Whisper - Isabel Abedi - E-Book + Hörbuch

Whisper Hörbuch

Isabel Abedi

4,8

Beschreibung

Eine unwirkliche Stille liegt über dem alten Haus Whisper, drückend und gefährlich. Als Noa es das erste Mal betritt, ist sie gleichermaßen ergriffen von Furcht und neugieriger Erwartung. Doch niemand außer ihr scheint zu spüren, dass das alte Gebäude ein lang gehütetes Geheimnis birgt ...

Das Hörbuch können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS

Zeit:7 Std. 55 min

Sprecher:Nina Petri

Bewertungen
4,8 (96 Bewertungen)
81
15
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Isabel Abedi

Weitere Titel von Isabel Abedi im Arena Verlag: Isola (ISBN 978-3-401-06048-4) Lucian (ISBN 978-3-401-06203-7)

Isabel Abedi

Whisper

Für Inaié

Veröffentlichung als E-Book 2010 © 2005 Arena Verlag GmbH, Würzburg Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung und -typografie: FAVOURITBUERO, München

Paint the Sky with Stars

Suddenly before my eyesHues of indigo ariseWith them how my spirit sighsPaint the sky with stars

Only night will ever knowWhy the heavens never showAll the dreams there are to knowPaint the sky with stars

Who has paced the midnight sky?So a spirit has to flyAs the heavens seem so farNow who will paint the midnight star?

Night has brought to those who sleepOnly dreams they cannot keepI have legends in the deepPaint the sky with stars

Who has paced the midnight sky?So a spirit has to flyAs the heavens seem so farNow who will paint the midnight star?

Enya

EINS

Ich hasse, hasse, hasse ihn! Er nimmt mich mit in dieses Haus wie etwas, das ins Gepäck gehört, nicht, weil es schön ist, sondern, weil es mitmuss, ein notwendiges Übel wie ein sperriger Regenschirm. Notwendig bin ich nicht, aber ein Übel werde ich sein, darauf kann er Gift nehmen.

Eliza, 3. Juli 1975

Als Kat singend von der waldumsäumten Bundesstraße in die schmale Zufahrtsstraße bog, sah Noa zum ersten Mal das Dorf. Eingebettet in blassgelbe Weizenfelder und sattgrüne Wiesen, lag es ihnen zu Füßen. Eine beinahe unwirkliche Stille schien es zu umgeben. In der Luft hing ein Geruch von Regen, obwohl der Himmel blau war und sich kein Wind regte, kein Halm sich in der hoch gewachsenen Weide neben ihnen rührte.

Noch lange Jahre später würde Noa sich an diesen ersten Anblick erinnern, an dieses seltsame Gemisch aus Erwartung und Widerwillen, das in jenem Moment in ihr aufstieg, und an das, was Sekunden darauf geschah. An Pancakes klägliches Maunzen, das Kratzen ihrer stumpfen Krallen, die sich einen Weg aus dem Korbgefängnis suchten, und an Gilberts schrillen Schrei, der Kats Gesang durchschnitt wie ein Messer. Aber es war zu spät. Kat konnte nicht mehr bremsen, und als im nächsten Moment das Reh mit glasigen, gebrochenen Augen vor ihnen auf der Straße lag, beendete Noa ihr seit fünfeinhalb Stunden verbissen eingehaltenes Schweigen.

»Kat, Scheiße, Kat, du hast es umgebracht!«

Kat hob die Arme und senkte sie wieder in einer hilflosen Geste, dann blickte sie sich zu ihrem Freund Gilbert um, der vor der Beifahrertür stand und fassungslos auf das tote Tier starrte. Es war ein ausgewachsenes, aber dennoch junges Reh, was Noa am Gesicht und auch an der samtigen Glätte des Fells zu erkennen glaubte. Cremefarbene Tupfer musterten den beigebraunen Rücken, das Bauchfell war von einem fleckenlosen, fast milchigen Weiß, und während die dunklen Knopfaugen reglos in den Himmel starrten, war die schwarze Nase noch feucht, als hielte sich das Leben an ihr fest. Sie glänzte fast so intensiv wie das Blut, das als feine rote Spur unter dem Kopf des Tieres hervor auf das Straßenpflaster rann. Voll Scham ertappte sich Noa bei dem Wunsch, das Reh fotografieren zu wollen.

»Wir müssen es von der Straße schaffen«, sagte sie schließlich. Ruhig und klar klang ihre Stimme, während Kat, die laute, schillernde Kat, ihrer Tochter schweigend zunickte, sich die kupferroten Locken hinters Ohr strich und das Tier bei den Vorderpfoten griff. Gilbert tat nichts. Er stand nur da, sein massiger Körper bewegungslos, das runde Gesicht bleich wie der Mond.

Noa nahm das Reh an den Hinterbeinen und hob es gemeinsam mit Kat an, um es an den Straßenrand zu legen. Verwundert stellte Noa fest, dass es schwer war, fast so schwer wie ein Mensch.

»Wir sollten es beerdigen«, flüsterte Kat, als sie sich wieder zum Auto wandten. »Sollten ihm die letzte Ehre erweisen, dem armen Wesen.«

Auch Hitchcock stimmte jetzt in Pancakes Katzengejammer ein. Sein Maunzen war dunkler, kehliger; es klang in Noas Ohren wie eine Zustimmung zu dem, was Kat gesagt hatte. Aber wo sollten sie das Reh beerdigen? Dazu hätten sie es erst einmal mitnehmen müssen und das war unmöglich. Kats grüner Landrover war bis zum Anschlag gefüllt mit Kleiderkoffern, Bettwäsche, Mänteln und Gummistiefeln, mit Gilberts Bücherkisten, seinen tausend Teesorten, der dicken Buddhafigur, Kats Edelstahltöpfen, Pfannen und Messern, Noas Fotoausrüstung und dutzenden von Dingen mehr.

»Wir können später herkommen und es holen«, gab sich Kat selbst zur Antwort, als sie alle wieder im Wagen saßen. »Ja, so machen wir es, wir kommen später her und holen es. Irgendjemand kann uns sicher sagen, wohin wir es bringen können.« Kat schüttelte ihre Locken, atmete durch – und war wieder ganz die Alte. »Okay. Wollen uns durch so was nicht die Ferien vermiesen lassen. Und wenigstens ein Gutes hatte es ja: Meine beleidigte Tochter spricht wieder mit mir. Was sagst du dazu, Gilbert?«

Gilbert sagte gar nichts und Noa verdrehte die Augen, aber Kat lachte ihr glockenhelles Lachen, schlug Gilbert mit ihrer kräftigen Hand, die auf den ersten Blick so gar nicht zu ihrem Äußeren passte, auf den Oberschenkel und ließ den Motor an. So war Kat, sie konnte Dinge einfach wegatmen, wie einen Frosch im Hals herunterschlucken – und fort waren sie, als wären sie nie da gewesen.

