Die Lebensfalle - Brita Link - E-Book

Die Lebensfalle E-Book

Brita Link

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Beschreibung

Wenn eine Krankheit die Erinnerung trübt, das Wesen eines geliebten Menschen verzerrt und alte Freunde zu gierigen Nutznießern werden, dann wird das Leben zur Falle. Lebensfalle ist eine Geschichte über Familie, Freunde, Krankheit und Verrat an einer Freundschaft sowie die Aussöhnung mit dem Leben. Dieses Buch enthält (auto-)biografische Züge und berichtet von einem Abschied, der den Blick auf unsere Gesellschaft zurechtrückt.

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Ehrgeiz allein reicht nicht aus,

um eine glückliche Welt zu schaffen.

(Matteo)

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Nachwort

1

»Mama, sind wir gleich da?« In jedem Jahr die gleiche Frage an der gleichen Stelle. Wir hatten gerade mal hundert Kilometer geschafft und noch tausend vor uns. »Schrei nicht so rum«, piepste Lea, während Tom zu weinen begann.

»Könnt ihr mal Ruhe geben?«, brummte Matteo neben mir, der gerade aus seinem Tiefschlaf wieder zu sich kam.

»Lilly, schau doch mal raus, ist das schon der Süden?«, sagte ich zu meiner Ältesten. »Ich hab Hunger, wann halten wir endlich an?«, kam es prompt von ihr zurück. »Ich hab auch Hunger, Hunger!« Tom knuddelte seinen Äffi und quengelte: »Durst.«

Oh, diese Brut, dachte ich leicht aufgebracht. Doch allein das Wissen, dass uns am Ende dieser langen Fahrt sowohl ein Traumstrand als auch unsere besten Freunde erwarten würden, vermochte, mich schnell wieder zu beruhigen. Matteo war erneut eingeschlafen. Na ja, nach Arbeitstagen von vierzehn bis sechzehn Stunden ist das ja auch kein Wunder, dachte ich und wandte mich wieder meiner Ältesten zu, um ihr zu antworten: »Noch eine halbe Stunde, dann schauen wir uns nach einem Rastplatz um.« Die Kultur des Picknicks habe ich gerne angenommen. Die Franzosen zelebrieren es genauso wie ihre Mahlzeiten bei Tisch. Gemütlich, in aller Ruhe und mit leckeren Köstlichkeiten. Während dem Autofahren träumte ich von den vielen schönen Abenden und Dîners, die ich in Frankreich schon miterleben durfte. Ganz automatisch fuhr ich weiter, bis ich einen tollen neuen Rastplatz entdeckte. Hektisch setzte ich den Blinker und bog ab. Hinter mir jubelten die Kinder. Sie hatten wohl wirklich Hunger. Vor einem Tisch mit Bänken parkte ich das Auto. Stöhnend öffneten die Kinder die Hintertüren, stiegen aus und streckten sich. Matteo kam langsam zu sich und trug Lilly auf eine Bank. Wir deckten gemeinsam den Tisch – mit allem, was die Frühstückskühlbox hergab. Zu bunten Servietten gesellten sich Teller und Becher. Die Kühltasche offenbarte fettarme Milch für fünf Personen, meine viel gereiste Thermoskanne mit Kaffee für die Eltern sowie die von allen geliebten Rosinenbrötchen. Die Äpfel ernteten nur verächtliche Blicke und ich packte sie später wieder ein. Zum Leidwesen der Kinder gab es auf diesen Fahrten ein striktes Schokoladenverbot. In der langsam beginnenden Hitze des Südens würde sie einfach zu schnell schmelzen. Klimaanlagen in Autos konnte man sich damals noch nicht leisten. Nun war endlich Ruhe eingekehrt und ich blickte in zufriedene Gesichter. Auch mein Mann kam langsam aus seiner Schlipszeit heraus, wie ich es immer nannte.

Später würde es noch eine Pause für ein Mittagessen geben. Auch dieses Mittagessen-Picknick hatte ich bereits mit an Bord. In Restaurants gehen konnte jeder. Bei Avignon überfiel die Mannschaft erneut der Hunger. Dieses Mal suchte ich einen schattigen Rastplatz aus. Es war schon ganz schön heiß. Unsere Wasservorräte waren noch gut gekühlt. Die mit gekochtem Schinken, Tomaten und Salat belegten Brötchen waren schnell in unseren Bäuchen verschwunden. Autofahren macht hungrig, dachte ich schmunzelnd. Für uns fingen die Ferien mit dem Picknick bereits auf der Autobahn an. Auf der Autoroute du Soleil.

