Die Legende der Amurak - Mandy Hagebölling - E-Book

Die Legende der Amurak E-Book

Mandy Hagebölling

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Beschreibung

Der weiseste Drache der bekannten Welt, wählte ein einfühlsames Kind zum nächsten Herrscher der Amurak, auf das es die Wunden seines Volkes heilen möge. Doch dieses Kind wurde entführt und es ahnt noch nichts von seinem Schicksal. Für den Heiler Firas gehört Magie ins Reich der Mythen und Drachen gibt es nur in alten Geschichten. Er lebt seit seiner Kindheit am gleichen Ort, hat seit Jahren den gleichen Tagesablauf, sehnt sich aber insgeheim nach der Welt da draußen. Als er die verbannte Prinzessin des kriegerischen Waldvolkes der Vie behandelt, erfährt er durch sie vom Krieg zwischen dem Waldvolk und den Wüstenlanden. Gemeinsam mit seinem impulsiven besten Freund, dem Flüchtling Rogue, beschließt er die Prinzessin wieder nach Hause zu begleiten, um um Friedensverhandlungen zu bitten. Er weiß jedoch nicht, dass Rogue Rache an den Vie geschworen hat. Firas erfährt mit jedem Schritt der Reise mehr über sich selbst und seine Herkunft. Als seine magischen Fähigkeiten erwachen, werden sie so schnell stärker, dass sie drohen ihn zu zerstören. Ihm wird von Weisen und Gelehrten offenbart, dass ein Drache auf ihn wartet und dass er in die Stadt seiner Geburt zurückkehren muss, um dort die Herrschaft über die Amurak anzutreten und mehr über Magie zu lernen. Doch wie soll man sein Volk führen, wenn man es nicht kennt? Wie soll man seine Magie beherrschen, wenn man dachte, sie wäre ein Mythos?

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Seitenzahl: 677

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Mandy Hagebölling

Die Legende der Amurak

Das Erwachen der Empathie

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

Es ist ausdrücklich untersagt, dieses Werk oder Teile davon, ohne vorherige schriftliche Genehmigung der Autorin, für Zwecke des automatisierten Text- und Datamining zu nutzen.

 

Erste Auflage, 25.08.25 © 2025 Mandy Hagebölling Alle Rechte vorbehalten.

 

 

 

Murakische Runen: Sean Mahana

Coverdesign, Illustrationen und Karten: Mandy Hagebölling

 

Mandy Hagebölling

Wackernheimer Straße 44

55218 Ingelheim

[email protected]

 

 

 

 

 

 

 

Dieses Buch ist für alle, die ihre Heimat suchen, vermissen, oder verloren haben. Für die, die fliehen mussten, ob vor Krieg, vor Anderen, oder sich selbst. Hört nicht auf zu suchen. Möget ihr wieder Heimat und Frieden finden.

 

 

 

 

1.      Antortika : Prolog

2.      Heilende Hände

3.      Geständnisse in sturmdurchpeitschter Finsternis

4.      In Sicherheit

5.      Eine Prinzessin in der Fremde

6.      Schatten der Vergangenheit

7.      Ein Abenteuer beginnt

8.      Manche Talente sind ein Fluch

9.      Helfende Hände

10.        Kaum Pause für Heiler

11.        Gemeinsamer Schmerz

12.        Neues Leben

13.        Schwur eines Gequälten

14.        Pläne für den Frieden

15.        Hilflosigkeit

16.        Ein eiskalter Hoffnungsschimmer

17.        Kein Glückstag

18.        Von kleinen und großen Monstern

19.        Himmel und Hölle

20.        Die letzte Nacht der Lieder

21.        Ich liebe Dich

22.        Abschied

23.        Der Wald der Vie: Prolog

24.        Dunkelheit in violettem Schein

25.        Es werde Licht, oder nicht

26.        Von Tropfen und Steinen

27.        Finde deinen Mondstein

28.        Neue Magie und alte Erinnerungen

29.        Geister der Vergangenheit

30.        Ein See voller Rätsel

31.        Hoch in die Heimat

32.        Neue Welten

33.        Die Seherin und eine blinde Hoffnung

34.        Geburt der Flamme

35.        Der Weg zum König

36.        Schmerzvoller Abschied

37.        Im Thronsaal der Ibald Eiche

38.        Das Gefängnis und der kalte Fall

39.        Schrecken der Erkenntnis

40.        Das letzte Festmahl

41.        Verlorene Liebe und gewonnene Drachenmagie

42.        Flug ins Ungewisse

43.        Vom Abstieg

44.        Surian an den Wassern

45.        Die Phasen der Trauer

46.        Das zweite Erwachen

47.        Aufbruch

48.        Neue Welten

49.        Ankunft

50.        Stark und schwach

51.        Freund und Feind

52.        Süßer die Düfte nie klingen

53.        Danke

54.        Neuanfang

55.        Weise und verloren

56.        Die Last der Verantwortung

57.        Erwachen

58.        Epilog

 

 

 

 

1.                Antortika : Prolog

 

 

Der magische Schild flirrte und schützte Vincent R. vor den Blicken der Wachen. Er war ein Straßenkind und doch kannte er den Palast wie den Inhalt seiner Hosentasche.

In seinen Eingeweiden rumorte es. Ein Teil von ihm sträubte sich mit aller Macht gegen dieses Vorhaben, doch er sah keine andere Möglichkeit. Er würde den lang ersehnten nächsten Dragonn der Amurak an sich nehmen und still und leise aus der Stadt schaffen. Damit würde er seinem besten Freund das nehmen, was ihm am meisten bedeutete, seinen Sohn. Konnte ein Vater, der es fertiggebracht hatte, die Mutter seines Kindes zu ermorden überhaupt Trauer darüber empfinden? Oder nur Wut? Kannte so jemand überhaupt echte Freundschaft?

Er blickte auf. Das Fenster des Schlafgemachs stand weit offen. Vielleicht sollte das hier doch so geschehen, vielleicht war das Schicksal auf seiner Seite.

 

2.                Heilende Hände

 

 

 

 

„Ihr müsst die weiße Magierin finden, sie erwartet euch.“ Die Stimme der alten Frau war nur noch ein Röcheln, doch schien sie erregt und hellwach. Meister Kyrion hatte ihm gesagt, dass sie Wasser in der Lunge hatte und wahrscheinlich die Nacht nicht überstehen würde. „Beruhigt euch“, sagte Firas sanft und nahm ihre zitternde rechte Hand in die seine. Sie musterte ihn erneut, ihr Blick wanderte von seinem offenstehenden Hemd nach oben, bis sie ihm direkt in die Augen sah. Sie schien alles zu sehen, selbst sein Inneres. Dann begann sie zu weinen, dicke Tränen liefen über ihre Wangen. Firas konnte zwei kleine Sterne erkennen, die unter das rechte Auge der Dame tätowiert worden waren. „Ich bin so froh, dass ihr noch lebt“, murmelte sie. „Danke.“ Firas war gleichermaßen gerührt wie verwirrt. Ihm ging das Herz auf und er fühlte sich so unbeschwert wie seit langem nicht mehr, doch diese Welle der Glückseligkeit passte weder zu seiner jetzigen Situation, noch zum gesundheitlichen Zustand seiner Patientin. „Wir haben so lange gewartet“, hauchte sie und strich mit der freien Hand über seine Wange. „Die weiße Magierin, geht zu ihr!“ Sie keuchte zwischen jedem Wort. Firas hielt ihre Hand, bis sie ihren letzten Atemzug getan hatte. „Kennst du diese Frau?“, fragte ihn Kyrion, der Meister der Heilung. „Nein. Aber sie kannte mich.“ Mit wild pochendem Herzen erwachte er aus seinem Traum. Er sah an sich herab und stellte erleichtert fest, dass die Schüssel mit Brei und Beeren, die er sich zum Frühstück geholt hatte, noch in seinem Schoß lag. Er hätte gestern Abend früher zu Bett gehen sollen. Firas schloss die dunkelblauen Augen wieder, er spürte den Wind, der sein nachtschwarzes Haar zerzauste und die Sonne, die die Haut auf seinem Gesicht erwärmte. Es roch nach trockenem Gras und nach dem ständig präsenten Sandstaub, der jede Ritze seiner Kleidung akribisch untersuchte, nur um an seiner Haut vorbeizustreifen und durch das nächste Loch in seinem Leinen wieder in die Freiheit zu entschwinden. Er liebte die Geräusche der Natur hier draußen, das Rauschen des Windes, das Gluckern des Flusses an seiner linken Seite und das Donnern des Wasserfalls hinter ihm. Er hörte gerne die Geschichten anderer, half ihnen gerne, doch erholen konnte er sich nur allein. Mit seiner Frühstücksschale in der linken Hand, aß er ohne hinzuschauen. Als er die Augen wieder öffnete, nutze er ihre Schärfe nur, um auf die Weiten des Grasmeeres jenseits des Abhangs zu schauen, wo die Halme im Wind auf und ab geschaukelt wurden. Es hatte lange nicht geregnet, also war das Gras abseits des Flusses braun geworden. Firas fragte sich wie sie wohl wirklich war, die Welt da draußen. Geschichten hatte er zu hunderten gehört und gelesen, doch er kannte nur die Gebäude Antortikas und die Ländereien in unmittelbarer Nähe. All die Jahre hatte es ihm gereicht, aber jetzt war er sich plötzlich nicht mehr sicher. All die Jahre hatte er versucht mehr über seine Familie zu erfahren, doch niemand vom Volke der Amurak blieb außer dem obersten Meister lange genug hier, um ihm seine Fragen zu beantworten. Er blickte gen Himmel. Die alten Legenden sprachen von Drachen und Nazgar, mächtigen Echsen und Vögeln, so groß, dass es sogar Menschen gegeben hatte, die auf ihnen reiten konnten. Doch das waren nur Legenden, nicht wahr? Sie hatten mit seiner Realität nichts zu tun.

