Imago - Isabel Abedi - E-Book

Imago E-Book

Isabel Abedi

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Beschreibung

Wanja liebt sie - diese Minuten vor Mitternacht, kurz bevor auf ihrem Radiowecker alle vier Ziffern auf einmal wegkippen und eine ganz neue Zeit erscheint. Doch heute um Mitternacht verändert sich nicht nur das Datum für Wanja. Sie bekommt eine geheimnisvolle Einladung zu der Ausstellung Vaterbilder. Und damit einen Schlüssel, der die Tür zu einer anderen Welt öffnet: in das Land Imago.

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Seitenzahl: 535

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Arena-TaschenbuchBand 51272

Weitere Bücher von Isabel Abedi

im Arena Verlag:

Isola

Lucian

Whisper

Die längste Nacht

Isabel Abedi,

1967 geboren, arbeitete 13 Jahre lang als Werbetexterin. Abends, am eigenen Schreibtisch, schrieb sie Kinder- und Bilderbuchgeschichten und träumte davon, eines Tages davon leben zu können. Dieser Traum hat sich längst erfüllt: Isabel Abedi hat inzwischen zahlreiche sehr erfolgreiche Kinder- und Jugendbücher veröffentlicht, von denen manche bereits ausgezeichnet und in andere Sprachen übersetzt wurden.

Für Inaié und NoaUnd für meine Geschwister.

Ein Verlag in der Westermann Gruppe

Gedruckt auf Umweltschutzpapier

1. Auflage 2023

© 2004 Arena Verlag GmbH

Rottendorfer Straße 16, 97074 Würzburg

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung und -typografie: FAVOURITBUERO, Münchenunter Verwendung von Fotos von © CataVic / www.shutterstock.comund © Zont / www.shutterstock.com

E-Book-ISBN 978-3-401-80002-8

ISSN 0518-4002

Besuche uns auf:

www.arena-verlag.de

@arena_verlag

@arena_verlag_kids

Now I would creep inside

And curl up in my bed.

Something strong was pulling at my head

Pulling at my heart

Pulling at my heart.

Noa, Wildflower

Du bist der Vogel, dessen Flügel kamen,

wenn ich erwachte in der Nacht und rief.

Nur mit den Armen rief ich, denn dein Namen

ist wie ein Abgrund, tausend Nächte tief.

Du bist der Schatten, drin ich still entschlief,

und jeden Traum ersinnt in mir dein Samen

du bist das Bild, ich aber bin der Rahmen,

der dich ergänzt in glänzendem Relief.

Rainer Maria Rilke, Der Schutzengel

Der Zirkus öffnet eine winzige Lücke in der

Arena der Vergessenheit.

Für eine winzige Spanne dürfen wir uns verlieren,

uns auflösen in Wunder und Seligkeit,

vom Geheimnis verwandelt.

Henry Miller

INHALT

Rot um Mitternacht

Als wäre nichts geschehen

Die Einladung

Die rote Tür

Vaterbilder

Jetzt

Der Zirkus Anima

Taro

Wie geht es weiter?

Kein Kontakt bis Viertel vor zwei

Dunkle Schatten

Was war das?

Krankenbesuch

Trapezunterricht

Genau wie dein Vater

Schwarzes Blut

Post

Der Rahmen für die Vorstellung

Amon

Bei Mischa

Schröder

Starke Arme

Ein Gefühl von Abschied

Klassenfahrt

Ein Unglück kommt selten allein

Die Generalprobe

Der Hüter der Bilder

Zurück

Zwölf Gongschläge

Gerettet, und doch …

Frohes neues Jahr

Es kommt noch schlimmer

Was noch?

Keine Antwort

Die Angst und die Wut

Jolan

Schlussvorstellung

Vatertag

Danksagung

ROT UM MITTERNACHT

Erzähl du mir nicht, wie mein Vater zu sein hat. Du weißt ja nicht mal, wie deiner aussieht.«

Brittas Worte waren immer noch da. Sie saßen tief in Wanja und breiteten sich aus, jetzt, wo alles still war. Und dann, ganz langsam, kamen die Ereignisse des Tages wieder in ihr hoch und zogen vorbei wie dunkle Wolken am Himmel.

Schon am Morgen war alles schiefgelaufen. Wanja hatte verschlafen und Jo, ihre Mutter, war noch hektischer gewesen als sonst. Alle paar Minuten kam sie in Wanjas Zimmer und trieb sie zur Eile an.

»Ich mach ja schon«, fauchte Wanja, als Jo zum vierten Mal den Kopf zur Tür hineinsteckte.

Jo sah sie scharf an. »In zehn Minuten fahr ich los, mit dir oder ohne dich.«

»Mir doch egal.« Wanja verdrehte die Augen und griff nach ihrer Jeans. Wenn nur nicht dieser elende Schulweg wäre. Sie liebte das alte Fachwerkhaus mit dem großen Garten, das Jo als den Glücksgriff ihres Lebens bezeichnete, weil sie es so günstig bekommen hatten. Aber der weite Schulweg ging Wanja auf die Nerven. Vor allem an Tagen wie heute, wo der Bus schon weg war, ihr Fahrrad einen Platten hatte und Jo einen wichtigen Termin.

»Dann musst du eben selbst sehen, wie du zur Schule kommst«, sagte Jo, als Wanja nach zehn Minuten immer noch nicht fertig war. Mit diesen Worten verließ sie türenknallend das Haus, und Wanja blieb nichts anderes übrig, als auf den nächsten Bus zu warten und damit mindestens eine halbe Stunde Verspätung in Kauf zu nehmen. Ausgerechnet bei Deutsch, wo sie heute eigentlich ihre Geschichte hätte vorlesen sollen. Zwei Wochen hatte sie daran gesessen, und wenn sie Pech hatte, würde Frau Gordon sie jetzt von der Liste streichen.

Frau Gordon war Wanjas Klassenlehrerin und unterrichtete Deutsch und Biologie. Alles an ihr war raumfüllend, ihre Gestik, ihre tiefe Stimme und ihre Erscheinung. Sie trug ausschließlich selbst geschneiderte Kostüme mit ausgefallenen Mustern und eleganten Formen, die sich schmeichelnd um ihre Rundungen schmiegten und die jede für sich ein kleines Kunstwerk waren.

Sie war eine besondere Frau, fand Jo, und trotz ihrer Strenge mochte Wanja ihre Klassenlehrerin auch.

»Du kannst von Glück sagen, dass Thorsten seine Geschichte schon fertig hatte«, sagte Frau Gordon, als Wanja zehn Minuten vor Ende der Stunde ins Klassenzimmer huschte. »Montagmorgen um acht ist deine zweite Chance. Aber wenn du dann nicht auf die Sekunde pünktlich bist, wandert deine Geschichte ungelesen mit einer Sechs in den Papierkorb.«

Wanja nickte und setzte sich an ihren Platz. Das war noch mal gut gegangen. Doch dann, in der dritten Stunde, knallte Herr Schönhaupt ihr die Mathearbeit auf den Tisch. Mangelhaft.

»Herzlichen Glückwunsch, Fräulein Walters«, sagte er und zog dabei die Augenbrauen hoch, wie jedes Mal, wenn er eine seiner Schülerinnen vor der Klasse bloßstellte. Dass Wanja zu seinen Lieblingsopfern gehörte, stand schon seit der fünften Klasse außer Frage.

»Das ist jetzt das zweite Mangelhaft in diesem Halbjahr. Sagt dir vielleicht das Wort üben etwas?« Herr Schönhaupt trommelte mit den Fingern auf den restlichen Stoß Mathehefte in seinem Arm, während er auf eine Antwort wartete.

»Ja, Herr Schönhaupt.« Wanja stieß die Worte zwischen den Zähnen hervor. »Eines Tages schneid ich diesem Schmierkopf noch sein Rattenschwänzchen ab«, flüsterte sie Britta zu, nachdem sich Herr Schönhaupt mit einem verächtlichen Schnauben abgewandt hatte, aber sie schwieg sofort, als er sich noch einmal drohend zu ihr umdrehte. Die Frisur des Mathelehrers machte seinem Namen wirklich keine Ehre. Das immer fettige Haar wurde von einem fleischfarbenen Gummiband zu einem dünnen Zöpfchen zusammengehalten, das auf Herrn Schönhaupts Rücken klebte.

»Weißt du noch, das mit der Shampooflasche?«, fragte Wanja, als sie nach der Schule mit Britta nach Hause ging. Wenn sich Wanja über Herrn Schönhaupt ärgerte, rief sie sich diese Geschichte gern in Erinnerung. Thorsten, der Klassenclown, hatte am Anfang des Schuljahrs heimlich eine Flasche Shampoo auf das Lehrerpult gestellt, während Herr Schönhaupt eine Textaufgabe an die Tafel schrieb. Mehr Volumen, für die tägliche Haarwäsche, stand vorne drauf. Als Herr Schönhaupt sich umdrehte, merkte er erst mal gar nicht, was los war. Erst als die halbe Klasse vor Lachen unter dem Tisch lag, entdeckte er die Flasche.

»Dieses Gesicht werde ich nie vergessen«, sagte Wanja und kicherte.

»Dass danach die ganze Klasse nachsitzen musste, werde ich auch nie vergessen.« Britta war damals stocksauer auf Thorsten gewesen. »Nur weil dieser Idiot nicht die Traute hatte, sich zu stellen.«

»Wenn jemand ein Idiot ist, dann Schönhaupt«, brummte Wanja.

Aber damit konnte man Britta nicht kommen. Britta war die Beste in Mathe und das einzige Mädchen, das Herr Schönhaupt nicht ständig mit diesem grässlich altmodischen »Fräulein« anredete.

