte es sich der trostlosen Leere des Hauses widersetzen. Es war überfüllt von Geschichten und kuriosen Kleinigkeiten, die mein Vater im Laufe seines Lebens angesammelt oder geschenkt bekommen hatte: Skizzen von Illustratoren, Briefbeschwerer mit schillernden Insektenmotiven oder die alte Corona-Schreibmaschine meines Großvaters, in die mein Vater eine vergilbte Papiertüte eingespannt hatte. Auf die Vorderseite war ein Zitat des portugiesischen Schriftstellers Fernando Pessoa gedruckt: Die Literatur ist die angenehmste Art, das Leben zu ignorieren.

Mein persönlicher Stammplatz war der weiche Teppich vor dem Kamin, auf dem ich mich in eine flaschengrüne Wolldecke einkuschelte, Lakritzbonbons lutschte und im flackernden Schein des Feuers meinem Vater dabei zusah, wie er mit stetig wechselnder Mimik die Manuskripte seiner Autoren durchackerte. Nur manchmal eiste mein Vater seinen Blick von den Texten los und schickte mir über den Rand des Manuskriptes sein stilles Lächeln.

Meinem Vater beim Lesen zuzusehen, war in jener Nacht allerdings gar nicht mein Anliegen. Ich war in diesem Frühling vor allem mit mir selbst beschäftigt und weiß beim besten Willen nicht mehr, was mich dazu brachte, die Hand auf die Klinke zu legen, die Tür aufzudrücken und in das Arbeitszimmer zu treten. Ich hatte nichts auf dem Herzen, keine bösen Geister in der Brust, und innere Unruhe beschlich mich erst, als ich meinen Vater sah. Genau wie in meiner Vorstellung saß er in seinem hellbraunen Ledersessel. Sein dunkelgrünes Cordhemd war aufgeknöpft, die abgestreiften Schuhe lagen vor ihm auf dem Parkett. Er hatte die silberne Lesebrille auf der Nase und hielt einen dünnen Stapel Papier auf dem Schoß. Die dunklen Schatten unter seinen Augen kamen von zu wenig Schlaf, das war ebenfalls normal, genau wie das Zucken seines linken Augenlids und die von Zweiflerfalten durchzogene Stirn. Aber dieser Blick, mit dem er mich ansah – oder vielmehr, mit dem er durch mich hindurchstarrte, als wäre ich ein Geist, jagte mir Angst ein. Auch seine Haltung war starr. Nur seine Hände, Klavierspielerhände mit feingliedrigen, schlanken Fingern, zitterten. Sein schmales Gesicht war leichenblass und seine Lippen wirkten wächsern und blutleer.

»Raus.«

Er sagte nur dieses eine Wort, es klang gläsern und fremd, aber so scharf, dass ich ohne eine weitere Nachfrage zurück nach oben und in mein Bett stolperte. Ich versuchte, mich wieder einzukuscheln und weiterzuschlafen, aber es gelang mir nicht. So wie eben hatte ich meinen Vater noch nie gesehen. Was hatte ihn derart aus der Fassung gebracht? Wenn es der Inhalt dieses Manuskriptes gewesen war, dann musste es die reinste Horrorstory gewesen sein. Aber soweit ich wusste, las mein Vater keinen Horror, er regte sich höchstens über den grauenhaften Schreibstil mancher Autoren auf, und selbst das führte nicht dazu, dass er über einem Manuskript zu einem Zombie mutierte. Am liebsten wäre ich noch mal runtergegangen, aber der Gedanke an seinen schroffen Rauswurf hielt mich zurück.

Um mich abzulenken, scrollte ich durch die Nachrichten auf meinem Handy und überlegte, wie ich auf den Gutenachtgruß reagieren sollte, den mein Exfreund Chris mir um kurz nach Mitternacht geschickt hatte, beschloss dann aber, ihn zu ignorieren, und knipste die Lampe auf meinem Nachttisch aus.

Ein blasser, halb voller Mond stand am Himmel über meinem Fenster. Sein Licht spiegelte sich auf den Pailletten, die auf dem Schreibtisch neben meiner Nähmaschine verstreut waren. Irgendwo in der Nachbarschaft ging die Alarmanlage eines Autos los. Dann war alles wieder still, und als meine Gedanken endlich aufhörten, sich im Kreis zu drehen, schlief ich ein.