Auch Noa richtete den Blick nach vorn, aber ihr war, als blicke das Reh nicht mehr zum Himmel, sondern ihr nach – ihr, Gilbert und Kat, wie sie mit deutlich gedrosselter Geschwindigkeit die schmale Zufahrtsstraße hinab zum Dorf fuhren.

Unser Dorf soll schöner werden hieß es auf einem Schild an der rechten Straßenseite, auf das Kat jetzt lachend zeigte. »Da kommen wir ja gerade recht. Mensch, Gilbert, krieg dich wieder ein, solche Dinge passieren, verstehst du? Sie passieren im Film, sie passieren in Büchern, warum sollte man sie nicht auch in Wirklichkeit erleben? Ich meine, das ist doch authentisch, findest du nicht?«

»Es bringt Unglück, verflucht.« Gilberts Stimme klang hysterisch. »Es bringt Unglück, Kat! In Filmen, wenn so eine Szene am Anfang steht, dann weißt du haargenau, was anschließend passiert.«

»Ach was, Fluchen bringt auch Unglück – und jetzt freu dich gefälligst, wir sind da!«

Kat legte ihren Handballen auf die Hupe, drückte dreimal schnell hintereinander darauf, was Noa mit einem scharfen Ausatmen begleitete. Konnte ihre Mutter sich nicht ein einziges Mal zurückhalten? Reichte es nicht, dass sie spätestens ab morgen das Gesprächsthema dieses Dorfes sein würde? Mittlerweile waren sie im Unterdorf angekommen, doch Kats lautstarke Ankündigung blieb zunächst unbeantwortet. Die Dorfstraße war menschenleer. Gegenüber einer verlassenen Kneipe stand eine Telefonzelle und Kat fuhr so langsam, dass Noa sehen konnte, dass hier noch mit Münzen gezahlt wurde. Am Straßenrand reihten sich die Häuser aneinander. Graue, beige, blassbraune, wie von der Sonne ausgeblichene Klinkerkästen waren es, mit zugezogenen Vorhängen oder gänzlich verschlossenen Rollläden. Wie ausgestorben wirkten sie und das Dorf, das Noa noch vor wenigen Minuten wie eine gemusterte Decke im Grünen vorgekommen war, schien jetzt einen Hauch von Feindseligkeit auszuatmen.

Erst ein paar hundert Meter weiter, im Oberdorf, wurde es einladender. Die zweite Kneipe, an der sie jetzt vorbeifuhren, wirkte verglichen mit der ersten geradezu freundlich. Gaststätte Kropp stand in hellgrüner Leuchtschrift auf dem blitzblanken Türschild. In den Blumenkästen vor den Fenstern prangten Stiefmütterchen, sogar vor dem obersten, das wie ein Auge unter dem Dach hervorlugte. In die geöffnete Tür trat eine hagere Frau mit schlohweißem Haar. Wie ein Kranz umrahmte es ihr dünnes Gesicht. Ihre linke Hand umklammerte den Griff eines schwarzen Gehstockes. Kerzengerade blieb die Frau im Türrahmen stehen und starrte ihnen nach. Kat hupte zweimal, aber als sich Noa umdrehte, war die Frau schon wieder hinter der Tür verschwunden.

Auf der linken Straßenseite trieb ein Bauer mit schlammverschmierten Gummistiefeln seine Kühe vor sich her, sieben Stück, alle schwarzweiß gefleckt mit trägen Gesichtern und dicken Eutern, die beim Gehen hin und her schwankten. Als Kat langsam den Wagen an ihnen vorbeisteuerte, muhte eines der Tiere und der Bauer hob die Hand. Seine Nase sah aus wie eine Kartoffel und in seinem halb geöffneten Mund schien die Hälfte der Zähne zu fehlen. Unwillkürlich legte sich Noas Hand auf ihren Fotoapparat und diesmal schämte sie sich nicht.

»Ich glaube, das war Hallscheit, unser Vermieter«, sagte Kat.

»Genau so hat mein Assi ihn beschrieben. Das Dorf übrigens auch. Phantastisch, das ist hier wie im Bilderbuch, jetzt bin ich nur noch gespannt aufs Haus.«

Kats Assi war ein Filmstudent, der sie nicht nur bei den Dreharbeiten betreute, sondern der auch sonst allen möglichen Kram für sie erledigte. Letzte Woche war er hier gewesen, um die Verträge zu unterschreiben und für Kat den Schlüssel zu besorgen. Noa konnte es immer noch nicht fassen, dass Kat dieses Haus auf Dauer gemietet hatte, ohne es auch nur einmal zu besichtigen.

Gilbert drückte auf den Knopf, um das Fenster zu öffnen. Ein Geruch von frischem Kuhmist drang ins Auto und Pancake stieß erneut ein klägliches Gejammer aus, während Hitchcock neben ihr zu fauchen anfing.

»Ist ja gut, ihr Süßen, wir haben’s gleich«, rief Kat nach hinten.

»Dann könnt ihr dicken, fetten Stadtkatzen mal erleben, was es heißt, euch euer Essen selbst zu jagen. Frisches Mausefilet vom Land, was haltet ihr davon? Gil, schaust du mal auf die Beschreibung? Am Ende der Straße links, dann rechts und wieder links, ist es das?«

Gilbert nickte und zwei Minuten später bremste Kat vor einer geschlossenen Toreinfahrt. Es war ein einfaches Tor aus Draht und Holz, das in den eisernen Angeln zweier Pfähle steckte. Dahinter, umgeben von einem großen, fast kreisrunden Gartengrundstück voller Wiesenblumen, Walnuss-, Laub- und Obstbäumen, war das Haus.

Das Haus, das Noa später Whisper taufen würde.

Lange nachdem jener Sommer vorüber war, hörte Noa Kat einmal sagen, ein Haus, in dem solche Dinge geschähen, müsste anders aussehen. Es müsste ein Haus mit verwinkelten Zimmern und düsteren Sälen sein; ein Haus mit hohen Wänden, die einem beim leisesten Geräusch das eigene Echo entgegenwarfen; ein Haus mit langen, sich windenden Fluren, mit knarrenden Treppen und geheimnisvollen Ecken … Jeder Regisseur hätte ein solches Haus ausgewählt, womöglich mit Sitz in Schottland oder England, weit abgelegen und mit Blick auf menschenleere Landschaften.