»Du hast überhaupt noch gar nichts zu meinen neuen Sachen gesagt.«

Britta blieb stehen, stellte sich in Pose und blickte Wanja herausfordernd an.

Wanja seufzte. »Mensch, Britta. Wie oft muss ich dir denn noch sagen, dass mich das nicht interessiert?«

»Paps war am Wochenende mit mir einkaufen.« Britta überging Wanjas Bemerkung und strich sich über die lila Bluse mit den Puffärmeln. Es folgte eine detaillierte Beschreibung, was sie wo anprobiert und schließlich für wie viel Geld gekauft hatte. Wanja ließ ihren Schlüsselanhänger um den Zeigefinger kreisen und überlegte währenddessen, wie lange sie wohl heute an den verhassten Matheaufgaben sitzen würde, wenn Britta sie nicht abschreiben ließ. Schon seit der ersten Klasse ging Wanja an zwei Tagen in der Woche nach der Schule mit zu Britta nach Hause. Das gab Jo ein gutes Gefühl und Wanja Gesellschaft. Ihre Freundschaft mit Britta war mit den Jahren zu einer Art Gewohnheit geworden, die keine von ihnen infrage stellte. Ansonsten hätten sie wohl beide zugeben müssen, dass sie im Grunde nichts miteinander anfangen konnten.

»Hey, hörst du mir überhaupt zu?« Kurz vor ihrem Haus stieß Britta Wanja in die Seite, wodurch Wanja der Schlüsselanhänger vom Finger rutschte.

»Verdammt, pass doch auf!« Wütend ging Wanja in die Hocke. Zu spät. Der Anhänger war samt Schlüsseln in einen Gulli gefallen.

»Tja, den kannst du wohl vergessen«, sagte Britta.

Wanja stöhnte. Das war schon der zweite Schlüssel in diesem Jahr, Jo würde ausflippen. Mit düsterer Miene trottete sie hinter Britta über den geharkten Kiesweg der hellblauen Jugendstilvilla. Brittas Mutter stand schon in der Tür. »Da seid ihr ja endlich! Husch, husch, das Essen wird kalt!«

Im Hausflur schlug Wanja der Geruch gebratener Leber ins Gesicht. Leber war das einzige Fleisch, vor dem sie abgrundtiefen Ekel empfand. Aber als sie alle um den Tisch saßen, betonte Brittas Vater die Nährwerte dieses Essens so ausdrücklich, dass Wanja sich nicht traute, die Leber stehen zu lassen. Mit versteinerter Miene kaute sie an ihren Fleischstücken herum, verkniff sich zum x-ten Mal die Aussage, dass sie und Jo eigentlich überhaupt kein Fleisch aßen, und hörte zu, wie Britta lang und breit von der Mathearbeit berichtete, die sie mit einer Eins bestanden hatte.

»Das ist meine Tochter«, sagte Brittas Vater. Er zog sein Portemonnaie aus der Hosentasche und schob einen funkelnagelneuen Zwanzigeuroschein über den Tisch. Dass Britta »seine« Tochter war, stand schon rein optisch völlig außer Frage. Mit ihren großen blauen Augen, den glänzend blonden Haaren und ihren perlweißen, völlig ebenmäßigen Zähnen war Britta ihrem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten. Brittas Vater war wohl das, was Frauen einen gut aussehenden Mann nannten. Für Wanja war er, genau wie seine Tochter, eine Spur zu glatt.

»Danke, Paps«, flötete Britta, als der Zwanziger vor ihrem Teller landete. Dabei warf sie ihrer Schwester Alina einen triumphierenden Blick zu. Alina war acht, war als Einzige in der Familie nicht dünn und stand im Schatten ihrer großen Schwester, seit sie auf der Welt war.

»Blöde Giftkuh«, zischte Alina und Wanja musste sich das Lachen verkneifen.

Zum Nachtisch gab es Grapefruitsorbet.

»Sieht aus wie gefrorenes Giraffenpipi«, sagte Alina zu ihrer Portion und zog damit zum ersten Mal die Aufmerksamkeit ihres Vaters auf sich. Herr Sander streckte den Arm aus, zeigte zur Tür und zischte: »Aber so-fort!« Als Alina die Küche verließ, kicherte Britta, Frau Sander seufzte und Wanja wünschte sich nach Hause. Alina tat ihr leid.

»Dieser kleine Fettkloß nervt einfach total«, sagte Britta, als sie mit Wanja nach dem Essen über den Hausaufgaben saß. Wanja schob ihr Matheheft zur Seite. »Ich glaube, die ist nur eifersüchtig. Wäre ich an ihrer Stelle auch. Du kriegst Geld, und sie wird aus der Küche geworfen.«

Britta nahm eine Haarsträhne zwischen ihre Finger und betrachtete mit gerunzelter Stirn ihre Haarspitzen. »Bei den Sachen, die sie so von sich gibt, ist das ja wohl auch kein Wunder. Oder soll mein Paps sie für ihr freches Mundwerk noch belohnen?« Den Ausdruck »freches Mundwerk« hatte Britta von ihrem Vater übernommen, auch die Betonung auf »frech« war exakt die von Herrn Sander.

»Ach, komm schon.« Wanja verdrehte die Augen. »Er muss sie doch nicht bestrafen wie einen Hund. Das mit dem Giraffenpipi war doch voll lustig. Ich finde, ein bisschen mehr Humor könnte dein Vater schon haben.«

Das war der Auslöser. Britta wirbelte ihren Kopf zu Wanja herum.

»Erzähl du mir nicht, wie mein Vater zu sein hat«, zischte sie. »Du weißt ja nicht mal, wie deiner aussieht.«

Nach diesen Worten saß Wanja eine Weile reglos da und starrte Britta an. Hinter ihren Augen pochte etwas. Britta wich ihrem Blick aus und sah angestrengt zu Boden, als versuche sie die Worte, die ihr da herausgerutscht waren, wieder aufzulesen. Aber dafür war es zu spät. Ohne noch etwas zu sagen, raffte Wanja ihre Schulsachen zusammen und lief aus dem Haus.

Draußen goss es plötzlich in Strömen, und ein kalter, völlig unfrühlingshafter Wind pfiff ihr um die Ohren. Britta wohnte dicht bei der Schule, aber diesmal kam Wanja der lange Heimweg gerade recht. Sie schnallte sich die Schultasche auf den Rücken und lief los. Der Regen peitschte ihr ins Gesicht und vermischte sich mit den Tränen, die ihr jetzt über die Wangen liefen. Wanja rannte, als wolle sie vor sich selbst davonlaufen: durch die kleinen Seitenstraßen von Brittas Wohnviertel, über die Kreuzung auf den schmalen Fußgängerweg der vierspurigen Hauptstraße, vorbei an Tankstellen, Fast-Food-Restaurants, Möbelhäusern und dem riesigen Babymarkt, hinter dem der unscheinbare Waldweg abging, der zu ihrem Haus führte. Morgens waren dort oft Jogger unterwegs, nachmittags führten alte Damen ihre Hunde spazieren und an den Wochenenden Elternpaare ihre Kinder. Heute Nachmittag hatte Wanja den Wald für sich allein. Sie bog vom Weg ab. Der Regen trommelte auf die Blätter der Bäume, und Wanjas Füße schlugen den Takt. Schnell und rhythmisch liefen sie über den matschigen Waldboden, zerknackten Zweige und patschten durch Pfützen. Von irgendwoher ertönte ein Vogelschrei.

Als Wanja vor dem letzten Hügel stehen blieb, um zu verschnaufen, schwebte vor ihr etwas Schwarzes zu Boden. Wanja beugte sich vor und stützte keuchend die Hände auf die Knie. Das Atmen tat ihr in der Brust weh; so schnell und so ausdauernd war sie schon lange nicht mehr gelaufen. Das schwarze Etwas, das jetzt genau vor ihren Füßen lag, war eine große Vogelfeder. Eine ungewöhnlich große Feder. Wanja hob sie auf und strich mit dem Finger darüber. Warm und weich fühlte sich die makellose glänzende Oberfläche an. Aber seltsamerweise war die Feder völlig trocken, obwohl es bis eben wie aus Eimern gegossen hatte. Wanja hob den Kopf und runzelte die Stirn. Der Regen schien sich aufzulösen. Durch die grün glitzernden Baumkronen stachen schon die Sonnenstrahlen. Auch der Wind hatte nachgelassen. Ein Vogel war nicht zu sehen. Kopfschüttelnd steckte Wanja die Feder in die Tasche ihrer Jeansjacke und lief weiter. Dass ihr Schlüssel im Gulli lag, fiel ihr erst zu Hause ein.

Zum Glück stand Jos Fenster offen. Ihr Zimmer lag zwar im ersten Stock, aber Wanja konnte über den Apfelbaum, der davorstand, hineinklettern. Auf seinem dicken, bis ans Fenster ragenden Ast war sie schon als Sechsjährige herumgeturnt, zum Schrecken ihrer Nachbarn. Aber Jo war in dieser Hinsicht eine ungewöhnlich gelassene Mutter und an Wanjas Vorliebe für gefährliche Kunststücke gewöhnt. Gewandt stieg Wanja am Stamm empor, hangelte sich an dem Ast entlang und schwang sich aufs Fensterbrett. Geschafft. In der Küche stand noch Frühstücksgeschirr herum. Die Orangensaftpackung auf dem Tisch war leer wie der Kühlschrank, den Wanja auf der Suche nach etwas Trinkbarem aufriss. Die Regentropfen, die aus ihren braunen Locken, ihren Ärmeln und ihren Hosenbeinen rannen, bildeten auf dem Boden bereits einen kleinen See.

»Brrrrrrh.« Die Küchentür öffnete sich, und Schröder schob seinen dicken roten Bauch in die Küche.