Als ich am nächsten Morgen um kurz nach halb acht in die Küche kam, hatte meine Mutter den Frühstückstisch schon gedeckt. Ein Glas frisch gepresster Orangensaft, eine Tasse Milchkaffee, ein aufgebackenes Brötchen, gekühlte Butter und selbst gemachte Marmelade, ein Viereinhalbminutenei und eine halbe Pampelmuse, aus der das Fruchtfleisch bereits so mit dem Messer gelöst worden war, dass ich es herauslöffeln konnte. Ich frühstückte allein wie jeden Morgen, während meine Mutter die Spülmaschine ausräumte, wobei sie jedes Glas noch einmal nachpolierte, bevor sie es in Reih und Glied zu den anderen ins Regal stellte. Ihre Bewegungen waren mechanisch, eine durchgetaktete, einprogrammierte Choreografie – ohne Musik.

»Wie hast du geschlafen?«, fragte ich.

»Danke. Gut. Und du?«

»Gut. Danke.«

»Kommst du nach der Schule zum Essen?«

»Weiß noch nicht.«

»Ich muss es aber wissen. Für die Einkäufe.«

Meine Mutter strich sich das weißblonde Haar hinter die Ohren, es war kurz geschnitten und kräuselte sich leicht im Nacken. Wie so oft sprach sie mit dem Rücken zu mir, und auch an diesem Morgen ertappte ich mich dabei, dass ich mit den Fingerspitzen ihre weichen Löckchen berühren wollte, die das einzig Verspielte an ihr waren. Ihr Gesicht hatte scharfe Konturen, ein spitzes Kinn, hervorstechende Wangenknochen und schmale Augenbrauen mit akkurat gezupften, hohen Bögen. Ihre Haut war hell und sehr straff, und ihre porzellanblauen Augen blickten mich selten direkt an, aber selbst wenn, erkannte ich keine wirkliche Präsenz dahinter. Natürlich hatte sie schon geduscht und war fertig gekleidet, sie trug ein Kostüm, cremefarbener Rock, weiße Bluse, cremefarbenes Jackett, als ginge sie zu einem Geschäftstermin und nicht auf den Markt, um Gemüse und frischen Fisch zu kaufen, der jeden Freitag auf dem Speiseplan stand. Meine Mutter kümmerte sich um den Haushalt, in ihrem Beruf arbeitete sie schon lange nicht mehr.

Ich trank den Orangensaft und schob die Pampelmuse unangerührt zu Seite.

»Rechne nicht mit mir«, sagte ich.

»Gut.«

Gut. Das war das Lieblingswort meiner Mutter. Ob ich kam oder nicht, eins schien so gut wie das andere. Die Hauptsache war, dass ihr Tagesablauf einen klaren Plan hatte, der durch nichts unterbrochen oder verändert wurde. Wenn ich zum Mittagessen nach Hause kam, aß meine Mutter mit mir zusammen, aber zu dritt waren wir so gut wie nie, auch abends nicht, und die wenigen Ausnahmen verliefen knapp und schmerzlos, ein Austausch von Floskeln und Höflichkeiten, bevor wir erleichtert den Tisch verließen und uns in unsere Zimmer verzogen. Meine Eltern schliefen, seit ich denken konnte, in getrennten Schlafzimmern, nie hatte ich sie abends hinter derselben Tür verschwinden sehen, und manchmal fragte ich mich, was sie überhaupt noch unter einem Dach hielt. Die Erinnerung an meine Schwester konnte es nicht gewesen sein, denn in unserem Haus gab es nichts, was mit ihr in Verbindung stand.

»Ist Papa schon im Verlag?«, fragte ich, während ich mein Brötchen mit Aprikosenmarmelade bestrich.

»Ich denke nicht.« Meine Mutter klappte die Spülmaschine zu. »Ich habe ihn heute Morgen noch nicht gesehen.« Sie warf einen Blick auf ihre silberne Armbanduhr. »Beeil dich, Viktoria. Es ist siebzehn vor acht.«