Am Ziel angekommen, holte Matteo den Rollstuhl vom Autodach, damit Lilly ihr Zimmer beziehen konnte. Die Kinder schleppten Koffer, Taschen sowie Sandspielzeug durch die Gegend und kurz darauf kamen auch schon unsere besten Freunde an. Beste Freunde, so dachte ich damals noch.

Mit Virginia, unsere Freundin und ebenfalls Mutter von drei Kindern, machte ich in der winzigen Küche Ordnung. Drei Stunden brauchten wir, um zurückgelassene Lebensmittel und verfallene Konserven zu sichten und zu entsorgen. Die Väter waren indes mit den Kindern an den nahen Privatstrand verschwunden.

Irgendwann setzte ich mich mit einem Glas Rosé in den Garten und atmete den Duft von Rosmarin und Thymian ein. Manchmal wehte eine frische Brise vom Meer herauf. Ich war angekommen. Angekommen in meinem kleinen Paradies. Endlich. Dieses Paradies hatte ich im Alter von vierzehn Jahren das erste Mal betreten und seither ist es in meinem Herzen geblieben. Rückblickend verliefen die Tage immer gleich: Nach dem ausgiebigen Frühstück gingen wir Mütter mit den kleineren Kindern zum Strand, während die Väter mit der ältesten Tochter unserer Freunde unter den Oleanderbüschen im Garten Skat spielten.

Wenn der Hunger sich meldete, wurden Crêpes gebacken und anschließend weitergespielt. Welche Menge Rosé zum Spielen gebraucht wurde, habe ich dabei nie hinterfragt. Doch die Touren zur Cave Coopérative fanden ziemlich häufig statt. Bei uns in Deutschland sind das die Winzergenossenschaften.Beim Abendessen gab es natürlich auch die regionalen Weine. Wir tranken alle sehr gerne den Rosé Côte de Provence aus dem Coopérative de Grimaud. Den konnte man lose und direkt aus einem großen Fass in unsere fünf Liter fassende Glasflasche abfüllen lassen.

Die Männer fuhren in den gleichen seltsamen, eigenwilligen Badehosen zum Weineinkauf, wie sie auch am Strand erschienen, was mich sehr amüsierte. Die karierten Muster oder auch die schrecklich tristen Farben waren schon gewöhnungsbedürftig. Alles Geschmacksache.

Matteo scheuchte unsere Kinder von der komfortablen gemieteten Matte mit Sonnenschirm. Er zeigte damit, wer der Herr im Hause war. Irgendwie taten mir die Kinder leid, denn so wurden sie immer in ihrem Spiel unterbrochen.

Das Blau des Meeres und die wärmende Sonne, die ihre Strahlen in grellem Licht ins Wasser tauchte, boten uns immer wieder ein neues Schauspiel dar. Es ist das besondere Licht, was die Küste einzigartig macht. Es war einfach wunderschön.

Die Kinder bauten fantasievolle, prächtige Sandburgen, paddelten mit ihren Luftmatratzen fröhlich auf dem Wasser herum oder schnorchelten. Die Versuche, mit den französischen Kindern zu sprechen, scheiterten allerdings, während das Spielen miteinander dagegen bestens wortlos klappte. Durch wildes Gestikulieren konnten sie sich letztlich prima untereinander verständigen.

Wenn Ausflüge in die Umgebung anstanden, wurde es stets hektisch. Bis alle alles hatten und auch der Rollstuhl auf dem Autodach fixiert war, gab es viele Flüche. Proviant musste auch mit, denn unsere Freunde hatten immer die Angst, dass sie unterwegs verhungern würden. Sie waren ja nicht in Deutschland.

Einmal kamen wir an einem riesigen Rummelplatz vorbei und prompt wollten die Kinder dorthin. Als wir vorbeifuhren, sagte der kleine Tom: »Überall, wo wir hinfahren, is ke Kerwe«, und motzte. Mir wurde zunehmend bewusst, dass der pfälzische Singsang so langsam von ihm Besitz ergriff, denn bereits seit geraumer Zeit wohnten wir in der Pfalz. Selbst für mich stellte sich der eigenwillige Dialekt dieser Gegend als eine Herausforderung dar. Die Kinder selbst waren allerdings alle am Rhein geboren. Eines Tages wurde ein Landrat in Pfalz gesucht und so zogen wir um, als Tom gerade sechs Wochen alt gewesen ist. Lea war damals drei Jahre und Lilly sechs.