»Na Dicker, auch Durst?« Wanja nahm ihren Kater auf den Arm, worauf sich die Lautstärke seines Schnurrens schlagartig verdoppelte. Schröder war ein ungewöhnliches Tier. Liebesbedürftig wie ein kleines Baby, unglaublich träge und geradezu beängstigend gutmütig.

Als Wanja klein war, hatte sie mit ihm die reinsten Zirkusvorstellungen veranstaltet. Rückwärtssaltos, Drehungen in der Luft, auf zwei Beinen über das Treppengeländer balancieren … das waren nur einige der Dinge, die der Kater mit sich hatte machen lassen.

»Das arme Tier«, hatte Jo geschimpft, aber Schröders Liebe zu Wanja war trotz all dieser Torturen immer gleich groß geblieben.

Inzwischen war Schröder ein alter Herr und zu keinen akrobatischen Glanzleistungen mehr fähig. Doch für Wanja war er Kuscheltier, Freund und Geschwisterersatz in einem. Er bohrte seine nasse Nase in Wanjas Hals und rieb sie laut schnurrend an ihrer Haut.

»Runter mit dir, du Bohrmaschine.« Wanja füllte Schröders Napf mit Wasser und fing an, das Frühstücksgeschirr wegzuräumen.

Als Jo aus der Agentur nach Hause kam, war es schon nach acht.

»Was für ein Tag«, hörte Wanja sie im Hausflur stöhnen. Jo trat in die Küche, löste die Spange aus ihrem Haar, fuhr sich mit den Fingern durch die dichten Locken und bemerkte dann, dass sie mitten in der dreckigen Regenpfütze stand, die Wanja vergessen hatte aufzuwischen. »Verdammt, wie oft hab ich …«

»Ja, ja, reg dich ab.« Wanja hatte den Aufnehmer schon in der Hand. Jo stellte die Einkäufe auf den Tisch. Toastbrot, Tofuwürstchen, Eier, eine Flasche Saft und zwei Tütensuppen.

»Zu mehr war heute keine Zeit.«

Das Essen verlief schweigend, und gleich danach stand Jo auf.

»Ich schmeiß mich ’ne Runde aufs Sofa. Mach du die Küche, okay?«

Wanja nickte. Widerstand war zwecklos. In dieser Stimmung gab es mit Jo keine Diskussion. Wahrscheinlich hatte sie mal wieder Stress mit ihrem Chef gehabt. »Stress« war Jos Lieblingswort, dicht gefolgt von »meine Nerven«.

»Gibt’s was im Fernsehen?« Wanja hatte die Küche aufgeräumt und stand in der Wohnzimmertür. Als Antwort erhielt sie ein leises Schnarchen. Jo war auf dem Sofa eingeschlafen.

»Ich hab heut den Schlüssel verloren«, sagte Wanja.

»Mmmmh.« Jo schmatzte, drehte sich um und schnarchte weiter.

Im Wald konnte es nachts so still sein, dass man die Stille zu hören glaubte wie ein eigenes, völlig einzigartiges Geräusch. Wanja lag auf ihrem Bett und starrte auf die weißen Vorhänge. Ihr Fenster war leicht geöffnet, sodass die kühle, vom Regen gereinigte Nachtluft ins Zimmer wehte und den dünnen Vorhang zu einem großen weißen Ballon aufblies. Schröder schlief zu Wanjas Füßen und brummte behaglich im Traum vor sich hin.

Wanja hatte kein Licht im Zimmer gemacht. Sie hatte beobachtet, wie sich die Dämmerung langsam in Dunkelheit verwandelte, und gehört, wie Jo irgendwann die Treppe hochgekommen und in ihrem Schlafzimmer verschwunden war.

Nachdem der ganze unerfreuliche Tag noch einmal an Wanja vorübergezogen war, drehte sie sich auf die Seite und starrte den Radiowecker auf ihrem Nachttisch an. Jedes Mal, wenn sie nicht schlafen konnte, tat sie das, schon immer war diese Uhr ihr wirksamstes Schlafmittel gewesen. Das orangefarbene, knubbelige Gerät war bestimmt schon zwanzig Jahre alt, und die weißen Ziffern, die durch ein Licht im Inneren des Weckers beleuchtet wurden, blätterten sich wie kleine Karteikarten nach hinten, wenn die Zeit, die sie anzeigten, verstrichen war. Dabei gaben sie ein leises Klacken von sich. War es zum Beispiel, wie jetzt, 23:48 Uhr, würde nach einer Minute die Acht nach hinten klappen. Ihr Radiowecker teilte die Zeit in kleine Häppchen, während die Zeiger auf dem Ziffernblatt ihrer Armbanduhr die Zeit unendlich erscheinen ließen. Am liebsten mochte Wanja die Momente, wenn auf ihrem Radiowecker alle vier Ziffern auf einmal wegkippten und eine ganz neue Zeit erschien. In zwölf Minuten war es wieder so weit. In zwölf Minuten war es 00:00 Uhr, und damit würde ein neuer Tag beginnen, der den alten auslöschen und Brittas Worte zumindest in den Hintergrund drängen würde. Du weißt ja nicht mal, wie deiner aussieht.

Wanja kniff die Augen zusammen und versuchte zum unzähligsten Mal, sich ein Bild von ihrem Vater zu machen. Wie oft hatte sie sich schon vor den Spiegel gestellt und da nach Spuren ihres Vaters gesucht. Die braune Löwenmähne hatte sie zweifellos von Jo geerbt, auch die Augenfarbe, aber die Augenform war eine völlig andere. Wanja hatte große Kulleraugen, die immer ein wenig erstaunt aussahen, und wenn sich das Licht in ihnen spiegelte, erkannte man in ihrem Grün winzige hellbraune Farbsprenkel, als hätte jemand mit einem Pinsel darübergespritzt. Jos Augen waren klein und flink, lagen dicht beieinander und wurden, wenn sie sich ärgerte, einen Ton dunkler. Auch Wanjas weiche Knubbelnase, die sich problemlos bis zur Oberlippe runterdrücken ließ, glich zu ihrem Ärger nicht der von Jo, sondern war eindeutig eine Hinterlassenschaft des Großvaters.

Über ihren Vater wusste Wanja fast nichts. Und das »fast« war beinahe noch schlimmer als das »nichts«, weil sich das »fast« lediglich auf die schlechten Dinge bezog, die Wanja über ihren Vater hörte, vornehmlich von ihrer Großmutter.

»Genau wie dein Vater«, sagte die, wenn Wanja den letzten Bissen auf dem Teller liegen ließ – was Wanja aus Trotz längst zu einer Gewohnheit hatte werden lassen. »Genau wie dein Vater«, sagte ihre Großmutter auch, wenn Wanja verträumt in die Gegend schaute, ihre Sachen herumliegen ließ oder schwindelte. Auch die anderen Sätze über ihren Vater kannte Wanja auswendig.

Sie ließen sich an einer Hand abzählen:

1.Dein Vater war ein schlechter Mensch.

2.Dein Vater hat Schande über unsere Familie gebracht.

3.Dein Vater war ein Schwätzer.

4.Dein Vater war ein Betrüger.

5.Dein Vater ist es nicht wert, dass man über ihn spricht.

Den letzten Satz bekam Wanja immer dann von ihrer Großmutter zu hören, wenn sie etwas über ihren Vater herausfinden wollte. Zum Beispiel, wie er aussah, wo er wohnte, warum er Jo verlassen hatte oder ob er von Jo verlassen worden war.

Wanjas Eltern hatten sich noch vor ihrer Geburt getrennt, mehr wusste sie nicht, denn selbst ihre sonst so aufgeschlossene Mutter presste bei diesem Thema verbissen die Lippen aufeinander.

»Wenn du älter bist«, das war das Äußerste, worauf sich Jo beim letzten Mal eingelassen hatte, und das war jetzt mindestens zwei Jahre her. Wanja war nicht auf den Mund gefallen, aber bei diesem Thema schnürte ihr immer irgendwas die Kehle zu, obwohl sie als Zwölfeinhalbjährige inzwischen wirklich das Gefühl hatte, alt genug zu sein.

Manchmal vergaß Wanja ihren Vater sogar, obwohl es natürlich seltsam ist, jemanden zu vergessen, den man nicht einmal kennt. Aber insgeheim beschäftigte er sie mehr als alles andere, dieser Mann ohne Gesicht und ohne Namen, den zu sehen Wanjas sehnlichster Wunsch war.

Klack. Als Wanja die Augen öffnete, sprang der Wecker gerade auf 23:59 Uhr. In einer Minute ist Mitternacht, dachte sie und wartete irgendwie unruhig. Klack-klack-klack-klack. Die weißen Ziffern kippten nach hinten. Und dann geschah es. Die vier Nullen, die jetzt nach vorne klappten, leuchteten. In einem tiefen Rot.

Fassungslos starrte Wanja auf den Wecker. Sie rieb sich die Augen, doch die Ziffern blieben rot. Wie winzige Scheinwerfer durchbohrten sie die Dunkelheit.

Und dann … sprang der Radiowecker an. Ein lauter Gong ertönte.

Schröder schreckte aus dem Schlaf und schoss mit einem Satz unters Bett. Wanja dagegen war starr vor Schreck. Die Weckfunktion war ausgeschaltet, das erkannte sie deutlich, weil der weiße Punkt neben der Uhrzeit fehlte. Zwar war dieser Wecker schon ein paar Mal überraschend angesprungen, aber das hier war zu viel. Der Gong ertönte zum zweiten Mal, und kurz darauf hörte Wanja die Stimme einer alten Frau.