Meine Schule war fünf Minuten mit dem Fahrrad entfernt. Bevor ich losfuhr, ging ich noch einmal in das Arbeitszimmer meines Vaters. Es war leer, aber die Tür zum Garten stand offen. Unser Garten war lang und schmal, und ich entdeckte meinen Vater im hinteren Winkel neben der kleinen Laube. Sie beherbergte Gartengeräte, Klappstühle, einen Tisch und verschiedene Windlichter, die in warmen Sommernächten unseren Garten in ein idyllisches Plätzchen hätten verwandeln können, wenn wir sie benutzt hätten. Nicht mal ich lud Freunde hierher ein, hielt mich aber gern allein im Garten auf, wenn es warm war und ich im Gras dösend Musik hörte oder vor mich hin träumte. Am schönsten fand ich den Garten im Frühling, wenn alles blühte. Der Kirschbaum vor der Laube strahlte unwirklich schön in Rosa und Weiß. Ich liebte diesen Duft, der so süß und verheißungsvoll war. Zu beiden Seiten des Rasens reckten sich Frühlingsblumen dem blauen Himmel entgegen, dicht strahlende Narzissen, winzige Blausternchen und Tulpen in einem fast blutigen Rot. Gartenarbeit war eine weitere Beschäftigungstherapie meiner Mutter, und wer sie nicht kannte, hätte einen fröhlichen Menschen in ihr vermutet.

Mein Vater war aber ganz offensichtlich nicht nach draußen gegangen, um die morgendliche Idylle einzuatmen. Er hatte das Telefon am Ohr und hielt den Kopf gesenkt, während er auf und ab ging. Draußen war es so still, dass seine Stimme bis an die geöffnete Terrassentür getragen wurde. Seine sonst eher ruhige Tonlage hatte sich in eine eisige Höhe geschraubt. Ich hörte nicht alles, was er sagte, aber einzelne Wortfetzen verstand ich deutlich. Unfassbar … Persönlichkeitsrechte … ich werde alles dafür tun, dass dieser Roman nicht erscheint!

Die ausgedruckten Seiten, in denen mein Vater in der Nacht zuvor gelesen hatte, lagen auf dem Sessel. Mittlerweile wurde es wirklich Zeit für die Schule, aber meine Neugier war größer. Ich beugte mich über den Stapel Papier. Er umfasste kein vollständiges Manuskript, wie ich gestern Nacht vermutet hatte, sondern zwanzig, höchstens dreißig Seiten, und obenauf lag ein Brief.

Lieber Thomas, anbei der Auszug aus Shepards neuem Roman, an dessen Ende der Autor meines Wissens nach noch arbeitet. Der Roman soll weltweit erscheinen und wurde jetzt auch uns angeboten. Die Namen sind alle geändert, aber dass es die Geschichte aus Viagello ist, scheint mir unmissverständlich.Wie sehr ich mir wünsche, dass ich mich irre.Beste Grüße, Oliver

Ich warf einen raschen Blick in den Garten, wo mein Vater noch immer in das Telefonat vertieft war. Jetzt schien er zuzuhören und ich vermutete, dass er den Absender des Anschreibens am Ohr hatte. Oliver war Lektor in dem großen Berliner Verlag, in dem mein Vater früher gearbeitet hatte, und sein bester Freund. Er gehörte zu den wenigen Gästen, die noch zu uns nach Hause kamen.

Unter Olivers Anschreiben lag das Titelblatt der Leseprobe.

Der Roman hieß Die längste Nacht und war von Sol Shepard.

Zum Leidwesen meines Vaters und trotz meiner häufigen Aufenthalte in seinem Arbeitszimmer war ich nie eine große Leseratte gewesen, aber der Name des Autors war mir natürlich ein Begriff. Shepards Werke, ziemlich blutrünstige Thriller, waren Weltbestseller, und ein paar davon kannte ich sogar. Meine Freundin Trixie hatte sie mir in die Hand gedrückt, sie war ein eingefleischter Fan von Shepard, hatte alles von ihm gelesen und regte sich ständig darüber auf, dass seit Jahren nichts Neues von ihm erschienen war.

Ich beugte mich nach unten und blätterte wahllos durch die Seiten. An einem Absatz blieb ich hängen:

Es war einer dieser Sommertage, an denen der Himmel hoch und wolkenlos war, eine Kuppel aus strahlendem Blau. Ihre Eltern waren in die Stadt gefahren, und die vier hatten die beiden Kleinen zu ihrer geheimen Badestelle am Fluss mitgenommen. Eine Insel aus Wald und Felsen schirmte sie ab, kein Tourist hatte je hierhergefunden. Die Bäume, die sich schützend um das Ufer rankten, flimmerten grün in der Hitze, und das türkisfarbene Wasser glitzerte in der Sonne wie ein Teppich aus Diamanten.