Der Ausflug zum Abbaye du Thoronet wurde zu einer regelrechten Tortur. Matteo, Virginia und ich freuten uns auf die Besichtigung, während Werner – der Mann von Virginia – und die Kinder keine Lust auf altes, langweiliges Gemäuer hatten, wie sie es nannten. Doch alt und langweilig war es nicht, sondern vielmehr ein beeindruckendes Zisterzienserkloster aus dem Jahre 1146, was im Hinterland des Département Var zwischen Carcès und Lorgues lag und noch immer liegt. Die Fahrt dorthin dauerte jedoch ein gutes Weilchen. Durch die engen Départementale-Straßen, durch Pinienwälder und Olivenhaine schlängelte sich unser wunderschöner Weg durch eine Natur, die schon oft von großen Künstlern gemalt und beschrieben worden ist.

Auf dem Parkplatz vor dem Kloster angekommen, stellten wir fest, dass dieser einen zum Boulespielen geeigneten Sandboden hatte.

Zum Glück war unser Boule-Spiel eingepackt worden. Somit waren sowohl die Kinder als auch Werner beschäftigt. Wir anderen bestaunten in aller Ruhe ein Kreuzrippengewölbe, eine architektonische und statische Meisterleistung. Wir schlenderten durch den Kreuzgang und erschnupperten den Duft des Gewürzgartens im Innenhof. Auch gibt es dort noch ein Brunnenhaus und Vorratskammern, in denen ursprünglich Wein und Olivenöl zubereitet wurde. Davon lebten die Mönche einst. Wir bestaunten noch Weinbottiche aus dem 18. Jahrhundert sowie eine Ölpresse. Dieser Ausflug samt Besichtigung hatte sich wirklich für uns drei Wissbegierige gelohnt.

2

Der Tag war noch jung und wir stimmten ab, ob wir über St. Tropez zu unserem Feriendomizil zurückfahren sollten, um auch die Schönheit dieser Stadt bestaunen zu können.

Immer wieder konnten wir auf das wunderbare Blau des Meeres blicken, das im besonderen Licht der Côte d’Azur ruhig vor uns lag. Nach jeder Kurve bot sich uns ein neuer Eindruck.

St. Tropez! Wem geht da nicht das Herz auf?, raste es durch meine Gedanken. Die aneinandergedrängten, mehrstöckigen Häuser, die das Hafenbecken säumten? Gegenüber die Yachten der Reichen und Schönen und vielleicht einen Blick auf einen Prominenten erhaschen? Die teuren Geschäfte aufsuchen? Die besonderen lokalen Leckereien kosten?

Die Tarte Tropézienne, bei uns heißt sie Bienenstich, ist ein absolutes Muss, wenn man St. Tropez besucht. Die Kinder freuten sich schon darauf und wir alle liebten sie.

Dieser wunderschöne Ort mit seiner einzigartigen Atmosphäre übte stets eine besondere Stimmung auf uns aus. Es ist ein Ort, der nicht durch Hochhäuser verschandelt wurde, und in dem die Menschen, die dort leben, authentisch geblieben sind. Am Place des Lys entdeckten wir ein Lokal, in dem wir einen Tisch für acht Personen fanden, der auch genügend Platz für einen Rollstuhl bot. Nachdem wir die Speisekarte studiert hatten, fackelten wir nicht lange. Wir standen auf und verließen das Restaurant wieder. Allesamt waren wir uns einig: Die Preise waren nicht bloß zu hoch, sie waren einfach nur horrend. Die Kinder maulten, denn sie hatten Hunger, aber mit dem Hinweis, sofort eine Tarte Tropézienne zu essen, kehrte schnell wieder Friede bei uns ein. Wir fanden einen anderen Platz zum Verweilen.

Bei unserer nächsten Reise gab es dieses Restaurant nicht mehr. Kein Wunder!, dachte ich.

3

Auf unseren Einkaufstouren nach Nizza machten wir so manche originelle Schnäppchen. Während ich innerhalb von fünf Minuten ein schickes knallrotes Seidenkostüm erstand, brauchte Virginia fast eine Stunde, um sich einen Bikini in einer gängigen Größe zu kaufen. Es gab bunt bedruckte Badelaken und flippige Flip-Flops. Die Herren zogen es vor, auf dem Bürgersteig vor der Galerie Lafayette zu warten. Die Kinder hatten sie auf eine Bank verfrachtet und mit einem Eis für Ruhe gesorgt.