Firas seufzte, seine Frühstücksschale war nun leer und er hatte heute noch viel zu tun, also machte er sich auf den Weg in das von lautem Stimmengewirr erfüllte Mensarium, um dort im hinteren Teil seine Schale mitsamt Löffel zum Spülen abzugeben. Der umliegende Gebäudekomplex, den er sein zu Hause nannte, war ein Zufluchtsort für alle, die es nach Wissen dürstete und auch für solche, die hier auf eine sichere Bleibe, oder auf Heilung hofften. Dabei war egal aus welchem Teil des Kontinents man kam, was in Firas Augen nur gerecht war. Das System von Antortika funktionierte nach einem einfachen Prinzip aus Rechten und Pflichten. Man hatte das Recht auf ein Dach über dem Kopf, mit einer sauberen Schlafstatt und drei Mahlzeiten am Tag. Man durfte am Wissen der Meister teilhaben und wurde gepflegt, sollte man sich verletzen, oder krank werden. Zu den Pflichten gehörte die Arbeit für die Gemeinschaft, zum Beispiel im Mensarium, oder den Wäschereien, in den Gärten, oder Feldern. Firas arbeitete an den meisten Tagen für Meister Kyrion den Heiler. Doch hin und wieder teilte ihn Saria, die junge, intelligente Frau mit der schnellen Zunge, die den Meistern bei der Organisation half, auch für handwerkliche oder häusliche Arbeiten ein. Heute hatte sie ihn nicht rufen lassen, also ging er direkt zu den Räumen der Heilung. Im gleichen Moment, als ihm das Stöhnen, Husten und Schniefen zusammen mit den Gerüchen von Blut, Heilsalben und Eiter entgegenschlug, wurde er auch schon rau und stürmisch begrüßt. „Ayoha, Firas. Ich bin so froh, dass du hier bist.“ Kyrion grinste über das ganze zerfurchte Gesicht und stupste ihn freundschaftlich an. Er schmunzelte und legte dem ergrauten Meister sanft die Hand auf den Unterarm. „Ayoha, Meister. Wo kann ich dir heute am besten behilflich sein?“ „Über Nacht sind viele neue Flüchtlinge aus den Kriegsgebieten der Wüstenlande angekommen, wir müssen jeden untersuchen und entscheiden, wem wir zuerst helfen müssen.“

Das klang nach einer sehr ernsten Lage. „Alles klar, dann lass uns beginnen, je schneller wir ihnen helfen, umso besser.“ Die beiden verbrachten die nächsten Stunden damit dehydrierte, geschwächte und verwundete Patienten zu versorgen. Als der Mittag nahte, schmerzten Firas bereits alle Glieder und er hatte das Gefühl ihm säße ein ausgewachsener Ziegenbock auf der Brust. Meister Kyrion zog ihn kurz beiseite und sagte leise zu ihm: „Denk daran: Sie sind es, die geschwächt oder verletzt sind. Nicht du.“ Er kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass Firas sich zwar oft genauso fühlte wie seine Patienten, aber nur selten einmal wirklich krank wurde. Am Ende des Arbeitstages wischte sich Kyrion den Schweiß von der faltigen Stirn, und wandte sich ihm zu. „Danke für deine Hilfe Firas. Du warst heute bei der Arbeit noch stiller als sonst, hast du etwas auf dem Herzen?“ „Wenn ich ehrlich bin, zieht es mich hinaus. Ich erwische mich dabei, dass ich jeden Tag länger auf der Bank außerhalb des Mensariums sitze und in die Ferne starre. Ich möchte wissen was dort draußen ist und zwar nicht nur aus Schriften oder Geschichten, die beim Feuer erzählt werden. Ich möchte es selbst sehen und erleben. Außerdem möchte ich endlich meine Familie finden. Eines Tages, in nicht allzu ferner Zukunft, hoffe ich. Aber ich möchte euch auch nicht im Stich lassen, Meister.“ Kyrion wurde ernst und eine Spur von Traurigkeit huschte über seine gealterten Züge. Er nahm Firas Hände in die seinen. Es fühlte sich an, als würden sie von altem Pergament umhüllt: „Du würdest uns allen fehlen. Mir, Rogue, Tomara und Raegon sicher am meisten. Doch es ist dein Leben, mein Freund, und nur du weißt, wohin dich deine Schritte führen sollen. Möge es ein glückliches Leben sein.“ Firas hatte das Gefühl sein Meister würde sich bereits jetzt von ihm verabschieden, dabei glaubte er nicht, dass er schon so weit war. Irgendetwas fehlte noch. Der Alte unterbrach seine Gedanken: „Du hast für heute mehr als genug geholfen. Bitte komm morgen früh wieder zu mir, dann können wir uns weiter um die Verletzten kümmern, die Verbände wechseln und so weiter. Ich werde Vanessa rufen, damit sie heute Abend und heute Nacht über die Kranken wacht.“

Firas war erschöpft und froh über das Ende dieses anstrengenden Arbeitstages.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

3.                Geständnisse in sturmdurchpeitschter Finsternis

 

 

 

 