Whisper hatte nichts von alledem. Es war ein schlichtes, zweigeschossiges Fachwerkhaus mit bröckelnder Fassade, grünen Moosflecken auf dem schwarzen Dach und einer angebauten Scheune direkt hinter dem Haupthaus. Sein Alter sah man ihm ebenso wenig an wie das dunkle Geheimnis, das es barg. Aber es war genau das, was Kat gewollt hatte – und was Kat wollte, bekam sie, das war ein ungeschriebenes Gesetz.

Als Noas Mutter aus dem Auto stieg und sich mit in die Hüften gestemmten Armen umsah, stieß sie Schreie der Begeisterung aus, was einen dicken Spatz über ihr erschrocken aus dem Walnussbaum flattern ließ. Auch auf Gilberts Gesicht stahl sich die Farbe zurück und auf seinen runden Wangen breitete sich ein Lächeln aus, das Noa an ein glückliches Kind denken ließ.

»Fünfhundert Jahre«, rief Kat mit übertriebener Ehrfurcht und legte ihre flache Hand auf einen schwarzen Holzbalken. »Unsere neue Ferienhütte ist fünfhundert Jahre alt. Ja, Wahnsinn. Ich könnte ausrasten vor Glück!«

»Das tust du doch schon«, stellte Noa nüchtern fest und nickte mit dem Kopf zum Nachbarhaus, wo das Gesicht einer Frau hinter einer halb geöffneten Gardine hervorlugte. »Und deine ersten Zuschauer hast du auch schon. Fühl dich ganz wie zu Hause, Kat.«

Kat warf lachend ihre Locken nach hinten und Noa hievte den Katzenkorb vom Rücksitz. »Kann ich die beiden rauslassen?« »Warte.« Kat hob die Hand und kramte in der Tasche ihres roten Ledermantels nach den Schlüsseln, die ihr Assistent für sie besorgt hatte. »Warte noch einen Augenblick, lass uns die beiden erst mal im Haus aussetzen. Die zwei Stadtneurotiker sind das nicht gewohnt, nicht dass die uns stiften gehen. Ich habe keine Lust auf noch mehr Tote in diesem Urlaub.«

Die braune Eingangstür öffnete sich ächzend wie unter großer Anstrengung und klemmte, kaum dass sie halb geöffnet war, sodass sich Gilbert regelrecht ins Haus quetschen musste. Als Nächstes schob sich Kat durch die Tür und zuletzt Noa mit dem Katzenkorb in ihrer Hand. Der Flur war so winzig, dass sie sich aneinander drängen mussten. Er hatte einen alten Kachelboden, neben der Haustür gab es eine Holzgarderobe und vor dem Treppenaufsatz einen Schirmständer. Aber was Noa am stärksten wahrnahm, war dieser Duft. Ja, es duftete … nach Parfüm, nach Frauenparfüm; würzig, ein wenig süß und so intensiv, als wäre jemand, der diesen Duft frisch aufgetragen hatte, gerade an Noa vorbeigegangen. Irritiert musterte sie die beiden anderen. Gilbert konnte es nicht sein und Kat benutzte einen Männerduft von Jean Paul Gaultier. Ob jemand vor ihnen hier gewesen war, um nach dem Rechten zu sehen? Vielleicht die Frau des Bauern? Das wäre natürlich möglich, aber dennoch … dieser Duft passte nicht hierher, passte noch viel weniger hierher als sie, Noa, und Gilbert und vor allem Kat. Hatten sie denn nichts gerochen? Gerade, als Noa die beiden darauf ansprechen wollte, war der Duft verschwunden. Verflogen, als wäre er nie da gewesen. Kopfschüttelnd folgte Noa ihrer Mutter und Gilbert in die Küche, wo es jetzt genauso roch, wie es in einem alten, unbewohnten Bauernhaus riechen sollte: nach Staub und eingesperrter Luft, nach toten Mäusen und ein bisschen auch nach Einsamkeit. Plötzlich fröstelte Noa. Es war kalt in diesem Haus, kalt und klamm, als hätte es den Sommer ausgesperrt.

Aus dem Katzenkorb drang ein klägliches Maunzen. »Jetzt, Kat?«, fragte Noa. »Kann ich die beiden jetzt endlich rauslassen?«

»Ja, ja, mach nur.« Kat hatte ihre Tasche auf dem Küchentisch abgelegt und war schon weitergerauscht, durch die hintere Küchentür in einen noch kälteren Flur, der in den Kohlenkeller überging. Ein weiterer Keller verbarg sich hinter der verwitterten Holztür, die links neben dem Kücheneingang abging. Noas Augen blitzten flüchtig auf, denn hier – damit hatte Kat ihr den Mund wässrig gemacht – würde sie ihre Dunkelkammer einrichten.

Doch jetzt mussten erst mal die Katzen aus ihrem Gefängnis. Der rabenschwarze Hitchcock stolzierte als Erster aus dem Korb. Würdig wie ein alter Herr inspizierte er die neue Umgebung. Pancake robbte ängstlich maunzend hinterher und Noa grinste. Ja, Pancake war wirklich ein Pfannkuchen, ein dicker, fetter, kugelrunder Pfannkuchen, rot getigert und so ausladend, dass die plumpen Pfoten unter all dem Speck kaum noch zu sehen waren. »Na, Dicke, hier sind wir also. Willkommen im Exil.«

»Ach, komm schon, sei nicht so streng, Kleines.« Gilbert legte seinen Arm um Noa. »Wir machen uns das nett im schönen Westerwald, und wenn Kat nervt, sperren wir sie in den Kohlenkeller.«

Noa lehnte ihren Kopf an Gilberts Schulter. Auf der kurzen Liste der Pluspunkte für diesen Zwangsurlaub kam Kats ältester Freund direkt nach der versprochenen Dunkelkammer und der nagelneuen Spiegelreflexkamera. Kat dagegen stand ganz oben auf der Minusliste. Es war nicht die ländliche Gegend. Es war die Vorstellung, wochenlang auf engem Raum mit Kat zusammen sein zu müssen, die an Noas Innerem nagte. Schon jetzt breitete sich die Anwesenheit ihrer Mutter aus, nahm Besitz von jedem Winkel, füllte die Zimmer bis an die niedrigen Decken und drängte alles andere in den Hintergrund, selbst den massigen Gilbert, der das gar nicht zu bemerken schien.

»So, hier unten ist also mein Reich«, rief er aus den beiden Räumen, die gleich neben der Küche lagen. Eigentlich waren es eher Kammern als Räume, zwei ineinander übergehende Kammern, mit übel verschmutztem Holzboden, abblätternden Tapeten und einer nackten Glühbirne, die eine einfache Möblierung beleuchtete: einen hellen Bauernschrank, zwei abgewetzte Polstersessel und ein blau gestrichenes Bauernbett.