Mein Lieblingsort in Nizza ist der Stadtteil Cimiez auf den Hügeln über der Stadt. Dort hat man einen herrlichen Ausblick auf die Bucht von Nizza und die Promenade des Anglais sowie das azurblaue Meer. Ein wahrlich traumhafter Ausblick erwartete uns auch vom Mausoleums-Friedhof aus. Hier fanden wir das Grab von Henri Matisse. Ganz in der Nähe lag auch das Grab von Raoul Dufy, der die Bucht von Nizza in seinen Gemälden verewigt hat. Ich war von seinen Werken derart fasziniert, dass wir einen Nachdruck davon erwarben. Die Bucht von Nizza schmückte seither unser Schlafzimmer und ich konnte sie jeden Morgen beim Aufwachen bestaunen.

Im Jardin de Cimiez ruhten wir uns aus und machten ein Picknick. Wir überlegten, ob wir ins Musée Matisse gehen sollten. Es gab großen Widerstand von den Kindern. Sie waren noch zu jung für Museen. Einige Jahre später, als Lea ihr Berufspraktikum, das im Rahmen ihres Touristikstudiums in Verbindung mit einem Auslandsaufenthalt erforderlich gewesen war, in Nizza absolvierte, holten wir das nach.

4

Wieder in unserem Feriendomizil angekommen, nahmen wir alle noch ein erfrischendes Bad. Das Abendessen zog sich bis lange in die Nacht hinein. Wir lachten über die Geschichten der Kinder und erzählten auch aus unserer eigenen Kindheit.

Ab und zu hatte ich zu dieser Zeit das Bedürfnis, alleine zu sein. Dann setzte ich mich ins Auto und fuhr auf die Höhe. Der Bergkamm war circa dreihundert Meter hoch und in Serpentinen zog sich die enge Straße bis zur Route des Crêtes. Ich kannte dort eine flache Felsformation, auf der man gut sitzen konnte. Der Blick von dort aufs Meer war atemberaubend schön. Der Duft von Rosmarin, Thymian und Lavendel erweckte meinen Geruchssinn zum Leben.

Ameisen wuselten an meinen Füßen und versuchten, an meinen Flip-Flops hochzuklettern, wahrscheinlich nahmen sie einen süßen Geruch wahr, der sie anlockte. Mir fiel auf, dass sie kleine Pflänzchen schleppten, die größer als ihre eigenen Körper waren. Ich schaute hinab aufs Meer und auf die Inseln. Les Iles d’Or – die Goldinseln. Ich träumte von der Vergangenheit. Meine französischen Freunde und ich müssen achtzehn Jahre alt gewesen sein, als wir einen Ausflug auf die Insel Port-Cros organisiert hatten. Wir waren damals eine Gruppe von fünfzehn Jugendlichen mit prall gefüllten Rucksäcken für ein Picknick. Mit einem Boot setzten wir über und suchten einen Strand, bei dem der Pinienbewuchs dicht ans Wasser reichte.

Es war zu jener Zeit sehr heiß gewesen und wir brauchten dringend ein schattiges Plätzchen. Wir stürzten uns ins Wasser, planschten und lärmten. Es war die pure Freude.

Vier von uns wurden abgeordnet, das Picknick vorzubereiten.

Ich stieg mit aus dem Wasser. Unsere Rucksäcke standen alle an einer Stelle. Wir packten alles Essbare aus und breiteten es auf einer Decke aus, um die wir später im Kreis herumsitzen konnten. Es war eine reich gedeckte Tafel. Jeder aß von allem und es wurde still.

»Von wem sind denn die Hähnchenschenkel, die schmecken köstlich?«, fragte einer der Jugendlichen. Achselzucken, keiner meldete sich. Die Antwort kam in Form eines kleinen

älteren Mannes, der wütend auf uns zustürmte. Louis de Funès in Person, dachte ich. Er gestikulierte genauso wie der Schauspieler und schrie noch viel schriller: »Diebe, Verbrecher, ich hole die Polizei.« Die Frau, die ihm folgte, bekräftigte seine Worte mit einem Kopfnicken. Ihre nassen Haare flogen um ihren Kopf.