Firas wollte noch ein wenig frische Luft außerhalb der Mauern schnappen, doch die Sonne würde bald untergehen und die Kraft der Stürme hatte zugenommen, wie so oft beim Wechsel zwischen Tag und Nacht. Seine Gedanken kreisten noch um sein Gespräch mit Kyrion und seinen Drang etwas von der Welt außerhalb seiner Heimat zu sehen. Was würde er überhaupt alles benötigen, um dort draußen zurechtzukommen? Beinahe täglich zogen hier neue Bewohner ein und aus, doch er hatte sich nie die Mühe gemacht zu beobachten, was sie bei sich trugen, oder zu welchem Zeitpunkt es Ihnen notwendig erschienen war, hierher zu kommen, oder wieder hinaus in die Welt zu ziehen. Einfach irgendeinen von Ihnen anzusprechen, erschien ihm völlig abwegig, aber ihm fiel gerade eine Person ein, mit der er darüber sprechen konnte. Jemanden der sogar verrückt genug war, um mit ihm bei diesem Wetter einen Spaziergang zu machen und verschwiegen genug um seine wagen Pläne nicht gleich als neuestes Gerücht zu behandeln. Firas machte sich auf den Weg zu den Quartieren. Er hoffte Rogue in seiner Kammer anzutreffen, blieb vor dem Vorhang, der dessen privaten Raum vom Gang trennte, stehen und fragte: „Rogue, bist du da?“ Die raue Stimme antwortete: „Eigentlich nicht, aber komm trotzdem rein.“ Er grinste und schob den schweren Vorhang beiseite. Rogue saß an seinem Tisch und war über eine Schriftrolle gebeugt. Firas vermutete, dass sein Freund Tomara der Bibliothekarin wieder so lange Komplimente gemacht hatte, bis diese ihm erlaubt hatte die Rolle mitzunehmen, obwohl dies eigentlich nur Meistern gestattet war. Rogue nutzte seinen Charme gnadenlos aus, seit er die Aufnahmeprüfung zum Meisterlehrling im ersten Anlauf nicht bestanden hatte. Seine Neugier und die Anziehung des Mädchens waren nach eigener Aussage stärker, als die Angst vor einer Schelte durch die Meister, oder einem Rauswurf aus Antortika. Im Moment war nur Rogues rechte Seite zu sehen, doch als er sich zu ihm umdrehte, konnte man sofort die Narben auf seinem Gesicht erkennen. Firas musste noch immer ein Schaudern unterdrücken, wenn er die üblen weißen Striemen sah, die sich über die Wange des Freundes zogen und an seinem linken Auge vorbei gingen. Sie schrien einem förmlich entgegen, weil sie einen Kontrast zu seiner dunkelbraunen Haut bildeten. Firas hatte damals gerade bei Kyrion Dienst gehabt, als Rogue, gestützt von Siras dem Wachmann, in die Räume der Heilung gewankt war. Obwohl seine Wunden sicher unerträglich geschmerzt hatten, war er dankbar und voller Humor geblieben. Firas hatte schon nach kürzester Zeit gemerkt, dass mit Rogue ein sehr tapferer, charmanter und vertrauenserweckender Geselle die Räume und Gänge von Antortika betreten hatte. „Was liest du da Spannendes? Gibt’s was Neues von Tomara?“, fragte Firas. „Eine Schriftrolle aus Meister Raegons Privatbesitz. Es geht um die Legende der Amurak. Hier ist sogar ein Gedicht drin:

 

Saros Sohn, vom ältesten Drachen geehrt,

wurde durch Verrat uns verwehrt.

Der Dragonn wurde uns genommen,

unsere Kraft ist mit ihm zerronnen.

Die weiseste Bestie wird gehorchen seinem Befehle,

um zu ehren die Macht und Magie seiner Seele.

Möge er Heim kehren, vor dem Ende der Zeit,

wir hoffen weiter, wir sind bereit.“

 

Als er darauf nur mit einem Schulterzucken antwortete, fragte Rogue: „Was führt dich zu mir?“ „Lass uns einen Spaziergang im Freien machen.“ Er starrte ihn an, als wären ihm Hörner gewachsen. „Du willst raus? Bei dem Sturm? Außerdem wird es doch gleich dunkel. Was hat dich denn geritten?“ „Du weißt doch, dass ich draußen besser denken kann. Hier drin fühle ich mich zurzeit nur eingesperrt.“ Sein Freund fing an schelmisch zu grinsen, was bei ihm angesichts der Narben, sehr beeindruckend aussah. „Du solltest dir mal ein Mädchen suchen, das lenkt dich ab.“ Rogue lachte jetzt, wurde aber schnell wieder ernst. „Ist schon gut, du musst mich nicht so entnervt ansehen, ich komme mit. Wer außer uns wäre auch sonst so bekloppt bei so viel Wind draußen im Dunkeln herumzuwanken.“ Rogue rollte die Schrift zusammen und Firas sah schweigend zu, wie er sie in seiner Truhe verstaute.