»Es ist mir eine große Ehre, dir heute ein besonderes Ereignis anzukündigen.«

Wanja hielt den Atem an. Lauf weg, schrei um Hilfe, das kann doch alles nicht wahr sein, sagte ihr Kopf. Aber Wanja lief nicht weg. Sie schrie auch nicht um Hilfe. Denn irgendetwas hielt sie im Bann dieser leisen, rauen Stimme, die eine tiefe Ruhe ausstrahlte und Wanja auf eine ganz sonderbare Art berührte. Es war, als würde diese Frau von innen zu ihr sprechen und nicht aus dem Radio. Auch die Ansprache schien sich an Wanja ganz persönlich zu richten.

»Nach nunmehr 100 Jahren Pause«, fuhr die Frau fort, »zeigt der Hüter der Bilder zum dritten Mal die Ausstellung ›Vaterbilder‹. Der erste Besuchstag findet Christi Himmelfahrt statt. Über die genaue Uhrzeit und den Ort werde ich dich noch informieren. Jetzt wünsche ich dir eine gute Nacht.«

Die Stimme erstarb.

Ein dritter Gongschlag ertönte.

Dann war alles wieder ruhig. Nur ein wildes Klopfen jagte durch die Stille, und es dauerte eine Weile, bis Wanja begriff, dass es ihr Herzschlag war. Tum-tum, tum-tum, tumtum. Klack. Die rechte Null des Weckers kippte nach hinten, und als an ihrer Stelle eine Eins nach vorne kam, waren alle Ziffern wieder weiß. Es war 00:01 Uhr, und Wanja konnte nicht fassen, was gerade geschehen war. Aber war es denn wirklich geschehen? Warum hatte Jo dann nichts gehört? Der Gong hätte einen Toten wecken können, und Jos Schlafzimmer lag doch gleich nebenan. Trotzdem: Ein Traum war es nicht gewesen, da war sich Wanja ganz sicher. Höchstens drehte ihr Radiowecker nun vollkommen durch, obwohl Wanja auch das nicht wirklich glaubte. Wie hypnotisiert lag sie da und starrte auf die Ziffern. Aber die klackten und kippten und wechselten in ihrer gewohnten weißen Normalität, als hätten sie nie etwas anderes getan.

Um 03:33 Uhr drehte Wanja ihrem Radiowecker den Rücken zu und versuchte einzuschlafen.

ALS WÄRE NICHTS GESCHEHEN

»Carmen« war ein gutes Zeichen. Ohrenbetäubend laut drang das Orchestervorspiel der Oper in Wanjas Zimmer ein, jeder Paukenschlag ein donnerschlagartiger Weckruf. Jo liebte diese Oper, hatte Wanja die Handlung von vorne bis hinten erzählt, ihr alle Arien übersetzt und sie schon zweimal zu einer Aufführung mitgeschleppt, sodass Wanja inzwischen bei jedem Lied die Bilder vor ihrem inneren Auge sah. Wenn Jo von etwas begeistert war, konnte man sich nicht dagegen wehren, sie riss einen einfach mit. Aber die »Carmen«-CD legte Jo zu Hause immer nur dann ein, wenn sie gute Laune hatte.

Entweder trägt sie Orange oder Rot, dachte Wanja, als sie die Augen aufschlug. Der Wecker zeigte 10:13 Uhr und machte ihr schlagartig wieder bewusst, was gestern Nacht geschehen war.

Wanja starrte noch einmal auf die Ziffern, drückte an der An- und Austaste des Radios herum, stieg, als nichts Außergewöhnliches geschah, kopfschüttelnd aus dem Bett und ging den letzten Paukenschlägen des Opernvorspiels entgegen die Treppe hinunter in die Küche.

Jo trug Orange. Ihre zierliche Figur wurde von dem langen Leinenhemd versteckt, doch die strahlende Farbe war ein weiteres Zeichen ihrer guten Laune.

»Mais nous ne voyons pas la Carmencita«, sang Jo, während sie das zweite Frühstücksei aus dem Kochtopf fischte und unter den kalten Wasserstrahl hielt. Schröder strich brummend um ihre Beine, und Wanja setzte sich an den Tisch. Vaterbilder. Von was für einer Ausstellung hatte die Frau im Radio gesprochen? Wer war der Hüter der Bilder? Wer war diese Frau? Wieso hatte sie Wanja direkt angesprochen? Jo, die mit dem Rücken zu Wanja stand, briet die restlichen Tofuwürstchen an. Auf Jos CD-Player sang jetzt Carmen, und Wanja drehte ihr die Stimme leise.

»Hast du gestern Abend was gehört, Jo?«

Wanjas Mutter fuhr jäh herum.

»Pumpel! Mensch, hast du mich erschreckt.«

Wanja stellte die Musik ganz aus. »Hast du was gehört?«

»Was soll ich denn gehört haben?« Jo runzelte die Stirn.

»Gesehen hab ich was. Fünf verdreckte Fußabdrücke auf meinem Schlafzimmerteppich, vom Fenster bis zur Tür. Kannst du mir erklären, wo die hergekommen sind?«

Wanja wich Jos Blick aus und rieb ihre Nase am Fell von Schröder, der ihr gerade auf den Schoß gesprungen war.

»Von mir. Hab gestern den Schlüssel verloren.«

Jo kniff Wanja in die Nase. »Schlunzkopf! Das war jetzt das zweite Mal. Diesmal geht der neue Schlüssel aber von deinem Taschengeld ab!«

»Schon okay.« Wanja atmete aus. Zumindest hatte Jo ihre gute Laune nicht verloren.

»Ich soll dich übrigens von Oma grüßen. Sie hat heute Morgen angerufen, aber ich wollte dich nicht wecken.«

»Danke. Dafür hat ja dann Carmen gesorgt.« Wanja goss sich ein Glas Saft ein und trank es mit einem Zug leer. »Und? Was macht Uri?«

»Was soll sie schon machen? Im Bett liegen und aus dem Fenster kucken, wahrscheinlich.« Jo schlug ihrem Vierminutenei den Kopf ab. Seit ihrem Schlaganfall wurde Wanjas Urgroßmutter von Wanjas Großmutter gepflegt. Als es passierte, hatten Jo und Wanja noch bei den Großeltern gewohnt. Wanja mochte ihre Urgroßmutter, aber Jo hatte Uri nie besonders leiden können.

»Jedenfalls soll ich dir von Oma ausrichten, du sollst doch bald einmal schreiben. Ach ja, und Flora hat auch schon angerufen. Um Viertel nach acht!« Jo grinste. »Aber ich war zum Glück schon wach, und Flora hat gesagt, sie kommt heute Abend zum Essen. Wenn wir einkaufen, kocht sie uns Thaicurry.«

»Yes!« Wanja drückte Schröder an sich. »Und dann siedlern wir, ja, Jo?«

Jo lächelte. »Aber nur, wenn ihr mich nicht wieder so abzockt wie letztes Mal.«

Als Wanja nach dem Frühstück ihre Jacke holte, um mit Jo zum Markt zu fahren, fand sie die Feder von gestern wieder. Schwarz und glänzend schaute sie aus der Jackentasche. Vorsichtig zog Wanja sie heraus und legte sie in ihre Nachttischschublade. Der Wecker stand auf 11:34 Uhr. Weiße Ziffern. Alles wie immer. Es ist mir eine große Ehre, dir heute ein besonderes Ereignis anzukündigen.

»Schnutzel, ich will lo-hos!«, rief Jo.

»Mann, ist das voll hier.« Wanja drängte sich hinter Jo an den Obststand, vor ihr war eine lange Warteschlange. Der gefüllte Einkaufskorb zog an ihrem Arm, aber auch Jo hatte in jeder Hand zwei schwere Tüten. Hinter ihnen hatten sich schon weitere Leute angestellt, und als Wanja ihren vollen Korb absetzte, hörte sie zwei vertraute Stimmen.

»Ich will den Rock aber haben, Mama! Paps hat mir versprochen, dass du ihn mir kaufst!«

»Und wieso soll ich ein Versprechen halten, das Papa dir … na kuck mal, da sind ja Wanja und Frau Walters!«

Jo drehte sich um, während Wanja auf einer ihrer Haarsträhnen herumkaute und den Kopf nur leicht zur Seite neigte. Am Ende der Schlange standen Britta, Alina und ihre Mutter.

»Wo warst du denn gestern plötzlich?« Alina war schon auf Wanja zugelaufen und hängte sich an ihren Arm.

Wanja strubbelte Brittas kleiner Schwester übers Haar. Britta stand direkt dahinter. Ihre Augen trafen sich und auf Brittas Wangen huschte ein roter Schleier. »Tut mir leid mit gestern«, murmelte sie.

Wanja nickte. »Schon okay.«

»Das nächste Mal sagst du aber bitte Bescheid, bevor du so einfach wegläufst, Wanja«, sagte Brittas Mutter, die sich jetzt auch zu ihnen gestellt hatte.

Jo fasste Wanja an der Schulter. »Weglaufen?«

Brittas Mutter lächelte. »Nichts Ernstes, Frau Walters. Die beiden Mädchen hatten sich gestritten, und Wanja war wohl ein wenig aufgebracht. Aber wie ich sehe, hat sich ja alles wieder beruhigt.«

Britta grinste schief, und Wanja griff nach dem Einkaufskorb. »Geh weiter, Jo, wir sind gleich dran.«

»Was war denn los, Mupsel?«, wollte Jo auf dem Rückweg wissen. »Wieso habt ihr euch gestritten?«

Wanja pikste sich mit der stacheligen Spitze ihrer getrockneten Haarsträhne in die Oberlippe und sah aus dem Autofenster. Wenn sie Jo von Brittas Satz erzählen würde, wäre der Tag gelaufen. Draußen war knallblauer Himmel. An den Bäumen explodierten die Knospen, und durch das leicht geöffnete Fenster zog ein klebrig süßer Duft von Frühlingsblüten in Wanjas Nase. Nichts erinnerte mehr an das gestrige Unwetter. Erzähl mir nicht, wie mein Vater zu sein hat, du weißt ja nicht mal, wie deiner aussieht.