Gottes Segen sei mit dir, stand in altdeutscher Schrift hinter einem verstaubten Glasrahmen, der über dem Kopfende des Bettes hing, und zum zweiten Mal seit ihrer Ankunft musste Noa lachen. Schon allein des Spruches wegen waren diese Räume für Gilbert wie geschaffen.

Noa und Kat würden oben schlafen, das hatten sie bereits besprochen, als sie sich vom Bauern den Grundriss hatten schicken lassen. Von knarrenden Treppen, sich windenden Fluren und verwinkelten Ecken konnte auch hier oben keine Rede sein. Auf der leicht geschwungenen Holztreppe, die in die erste Etage führte, gab lediglich die zweitoberste Stufe ein morsches Geräusch von sich. Der Flur, von dem die Schlafräume, das Wohnzimmer und der verschlossene Dachboden abgingen, war nicht viel größer als der Eingangsflur. Das einzige Möbelstück darin war ein altes Regal voller Bücher und der Blick aus den niedrigen Fenstern reichte nicht weiter als über die Bäume im Garten bis zum nächsten Grundstück.

Kat bekam die beiden großen Zimmer, die links vom Flur abgingen, und Noa das kleine, quadratische auf der rechten Seite. Es lag direkt hinter dem Wohnraum und war genau wie das von Gilbert mit dem Nötigsten ausgestattet. Noas Blick wanderte vom dunkelbraunen Bauernbett zum schmucklosen Sperrholzschrank bis zu dem Sofa, das aus ein paar Matratzen zusammengebaut worden war. An der Wand neben dem Fenster lehnte ein Spiegel. Auch hier dellten sich die vergilbten Tapeten – ursprünglich waren sie wohl weiß gewesen, weiß mit winzigen roten Rosen – und von einer Stelle an der Decke bröckelte der Putz. Na, wunderbar. Das würde jede Menge Arbeit geben.

Noa setzte ihre Reisetasche ab, fuhr sich mit der Hand durch das schulterlange schwarze Haar und ging auf den Spiegel zu. Eine dicke Staubschicht trennte sie von ihrem Spiegelbild. Mitten auf den Spiegel, es war noch deutlich erkennbar, hatte jemand ein Wort geschrieben. Schneewittchen.

Leuchtend rot schimmerten die Buchstaben unter der dicken Staubschicht hervor und Noa starrte das Wort an, bis ein lautes Schnurren sie zusammenfahren ließ. Pancake steckte ihren dicken Kopf durch die Tür und ließ sich mit einem plumpen Satz auf dem Matratzensofa nieder. Sie leckte sich die Pfoten und maunzte Noa hungrig an, als wollte sie fragen: »Wann gibt es endlich was zu fressen?«

»Okay, Leute, lasst uns die wichtigsten Dinge auspacken, die Öfen startklar machen und dann schauen wir mal, was die Dorfkneipe zu bieten hat«, dröhnte Kats Stimme durch die Wand. Noa stöhnte. So hellhörig wie die Räume waren, würde sie Kats Rolle für den neuen Spielfilm am Ende des Sommers wahrscheinlich mitsingen können. Kat war Schauspielerin, eine der wenigen, die es »geschafft« hatten, wie Gilbert das nannte.

Ihr letzter Kinofilm Bis aufs Blut, ein Liebesdrama, das im Dritten Reich spielte, hatte Kats Gesicht auf die Titelbilder sämtlicher Zeitschriften befördert. Die Presse nannte sie »Katharina die Große« und es verging keine Woche, in der nicht mindestens ein Reporter für ein Interview bei ihnen anrief. Kat liebte das, öffnete jedem Fotografen die Tür – alle Türen, einmal sogar die zu Noas Zimmer, wofür Noa ihre Mutter drei Tage lang mit eisigem Schweigen bestraft hatte. Seither schloss Noa ihr Zimmer ab. Aber hier gab es keine Schlüssel.

Und auspacken würde Noa auch nicht. Es hatte überhaupt keinen Sinn. Der Schrank war so staubig, dass Noa beschloss fürs Erste nur das Bett zu beziehen. Als sie anschließend in die Küche ging, um sich einen nassen Lappen für den Schrank zu besorgen, kam so eisig kaltes Wasser aus der Leitung, dass Noa zurückzuckte.

Sie setzte sich in Gilberts Kammer aufs Bett und sah aus dem Fenster. Draußen hatte es bereits zu dämmern begonnen und Noa war erstaunt, wie schnell sich das bleiche Grau in Dunkelheit verwandelte. Licht gab es nur in diesem Zimmer, hinten im Bad und im Wohnraum, wo Kat versuchte den Ofen in Gang zu kriegen.

»Bis wir dieses Haus halbwegs bewohnbar gemacht haben, wird unser erster Urlaub hier vorbei sein«, jammerte Gilbert.

»Hätte Kat uns nicht ein bisschen mehr Luxus gönnen können?«

Er hatte einige seiner Edelhemden in den Schrank gehängt und war gerade dabei, einen geeigneten Platz für seinen Buddha zu finden. Schließlich entschied er sich seufzend für die halbwegs vom Staub befreite Fensterbank. Davor auf dem Boden stapelten sich seine Teedosen und die Bücherkisten standen geöffnet neben der Tür.

Gilbert rückte seine runde Brille gerade und sah sich kopfschüttelnd um. Er war dreiundfünfzig, auf den Tag genau zwanzig Jahre älter als Kat, aber Noa fand, dass man ihm sein Alter nicht ansah. Sein Gesicht zog sich nur in Falten, wenn er lachte, seine hellblauen Augen strahlten meist wie die eines kleinen Jungen und sein rotblondes Haar schimmerte so seidig, als mache er Werbung für Haarkuren. Jetzt allerdings hatte sich jede Menge Staubflusen darin festgesetzt und auf Gilberts Stirn prangte ein Schmutzstreifen.

»Dabei hätte ich meine Schätzchen so gerne ins Regal gestellt«, brummte er und wischte sich die Hände an der Jeanshose ab.

»Aber das muss wohl erst noch gebaut werden. Das Bücherregal oben im Flur ist ja bereits von unseren Vorgängern in Beschlag genommen worden, und wie ich Kat kenne, will sie sich von dem Kram da oben bestimmt nicht trennen.«

Das Bücherregal im Flur hatte Noa noch nicht begutachtet, aber Gilberts Schätzchen kannte sie nur allzu gut. Sie hießen Der kosmische Bestellservice, Wünsche ans Universum, Das Gummibärchenorakel, Du und dein Krafttier oder auch Das Handbuchder Parapsychologie. Letzteres legte Gilbert auf sein Bett, er hatte es schon auf der Fahrt zu lesen begonnen, es war ein dreihundertseitiger Wälzer über Geisterbeschwörungen, spiritistische Sitzungen und hellsichtige Träume, den Gilbert spätestens übermorgen zu Ende gebracht haben würde.