»Da, mein Rucksack und schau mal, Sophie, da hängt dein Handtuch auf dem Baum.« Die Frau nickte wieder ziemlich ratlos und er schrie wütend weiter: »Ich zeige Sie alle an, Sie kommen ins Gefängnis. Wir haben unsere Rucksäcke extra zu Ihren gestellt, damit sie nicht geklaut werden. Und dann übernehmen Sie das schon. Sie alle klauen ganz offensichtlich, ohne auch nur etwas zu verbergen.«

»Schau, unsere Hähnchenschenkel – nur noch zwei Stück sind übrig«, entfuhr es der Frau. Unter uns Jungen war ein etwas älterer Freund, der Jura studierte und besonnen reagierte. Er ging auf den Mann zu, der immer noch in Louis de Funès-Manier wild umher gestikulierte und versuchte ihm die Situation zu erklären.

»Wir kennen unsere Rucksäcke gegenseitig gar nicht und wir haben einfach alle eingesammelt, die an der gleichen Stelle standen, somit auch Ihre. Meinen Sie, wir würden Ihre Handtücher auf den Baum hängen, wenn wir sie hätten stehlen wollen? Dann auch noch dort, wo sie jeder sehen kann?«

»Ich hole die Polizei!«, schrie der Louis der Funès-Verschnitt erneut.

Von unserem besonnenen Freund erhielten wir die Anweisung, alles, was an Essbarem noch übrig war, zu sammeln und den älteren Herrschaften zu übergeben. Zunächst war der Alte damit besänftigt, nur als er bemerkte, dass von seinen Hähnchenschenkeln inzwischen nur noch eines übrig war, bekam er einen erneuten Schreikrampf. Als seine Frau dann noch sagte, dass es nicht sehr klug gewesen sei, ihr Rucksäcke zu den unsrigen zu stellen, stampfte er mit dem Fuß auf, zeigte mit dem Finger auf uns und schrie erneut: »Diebe, Diebe!« Sie zog ihn fort. In ihrem Gesicht entdeckten wir ein leichtes Grinsen.

Ich musste schmunzeln, als ich mich an diese Begebenheit vor so vielen Jahren erinnerte. Diese Geschichte hätte ich nicht erlebt, wenn ich eine gute Schülerin gewesen wäre. Meine schlechten Noten in Französisch brachten meine Eltern damals auf die Idee, mich zum Schüleraustausch in eine französische Familie zu schicken. Die Familie, die sie fanden, hatte ein Ferienhaus an der Côte d’Azur. Direkt an einem weißen Sandstrand. Ich war so jung und unerfahren, als ich das erste Mal als Schülerin der 6. Klasse dort meine Ferien verbrachte. Ich wusste noch nicht einmal, dass das Mittelmeer salzig ist. Ja, ich hatte in meiner Jugend alle tollen Ferien hier verbracht. Fischen, Wasserskifahren und Schnorcheln habe ich hier gelernt. Meine französischen Eltern organisierten immer eine Party in einem Restaurant für uns, auch damit wir Jugendlichen uns besser kennenlernen konnten. Das Dasein der Franzosen hat mir damals schon gefallen und äußerst imponiert. Diese Zeiten in meiner französischen Familie prägten mich für mein ganzes Leben.

Die Ruhe hier auf der Höhe tat mir gut. Inzwischen ging es schon auf den Mittag zu. Die Sonne stand hoch über mir. Das Zirpen der Zikaden wurde immer lauter.

Wie schön es hier ist, dachte ich, setzte mich ins Auto und fuhr wieder nach unten.

5

In diesen Urlauben sprachen Virginia und ich häufig über die Behinderung unserer Mädchen. Ihre Mittlere litt unter einer sehr starken Epilepsie. Unserer Lilly war das Laufen versagt.

Eine falsch gesetzte Spritze und es war passiert. Matteo und ich waren damals ziemlich verzweifelt gewesen, liebten wir unser Kind doch so sehr. Andere Mütter konnten irgendwann wieder einem Beruf nachgehen. Meine Aufgabe war es seitdem, mein erstes Kind lebenstüchtig zu erziehen, auch wenn es fortan auf den Rollstuhl angewiesen war. Es war eine Aufgabe, der ich mich stellte, ohne Wenn und Aber. Lilly fühlte sich am Meer wohl. Sie konnte schon früh sicher schwimmen und das Wasser war ihr Element, während die kranke Tochter unserer Freunde die Hitze nicht vertrug und in den späteren Jahren ihre Ferien woanders verbringen musste. Virginia und ich ermutigten uns oft gegenseitig, wenn es mit unseren Kindern medizinische Probleme gab. Wir konnten miteinander reden und telefonierten häufig. Es war eine gute Gemeinschaft, für mich wie eine Art Ersatzfamilie. Weder Matteo noch ich hatten Geschwister. Außer unseren Kindern und Freunden gab es niemanden, der uns nahe war. Das Ergebnis des Zweiten Weltkrieges. So waren Virginia, Werner und ihre Kinder so etwas wie meine erweiterte Familie geworden.