Jo bog von der Hauptstraße in den kleinen Waldweg ab. Die Bäume huschten vorbei, am Wegrand schoss ein erschrockener Hase ins sichere Dickicht, am Hoftor eines Hauses kläffte ein schwarzer Hund.

Nach nunmehr 100 Jahren Pause zeigt der Hüter der Bilder zum dritten Mal die Ausstellung »Vaterbilder«. Der erste Besuchstag findet Christi Himmelfahrt statt. Über die genaue Uhrzeit und den Ort werde ich dich noch informieren. Jetzt wünsche ich dir eine gute Nacht.

»He, ich hab dich was gefragt«, sagte Jo.

Wanja schaltete das Radio ein. »Ich will nicht drüber sprechen. Wann kommt Flora denn?«

Flora kam um acht. Mit einem neuen Mantel, einer neuen Haarfarbe und einem dunkellila Knutschfleck am Hals, von ihrem neuen Freund. Es musste ungefähr der vierte in diesem Jahr sein.

»Du sammelst Schweine, ich sammle Männer«, hatte Flora einmal lachend zu Jo gesagt, und Jo hatte trocken bemerkt, das käme ja wohl aufs Gleiche raus.

Wenn sich Wanja nicht verzählt hatte, gab es in ihrem Haus inzwischen dreiundzwanzig Schweine, die alle einen Namen hatten. Lottchen zum Beispiel hieß das geflügelte Holzschwein, das am seidenen Faden und mit einem seligen Lächeln auf den Lippen am Kronleuchter über dem Esstisch hing. Das dicke Pappschwein auf dem Küchenbord war Erika getauft worden, und die beiden blauen Metallschweine im Flur hießen Plisch und Plum.

»Wart mal, ich hatte doch …« Flora griff in ihre Manteltasche. »Ah … hier! Zuwachs für die Schweinebande.«

Als Jo das winzige Silberschwein entgegennahm, kicherte sie. »Wunderbar! Ich werde es Hermine nennen. Und wie heißt dein neues Schwein?« Jo tippte auf den Knutschfleck, und Flora streckte ihr die Zunge raus. Dann gab sie Wanja einen Kuss, setzte sich an den Küchentisch und goss sich ein Glas Rotwein ein.

»Er heißt Julien Montier«, seufzte sie.

Jo verdrehte die Augen. »Alter?«

»Neununddreißig.«

»Beruf?«

»Steuerberater.«

»Familienstand?«

Flora ließ die flache Hand auf den Tisch knallen. »Sag mal, spinnst du, oder was?! Eigentlich wollte ich meine Freundin besuchen und nicht die Polizei.«

Jo grinste. »Also verheiratet.«

»Du bist gemein, Jo«, sagte Wanja.

»Sie hat ja recht.« Flora seufzte ein zweites Mal und trank einen Schluck Wein. Dann krempelte sie die Ärmel hoch und nahm von Jo das Brett mit den geschälten Zwiebeln entgegen.

»Wie läuft’s denn bei dir, Wanjamaus? Was hat Frau Gordon zu deiner Wahnsinnsgeschichte gesagt?«

»Noch gar nichts.« Wanja hatte sich den frischen Spinat aus dem Kühlschrank geholt, setzte sich zu Flora an den Tisch und fing an, die Blätter von den Stielen abzuzupfen. »Ich bin gestern zu spät gekommen. Montagmorgen ist meine letzte Chance, hat Frau Gordon gesagt.«

»Na, dann komm bloß nicht wieder zu spät. Und was macht dein Freund Herr Schönhaupt?«

Wanja streckte die Zunge raus. »Schmierkopf, Kotzbrocken, Würggesicht. Warum kannst du nicht bei uns unterrichten?«

In Rekordgeschwindigkeit schnitt Flora die Zwiebeln in winzige Würfel. »Weil ich kein Mathe unterrichte«, antwortete sie, und wischte sich mit dem Handrücken die Zwiebeltränen aus den Augen. »Und weil du mich als Deutsch- und Kunstlehrerin vielleicht auch nicht ausstehen könntest.«

»Könnte ich wohl. Unsere Kunstlehrerin ist todlangweilig.«

»Langweilig ist natürlich schlecht«, sagte Flora. »Was macht ihr denn gerade in Kunst?« Nach nunmehr 100 Jahren Pause zeigt der Hüter der Bilder zum dritten Mal die Ausstellung »Vaterbilder«.

»Expressionismus«, erwiderte Wanja. »Hast du schon mal was von einer Ausstellung gehört, die ›Vaterbilder‹ heißt?« Flora setzte das Messer ab. »›Vaterbilder‹? Nie gehört, klingt aber interessant. Von wem soll die denn sein?« Wanja angelte mit der Zunge nach ihrer Haarsträhne und schob das Sieb mit den abgepflückten Salatblättern zur Seite. »Keine Ahnung, hab’s irgendwo gelesen. Hey, da bist du ja.«

Ein lautes Brummen ertönte unter dem Esstisch, und kurz darauf rieb Schröder seine nasse Nase an Wanjas Bein.

»Komm hoch, mein Dickmops.«

»Aber gib ihm nicht zu viel.«

Jo setzte sich neben Flora an den Tisch, steckte sich ein Spinatblatt in den Mund und goss sich ebenfalls ein Glas Rotwein ein. »Und was gibt’s Neues in deiner Schule? Wie geht’s denn deiner Schülerin Julia, oder wie die heißt?«

Flora stöhnte auf. »Judith. Mies geht’s der. Aber sie hat beschlossen, nicht abzutreiben, und will das Kind nach der Geburt zur Adoption freigeben.«

Wanja zuckte zusammen. »Wie alt ist die denn?«

»Fünfzehn.«

»Und der Vater?«

»Sechzehn – und gestern mit seinen Eltern in eine andere Stadt gezogen. So ein Zufall, was?« Flora stand auf, um sich die Hände zu waschen. »Lass uns das Thema wechseln, sonst vergeht mir noch die Lust aufs Essen.«

Wanja starrte vor sich auf den Tisch.

Fünfzehn! Dieses Mädchen war nicht viel älter als sie selbst. Auch bei Wanjas Klassenkameradinnen stand das Thema Jungs ganz oben auf der Liste, und die meisten hatten auch schon einen Freund gehabt. Sue sowieso. Aber viel mehr als knutschen war nicht drin, und Wanja für ihren Teil hatte damit sowieso noch nicht viel am Hut.

Der Duft des Essens, das Flora eine halbe Stunde später auf den Tisch stellte, erfüllte die ganze Küche, und Wanja lief das Wasser im Mund zusammen. Jo, die Kochen hasste, brachte mit Ach und Krach ein Spiegelei zustande, deshalb waren die Tage, an denen Flora zum Kochen kam, köstliche Ausnahmen. Während Wanja all ihre Aufmerksamkeit der cremigen, scharfsüßen Thaicurrysauce schenkte, schimpfte Jo über ihren Chef.

»Dick und Schick wollte der auf den Katalog schreiben, kannst du dir das bitte vorstellen? Und warum gibt es für Größen ab 44 überhaupt einen Sonderkatalog? Mich macht dieses Bodyshaming so was von wütend, das kannst du dir gar nicht vorstellen.«

Jo wischte mit einem Stück Brot ihren Teller sauber und knüllte ihre Serviette zusammen. Wanja sah von ihr zu Flora. Von den wilden braunen Locken zu den hochgesteckten, rot gefärbten Haaren. Von dem zierlichen, biegsamen Körper zu dem kräftigen, muskulösen. Von Jos ruhelosem, immer ein wenig kritischem Blick zu Floras blitzenden Augen, die einen ständig anlachten. Außergewöhnlich waren beide Frauen, und Wanja spürte, dass das auch den Männern nicht entging, denen sie unterwegs begegneten. Mehr als einmal hatte sie bemerkt, wie sich ein Mann nach ihrer Mutter umdrehte, sie anlächelte oder sogar anstarrte. Aber während Flora eine Affäre nach der anderen hatte, prallten die Männer an Jo ab wie an einer unsichtbaren Mauer. Wanja dachte an den jungen Mann, der Jo auf ihrer letzten Fahrt zu Oma und Uri im Zugabteil angelächelt hatte. Wie die Mundwinkel seines fröhlichen Gesichtes ruckartig nach unten gesackt waren, als Jo an ihm vorbeigeschaut hatte, als ob er Luft gewesen wäre.

Als Wanja um kurz vor Mitternacht mit Schröder auf dem Arm die Zimmertür hinter sich schloss, hatten sie drei Runden »Siedler von Catan« gespielt. Jo hatte wieder verloren und auf Floras »Pech im Spiel, Glück in der Liebe« mit einem verächtlichen Augendrehen reagiert.

Wanja legte sich ins Bett, zog Schröder zu sich unter die Decke und starrte den Wecker an.

In drei Minuten war Mitternacht. In zwei, in einer, jetzt.

Die Ziffern klappten nach hinten. 00:00 Uhr. Aber die Ziffern blieben weiß. Das Radio blieb aus. Alles blieb still. Als wäre nie etwas geschehen. Nur ihr Herz hörte Wanja schlagen. Sie legte ihre Hand auf die Stelle. Es war etwas geschehen. Und Wanja fühlte, dass dieses Etwas erst der Anfang war.

DIE EINLADUNG

Hinter Wanja lag ein sonniges und, wie Jo immer sagte, plumpsgemütliches Wochenende. Flora hatte bei ihnen übernachtet, und am Sonntag hatten sie zum ersten Mal in diesem Jahr im Garten gefrühstückt. Anschließend hatte Flora ihre mitgebrachten Deutschhefte korrigiert, und Jo hatte Unkraut gezupft. »Das entspannt die Nerven«, sagte sie immer, und Jos Nerven brauchten viel Entspannung.