Gilbert fraß Bücher, wie Kat es ausdrückte. Esoterische Bücher – mit den unmöglichsten Titeln und noch unmöglicheren Inhalten. Ihretwegen hatten er und Kat sich kennen gelernt, vor dreizehn Jahren in Gilberts spiritueller Buchhandlung, als Kat in einer Spielfilmserie eine auferstandene Tote spielen sollte und Hintergrundmaterial für ihre Rolle suchte. Noa war drei Jahre alt gewesen, als Kat damals mit ihr in Gilberts Buchhandlung gegangen war. Während Noa auf der Leselok in der winzigen Kinderbuchecke gehockt war und in Bilderbüchern geblättert hatte, ließ Kat sich von Gilbert beraten, lachte ihn dabei immer wieder aus und lud ihn anschließend zum Essen ein. Denn trotz seiner »Esomacke«, mit der Kat ihn auch heute noch aufzog, war Gilbert der intelligenteste Mann, dem Noas Mutter je begegnet war – was bei Kats wechselnden Affären etwas heißen wollte. Wie viele Männer in Noas sechzehnjährigem Leben durch Kats Schlafzimmer ein und aus gegangen waren, konnte Noa nicht mehr zählen. Und wollte es auch nicht. Gilbert war schwul, wofür ihm Noa dankbar war. Denn so würde er Kats Freund bleiben und Noas Vaterersatz. Oder Mutterersatz, wie Gilbert lachend zu sagen pflegte.

»So, Leute, der Ofen ist an, lasst uns was essen gehen.« Kat stand in der Tür, die Hände in die Hüften gestemmt, und hatte ihren typischen, entschlossenen Gesichtsausdruck aufgesetzt, der keine Widerrede duldete. Mittlerweile war es draußen so dunkel, dass die Küche hinter ihrem flammenden Haar verschwand wie ein schwarzes Loch.

Im Flur neben der Tür standen die frisch gefüllten Katzennäpfe. Die Erlaubnis zum Mäusejagen würde Kat wohl doch auf später verschieben. Pancakes gieriges Schmatzen erfüllte den Flur, aber als Noa in den Garten trat, empfing sie Stille. Die Gardinen des Nachbarhauses waren jetzt zugezogen und nur in der Ferne bellte ein Hund.

Während Gilbert die Tür abschloss und Kat geräuschvoll die klare Landluft einatmete, schaute Noa auf die Laterne vor dem Haus. Ihr gelbes Licht flackerte, als würde es vom Wind bewegt, und es war in diesem Moment, dass Noa zum ersten Mal das Gefühl hatte, dass jemand sie ansah. Jäh wandte sie den Kopf und blickte zurück zum Haus. Aber die Lichter waren aus, die Fenster dunkel. Noa versuchte das Gefühl zu verdrängen, es herunterzuschlucken, wie Kat es immer tat. Doch Noa war nicht Kat, und während sie ihrer Mutter und Gilbert auf dem schmalen Weg zum Gartentor folgte, blieb ihr das Gefühl im Hals stecken.

ZWEI

Es ist, als ob er seine Worte zu Hause sparen würde, um sie draußen auszuteilen. Die Dorftrottel in der Kneipe kleben schon jetzt an seinen Lippen wie die Bienen am Honig. Der Herr Doktor aus der Stadt mit seiner schönen Tochter. Ich sage kein einziges Wort. Mein Gesicht ist aus Glas und ich wünsche mir, dass sich jemand daran schneidet.

Eliza, 5. Juli 1975

Am Himmel tauchten schon die ersten Sterne auf. Wie silbrige Punkte sprenkelten sie die Schwärze über dem Dorf. Noch immer war die Dorfstraße leer, aus einem Stall drang das leise Muhen einer Kuh und vom Bürgersteig, schräg gegenüber von der Kneipe, hörte Noa Stimmen. Stimmen von Jugendlichen, die an einer Bushaltestelle standen und ihnen den Rücken zukehrten. »Einen Kasten Bier, zwei Pullen Wodka-Redbull, das knall ich schon weg … « – »Erzähl keinen Scheiß, Alter, so dürre wie du bist, kippst du doch schon bei der ersten Pulle aus den Latschen …« – »Ey komm, Dennis, das musst du grad sagen, wer hat denn hier gestern auf die Weide gekotzt …«

Noa zwang sich wegzuhören und versuchte die Bilder, die vor ihrem inneren Auge aufstiegen, in den Hintergrund zu drängen. Aber es gelang ihr nicht. Die Bilder kamen, eins nach dem anderen und zuverlässig wie ungebetene Gäste: Kats in einen Partykeller verwandelte Garage mit dem flackernden Rotlicht. Svenja und Nadine, beide total betrunken. Die riesigen Boxen, die winzige Tanzfläche. Noa selbst in der Mitte, umringt von den anderen. Heikos Augen. Seine dunklen Augen, funkelnd, lachend. Seine Hand, die Noa wegzog, weg aus dem Keller, hoch in die Wohnung und … Noa presste die Finger gegen die Schläfen, schüttelte kurz und heftig ihren Kopf. Nein, nicht weiterdenken, nicht jetzt, nicht hier!

Noa hängte sich an Gilberts Arm und vergrub ihr Gesicht in seiner weichen Wildlederjacke. Er streichelte ihr über den Kopf, als wüsste er, womit sie kämpfte – als wüsste er auch, warum sich Noa letztlich doch für diesen Urlaub und nicht für die Reise mit ihren so genannten Freunden auf die Partyinsel Mykonos entschieden hatte, wo Svenjas Tante ein kleines Hotel leitete. Ja, bestimmt wusste Gilbert es. Schließlich war er es gewesen, der in jener Nacht an Noas Bett gewacht hatte. Er. Nicht Kat.

Und auch nicht Svenja oder Nadine, denen Noa nie erzählt hatte, was geschehen war. Nicht mal Gilbert hatte sie sich anvertraut, hatte sich nur mit seiner Nähe getröstet, und manchmal hatte Noa das Gefühl, er war nicht nur der Ersatz eines Elternteils, sondern ersetzte auch die Freunde, die sich Noa wünschte. Freunde, mit denen man mehr machen konnte, als auf Partys zu gehen, sich zu betrinken oder nachmittags in irgendwelchen Shoppingcentern abzuhängen. Freunde, mit denen man über mehr reden konnte als über Markenklamotten, Typen, andere Mädchen mit dicken oder dünnen Hintern, zu viel oder zu wenig Busen. Freunde, die sie nicht ständig über Kat ausfragen oder auf irgendwelche Premierenfeiern mitgehen wollten. Hey, schaut her, ich bin mit der Tochter von Katharina Thalis befreundet. Noa atmete scharf aus. Wie lange würde es dauern, bis Kat auch hier im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen würde? Tage – oder Stunden?