Sie konnten bereits trotz des geschäftigen Treibens im Inneren den Wind um die Gebäude pfeifen hören. Doch ihr Entschluss stand fest und sie bahnten sich einen Weg durch die Gänge, um zu dem kleinen Platz zu gelangen, der von Gebäuden umschlossen, am Rand der Felswand lag, die sich direkt hinter Antortika bis in den Himmel hinauf türmte. Draußen angekommen wurden sie von Sandkörnern umwirbelt. „Gut. Dann lass uns in Richtung des Rabelwarer Tores gehen. Du kannst mir auf dem Weg dorthin erzählen was uns nach hier draußen verschlagen hat.“ Das Rabelwarer Tor war vor vielen Jahren in den Felsen eingelassen worden. Damals hatte der wissensdurstige Meister, dem es seinen Namen verdankte, den Auftrag gehabt einen Tunnel in den Berg zu graben, um zu erfahren was dahinter lag. Doch nach ein paar Jahren des Einhackens auf nackten Stein hatten sie aufgegeben müssen. Es hatte mehrere Einstürze im Berg gegeben und es war selbst nach all der Zeit kein Ende in Sicht gewesen. Die Dunkelheit hatte den Arbeitern nicht behagt und nacheinander hatten viele die Gegend verlassen, um sich woanders eine Arbeit zu suchen. Tom Rabelwarer war zu Firas Leidwesen seit Jahren verschwunden. Er hatte in seiner Kindheit viel Zeit mit ihm verbracht und fragte sich oft was den Meister dazu bewogen hatte, Antortika ohne ein Abschiedswort zu verlassen. Seit seinem Verschwinden war das Tor fest verschlossen, damit keines der Kinder, die hier draußen gerne spielten, oder irgendwelche Abenteuerlustige, in den gegrabenen Höhlen einem weiteren Steinschlag zum Opfer fielen. Es waren nur ein paar dutzend Schritte bis dorthin, doch bei dem nur noch spärlichen Licht und den mit Sandkörnern bewaffneten Windböen, vor denen auch die umliegenden Mauern nur wenig schützten, nahm der Weg wesentlich mehr Zeit in Anspruch. Rogue riss Firas aus seinen Gedanken, als er ihm zurief: „Jetzt erzähl schon, oder willst du, dass der Sand uns die Haut von den Gesichtern gemahlen hat, bevor du angefangen hast zu sprechen??“ „Weißt du, ich erwische mich immer öfter bei dem Gedanken diesen Ort hier zu verlassen. Ich frage mich wie die Welt da draußen wohl wirklich ist. Wie lebt es sich in den Grasmeeren, an den Küsten, in der Wüste im fernen Norden? Sollte ich vielleicht versuchen ins Land der Amurak zu gelangen, um mehr über meine Familie zu erfahren? Ich kenne Geschichten von vielen Leuten, die hierherkamen, aber das sind eben nur Geschichten. Ich habe seit ich denken kann immer nur in diesen Mauern gelebt. Mir geht es hier gut, versteh mich nicht falsch und ich bin den Meistern hier sehr dankbar, aber das hilft nicht gegen diese Sehnsucht.“ „Wenn du nicht älter wärst als ich, würde ich sagen du wirst erwachsen.“ Rogue zwinkerte. „Lass mich raten, du wolltest hier draußen mit mir sprechen, weil du nicht willst, dass deine Gedanken Raegon zu Ohren kommen, bevor du so weit bist und weil du denkst, dass ich dir helfen kann bei der Vorbereitung auf deinem Weg in die Freiheit, stimmt´s?“ Firas nickte nur, der Wind hatte ihm den Mund ausgetrocknet und ihm war es unbehaglich, dass Rogue ihn direkt durchschaut hatte. Also schwieg er noch, in der Hoffnung Rogue würde ihm auch so sagen, was er davon hielt und wie er nun vorgehen könnte. Dieser Wunsch erfüllte sich, denn der Freund kannte ihn gut: „Hör zu: ich denke Raegon wird vielleicht gar nicht so überrascht darüber sein, dass du gehen willst. Er mag zwar alt sein, aber das macht ihn nicht blind, ich glaube eher, dass er dadurch nur noch mehr sieht, wenn du verstehst, was ich meine. Natürlich wird er nicht begeistert sein. Nach allem was ich weiß, bist du für ihn wie ein Sohn, also wird er dich vermissen. Was ich natürlich überhaupt nicht nachvollziehen kann. Ich meine: was will man schon mit so einem blauäugigen stillen Dickschädel, der noch nicht mal in die Fußstapfen seines Ziehvaters treten will.“ Rogue grinste breit und zwinkerte ihm zu. Firas verdrehte die Augen und brummte. Der Freund fuhr fort: „Pass auf! Ich rate dir Folgendes: sei ehrlich, wie du es immer bist, wenn du mal den Mund aufbekommst. Sprich mit Raegon. Und wenn du dich wirklich dazu entscheidest zu gehen, dann helfe ich dir bei den Vorbereitungen. Vielleicht begleite ich dich sogar ein Stück.“ Er konnte es nicht lassen hinzuzufügen: „Sonst verläufst du dich noch.“ Sie waren jetzt an dem Felsvorsprung vor dem Tor angekommen und genossen es für einen Moment dem Geprassel der Sandkörner auf ihrer Haut entronnen zu sein, Firas lehnte sich an. Der Tag hatte ihn doch mehr erschöpft, als ihm zuerst bewusst gewesen war. „Ja, ich sollte wirklich mit Raegon darüber sprechen. Aber es behagt mir nicht. Es wird eine Enttäuschung für ihn sein, denke ich.“ Rogues diamantfarbene Augen schauten gedankenverloren über die Gebäude Antortikas hinweg zum Himmel hinauf, als könnten die Sterne ihm selbst dann einen Rat erteilen, wenn sie im Verborgenen funkelten. „Veränderungen behagen einem im ersten Augenblick selten. Aber wenn der Gedanke an sie einen verfolgt, dann will das Leben dich voranbringen. Nur aus Veränderung kannst du lernen und wachsen. Und mal ganz im Ernst: Das Studium all der Schriftrollen in den Hallen der Erkenntnis und das Wissen um all die Geschichten, die dieser Ort schon gehört hat, ist nichts im Vergleich zum echten Leben da draußen und bringt dir auch nicht deine Familie zurück. Aber das scheinst du ja schon selbst herausgefunden zu haben.“ Firas fuhr sich mit der Hand durch die stets wild abstehenden Haare und schüttelte den Kopf. „Das sagt der Richtige. Was willst du denn dann mit den ganzen Schriftrollen?“ Rogue prustete: „Du verstehst mich falsch: ich besorge mir die Schriftrollen nicht nur aus Neugier – ich will mich auch so tief es geht mit diesem wunderbaren, wunderschönen Wesen in der Bibliothek verschwören. Ich würde den schlimmsten Ärger mit den Meistern riskieren, nur um eine Ausrede zu haben regelmäßig mit ihr tuscheln, zwinkern und am besten noch…. Lassen wir das, es geht hier um dich und dein weiteres Leben nicht um meines.“ Firas hatte Rogue nie gefragt, warum er eigentlich Zuflucht in Antortika gesucht hatte, von seinen Verletzungen mal abgesehen. War es von Anfang an sein Plan gewesen zum Meister ausgebildet zu werden? Gerade wollte er den Freund endlich mal nach seiner Herkunft fragen, als es plötzlich hinter ihm polterte. Hatte er es sich eingebildet, oder hatte das Tor leicht gewackelt? Firas legte sein Ohr darauf und horchte, doch außer dem Rauschen des Windes konnte er nichts mehr hören. „Was ist denn mit dir los? Befragst du die Geister des Berges um Rat?“ Rogue witzelte zwar, sah aber alarmiert aus. Firas brachte ihn mit dem Finger vor dem Mund zum Schweigen. „Schscht. Sei still. Ich habe etwas gehört und das Tor hat sich bewegt.“ „Was gibt es da drin schon zu hören? Vielleicht hat sich der Wind durch eine Ritze in die Höhlen dahinter gestohlen.“ Doch Firas ließ sich von diesen Zweifeln nicht beirren. Er war sich sicher. „Nein! Da ist jemand! Ich weiß es, ich kann sie fühlen?“ Rogue glotzte ihn an, als hätte er völlig den Verstand verloren, dann begann er zu kichern. „Du brauchst wirklich eine Freundin, wenn du schon anfängst von Frauen im Berg zu phantasieren. Ich stell mir gerade vor, wie dich so eine in Felle gekleidete Schönheit in die Welt hinauszieht.“ Begriff sein Freund denn nicht, dass die Angelegenheit dringend war?? „Hilf mir bitte das Tor zu öffnen! Jetzt mach schon!“ „Lass mich raten: Du hast nie die Geschichte vom Bau des Rabelwarer Tors gelesen, was?“ „Nein. Ich erschmeichele mir keine Schriftrollen. Wurde darin auch gesagt, wie man es öffnet?“ Rogue hatte die Stirn gerunzelt. Plötzlich zuckte er zusammen und starrte entsetzt auf das Tor. „Rogue! Nun sag schon! Wie öffnet man es?“   „Such einen eingeritzten Diamanten. Rabelwarer war besessen von Edelsteinen. Wenn du ihn gefunden hast, dann drücke mit deiner Hand fest auf die Stelle, ich mache das gleiche auf der anderen Seite!“ Firas versuchte angestrengt in der wachsenden Dunkelheit etwas zu erkennen. „Da! Ich hab‘ ihn!“ Am rechten Rand des Tores, etwa eine handbreit über seinem Kopf, war ganz blass ein ungewöhnlicher Umriss im Felsen zu sehen, der sich bei näherem Hinschauen als eingeritzter Diamant entpuppte. Firas gab Rogue mit der anderen Hand ein Zeichen und drückte fest auf die Stelle. Es ertönte ein Knirschen und Ächzen, Sand und kleine Steinchen rieselten vom oberen Rand des Tores auf sie herab. Keuchend pressten sie mit aller Kraft dagegen, bis es sich endlich einen Spalt breit öffnete.

Ein Stöhnen drang aus der Höhle. „Da drin ist jemand!“, rief Firas wieder und drückte sich durch die entstandene Lücke. Er konnte in der Dunkelheit kaum etwas sehen, also kniete er sich auf den Boden und tastete. Seine linke Hand berührte etwas. Haare! Ein Ohr! Er streckte sich noch tiefer in die Höhle, bekam ihre Arme zu fassen und zog das Geschöpf auf seinen Schoß. Sie hatte lange weiße Haare, aber junge, elegante Gesichtszüge und war in schwarzes Leder gekleidet, ihre Schuhe waren zerschlissen und die daraus hervorschauenden Fußsohlen zerschunden. Sie hatte die Augen geschlossen und rührte sich nicht mehr. Firas strich ihr über den Arm, wie aus der Ferne hörte er, dass Rogue vor Erstaunen und Schrecken scharf die Luft einsog. „Das ist eine Vie! Ich glaub es nicht!“ Firas fragte sich noch was eine Vie war, als Rogue schon fortfuhr: „Atmet sie noch?“ Diese Frage holte ihn aus seiner Starre. Er nahm das Mädchen in seine Arme, erhob sich und lief so schnell er konnte, in Richtung der Gebäude. Er musste sie in die Räume der Heilung bringen. Nein, noch besser, er würde sie in seine Kammer tragen.

 

4.                In Sicherheit

 

 

 

 