Während Jo mit bloßen Händen in der Erde wühlte und Flora über die Grammatikfehler in den Klassenarbeiten fluchte, turnte Wanja am Reck, flickte den Hinterreifen ihres Fahrrades und ärgerte sich über Brian.

Brian war sechs, wohnte im Nachbarhaus und kam mindestens einmal pro Woche ungebeten zu Besuch. Früher hatte Wanja ganz gern mit ihm gespielt, aber seit Brian letzten Sommer doppelseitigen Tesafilm unter Schröders Pfoten geklebt hatte, war er bei Wanja untendurch. Das scherte Brian allerdings kein bisschen.

Mit einem schmelzenden Eis in der einen und Spiderman in der anderen Hand, stolzierte er durch das geöffnete Törchen in Wanjas Garten. Spiderman war Brians Stoffhase und ständiger Begleiter. Wanja hatte ihn schon gekannt, als er noch schneeweiß und vollkommen gewesen war. Jetzt fehlten Spiderman ein Ohr, ein Bein, und die Farbe seines Fells war schwer in Worte zu fassen.

Brian wischte seinen Erdbeereismund an Spidermans Fell ab, klemmte sich den Stoffhasen unter den Arm und stellte sich an Wanjas Fahrrad.

Während er mit dem Vorderreifen Lenkrad spielte, erzählte er Wanja viermal hintereinander den Witz von den zwei Tausendfüßlern, die Schuhe kaufen waren. Nach dem zweiten und nach dem vierten Mal rief ihn seine Mutter zum Essen.

Flora und Jo kicherten. Brians Mutter konnte das englische »r« nicht aussprechen, und immer, wenn sie ihren Sohn rief, klang es wie »Breien«.

»Ich frage mich, warum man seinem Kind einen Namen gibt, den man nicht aussprechen kann«, hatte Wanja mal zu Jo gesagt.

Jo hatte gegrinst. »Zumal der arme Kerl mit seinem Nachnamen schon genug gestraft ist.«

Als Wanja endlich ihren Reifen wieder aufgepumpt hatte, rief Brians Mutter zum dritten Mal. »Nun zieh schon Leine, Trockenbrodt!«, schnaufte Wanja.

Brian zog seine Rotznase hoch, streckte Wanja die Zunge raus, schob sich zwischen sie und den Reifen und im nächsten Moment machte es Pffffhhhh.

»Du verdammter, kleiner Mistkerl!« Wanja machte einen Satz auf Brian zu, aber der war schon zum Gartentor hinausgeflitzt. Jo und Flora gaben sich die größte Mühe, nicht loszuprusten, während Wanja mit hochrotem Kopf ihren Reifen zum zweiten Mal aufpumpte.

Nachmittags hatte Flora Apfelkuchen gebacken, und Jo hatte das ganze Wochenende kein einziges bisschen gearbeitet.

Als Frau Gordon um eine Minute vor acht ins Klassenzimmer kam, stand Wanja schon am Lehrerpult.

»Der unbekannte Ritter«, hieß der Titel der Geschichte, die Wanja nach den Vorgaben ihrer Klassenlehrerin geschrieben hatte. Drei Wochen hatte das Projekt »Geschichten schreiben« gedauert, und zum Abschluss sollten alle eine eigene Idee zu Papier bringen. Dazu hatte Frau Gordon rote, grüne und blaue Zettel an die Klasse verteilt. Auf jeden roten Zettel ließ sie alle eine beliebige Zeitepoche schreiben, auf jeden grünen den Namen einer Person und auf jeden blauen einen Ort. Bei Wanja hatte sich dadurch die Kombination Mittelalter/Flora/Italien ergeben und zu diesen Schlüsselbegriffen war ihr eine Rittergeschichte eingefallen.

Schon als kleines Kind hatte Wanja von allen Geschichten am meisten die geliebt, in denen es spannend zuging. Jo hatte ihr Märchen vorgelesen, und Flora hatte ihr Sagen und Legenden erzählt, wieder und wieder, bis Wanja endlich alt genug war, selbst ein Buch in die Hand zu nehmen. Sobald sie schreiben konnte, hatte Wanja angefangen, ihre eigenen kleinen Geschichten zu verfassen, die Jo in einem großen Karton sammelte.

In Wanjas Rittergeschichte war Flora die Tochter eines mittellosen Bauern, dessen Frau die Familie bei Floras Geburt verlassen hatte. Zu ihrem Vater hatte Flora eine innige und liebevolle Beziehung, aber von ihrem Umfeld wurde sie von klein auf geächtet. Man nannte sie »Hexenbrut«, wegen ihrer Sommersprossen und des feuerroten Haares. Wenn das Vieh erkrankte, die Ernte schlecht war oder ein Unwetter aufkam, wurde Flora dafür verantwortlich gemacht. Aber schon als Kind hatte sich Flora zu verteidigen gewusst. Heimlich hatte sie das Fechten gelernt und ebenso heimlich pflegte sie ihre Liebschaft mit dem siebten Ritter der Königsgarde. Als der König Flora eines Nachts am Hof erwischte, wollte er sie als Hexe auf dem Scheiterhaufen verbrennen lassen. Der junge Ritter half Flora zu entkommen und gab ihr für die Flucht seine Rüstung und das schnellste Pferd aus dem Stall. Die Flucht gelang, und Flora wurde als »unbekannter Ritter« im ganzen Land berühmt, weil sie jede Schlacht gewann, ohne dass jemand ihr wahres Angesicht zu sehen bekam.

In einer besonders blutigen Schlacht rettete die getarnte Flora das Leben des Königs, der sagte, als Belohnung für seine Heldentat dürfe sich der Fremde aussuchen, was er wolle.

Da nahm Flora ihren Helm ab, schüttelte ihre langen roten Locken und forderte den siebten Ritter der Königsgarde zum Mann. Der König wollte ihr vor Wut an die Kehle gehen, doch sein gesamtes Gefolge hatte das Versprechen gehört. So musste der König seine Einwilligung zur Hochzeit geben. Das Liebespaar bekam sieben Kinder und lebte glücklich und zufrieden bis an sein Lebensende.

Als Wanja die Geschichte in der letzten Woche fertig geschrieben hatte, rief sie Flora an und las ihr das Werk am Telefon vor. Jo hörte begeistert mit, und Flora sagte, wer solche Texte schreibe, dürfe in Mathe eine Niete sein.

Dieser Meinung war heute offensichtlich auch Frau Gordon, die am Ende der Lesung beide Daumen in die Höhe hob. »Ganz große Klasse, Wanja.«

»Das Schreibtalent hast du wohl von deiner Mom geerbt, was?«, sagte Sue, als Wanja mit ihr, Tina und Britta in die Pause ging. Sue war Amerikanerin, weshalb für sie alle Mütter Moms und alle Väter Dads waren. Sues Dad, der aussah, als hätte man ihn aus einem amerikanischen Wildwestfilm herausgeschnitten und ihn lediglich in andere Klamotten gesteckt, war vor neun Jahren mit seiner Familie nach Deutschland versetzt worden. Er arbeitete im Exportgeschäft, aber auf Wanjas Schule war er berühmt für seinen Hamburgerstand, mit dem er sich an jedem Sommerfest beteiligte. Darauf war Sue fast so stolz wie auf ihre große Schwester Marcy, die vor vier Jahren zurück nach Amerika gegangen war, um in Los Angeles eine Ausbildung als Maskenbildnerin zu machen.

»Ach übrigens«, sagte Sue und holte ihre wasserstoffblond gefärbten Haare unter dem Kragen ihrer Jeansjacke hervor. »Wenn deine Mom mal einen Werbefilm in Amerika drehen sollte, sag mir Bescheid. Dann kann sie meine Schwester buchen. Die kennt die besten Models, sag ich dir.«

Wanja tippte sich an die Stirn. »Jo dreht keine Werbefilme in Amerika. Die arbeitet in einer Miniagentur, die machen höchstens mal einen Radiospot.«

Sue sah Wanja mitleidig an. »Aber der deutsche Eiscremefilm ist in Amerika gedreht worden, und zwar genau an dem Strand, wo meine Schwester wohnt.«

»In Santa Monica Beach«, ergänzte Tina mit wissender Miene. Sue hatte diese Tatsache inzwischen mindestens hundert Mal erwähnt, aber Tina, die an Sue hing wie eine Klette, wurde nicht müde, davon zu hören. »In dem Film war doch dieser Surfer, der deine Schwester nach dem Dreh ins Kino eingeladen hat«, bemerkte sie aufgeregt, während Britta hinter ihrem Rücken die Augen verdrehte.

»Gavin«, sagte Sue und fügte so beiläufig wie möglich hinzu: »Der dreht jetzt in Hollywood. Hat meine Schwester mir erzählt. In einem Film mit India Amarteifio und Timothée Chalamet.«

»In echt?« Tina quollen fast die Augen aus dem Kopf. »Was für eine Rolle spielt er denn?«

Bevor Sue etwas antworten konnte, schlug Britta vor: »Da die männliche Hauptrolle ja bereits belegt ist, vielleicht den Eiscremeverkäufer?«

Sue warf ihr einen wütenden Blick zu, und Wanja stieß Britta grinsend in die Seite. In Situationen wie diesen mochte sie den beißenden Humor ihrer Freundin, auch wenn Brittas Neid dahinter offensichtlich war. Gegen Sues Große-Schwester-Geschichten kamen Brittas Berichte aus der väterlichen Zahnarztpraxis nicht an.