Amadeo lag bäuchlings im Sand. Er sah zu Maya, die im flachen Wasser stand. Sie trug einen weißen Bikini. Ihre Brustwarzen setzten sich ab unter dem dünnen Stoff. Bei ihrem Anblick ging sein Atem flacher. Maya. Alles warf Schatten neben ihr, selbst die Sonne. Sie streckte ihre Hände nach Piccola aus und die Kleine lief auf ihren speckigen Beinen durch das Wasser auf sie zu.

»Engelchen flieg, Engelchen flieg!«

Maya griff Piccola an den Handgelenken, um sie in immer wilderen Kreisen durch die Luft zu wirbeln, und das selige Glucksen der Kleinen mischte sich in das Rauschen des Wasserfalls. Der Wind spielte in Mayas Haaren. Sie reichten ihr bis zu den Hüften und hatten die Farbe von Milch mit Honig. Amadeo konnte seinen Blick nicht lösen von ihr. Mehr denn je erschien ihm Maya wie ein Wesen aus Licht.

In den Zeilen steckte so gar nichts von der schnellen und harten Spannung, die ich aus Shepards Thrillern kannte, aber etwas an ihnen berührte mich tief. Es kam mir vor, als ob ich die Stimmung am Fluss fühlen konnte. Sie zog mir am Herzen, und hätte ich nicht die plötzliche Stille vernommen, wäre ich wahrscheinlich am Text kleben geblieben.

Mein Vater stand jetzt unter dem Kirschbaum, den Oberkörper vorgebeugt, mit dem Rücken zu mir. Seine Hand mit dem Telefon hing schlaff nach unten, mit der anderen stützte er sich an den Baumstamm, als wäre er kurz davor, sich zu übergeben. Er kam mir schmal vor in diesem Augenblick, schmaler noch als sonst. Er trug die Klamotten von letzter Nacht, als wäre er gar nicht ins Bett gegangen, und noch einmal dachte ich an den starren Blick, den er mir zugeworfen hatte.

Nächte haben ihre eigenen Gesetze und eines von ihnen ist, dass sie Dinge größer erscheinen lassen, als sie einem bei Tageslicht besehen vorkommen. Seltsam fand ich die ganze Sache zwar auch jetzt noch, aber sie hatte nicht mehr diese beklemmende Wirkung auf mich, und im Unterschied zu gestern kam mir an diesem Morgen eine rationale Erklärung in den Sinn.

Vielleicht war der Roman eine geklaute Idee von einem Autor, der bereits bei meinem Vater unter Vertrag stand. Vor ein paar Monaten hatte es schon einmal einen dicken Rechtsstreit wegen eines Plagiats gegeben, der meinen Vater ziemliche Nerven gekostet hatte, und damals hatte ich seine erste Reaktion ja auch nicht mitbekommen. Es tat mir leid, dass er offensichtlich wieder Sorgen hatte, aber was immer das Problem war, er würde es schon lösen.

Ich verzog mich aus dem Arbeitszimmer, schnappte mir das Schulbrot, das meine Mutter mir wie jeden Morgen geschmiert hatte, und schwang mich auf mein Fahrrad.

Und als mir Trixie vor der Schule entgegenstürmte, um mir zu erzählen, dass wir heute den VW-Bus anschauen würden, den ein Bekannter von Danilo zu einem Schnäppchenpreis verkaufen wollte, vergaß ich die Leseprobe von Sol Shepards neuem Roman.

* * *

Er stand am Fuß der alten Ruine, allein mit der Nacht und den Schatten der Vergangenheit. Aber er konnte sich diesem Ort nicht entziehen. Wenn du lange genug in einen Abgrund blickst, dann blickt der Abgrund auch in dich hinein. Nietzsche kam ihm in Nächten wie diesen oft in den Sinn.

Er dachte an das Telefonat, das ihn aus dem Haus getrieben hatte. Welche Grenze er überschritten hatte, als er die Geschichte aus der Hand gab, wollte er sich noch nicht in aller Konsequenz eingestehen, doch die Worte hallten jetzt wie ein Echo in seinem Inneren nach.

In der Ferne läutete die Kirchenglocke. Er lauschte ihrem satten, friedvollen Klang und rief sich ins Gedächtnis, was ihn am Anfang angetrieben hatte.