Firas lief so schnell er konnte die nun fackelbeleuchteten Gänge entlang und bemerkte nur nebenbei, dass Rogue hinter ihm herlief und hektisch auf ihn einredete. „Wo bringst du sie hin? Lebt sie noch? Wir müssen Kyrion verständigen. Ja, das wird das Beste sein. Er wird wissen was zu tun ist. Eine Vie, ich kann es einfach nicht fassen...“ Endlich hatte Firas den Korridor erreicht, in dem seine Kammer lag. Mit dem Rücken voran schob er sich durch den schweren Vorhang. Rogue hinter ihm hielt den Stoff zur Seite, sodass Firas durch das Licht im Gang sein Bett sehen konnte. Er fluchte. Decke, Kissen und Laken waren ein einziges Durcheinander. Nachdem er sich in der letzten Nacht hin und her gewälzt hatte, war ihm am Morgen gar nicht in den Sinn gekommen sein Bett zu machen. Er konnte die Frau doch nicht einfach auf den Boden legen. „Rogue! Schieb mal das Chaos auf Seite!“ Seine Stimme quietschte fast vor Verzweiflung. Rogue hörte auf am Vorhang zu stehen und unruhig auf und abzuwippen, ging in Windeseile zum Bett und schob die Laken aus Leinen und das Federkissen zurecht. Die Decke knetete er in der Hand, während er unablässig vor sich hinmurmelte. Firas nutzte die nun freie Bahn und legte die zierliche Gestalt auf sein Bett. Er hielt sein Ohr auf ihre Brust, er konnte ihren Herzschlag hören und spürte, wie sich die Brust hob und senkte, trotzdem wollte er sicher gehen. Der Meister der Heilkunst musste her. „Hol Kyrion! Sag ihm es ist ein Notfall! Beeil dich! Sie atmet noch, aber ich bin mir nicht sicher, warum sie ohnmächtig ist und was ihr fehlt. Nun starr mich nicht so an! Geh schon!“ Rogue entfernte sich. Ein paar andere Bewohner standen auf dem Gang und schauten neugierig in Firas Zimmer.   „Kennt ihr denn gar keinen Stolz? Müsst ihr so glotzen? Helft oder geht!“ Die Gaffer verschwanden, Firas nahm ein sauberes Tuch aus der schlichten Truhe, in der sich sein ganzer Besitz befand, und befeuchtete es mit einem Schluck Wasser aus seiner Karaffe. Er würde ihr erst einmal vorsichtig den Sand vom Gesicht und von den Armen waschen. Ihre aufgeplatzten Lippen könnte er auch etwas betupfen. Als seine Hände beschäftigt waren, gingen die Gedanken in seinem Kopf auf Wanderschaft. Wie hatte Rogue sie genannt? Eine Vie? Von diesem Volk hatte Firas noch nie gehört und dabei hatte er immer gedacht, er kenne sich aus, nach all den Leuten aus verschiedenen Ländern, die hier schon Zuflucht gesucht hatten. Wie war sie überhaupt in den Berg gekommen? Neue Bewohner kamen IMMER durch das Haupttor im Norden, wie sollte es auch anders sein, wo die Gebäude doch mit ihrer Südseite an den Berg grenzten. Die Felsen des Berges waren so steil und unwegsam, dass es noch nie jemand gewagt hatte sie zu besteigen. Nicht umsonst hatte Rabelwarer damals den Auftrag gehabt einen Tunnel in den Berg zu graben. Firas hatte das Gesicht des Mädchens nun vom gröbsten Staub und Schmutz befreit. Ihre Haut roch nicht mehr nach Stein und Erde, eher nach Gras und Beeren. Er war so versunken, dass er erst merkte, dass Kyrion in seine Kammer getreten war, als dieser neben ihm und dem Bett umständlich auf die Knie sank. „Rogue hat mir erzählt, ihr habt sie hinter dem Rabelwarer Tor gefunden. Er hat jedoch so vor sich hin gestammelt, dass ich zunächst gedacht habe er redet wirr.“ Firas fand es beruhigend zu sehen, dass der Heiler während er sprach bereits fachmännisch die Stirn des Mädchens betastete und ihren Puls fühlte. „Sie hat kein Fieber und ihr Puls ist stark, aber ich werde sie ausziehen müssen, um zu sehen, ob sie verletzt ist.“

Das Letzte was Firas wollte, war sie zu verlassen, stattdessen stand er auf und zog den Vorhang zu, den Kyrion offengelassen hatte. Er stellte dankbar fest, dass der Meister eine Kerze mitgebracht hatte, die nun den Raum ein wenig erhellte. Firas nutzte die kleine Flamme, um den Leuchter an der Decke zu entfachen, hell flackerndes Licht erfüllte den Raum. „Ich drehe mich um.“ Als er, statt auf das Mädchen in seinem Bett, nun auf die offene Truhe starrte, fiel sein Blick auf sein zweites Hemd und seine zweite Hose. Er nahm das Hemd und hielt es hinter sich. „Hier bitte. Bis wir etwas Passendes für sie besorgen können.“ Kyrion nahm das Kleidungsstück entgegen. „Danke, mein Junge.“ Für Firas dauerte die Untersuchung eine Ewigkeit. Was konnte man an so einem kleinen Körper schon alles untersuchen?? Sicher musste Kyrion doch mittlerweile wissen, ob sie ernsthaft verletzt war. Als es für ihn schon unerträglich zu werden schien, begann der Meister zu sprechen: „Ich konnte keine schweren Verletzungen finden. Sie ist jedoch sehr erschöpft, abgemagert und nahezu ausgetrocknet. Ihre Füße und Beine machen mir ein wenig Sorgen, sie wird sicher ein oder zwei Tage lang nur unter Schmerzen laufen können. Ich werde ihr etwas Lavendel bringen, das wird ihr helfen ruhig zu schlafen. Außerdem brauche ich eine Ringelblumensalbe und Verbandsmaterial für ihre Füße.“ Er sprach leise weiter, wie zu sich selbst: „Auf dem Weg ins Kräuterarchiv kann ich gleich auch Saria fragen, wo es gerade freie Quartiere gibt.“ „Nein. Sie bleibt bei mir“, hörte Firas sich augenblicklich sagen. Kyrion zog die Augenbrauen hoch: „Und wo willst du schlafen, mein Freund? „ „Ich schlafe natürlich auf dem Boden, dann kann ich über sie wachen und dich sofort rufen, wenn sie weitere Hilfe braucht.“ „Wie du meinst. Ich werde die Kräuter und das Verbandsmaterial holen.“ Eine wohlige Wärme erfüllte Firas: „Ich danke dir von ganzem Herzen.“