»Kuckt mal, der schon wieder.« Sue deutete mit dem Kopf zu der Ecke mit den Fahrradständern. Am Pfosten lehnte der Neue aus der 9a. Er war vor Kurzem auf Wanjas Gesamtschule übergewechselt, weil er Gerüchten zufolge von einer anderen Schule geflogen war. Seine dünnen Beine steckten in zu kurzen, reichlich verschlissenen Hosen, seine schwarze Cordjacke war am Ellenbogen durchlöchert und seine dunkelbraunen Haare sahen filzig und ungekämmt aus. Das einzig Strahlende an ihm waren seine eisblauen Augen, die jetzt zu den vier Mädchen herüberblitzten, als hätte er ihre Blicke von Weitem gespürt.

»Voll der Penner«, sagte Britta und schüttelte sich angewidert. »Mischa irgendwas heißt der. Sein Vater säuft, hab ich gehört, und seine Mutter ist krank im Kopf oder so was.«

»Buäh, stellt euch vor, ihr müsst neben dem in der Klasse sitzen.« Sue steckte sich den Zeigefinger in den Mund und rollte mit den Augen. Britta grinste, und Tina bekam einen ihrer Kicheranfälle, wobei ihre blasse Gesichtsfarbe blitzschnell in das Rot einer überreifen Strauchtomate wechselte.

Wanja hatte sich instinktiv zwei Schritte von den drei anderen entfernt. In Situationen wie diesen wünschte sich Wanja auf einen anderen Planeten.

Aus den Augenwinkeln sah sie zu dem Jungen hinüber, wie er am Pfosten lehnte, die Hände in den Taschen seiner Jacke, träge und wach zugleich. Auch die eisblauen Augen blitzten noch mal in ihre Richtung, aber nur für eine Sekunde, dann wandte sich der Junge ab und schlenderte zum Seiteneingang, als hätte er den kurz darauf folgenden Gong zur dritten Stunde bereits vorausgeahnt.

Nach der Schule ging Wanja allein nach Hause. Tina, Sue und Britta hatten sich fürs Shoppingcenter verabredet, aber Wanja hatte keine Lust. Es langweilte sie, da rumzuhängen und die Auslagen in den Schaufenstern zu kommentieren. Außerdem drifteten ihre Gedanken immer wieder zu der sonderbaren Mitternachtsnachricht im Radio ab. Noch mal und noch mal spulten sich die Worte der Frauenstimme in Wanjas Hinterkopf ab, und die Frage, ob sie das alles nicht vielleicht doch geträumt hatte, nagte dabei immer quälender an ihr.

Als Jo von der Arbeit kam, hatte Wanja das Abendessen vorbereitet. Nudeln mit Tomatensoße und dazu Gurken und rote Paprika in Streifen geschnitten.

»Ach, Knupselhuhn, ich danke dir«, seufzte Jo, nachdem sie sich mit einer müden Bewegung die graue Jacke von den Schultern gestreift hatte. Ihre orangerote Wochenendlaune war eindeutig verflogen. Jo hatte Stress hoch zehn gehabt, wie sie verkündete, und nachdem sie sich abwesend nach Wanjas Tag erkundigt hatte, verschwand sie hinter der aufgeschlagenen Tageszeitung.

Wanja holte sich Schröder auf den Schoß und kraulte seinen Nacken, als Jo die Zeitung in der Mitte zusammenfaltete und ihr eine neue Rückseite zudrehte.

Es gibt Momente, in denen unsere Gefühle schneller reagieren als unser Bewusstsein. Dies war ein solcher Moment.

Wanjas Herz fing an zu rasen, so abrupt, als sei es dem Startschuss eines Olympiarennens gefolgt. Erst dann sah Wanja, was sie an dieser Zeitungsseite in solche Aufregung versetzte. Inmitten der schwarzen Druckschrift leuchtete ein roter Rahmen. Darin stand in gleichfalls rot leuchtenden Lettern der Titel: »VATERBILDER«.

Wanja entfuhr ein Japsen, sie riss die Augen auf, beugte sich vor, doch noch bevor sie die Zeilen unter dem Titel erfassen konnte, blätterte Jo eine neue Seite darüber.

»Halt mal!« Wanja sprang so unvermittelt vom Stuhl auf, dass Schröder zu Boden kugelte. Sie griff über den Tisch und riss Jo mit einem Ruck die Zeitung aus der Hand.

»Sag mal, spinnst du?« Jo starrte Wanja an, während die atemlos die Seite zurückschlug. Viel Lärm um nichts, stand da in großen schwarzen Lettern, darunter ein Bild von zwei Schauspielern auf einer Bühne und dazu ein langer Artikel. Sonst nichts.

Wanja blätterte wie wild in den Seiten herum. Frau, Leben, Freiheit – die feministische Revolution in Iran, EU-Asylpolitik, Klimaneustart in Berlin gescheitert, aber nichts, nichts, nichts war rot.

»Der Rahmen, Jo, der Titel, die Schrift, alles rot, Mann, hast du das denn nicht gesehen, das hast du doch umgeblättert, das muss dir doch …« Die Worte schossen aus Wanja heraus wie aus einem geplatzten Wasserschlauch, und Jo zog die Augenbrauen hoch.

»Das ist nicht die BILD, sondern die taz, mein Kind. Da gibt es keine roten Schlagzeilen. Vielleicht ist dir ja die Tomatensoße zu Kopf gestiegen, aber ich würde jetzt gerne meinen Artikel zu Ende lesen.«

Mit diesen Worten nahm Jo die Zeitung wieder an sich, und Wanja sank zurück auf ihren Stuhl. Ihr Kopf drehte sich, aber ihr Bauch fühlte sich trotz der zwei Portionen Nudeln ganz leer an.

Fassungslos starrte sie auf die Rückseite der Zeitung, hinter der Jo erneut verschwunden war. Aber von einem roten Rahmen war keine Spur zu sehen. Nicht auf dieser Seite, nicht auf der nächsten und auch nicht auf den folgenden, die Jo im Laufe der nächsten halben Stunde umblätterte.

Schließlich stand Wanja auf und räumte mit mechanischen Handbewegungen den Tisch ab. Ohne Jos Gutenachtgruß zu erwidern, stieg sie die Treppe hoch in ihr Zimmer, legte sich ins Bett und starrte das Radio an. Um 23:44 Uhr, als Jo die Tür ihres Schlafzimmers hinter sich schloss, stand Wanja auf und schlich in die Küche.

Die Zeitung lag noch auf dem Tisch. Wanja faltete sie auseinander und fing an zu blättern. Verdammt, verdammt, verdammt, das konnte sie sich doch nicht eingebildet haben.

Fieberhaft durchwühlte sie die Seiten, den Sportteil, den Wirtschaftsteil, die Seiten mit den Immobilien, Nachrichten aus aller Welt, Kultur … da, die Seite mit der Theateraufführung.

Die schwarze Überschrift war immer noch da, auch das Bild der beiden Schauspieler und der begleitende Artikel – doch in seiner Mitte leuchtete jetzt wieder rot und unverkennbar: der Rahmen.

In Wanjas Brust löste sich etwas. Wie eine Brausetablette, die in einem Wasserglas aufsprudelt, breitete sich in Wanjas Innerem ein Kribbeln aus.

»VATERBILDER«. Nach 100 Jahren Pause zeigt der Hüter der Bilder noch einmal diese einzigartige Ausstellung. Zum ersten Besuchstag finde dich am Donnerstag, den 24. Mai, um 15:00 Uhr bei der roten Tür, Abteilung »Alte Meister«, in der Kunsthalle ein. Erscheine pünktlich und ohne Begleitung.

Wanja schaltete das Licht in der Küche aus und setzte sich wieder an den Tisch. Ihre Hand lag auf der Zeitung, ihre nackten Füße berührten den kühlen Küchenboden. Lange saß sie so, umgeben von Nacht und Stille. Der Mond, der durch das Küchenfenster leuchtete, würde in wenigen Tagen voll sein. In wenigen Tagen war der 24. Mai und Wanja fiel ein, dass an diesem Feiertag nicht nur Christi Himmelfahrt, sondern auch noch etwas anderes gefeiert wurde. Donnerstag, der 24. Mai, war Vatertag.

DIE ROTE TÜR

Und was macht ihr? Wanja, hallo, schläfst du seit Neustem im Stehen, oder bist du auf Traumreise?«

Wanja zuckte zusammen und starrte in Sues halb verwundertes, halb spöttisches Gesicht. Sie brauchte wirklich eine Weile, um aus ihren Gedanken aufzutauchen, die immer noch um die Kunsthalle kreisten, zu der sie gestern gefahren war, morgens, noch vor der Schule. Sie hatte nachsehen wollen, ob da die »Vaterbilder« angekündigt waren, obwohl sie insgeheim bereits vermutet hatte, dass sie da nichts finden würde. Und so war es auch gewesen. »Femme Fatale« lautete die aktuelle Ausstellung, von der auch Jo und Flora schon gesprochen hatten. Auf dem Weg die Außentreppe hinunter hatte Wanja versehentlich ein Mädchen angerempelt.

»Kannst du nicht aufpassen, blöde Kuh?!« Das Mädchen war umgeknickt und hatte sich gerade noch am Treppengeländer festhalten können. Sie trug Springerstiefel, zerrissene Shorts und eine khakifarbene Bomberjacke. Ihr langes braunes Haar war zu Braids geflochten. Sie hatte Wanja wütend angefunkelt, bevor sie an ihr vorbei die Treppe zum Eingang hochgeschossen war.

»Ob ihr morgen auch was macht, hab ich gefragt. Oder hast du dir ein Zimmer im Traumland reserviert?« Sue grinste noch immer, Tina kicherte, und Britta kam Wanja mit ihren Vatertagsplänen zuvor.