Vor der Kneipe stand ein VW-Bus, ein altes Ding, dunkelblau, fast schwarz gestrichen und voller aufgemalter Sterne. Noa ging dicht an den Wagen heran. Da hatte sich jemand Mühe gegeben – und sein Werk wirklich gut gemacht. Der VW-Bus sah aus, als wollte er dem Himmel Konkurrenz machen. Abertausende von Sternen verteilten sich auf ihm, sogar die Milchstraße und den großen Wagen konnte Noa erkennen.

»Ich rieche Gras«, sagte Gilbert.

Kat lachte. »Wir sind auf dem Land, natürlich riechst du Gras, Gil, ich meine, was …«

»Nein, nicht so ein Gras.« Gilbert schüttelte den Kopf, schnupperte in der Luft und jetzt roch Noa es auch. Kein Zweifel, da kiffte jemand. Aber seltsam … der Duft kam von oben. Noa legte den Kopf in den Nacken.

Und dann sah sie den Jungen. Er saß hoch oben auf dem Dachfirst, gut versteckt hinter dem Schornstein und im Schutz der Dunkelheit. Eine schattenhafte Gestalt, die man von hier unten aus nur wahrnahm, wenn man genau hinsah.

Kat war jetzt hinter sie getreten. Schnell wandte Noa den Kopf in eine andere Richtung. Sie kannte Kat, wusste, dass ihre Mutter irgendetwas nach oben gerufen hätte, und hatte weiß Gott keine Lust auf einen ihrer Auftritte. Dafür hatte Kat jetzt die Aufmerksamkeit der anderen Jugendlichen auf sich gezogen. Vier Jungen waren es, kaum älter als Noa, siebzehn, achtzehn vielleicht, in hellen Röhrenjeans, Sweatshirts und Turnschuhen.

»Alter!«, rief einer von ihnen seinen Kumpels zu. In seiner ausgestreckten Hand hielt er eine Dose Bier. »Ey, Alter, kuck mal da …«

Kat hob das Kinn und Noa schloss die Augen. Aber Kats Stimme konnte sie damit nicht ausschalten.

»Hey Süßer, weißt du eigentlich, dass Saufen impotent macht?«

Der Junge, ein stämmiger, gedrungen wirkender Typ mit brandrotem Haar, den einer seiner Kumpels Dennis genannt hatte, erstarrte. Seine ausgestreckte Hand hing in der Luft, als wäre sie festgefroren, aber die drei anderen schlugen sich grölend auf die Schulter.

»Kat, können wir jetzt bitte rein?« Noa zerrte an Kats Ärmel. Es war ihr entsetzlich unangenehm, hier zu stehen, und plötzlich merkte sie, dass es nicht wegen der Jugendlichen auf der anderen Straßenseite, sondern wegen des Jungen auf dem Dach war. Bildete sie sich das leise Lachen, das von oben kam, nur ein? Als Noa aus den Augenwinkeln zum Dach sah, war die schattenhafte Gestalt verschwunden.

In der Kneipe schlug ihnen ein Geruch nach Rauch, billigem Schnaps und kalter Erbsensuppe entgegen. Von den etwa zehn Tischen, allesamt mit rot-weiß karierten Plastiktischdecken überzogen, war nur einer besetzt. Stammtisch stand auf einem großen weißen Porzellan-Aschenbecher. Dutzende von Schnapsgläsern standen darum herum, und als hinter Kat die Türe ins Schloss fiel, hatte Noa für einen Augenblick das Gefühl, als bliebe die Zeit stehen.

Die Männer am Stammtisch – es waren ausschließlich Männer –hatten sich umgedreht und glotzten mit offenen Mündern zu ihnen herüber, als hätten soeben drei Außerirdische die Kneipe betreten. Der Wirt hinter dem Tresen hielt beim Zapfen des Bieres inne und in die Totenstille, die sich in der Kneipe breit machte, tönte die dunkle Stimme eines rothaarigen, stiernackigen Mannes: »Ist heute vielleicht Muttertag?«

Wieherndes Gelächter brach aus. Gilbert machte einen Schritt zurück und Kat hatte den Mund bereits zu einer Antwort geöffnet, als hinter dem Perlenvorhang neben dem Tresen eine Frau in die Kneipe trat. Mit einem freundlichen, selbstverständlichen Lächeln deutete sie auf einen der freien Tische.

»Guten Abend. Setzen Sie sich doch.«

»Na, da sagt Mutti nicht Nein«, zwitscherte Kat und winkte den Männern am Stammtisch zu. »Es sei denn, die Vatis haben etwas dagegen?«

Die Männer grinsten dümmlich, nur der Rothaarige murmelte etwas Unverständliches und der Wirt, ein kleiner Mann mittleren Alters mit schütterem Haar und Tränensäcken unter den murmelrunden Augen, fuhr eifrig fort sein Bier zu zapfen. Noa entging nicht, dass sein Gesicht sich gerötet hatte, sogar aus dem weißen Hemd krochen rote Flecken an seinem blassen Hals empor.

Zögernd schob sich Noa hinter Kat an den Männern vorbei und fühlte, wie sich die Blicke in ihren Rücken bohrten.

»Sie haben das Haus von Herrn Hallscheit gemietet, nicht wahr?« Die Frau legte ihnen eine Karte auf den Tisch und Noa musterte sie aus den Augenwinkeln, mit ihrem Fotografenblick, wie Gilbert es immer nannte. Die Frau war nicht besonders groß und ziemlich schlank. Über dem braunen, knielangen Rock trug sie eine hellblaue Strickjacke, ihr sandfarbenes Haar war zu einem Zopf gebunden, und abgesehen von den tiefen Schatten unter ihren dunkelblauen Augen, war sie eine gut aussehende Frau. Ihre zarten Hände waren rau, von harter Arbeit gezeichnet.

»Na, das scheint sich ja schnell herumgesprochen zu haben.« Lachend streckte Kat der Frau ihre Hand entgegen. »Katharina Thalis ist mein Name. Das hier sind Gilbert Sonden und meine Tochter Nora.«

»Noa. Ich heiße Noa.« Wütend funkelte Noa ihre Mutter an. Wie sie es hasste, wenn Kat sie mit diesem Namen vorstellte. Nora Gregor hieß die Stummfilmschauspielerin, die in den 20er-Jahren berühmt geworden war und sich Ende der 40erper Selbstmord vom Leben verabschiedet hatte. Kat bewunderte sie glühend, aber gegen ihren Namen hatte Noa sich bereits als Kind gewehrt – nicht nur des Vorbildes wegen, sondern, weil ihr das r zu hart war. Mit elf hatte sie diesen Buchstaben aus ihrem Namen gestrichen und stellte sich seither taub, wenn Kat sie so ansprach.