Kyrion lächelte kurz, dann verschwand er durch den Vorhang und Firas war wieder allein mit ihr. Erschöpft sank er vor dem Bett auf die Knie und legte seinen Kopf neben ihre feingliedrige Hand. Er musste wohl eingedöst sein, denn als er wieder erwachte duftete seine Kammer nach Lavendel. Der Geruch stieg von einer Schale auf, die jemand auf seinen Tisch gestellt hatte und auf seiner nun geschlossenen Truhe lag, ordentlich zusammengefaltet, ein Stoß frisches Leinen. Kyrion hatte ganze Arbeit geleistet. Das Einzige, was noch fehlte, waren die Verbände an ihren Füßen und Beinen. Firas fragte sich verschlafen, ob der Heiler die Salbe vielleicht erst noch herstellen musste. Hinter ihm wälzte sich das Mädchen hin und her und ihm wurde jetzt bewusst was ihn geweckt hatte. Immer unruhiger wurde ihr Schlaf. Sie stöhnte. Der ausgetrocknete Mund öffnete sich und eine glockenhelle, aber heisere Stimme murmelte Worte in einer Sprache, die er noch nie gehört hatte. Er beträufelte wieder die geschundenen Lippen und befeuchtete ihr die Stirn. Als das nur wenig half, setzte er sich neben sie auf das Bett und hob sie in seine Arme. Eine abgrundtiefe Angst, die er sich nicht erklären konnte, umklammerte sein Herz. Mit der Zeit wurde sie wieder ruhiger und fiel zurück in einen tiefen Schlaf. Firas lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand, dort schlief er erschöpft wieder ein. Als er am Morgen erwachte, schmerzten ihm die Glieder. Ihm war viel zu warm und er spürte eine seltsame Schwere auf seinen Beinen. Firas war für einen kurzen Moment verwirrt, dann fielen ihm die Ereignisse des gestrigen Abends wieder ein. Diese zierliche, erschöpfte Gestalt, die er hinein und bis in seine Kammer getragen hatte, sein aufgeregt schnatternder Freund Rogue. Wo war der eigentlich? Warum war er nicht zurückgekehrt, um nach ihnen zu sehen? Warum war Kyrion nicht mit der Salbe und den Verbänden gekommen, oder war er das? Er konnte spüren, dass es bereits hell war und öffnete die Augen. Das Mädchen lag noch in seinem Schoß, sie schlief noch immer. Vorsichtig setzte Firas sich auf und legte seine Patientin ganz behutsam mit dem Kopf zurück auf das Kissen. Sein Körper fühlte sich an wie mit Kruste überzogen und das Mädchen in seinem Bett sah, bis auf ihr Gesicht, auch nicht sauberer aus. Wasser, Seife und trockene Tücher mussten her. Sollte er sie wirklich allein hier liegen lassen? Es blieb ihm wohl nichts anderes übrig. Er stand auf, ging aus seiner Kammer und machte sich auf den Weg zum Bad. Angekommen holte er sich einen der Wasserkrüge, die in der Ecke standen und befüllte ihn an dem Strom frischen Wassers, der durch den mit Sandsteinfliesen gekachelten Waschsaal floss. Er nahm sich noch ein Stück Seife und einen Stoß weiße Tücher mit, bevor er langsam zurück zu seiner Kammer ging. Mit dem Rücken voran, schob er sich durch den Vorhang. Bei dem Versuch Krug, Seife und Tücher auf seinem kleinen Tisch abzuladen, stieß er die Lavendelschale hinunter. Während er auf dem nassen Boden herumkroch, um die matschigen Pflanzenteile wieder zurück in die Schale zu werfen, hörte er hinter sich ein leises, heiseres: „Wo bin ich? Und was machst du da auf dem Boden?“ „Ich habe den Lavendel umgestoßen, als ich den Krug hereingeschleppt habe. Zum Glück ist die Schale ganz geblieben, Kyrion brauch sie sicher noch.“ Er drehte sich um und schaute ihr in das verwirrt dreinblickende Gesicht. Ihre silberne Haarpracht war mächtig zerzaust, das erste Licht des Tages strömte durch die kleine Luke in der rechten oberen Ecke seiner Kammer herein und ließ die abstehenden Strähnen funkeln. Sie sagte nichts, wartete nur ab und er beeilte sich auch noch die erste Frage zu beantworten. „Du bist in Antortika.“ Als er immer noch fragend und etwas verwirrt angeschaut wurde, fügte er noch hinzu: „Hier kommen die Menschen hin, die zum Meister des Wissens ausgebildet werden wollen, oder Zuflucht brauchen.“ Das schien sie zufrieden zu stellen. „Ist das Wasser in dem Krug auf deinem Tisch? Mein Hals ist so trocken.“ Sie hustete. „Das ist Wasser aus dem Fluss, das würde ich nicht trinken. Es ist zum Waschen gedacht. Hier.“ Er hob die kleine Karaffe, die neben seinem Bett gestanden hatte, hoch und zeigte sie ihr. „Das ist Trinkwasser.“ Er goss etwas in seinen Becher und hielt ihn ihr hin. Sie nahm dankend an und begann sofort zu trinken. Sie zuckte leicht zusammen, als bereite das Schlucken ihr Schmerzen, schien sich aber mit jedem bisschen Wasser mehr zu erholen. Als sie den Becher gelehrt hatte, setzte sie sich ganz auf und schaute überrascht an sich herunter. Sein Hemd war an ihr viel zu groß, doch das schien sie im Moment nicht zu stören. Es bedeckte auch ihre nackten Beine, wenigstens bis zum Knie. Die Fremde betrachtete ihre Verletzungen und ein Ausdruck der Traurigkeit und der Angst strich über ihr Gesicht. Er musste wieder an die Worte denken, die sie im Schlaf vor sich hingemurmelt hatte. Er wagte es gar nicht sich auszumalen, was sie erlebt hatte, bevor er sie am Rabelwarer Tor gefunden hatte. Mit absoluter Sicherheit wusste er, dass er alles tun würde, damit es ihr besser ging und sie keine Angst mehr haben musste. Mit leiser Stimme sagte er: „Keine Sorge, hier bist du sicher. Wir werden uns um deine Verletzungen kümmern und du kannst hierbleiben, solange du es möchtest.“ Sie hielt ihm schweigend den Becher hin. Während er ihn erneut füllte, schien sie über seine Worte nachzudenken. „Wer ist dieser Kyrion von dem du gesprochen hast?“ „Das ist unser Meister der Heilung. Er hat dich gestern Abend untersucht. Er hat dir auch mein Hemd übergezogen und den Lavendel gebracht, der hat aber leider nur wenig geholfen, du hast dich die ganze Nacht hin und her gewälzt und ich musste...“ , er sprach nicht weiter, weil ihm gerade einfiel, dass sie es vielleicht nicht gutheißen würde, dass er ihr so nahegekommen war. Hektisch sah sie sich in der Kammer um und rückte ein wenig vom Vorhang weg, als erwarte sie von dort angegriffen oder verschleppt zu werden. Er vermutete, dass sie sich mit Schrecken an ihre Träume erinnerte. Nachdem sie auch den zweiten Becher vorsichtig geleert hatte, fuhr sie mit ihren scheinbar endlosen Fragen fort. Er konnte es ihr nicht verdenken, sie befand sich in Gesellschaft eines Fremden an einem ihr unbekannten Ort. „Wo hast du mich denn überhaupt gefunden?“ Ein seltsamer Zufall war das gewesen. „Du lagst in der Höhle hinter dem Rabelwarer Tor, zum Glück wusste mein Freund Rogue wie man es öffnet.“

„Die Höhlen. Oh Nein.“ Ihre Augen wurden groß, sie starrte ins Nichts, legte ihre Arme um sich, als wäre ihr kalt und begann vor und zurück zu wippen. Bei diesem Anblick lief es Firas eiskalt den Rücken herunter. Als er eine Träne in ihrem Augenwinkel sah, konnte er nicht mehr an sich halten und setzte sich neben sie, um sie festzuhalten. Er drückte sie an sich und roch den Staub der Höhlen in ihrem Haar. Die Berührung mit ihm brachte sie völlig aus der Fassung, sie lehnte sich an seine Brust und ließ den Tränen freien Lauf.

Firas wusste nicht, wie lange sie so dagesessen hatten, doch ihre Zweisamkeit wurde unterbrochen, als jemand draußen vor dem Vorhang fragte: „Firas? Bist du wach? Darf ich reinkommen? Ich habe die Verbände und die Salben dabei.“ Er hielt die zierliche Frau auf Armeslänge von sich weg und sah sie fragend an. Sie nickte nur. „Ja. Wir sind wach, Kyrion. Komm ruhig rein.“ Der Heiler war bepackt mit Schalen und Verbänden und auch mit einem Frühstück, das von Firas´ Magen gleich mit einem tiefen Knurren begrüßt wurde. Kyrions Mund umspielte ein Lächeln. Er besetzte die letzten freien Flächen auf Firas Tisch mit Heilmitteln und Essen und drehte sich zu den beiden um. Der Meister ging schwerfällig in die Knie, um mit ihnen auf Augenhöhe zu sein, dann wandte er sich direkt an seine zierliche Patientin. „Guten Morgen, mein Name ist Kyrion. Ich bin der Meister der Heilung an diesem Ort. Ich werde dir helfen wieder gesund und kräftig zu werden. Dürfte ich fragen, wer du bist?“ Warum hatte Firas sie nicht bereits nach ihrem Namen gefragt? Die Ereignisse des vergangenen Abends hatten ihn wohl mächtig durcheinandergebracht.

„Ich grüße Euch und bin Euch dankbar für Eure Hilfe. Ich bin Siobhan aus dem tiefen Wald der Vie.“ Sie verneigte sich höflich und elegant, soweit ihr das möglich war, während sie in einem zu großen Hemd auf Firas Bett saß. Da war es wieder dieses seltsame Wort, er musste an Rogue denken, wie er gestern Abend vor sich hin gestammelt hatte, völlig außer Fassung. „Willkommen Siobhan. Ich vermute mein junger Freund hier hat dir bereits etwas zu trinken gegeben“ Er schaute Firas an, der stumm blieb und nickte. „Bevor ich dich weiter behandeln kann, müssen wir dich erst vom Schmutz befreien, sonst entzünden sich deine Wunden noch weiter.“ Er deutete auf den Krug und die Tücher auf dem Tisch „Wie ich sehe, bin ich nicht der Erste, der auf diesen Gedanken gekommen ist.“ Kyrion lächelte und sah jetzt Firas an. „Ich würde vorschlagen du lässt mich kurz mit meiner Patientin allein.“

Er wollte schon antworten, dass es SEINE Patientin war und nicht Kyrions, bevor ihm bewusst wurde wie kindisch und dumm das klingen würde. Außerdem warf Siobhan in diesem Moment ein: „Ich möchte mich allein waschen, bitte.“ Kyrion zögerte. “Ihr scheint mir noch sehr schwach zu sein.“ Er erntete einen vernichtenden Blick von ihr, den Firas einem so erschöpften Mädchen gar nicht zugetraut hätte „Ich werde dann draußen warten, bis ihr fertig seid.“ Ein weiser Mann schien zu wissen, wann er den Rückzug anzutreten hatte. Kyrion stand wieder auf und zog Firas mit sich vor den Vorhang. Der Griff des Alten war erstaunlich kraftvoll und unerbittlich.