Es waren die leisen Töne gewesen, das Böse, das in jedem von uns schlummert, die Schuld, die – wie er meinte – jeder von uns trägt. Wir alle sind Täter, dachte er, jeder von ist uns zu allem bereit.

Ja, genau das hatte ihn seit jeher fasziniert, und sich selbst hatte er nie davon ausnehmen können, denn wenn er ehrlich war, hatte etwas in ihm schon in den ersten Augenblicken losgeschrieben, in denen er sich dafür entschieden hatte, in die Geschichte einzusteigen und sie zu verändern. Er hatte sie in sich getragen, über Jahre, nur sein Gewissen hatte sie in Schach gehalten, aber sie hatte in ihm pulsiert, alle anderen Ideen in den Schatten gestellt und nichts anderes mehr aus ihm herausgelassen.

Dass etwas Leises so laut sein konnte.

Jede Nacht, seit jener längsten, hatte die Geschichte in sein Ohr geflüstert: Ich bin zu dir gekommen, nur du kannst mich schreiben, ich bin die einzige Geschichte, die in dir steckt, hör auf, dich zu wehren, und erzähl mich …

Und das hatte er beinahe geschafft – bis auf das Ende, das er noch immer zurückhielt. So hatte er es ihnen jedenfalls gesagt, aber die Wahrheit sah leider anders aus: Es war das Ende selbst, das sich zurückhielt.

Er wusste, dass er etwas übersehen – irgendwo im Laufe der Geschichte einen Gedankenfehler gemacht hatte, an dem jetzt alles hing wie an einem seidenen Faden. Etwas fehlte, das er dringend brauchte, um diese Geschichte zu ihrem einzig möglichen Schluss zu bringen. Aber er wusste nicht, was es war, und das – genau das – brachte ihn langsam, aber sicher um den Verstand.

ZWEI

Unser Abiball fand im Sankt-Pauli-Stadion statt; auf der VIPEtage, einem riesigen Saal mit Blick auf das Spielfeld. Trixie war im Festkomitee gewesen und hatte wegen der hohen Eintrittskosten im Vorfeld einen wahren Shitstorm über sich ergehen lassen müssen. Auch Danilo hatte die Location elitär und die Kosten übertrieben gefunden, aber inzwischen waren alle hellauf begeistert. Der Saal war festlich geschmückt, mit weißen Decken, Lüstern und Silberbesteck auf den langen Tischen, einem gigantischen Büfett und unzähligen kleinen Lichtern an den Decken. Es herrschte eine glamouröse, glitzernde Stimmung und jetzt, wo die offiziellen Reden hinter uns lagen und das Büfett abgegrast war, schwirrte Trixie mit einem Caipi in der einen und einer Flasche Sekt in der anderen Hand über die Tanzfläche. Sie trug ein kurzes knallrotes Flatterkleid und dazu ihre Krümelmonster-Handtasche aus türkisem Plüsch, die ich ihr vor ein paar Jahren zum Geburtstag genäht hatte. Ihre Schuhe lagen am Rand der Tanzfläche und Trixies braune Locken hatten sich längst aus ihrem Gefängnis aus Klammern und Spangen gelöst. Sie fielen ihr wild über die Schultern und ihr Gesicht glühte wie eine Hundertwattbirne kurz vor dem Durchknallen. Trixie war dauerhigh und brauchte dafür nicht mal Drogen. Manchmal fragte ich mich, wie der gelassene Danilo es mit ihr aushielt, aber wahrscheinlich zog ihn genau diese Gegensätzlichkeit an, und Trixie hatte auch eine andere Seite. Sie war der solidarischste Mensch, den ich kannte, konnte ein echter Kumpel sein, und sie und Danilo waren für mich die vollkommene Mischung.

Auf der Tanzfläche heizten zwei junge DJs die Stimmung auf. Der obligatorische erste Tanz galt den Vätern und Töchtern. Auch mein Vater hatte mich an der Hand zur Tanzfläche geführt. Ich hatte ihn noch nie tanzen sehen und war erstaunt, wie geschmeidig er sich bewegte. Es fühlte sich gut an, in seinen Armen zu sein, er strahlte Wärme aus und eine große Zärtlichkeit, die ich so noch nie an ihm wahrgenommen hatte. Irgendetwas in ihm schien mich fester halten und nicht mehr loslassen zu wollen. Ich schloss die Augen und für einen Moment war ich sein kleines Mädchen; sicher, beschützt und geborgen.

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