»Marie Schumacher.« Die Frau nahm Kats Hand und drückte sie sanft. Noa und Gilbert lächelte sie zu. Noa seufzte erleichtert. Wenn ihr der Name Katharina Thalis etwas sagte, dann ließ die Frau es sich wenigstens nicht anmerken. Aber Noa hatte sich zu früh gefreut, denn jetzt war es der kleine Wirt, der Kat mit offenem Mund anstarrte und dabei fast sein Bierglas fallen ließ.

»Katharina Thalis. Die Katharina Thalis, das sind Sie?«

Das Murmeln am Stammtisch wurde lauter. Kat nickte, lachte geschmeichelt und mit einem Satz war der Wirt an ihrem Tisch. Über sein Gesicht ging ein Leuchten. »Ich habe alle Ihre Filme gesehen, ich … also, ich … ich hab sie gar nicht erkannt, ich, das, also …« Ebenso plötzlich, wie der Wirt an den Tisch gekommen war, schien er nun wieder verschwinden zu wollen. Er hatte sich in seinen Worten verfangen, wusste nicht weiter, machte einen Schritt zurück, fast stolperte er. Sein Hals war mittlerweile so gefleckt, als hätte er einen Anfall von Röteln. Und Kat genoss es sichtlich.

Es war Gilbert, der dem Wirt aus der Patsche half. Er hatte nach der Karte gegriffen, blätterte darin herum und sah den Wirt über die Ränder seiner runden Brille an, die wachen Augen freundlich und mit diesem warmherzigen Gilbertlächeln, das einem sofort das Gefühl gab, sich entspannen zu können. »Sie haben eine so wunderbare Speisekarte, da weiß ich gar nicht, wofür ich mich entscheiden soll. Was können Sie uns empfehlen? Ihren Eierkäs und Erbselkuchen, Röstkartoffeln oder die Pilzpfanne? Für mich klingt alles drei gleich verlockend. Sicher sind die Pilze frisch aus dem Wald, was?«

Der Wirt nickte erleichtert. »Frisch gepflückt, die Herrschaften, frisch gepflückt, die ersten Sommerpilze: Stockschwämchen, Maronenröhrlinge und Steinpilze. Und unsre Marie ist eine gute Köchin, die macht Ihnen die kleinen Kerlchen vom Feinsten, das können Sie mir glauben.«

»Also dann.« Gilbert drückte Noa die Karte in die Hand und schob die Brille zurück. »Es ist entschieden. Ich nehme die Pilzpfanne.«

»Ich nehme Röstkartoffeln mit Spiegelei«, murmelte Noa.

Kat nahm den Erbselkuchen und der Wirt stürzte in die Küche. Kaum zehn Minuten später kam das Essen. Die Männer am Stammtisch unterhielten sich wieder, aus den Lautsprechern an der Wand drang deutsche Volksmusik.

Wir habn uns auf den Weg gemacht, Das große Abenteuer! Jeder Tag eine Hochzeitsnacht Jede Nacht ein Freudenfeuer …

Noa schluckte, als sie ihren Teller sah. Drei Spiegeleier neben einem Riesenberg Bratkartoffeln, wer sollte das alles essen? Noa war schon froh, wenn sie ein halbes Ei und einen Löffel Kartoffeln herunterbekam. Kats und Gilberts Teller war nicht weniger beladen.

»Um Himmels willen«, rief Kat lachend aus. »Wollen Sie uns mästen?«

Marie zuckte entschuldigend mit den Schultern. »Wir können Ihnen den Rest auch gerne einpacken.«

»Ach, was!« Gilbert hatte sich heißhungrig auf seine Pilzpfanne gestürzt. »Wir schaffen das schon, was Mädels? Und wenn ihr’s nicht schafft, ich spiele heute gern den Mülleimer.«

»Was heißt hier, heute?« Kat tätschelte ihm den dicken Bauch und zwinkerte dem Wirt, der wieder hinter dem Tresen stand, verschwörerisch zu. »Ab morgen setzen wir ihn auf Diät, einverstanden?«

Der Wirt lächelte verstört, er wusste nicht, was er sagen sollte. Aber Kat rückte schon den freien Stuhl zur Seite und winkte ihn zu sich an den Tisch.

»Ich hätte da noch eine Frage, oder genau gesagt zwei oder drei.« Sie pustete auf ihre Gabel und setzte ein Lächeln auf, das sie wie ein kleines Mädchen an seinem ersten Schultag aussehen ließ. Manchmal war es wirklich unglaublich, wie Kat ihr Gesicht verändern konnte. Als würde jemand hinter ihr stehen und Action rufen. Sogar ihre Stimme war eine andere, als sie weitersprach. Kat ließ sie eine Tonlage höher und leiser klingen. »Ich fürchte, ich habe auf der Herfahrt einen kleinen Mord begangen.« Kat räusperte sich, der Wirt stand hinter dem Stuhl, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, die Schultern geduckt. Noa fand, er sah aus, als wäre er irgendwie zu klein für seine Haut, ein bisschen, als hätte man irgendwann die Luft aus ihm herausgelassen und vergessen ihn wieder aufzupumpen. Sein ganzer Körper wirkte schlaff, die geröteten Wangen hingen herab, aber seine runden Murmelaugen waren jetzt weit aufgerissen. Ob es daran lag, dass in seiner kleinen Dorfkneipe eine Berühmtheit saß, oder daran, was Kat über den Mord gesagt hatte, konnte Noa nicht deuten.

»Versehentlich natürlich«, fuhr Kat jetzt fort. »Es war ein Reh, es kam so schnell aus der Wiese geschossen, dass ich es nicht mal gesehen habe. Es war oben an der Zufahrtstraße. Wir haben es an den Straßenrand gelegt, aber … könnten Sie uns vielleicht, Herr …?«

»Oh natürlich, natürlich, Frau Thalis.« Der Wirt nickte eifrig, es fehlte nicht viel und er hätte sich vor Kat verbeugt. Die Männer am Stammtisch hatten wieder aufgehört zu sprechen, Noa fühlte, wie sie hersahen.