 

5.                Eine Prinzessin in der Fremde

 

 

 

 

Prinzessin Siobhan war nun allein und versuchte verzweifelt ihre Gedanken zu ordnen. Sie sprangen hin und her wie Fische in einem Teich und waren ungefähr genauso schwer zu fassen. Ständig schwamm ein anderer vorbei. Eine Angel müsste man haben, war der erste klare Gedanke. Sie schmunzelte, was sie bereits als erheblichen Fortschritt betrachtete nach dem absoluten Tiefpunkt von gerade eben. Hatte sie wirklich all ihren Schutz fallen lassen und in den Armen eines völlig Fremden geweint, bis beinahe keine Tränen mehr übrig gewesen waren? Ihr Stolz schüttelte enttäuscht den Kopf, zum Glück hielt ihr Verstand sofort dagegen: noch nie hatte sie sich in einer auch nur ansatzweise so verzweifelten Lage befunden. Sie war an einem Ort, der nicht nur aussah wie aus einer anderen Welt – waren die Wände hier etwa aus Sandsteinen geschichtet? - sondern auch völlig fremd roch. Sie vermisste den Geruch von Bäumen, Blättern, Blumen und Farnen. Auch hörte man hier nicht die Vögel singen, oder das leise Rascheln von Blättern im Wind, sondern nur ein bedrohliches Donnern. Mal ganz davon abgesehen, dass die Menschen hier sie um einen (der Heiler) bis zwei (der junge Krieger) Köpfe zu überragen schienen. Geistesabwesend kratzte sie sich am Bein. Dieser seltsame Stoff verbunden mit der Schmutzschicht, die sie bedeckte, erzeugte einen Juckreiz, der sie noch um den Verstand bringen würde. Wo waren ihre weichen Lederstücke hin? Sie entdeckte einen Haufen in der Ecke und betrachtete mit ein wenig Wehmut die Reste ihrer Kleidung, alles zerrissen und zerschlissen. Kein Wunder nach dem Weg durch die steinigen dunklen Höhlen. Hoffentlich waren ihr wenigstens ihr Mondstein und ihr Jagdmesser geblieben, mit zitternden Händen suchte sie danach und fand zu ihrer Erleichterung beide Gegenstände in dem Sporran, der noch immer an ihrer Hose festgebunden war. Sie ließ den Mondstein kurz aufleuchten und spürte für einen kurzen Moment Erleichterung. Wenigstens die Magie ihrer Heimat war ihr noch nicht verloren gegangen.

Wie hatte ihr Vater es bloß wagen können seine einzige Tochter in den Berg zu verbannen? Er musste es gewesen sein, niemand anderem hätten die Krieger gehorcht. Sie wollte sich gar nicht ausmalen, was er ihnen vorher angedroht haben musste, damit sie es wagten so tief in die Höhlen einzudringen. Der Wut folgte Verzweiflung. Hier war sie nun, einst eine stolze Prinzessin der Vie, nun eine verdreckte Fremde an einem Ort aus Stein, ohne ihren geliebten Wald. Ihre Heimat war wahrscheinlich nicht fern und doch für sie unerreichbar. Wellen der Trauer spülten über sie hinweg, Trauer über ihr verlorenes zu Hause und über die lieblose Handlung ihres Vaters. Eine neue Flut von Tränen drohte sie zu überschwemmen. Aber eine Prinzessin lässt sich nicht unterkriegen, dachte sie trotzig und tatsächlich gehorchten ihr die Wellen und verebbten. Sie würde einen Weg zurück nach Hause finden und einen Weg Frieden zu sähen, wo ihr Vater nur einen Sturm aus Krieg sah. Schließlich hatte diese Hoffnung zu ihrer Verbannung geführt und - bei der großen Ibald-Eiche – diese sollte nicht umsonst geschehen sein. Auch ohne die Unterstützung ihres Vaters würde sie ihr Ziel erreichen, oder wenigstens alles dazu beitragen, was ihr möglich war.

Sie betrachtete erneut die Lederreste, zu denen ihre Kleidung verkommen war, dann sah sie an sich herab. In diesem Aufzug und mit sämtlichen Dreckschichten, die ihr am Leib klebten, würde sie wohl niemanden von ihrem Vorhaben überzeugen können. Sie stand auf, nicht ohne vom Schmerz in ihren zerschundenen Füßen zusammen zu zucken, und wandte sich dem Wasserkrug und der Seife auf dem Tisch zu. Sie entledigte sich des riesigen Hemdes und begann sich zu säubern. Siobhan war plötzlich diesem jungen Krieger unendlich dankbar, dass er diese simplen Waschutensilien für sie besorgt hatte. Das himmlische Vergnügen, das sie bei der simplen Wäsche empfand, zeigte wohl am deutlichsten, wie tief sie gerade gesunken war. Aber sie würde wieder nach oben steigen, dafür würde sie sorgen, mit all der Beharrlichkeit und Kraft, die sie aufbieten konnte.

 

6.                Schatten der Vergangenheit

 

 

 

 

Rogue saß am Rand des Kräutergartens, das Gesicht hatte er auf seine Hände gestützt, die Ellenbogen ruhten auf seinen Knien. Er sah nicht die Farbenpracht des Gartens und hörte nicht das allgegenwärtige Rauschen des Wasserfalls, sah nicht den einsamen Baum mit der prachtvollen Krone, der direkt vor ihm stand. Er roch kein Gras und keine Blüten, nicht mal die Erde zu seinen Füßen. Vor seinem Auge lieferten sich die Bilder seiner letzten Nacht zu Hause eine erbitterte Schlacht. Seine Ohren hörten Feuer prasseln und die panikerfüllten Schreie von Menschen, denen der heranpreschende Krieg gerade jede Illusion von Sicherheit genommen hatte. Seine Nase roch den beißenden Gestank von verbrannten Dächern und angesengtem Fleisch. Man hatte zuvor nur Geschichten gehört, Gerüchte von Überfällen aus der Luft, bei denen ganze Dörfer den Flammen zum Opfer gefallen waren. Man hatte sich zugeflüstert, dass die brutalen Krieger es noch nicht mal für nötig hielten zu landen, um sich dem Schrecken zu stellen, den sie verursacht hatten. Sie brannten einfach alles nieder und flogen weiter. „Sie lassen nur schwarze Leere zurück, wo vorher das blühende Leben war“, hatte ein alter Händler gesagt, der sich nach einem solchen Überfall in ihr Dorf geschleppt hatte.

Doch Rogue hatte ihm nicht geglaubt. Das waren nur Gruselgeschichten, hatte damals sein naiver junger Geist gedacht. Er waren zwar nur wenige Monate vergangen, doch diese Nacht des Schreckens hatte ihn stark altern lassen und ihn weiser gemacht. Lieber wäre er naiv und selig unwissend geblieben.

Seine Hand strich über die Wülste auf seinem Gesicht. Die Narben würde er sein ganzes Leben tragen. Sie würden ihn immer an diese Nacht erinnern und an die feige, beschwerliche Flucht danach, an die Schmerzen der Wunden, während der ohnehin schon kräftezehrenden Reise.  In, wie es nun schien, unglaublich weiser Voraussicht, hatte ihm seine geliebte Mutter, als er ein kleiner Bursche war, von einem Ort des Wissens und der Zuflucht erzählt. „Siehst du die Felswand dort am Horizont, mein Junge?“ Rogue hatte damals angestrengt auf die feine Linie gestarrt, die sich in weiter Ferne vom ewigen Sand abhob. „Dort liegt Antortika. Dein Vater hat immer gesagt, dass dort jeder aufgenommen wird, der wissensdurstig oder hilfebedürftig ist. „ Die kleine unschuldige Version seiner selbst hatte daraufhin geantwortet: „Aber Mama, Papa ist doch schon lange fort und noch mehr Wissen als Pater Ralfi in meinen Kopf stopft brauche ich nun wirklich nicht. Ich bleibe hier bei dir.“ Sie hatte liebevoll gelächelt, ihn kurz in die Arme genommen und dann sanft wieder zurück ins Haus geschoben.