6

Ein paar Jahre später war es so weit. Wir hatten ein eigenes Häuschen gefunden. Ein Anwesen mit einem riesigen Garten und zusätzlich zwei Wohnungen, sodass für alle ausreichend Platz vorhanden war. Der Garten war wunderschön geschmückt mit zahlreichen exotischen Gewächsen, die schon vor vielen Jahren dort angepflanzt worden waren. Immer wenn wir ankamen, noch bevor die Koffer ausgeladen wurden, gingen wir in den Garten, staunten und suchten nach blühenden Pflanzen. Eine echte Kostbarkeit ist eine Palme gewesen, sie war mindestens vierzig Jahre alt und wunderschön gewachsen. Matteo erklärte sie zu seinem persönlichen Baum. Er war sehr stolz, dass unsere Familie jetzt eine eigene Palme besaß. Immer wieder betonte er, es sei sein Baum. Auch gab es noch weitere, vier Meter hohe Yucca-Palmen, die alle zwei Jahre im Wechsel blühten. Die kräftig aufstrebenden weißen Blüten waren immer wieder eine Freude fürs Auge.

Der Jacaranda-Baum mit seinen stechend blauen Blüten war wunderschön und oft kamen Touristen an unser Törchen und fragten, was das für ein toller Baum sei, mit solch auffallenden blauen Blütenständen. Zahlreiche Feigenkakteen, ein roter Pfefferbaum, unterschiedliche Arten von Lavendel, Rosmarin-Büsche sowie eine riesige Cycas gediehen in diesem mediterranen Klima bestens. Die Cycas ist eine sehr langsam wachsende Pflanze, eine Art Palmfarn. Sie wirkt mit ihren hartlaubigen, gefiederten, grünen Wedeln ziemlich exotisch. Wir lernten, wie wir bewässern mussten oder teilweise auch gar nicht, da einige Pflanzen so genügsam waren, dass sie in der vom Meer heraufsteigenden Nachtfeuchtigkeit hervorragend von selbst gediehen. Auch unsere Mimosen-Bäume zogen Aufmerksamkeit auf sich. Eine Art blühte das ganze Jahr über, wenn auch nicht so üppig. Der Höhepunkt unseres Gartens war jedoch ein voluminöser Strelitzien-Strauch – auch Storchenschnabel genannt – mit blauen, orangenen sowie weißen Blütenständen. Seine Blüte war im Winter und Frühjahr besonders farbenprächtig. Oft schnitt ich mir einen großen Strauß und nahm ihn mit nach Hause nach Deutschland. Wir erfreuten uns wochenlang an ihm, war es doch ein sehr dekorativer Schmuck, der vor allem in unseren Wintern ein Stück Sonne ins Haus brachte.

Der Garten war perfekt. Das Haus und die Wohnungen waren allerdings mehr als renovierungsbedürftig, sodass es mit den ruhigen Ferien erst einmal vorbei war. In den Folgejahren wurde gearbeitet und renoviert.

Die Terrasse vor dem Haus bot einen traumhaften Meerblick.

Wir verbrachten hier so manchen Abend mit leckerem Essen und dem Rosé aus der Coopérativen. Es wurde stets viel gelacht und die gegenseitige Gesellschaft genossen.

Mehrere Jahre besuchten uns unsere deutschen Freunde. Stets kam dabei das Gefühl von Familie auf.

Meine französischen Freunde schauten ab und zu vorbei oder wir besuchten sie.

Während es im Sommer stets nach Frankreich ging, trafen wir uns im Winter mit Virginia, Werner und ihren Kindern in Familienunterkünften in der Schweiz. Die Kinder gingen in den Skikurs. Für Lilly gab es die Gelegenheit zum Schwimmen. Oft äfften unsere Kinder das Schwyzerdütsch