»Ich kümmre mich um das Tier, Frau Thalis, gleich morgen früh. Das lassen Sie mal ganz meine Sorge sein. Mein Name ist Kropp, Gustaf Kropp.« Der Wirt streckte Kat seine Hand entgegen. Es war eine kleine, schwitzige Hand, die Kat jetzt kräftig drückte und dem Wirt dabei unverwandt in die Augen sah. Plötzlich klang auch Kats Stimme wieder kräftiger. »Wunderbar, Gustaf. Ich kann doch Gustaf sagen? Und nennen Sie mich bitte Kat.« Kat nahm einen Schluck Bier. »Und dann wäre da noch eine Frage mit dem Haus. Es sieht aus, als hätte da lange Zeit niemand mehr gewohnt. Möbliert ist es, wenn auch ziemlich notdürftig, aber im Grunde gefällt mir das. Es gibt nur jede Menge zu reno…«

Der Wirt ließ Kat nicht mal ausreden. »Zu renovieren, ja, natürlich, das kann ich mir denken. David, Maries Junge, der kann Ihnen helfen. Hat zwei goldene Hände, nicht wahr, Marie?«

Der Wirt sah sich zu der Frau um, die jetzt hinter dem Tresen die Gläser spülte. »Und ein wenig Taschengeld kann sich David sicher …« Der Wirt stockte, als hätte er etwas Falsches gesagt, aber Kat nickte.

»Gegen eine gute Bezahlung, das ist selbstverständlich. Schließlich sind wir keine Eintagsfliegen, sondern Dauermieter. Das heißt, uns werden Sie in den nächsten Jahren wohl ein wenig öfter am Hals haben. Ich hoffe doch, das macht Ihnen nichts aus?« Kat drückte sich die Papierserviette gegen die Lippen, prüfte den roten Kussmund auf dem weißen Untergrund und schenkte dem Wirt ein neues Lächeln, eines, das sie auch in manchen Filmen aufsetzte, kurz nach dem Liebesakt. Kat nannte es Die-katze-leckt-am-Sahnetopf-Lächeln und brachte den Wirt damit derart aus der Fassung, dass er regelrecht nach Luft schnappen musste. »Bei Gott, natürlich macht es mir nichts aus, ganz im Gegenteil, ich, wir, Sie … also, ich … ich hole sofort den Jungen, Frau Thalis.«

Der Wirt stolperte auf den hellen Perlenvorhang zu, der offensichtlich die privaten Räume von der Kneipe trennte.

Kat grinste und Gilbert schüttelte den Kopf. »Du bist ein herzloses Weib, weißt du das?«

Kat kicherte. »Ich wollte nur nett sein«, sagte sie unschuldig. Noa warf ihrer Mutter einen höhnischen Blick zu. Dann sah sie zum Tresen und fing das Lächeln der Frau auf. Marie Schumacher und Gustaf Kropp – ein Ehepaar schienen die beiden jedenfalls nicht zu sein und dieser David war offensichtlich auch nicht ihr gemeinsamer Sohn.

Der Junge, dachte Noa, und merkte verwirrt, dass ihr die Kehle eng wurde. Der Junge vom Dach.

»Schau mal«, sagte Kat. »Da ist ja unser Helfer schon.«

Der Perlenvorhang hatte sich wieder geteilt.

Er hatte helles Haar. Es fiel ihm in die Stirn, eine hohe, ernste Stirn mit einer tiefen Falte zwischen den dunklen Augenbrauen, aber als der Junge Noas Blick einfing, lächelte er – ein ganz eigenartiges Lächeln, ruhig und ein klein wenig herablassend. Seine grünen Augen fixierten sie, aber Noa konnte dem Blick nicht standhalten. Sie beugte sich über ihren Teller und ärgerte sich, dass ihr Herz schneller schlug. Bemüht gleichgültig schob sie sich eine Gabel voll Bratkartoffeln in den Mund.

Der Junge wandte sich an Kat, die sich gerade eine Zigarette anzündete.

»Ganz richtig. Wir haben das Haus in der Gartenstraße gemietet und könnten Hilfe beim Renovieren gebrauchen. Bist du David? Ich bin Kat und das …«

»Das mit dem Renovieren geht klar«, unterbrach der Junge Kat und drehte seinen Kopf zum Vorhang. Auch Noa hatte den seltsamen Ruf dahinter gehört. Es hatte wie »Ahii« geklungen, eine Art Lallen, seltsam gequält.

Der Vorhang teilte sich zum dritten Mal. Noch ein Junge kam dahinter hervor, auf Knien rutschte er in die Kneipe und Noa biss sich auf die Lippe. Dieser Junge war behindert, stark behindert. Wie alt er war, konnte sie nicht erkennen, er hätte ebenso gut zwölf wie zwanzig sein können. Seine krausen dunklen Haare standen ihm wie Korkenzieher nach allen Seiten vom Kopf ab, die blassblauen Augen schienen ihm aus den Höhlen zu quellen, sie schauten in zwei gänzlich unterschiedliche Richtungen. Er sabberte. Um den Hals trug er ein Plastiklätzchen mit einem aufgedruckten blauen Hasen und in der Hand hielt er einen kurzen Stock. Bei jedem Schritt, den sich der Junge auf Knien vorbewegte, ließ er den Stock auf den Boden klacken. Tock … tock … tock.

Die Männer am Stammtisch lachten und die Frau hinter dem Tresen zuckte leicht zusammen. Noa schluckte. War dieser Junge auch ihr Sohn? Wenn ja, wie oft musste die Frau solche Reaktionen über sich ergehen lassen? Kat hielt zum Glück ihren Mund. Jetzt kam auch der Wirt wieder hinter dem Vorhang vor, sein Gesicht war feuerrot. »Bitte entschuldigen Sie«, flüsterte er erschrocken. »Kalle, willst du wohl herkommen?

Kalle! David ist gleich bei dir, hörst du?«

Aber der behinderte Junge achtete nicht auf ihn. Er robbte an den anderen Jungen, an David, heran, griff nach seinem Ärmel und zog daran. »Ahii, Ahii …«

»Alles klar, Krümel, ich bin doch da.« David legte einen Arm um ihn. »Das ist mein Bruder Krümel«, sagte er ruhig. Dabei sah er nacheinander Kat, Gilbert und Noa in die Augen.

»Hey, Krümel.« Kat erhob sich von ihrem Stuhl, beugte sich zu dem behinderten Jungen herab und hielt ihm ihre Hand entgegen. »Ich bin Kat. Und das sind Gilbert und meine Tochter Noa.«

Gilbert nickte und Noa versuchte zu lächeln. Aber ihr war eng um die Brust, furchtbar eng, am liebsten wäre sie hinausgelaufen. Der behinderte Junge öffnete seinen Mund, schob die Zunge heraus und lachte, wobei er den Kopf nach hinten warf und dabei gleichzeitig mit dem Stock auf den Boden klopfte.

Kat lachte auch, aber es war ein warmes, weiches Lachen, als freute sie sich mit dem Jungen gemeinsam über einen Witz, den sonst keiner verstand.