»Mein Paps fährt mit uns zum Pferderennen, und abends gehen wir essen. Meine blöde Schwester wollte lieber Ponyreiten, aber Paps hat gesagt, wenn ihr seine Pläne nicht passten, könne sie gerne zu Hause bleiben und ihren Saustall aufräumen.«

»Dafür könntet ihr ja mich mitnehmen«, schlug Tina vor. Sie liebte Pferde über alles, ihr Zimmer war von oben bis unten mit Reiterpostern tapeziert, und Wanja hätte nie für möglich gehalten, dass es so viele Pferdebücher gab, bis Tinas Bücherschrank sie vom Gegenteil überzeugt hatte.

Tina wickelte ihr Pausenbrot aus, klappte es auf und prüfte kritisch den Belag. »Außerdem kann mein Vater morgen nicht, weil er fahren muss.«

Tinas Vater war Schaffner bei der Bundesbahn, und Wanja erinnerte sich, wie er sie vorletztes Jahr auf der Zugfahrt zu ihrer Oma und zu Uri kontrolliert hatte. Er war ein gemütlicher Mann, dessen Gesicht so rund war wie seine randlose Brille, hinter deren dicken Gläsern zwei freundliche Augen hervorschauten.

Da Tina ihrem Vater ziemlich ähnlich sah, hatte Wanja ihn bereits erkannt, bevor sie seinen Nachnamen auf dem angesteckten Namensschild las. Als sie ihm mitteilte, dass sie mit seiner ältesten Tochter in eine Klasse ging, war sein Gesicht vor Freude ganz rot geworden. Er hatte Wanja kräftig die Hand geschüttelt, ihr eine Fanta aus dem Speisewagen an den Platz gebracht und war alle halbe Stunde bei ihr vorbeigekommen, um sich nach ihr zu erkundigen.

Sues Pläne für Christi Himmelfahrt waren den anderen offensichtlich schon bekannt, und gerade als sie Wanja zum zweiten Mal fragte, was Jo und sie denn nun eigentlich vorhatten, klingelte es zur nächsten Stunde.

Jo musste Donnerstag arbeiten, das hatte sie Wanja bereits angekündigt, und zum ersten Mal seit Langem war Wanja froh gewesen, dass ihre Mutter am Feiertag arbeiten musste.

Doch am Vatertagsmorgen änderte Jo ihre Pläne. »Du, ich gehe nur heute Morgen in die Agentur«, eröffnete sie Wanja am Frühstückstisch. »Und nachmittags fragen wir Flora, ob sie mit uns ins Kino geht!«

»Geht leider nicht.« Wanjas Antwort kam wie aus der Pistole geschossen, und Jo runzelte verständnislos die Stirn.

»Ich will heute Nachmittag in die Kunsthalle«, fügte Wanja hinzu.

»In die Kunsthalle?« Jetzt war Jo richtig erstaunt. »Was willst du denn im Museum?«

»Wir, also …« Wanja angelte nach ihrer Haarsträhne. »Wir machen in der Schule so ein Projekt mit Alten Meistern.«

»Aha. Na, ihr macht ja wirklich eine Menge Projekte in letzter Zeit. Aber … warte mal.« Jo blätterte hastig in der Zeitung, die noch auf dem Tisch lag. »Gibt es in der Kunsthalle nicht auch noch diese Ausstellung? Ja … hier … »Femme Fatale«. Weißt du, was?« Jo strahlte Wanja an.

»Da komm ich mit! Und Flora bestimmt auch. Ich ruf sie gleich von der Arbeit aus an. Wir treffen uns um halb vier am Eingang, ja?«

Wanja versuchte verzweifelt, ihre Anspannung zu verbergen. »Ich muss aber früher hin«, sagte sie so beiläufig wie möglich. »Weil nachmittags … bin ich noch mit Britta verabredet. Zum Eisessen.«

»Okay, Mausel.« Jo griff nach ihrem Mantel und zupfte Wanja am Ohrläppchen. »Halb drei dann. Das schaff ich bestimmt auch, und so lange wird Britta ja wohl warten können. Wieso kommt sie eigentlich nicht mit, wenn es ein Schulprojekt ist?«

Zum Glück verschwand Jo, ohne Wanjas Antwort abzuwarten, und Wanja hoffte inständig, dass ihre Mutter es doch nicht schaffen würde, ihre Arbeit rechtzeitig zu beenden. Aber Jo kam auf die Sekunde pünktlich. Wer dagegen um Viertel vor drei noch immer nicht am Eingang des Museums stand, war Flora.

Gerade als Wanja bei Jo durchgesetzt hatte, schon alleine vorzugehen, kam Flora in ihrem roten Ledermantel die Treppe hochgelaufen.

»Ich war noch mit Julien unterwegs«, entschuldigte sie sich und erwiderte das Lächeln eines Mannes, der gerade an ihr vorbei zum Eingang ging. Jo verdrehte die Augen. »Du kannst es nicht lassen, was?«

Wanja sah zum hundertsten Mal auf die Uhr und stieß Jo den Ellenbogen in die Seite. Wenn es jetzt nicht auf der Stelle vorwärtsging, würde sie die beiden auf der Treppe stehen lassen.

»Ist ja gut, Mumpitzel.« Jo hakte sich bei Wanja ein. »Wir gehen ja schon.«

Die Kunsthalle, die Mitte des 19. Jahrhunderts erbaut worden war, hatte vor einiger Zeit einen modernen Anbau bekommen. Er nannte sich Galerie der Gegenwart und erinnerte Wanja von Weitem an einen hellen Riesenlegostein. Zwischen den beiden Gebäuden befand sich ein großer Platz, den Jugendliche zum Skateboardfahren nutzten. An den Wochentagen war es hier meistens leer, aber an Sonn- und Feiertagen war immer viel los.

Als Wanja die lange Warteschlange vor der Kasse sah, stöhnte sie auf. »Das dauert ja ewig.«

»In ein paar Minuten sind wir dran«, tröstete Flora und deutete grinsend auf einen etwa zweijährigen Jungen, der sich zielstrebig auf eine alte Badewanne zubewegte. Seitlich gekippt lag sie in der Eingangshalle, vor ihr – stellvertretend für einen Fußabtreter – war eine aufgeschlagene Tageszeitung ausgebreitet, darauf stand ein pinkfarbener Plastikeimer.

»HAAALT!« Der kleine Junge, der gerade versuchen wollte, in die Wanne zu steigen, wurde im letzten Moment von einer Aufseherin zurückgerissen. Sie hatte hochtoupierte Haare, wie die Frauen aus den 60er-Jahren. »Beehive« nannte man diese Frisur, was auf Deutsch »Bienenkorb« hieß. Das hatte Flora Wanja einmal erzählt.

»Um Himmels willen, das ist Kunst!«, kreischte die Aufseherin, worauf sie der Kleine mit weit aufgerissenen Augen anstarrte. Im nächsten Moment fing er aus voller Kehle zu schreien an, und vor Wanja drehte sich erschrocken eine junge Frau um. »Fabian!« Sie lief auf den Kleinen zu, nahm ihn auf den Arm und machte eine entschuldigende Geste.

»Das ist kein Spielplatz«, schimpfte die Aufseherin, »sondern eine Kunsthalle! Jan Boisen bringt mich um, wenn hier kleine Kinder in seinem Lebenswerk herumklettern!«

Wanja musste lachen, während es in Jos Augen gefährlich funkelte. »Das kann ja wohl …«, setzte sie mit lauter Stimme an, aber Flora legte ihr die Hand auf die Schulter. »Lass gut sein, das hat doch eh keinen Zweck, sich über so was aufzuregen.«

Jo wollte wütend etwas erwidern, aber Wanja drängte sie nach vorne zur Kasse. »Los, Jo, wir sind dran!«

Als sich Wanja hinter Jo und Flora durch die Eingangstür schob, konnte sie es kaum noch aushalten.

»Wir treffen uns dann später, okay?«, sagte sie und wollte sich gerade aus dem Staub machen, als Flora ihre Hand festhielt. »Warte mal, ich komm noch mit, und sag dir was zu den Bildern.«

Wanja warf einen verzweifelten Blick auf ihre Armbanduhr. »Nee, lass mal«, wehrte sie ab und versuchte, ihrer Stimme einen möglichst ruhigen Klang zu geben. »Wir sollen uns die Bilder allein anschauen, verstehst du? Ich komm dann später zu eurer Abteilung nach.«

Flora sah sie aus ihren klaren Augen an und nickte. »Eine gute Idee. Dann kannst du mir ja erzählen, was du empfunden hast. Konzentrier dich auf die Bilder, die dir besonders gefallen, das ist leichter, als wenn du versuchst, sie alle in dich aufzunehmen.«

Mit einem kurzen Kopfnicken machte sich Wanja los und rannte die lange Treppe hinauf, die zur Abteilung »Alte Meister« führte. Die lag im rechten Teil des Museums und war in verschiedene Räume unterteilt.

Als Wanja durch die große Tür in den ersten Raum trat, war es eine Minute vor drei. Mit klopfendem Herzen sah sie sich um. Wo zum Teufel sollte sie hier eine rote Tür finden? Die türlosen Rahmen waren alle braun – und das einzig Rote in diesem ganzen Raum waren die Gewänder der Figuren auf den Heiligenbildern.

Die Abteilung war gut besucht, und Wanja fiel auf, dass außer ihr noch weitere Jugendliche ohne Eltern unterwegs waren. Genau wie sie selbst schienen sich auch die anderen suchend umzusehen.

Nervös drängte sich Wanja an einer Reisegruppe vorbei, der ein Museumsführer gerade die Farbkomposition eines Jesusbildes erklärte. Dabei stieß sie fast an einen blassen Mann mit kurzen Hosen und knielangen Tennisstrümpfen. Er stand am Rand der Gruppe und hielt ein kleines Mädchen an der Hand.