Nach dem Angriff war die Hoffnung auf diesen unbekannten Ort alles gewesen was ihm geblieben war. Nie hätte er gedacht, dass ihn die Schrecken dieser Nacht ausgerechnet hier wieder einholen würden. Doch genau das war geschehen. Es hatte Monate des Ruhens und Lernens und so manches Lächeln der wunderbaren Tomara gebraucht, bis zuerst Körper und Geist und dann schließlich auch seine Seele begonnen hatte zu heilen. Doch diese Heilung war bei weitem noch nicht abgeschlossen, wie er gestern Abend hatte feststellen müssen.

Hatte er wirklich die ganze Nacht hier draußen gesessen? Er betrachtete den Himmel, der in den reichen Facetten des herannahenden Morgens zu erstrahlen begann. Ja. Eine ganze Nacht. Wenn er so weiter machte, machte er noch seinem besten Freund Firas Konkurrenz, der konnte schließlich eine gefühlte Ewigkeit gedankenverloren in die Gegend starren. Es war ihm immer als eine Erleichterung vorgekommen, dass Firas ihn nie gedrängt hatte ihm zu erzählen, woher er kam, was sein entstelltes Gesicht verursacht hatte, oder warum er überhaupt hier hatte Zuflucht suchen müssen. Er wollte nicht darüber sprechen, die Worte hätten ihn das alles noch einmal durchleben lassen, bevor er dazu bereit gewesen wäre. So wie gestern Abend der Anblick dieser zierlichen Vie ihm die Erinnerungen mit einem Schlag zurückgebracht hatte. Die weißen Haare, die zierliche Gestalt, das schwarze Leder. Die Nazgar Reiter, die sein Heimatdorf überfallen hatten, hatten zwar verstärkte Rüstungen getragen und hatten ihre Gesichter mit Bemalungen entstellt, doch ohne diese kriegerische Aufmachung, hätten sie große Ähnlichkeit besessen mit der Frau in Firas Armen. Rogue war sich sicher, denn er hatte einen von ihnen gesehen. Der Krieger hatte, nach einem Pfeiltreffer durch einen Dörfler, landen müssen. Den Anblick würde er sein ganzes Leben nicht mehr vergessen.

Doch seine Flucht hatte ihm auch neue Erfahrungen und wundersame Orte wie die Halle der Erleuchtung gebracht. Die Regale mit den Schriftrollen reichten an allen vier Wänden bis zur Decke. Was schon ein Kunststück war, schließlich war der Raum, ähnlich wie das Mensarium, in etwa fünfmal so hoch wie ein normales Quartier. Zwischen den Regalen waren Sprossen in die Wände eingelassen, an denen man hochklettern konnte, um an die oben gelegenen Schriftrollen zu gelangen. Die Meister trauten sich diese Aufstiege nicht mehr zu und so musste es in der Halle immer ein paar junge Helfer geben, die den gefährlichen Aufstieg übernahmen. Manche von ihnen konnten so schnell bis zur Decke hinaufkletterten, dass man meinte sie könnten fliegen. So war Rogue vor Monaten selbst in den Genuss gekommen diesen heiligen Ort regelmäßig betreten zu dürfen. Er konnte Lesen. Seine Mutter hatte es ihm beigebracht. Im Dorf seiner Herkunft hatten sie deswegen alle für ein bisschen verrückt gehalten, was half es schon kleine Punkte und Striche auf uralten Stofffetzen zu Worten machen zu können. Außer ihr hatte sowieso niemand ein Schriftstück besessen. Hier waren im Gegensatz dazu gleich Tausende davon, liebevoll sortiert, teils verstaubt und fleckig, zugegeben, manche nicht nur nach Sandstaub, sondern auch nach Verfall stinkend, aber alle noch lesbar. Das Wissen der halben Welt musste in ihnen verborgen sein, das zumindest war seine Hoffnung gewesen. Er hatte zunächst niemandem verraten, dass er die Zeichen auf den Rollen verstand, aus Angst, dass man ihm die Möglichkeit an diesem Ort zu arbeiten wieder nehmen würde. Allerdings war das nur für ein paar wenige Wochen ein Geheimnis geblieben. Einer der Meister hatte ihn eines Abends erwischt, als er, lange nach seiner Schicht als Küchenhelfer, noch bei Kerzenschein in einer Ecke der Halle der Erkenntnis gesessen hatte, um ein paar vielversprechende Absätze über die Kultur der Lombat zu lesen. Er hatte ihn direkt beim Kragen gepackt und vor die Residenz des Oberen gezerrt. Dort hatte er zum ersten Mal Raegon kennengelernt, den Herrscher dieses Ortes. Er hatte Frage und Antwort zu seiner Herkunft und zu seinen Fähigkeiten im Lesen stehen müssen. Zu seiner Überraschung hatte der Meister jedoch am Ende seines Verhörs gelächelt und von ihm gefordert nach 6 Wochen Vorbereitungszeit an der Meisterprüfung teilzunehmen. Von Firas hatte er damals erfahren, dass er der Erste war, dem seit sieben Jahren diese Ehre zuteilgeworden war. Es hatte zu diesem Zeitpunkt schon so manches Gemunkel gegeben, dass die Meister wohl lieber für sich bleiben wollten und keinen Neuen in ihren Reihen mehr duldeten. Das Angebot, das Rogue erhalten hatte, hatte diesen Gerüchten vorerst ein Ende gesetzt. Zumindest bis zu dem Tag, als er durch die Prüfung gerasselt war.

Es hatte einige Wochen Recherche gekostet, bis Rogue herausgefunden hatte, wer für die Zerstörung all dessen verantwortlich war, was ihm einmal lieb und teuer gewesen war. Die schöne und kluge Bibliothekarin Tomara war ihm zur Hilfe geeilt. Er hatte sie nur mit ein wenig Charme überreden müssen, ein Kompliment hier, eine kleine Aufmerksamkeit da, doch irgendwann war aus bloßer kalter Taktik Zuneigung geworden. Jetzt würde er selbst dann nicht aufhören wollen sie täglich in der Bibliothek zu besuchen, wenn er alle Schriftrollen bereits gelesen hätte, davon war er jedoch weit entfernt. Er war schließlich in der Abteilung fündig geworden, die alten Legenden aus längst vergessenen Tagen gewidmet war. In besagter Schriftrolle hatte er von kleinen zierlichen Wesen gelesen, mit weißem Haar und Augen der Farbe von Lavendel, die auf Nazgar reiten konnten, mannshohen, rabenähnlichen, schwarzen Vögeln, und angeblich in den Gebieten jenseits der Felswand beheimatet waren. Man hatte dieses Volk ‚Vie‘ genannt. Rogues Herz hatte damals wild gepocht und ihm war übel gewesen vor lauter Erregung. Endlich hatte sein Feind einen Namen. Zu seinem grenzenlosen Erstaunen hatte man aber scheinbar nichts Weiteres über dieses Volk herausgefunden. Nirgendwo waren weitere Beschreibungen, oder Geschichten zu finden gewesen. Warum war jetzt dieses Mädchen hier aufgetaucht? Und noch viel wichtiger: Was hatte die Vie dazu bewogen die Wüstendörfer anzugreifen und niederzubrennen? Rogue hatte gehofft vielleicht in der Geschichte seines Volkes einen Hinweis zu finden, aber auch dort war er gescheitert. Es war ihm einfach unbegreiflich – wie konnte ein ganzes Volk nur in einem einzigen Kapitel erwähnt werden, wenn es im Gegensatz dazu ganze Regalbereiche nur über die letzte Schlacht zwischen den Völkern der Wüste und der Grasmeere gab? Das ging doch nicht mit rechten Dingen zu. Er würde es herausfinden, dachte Rogue grimmig und wenn er es aus diesem kleinen Frauenzimmer in Firas Kammer herauspressen musste. Er erinnerte sich an die liebevollen Blicke und den übermächtigen Beschützerinstinkt seines Freundes dem Mädchen gegenüber - zuerst würde er an Firas Muskeln und seinem beachtlichen Dickschädel vorbeikommen müssen. Doch das war eine Aufgabe für einen anderen Tag, er war auf einmal müde, so unendlich müde. Rogue stand auf und lief in Richtung der Quartiere, plötzlich prallte er mit einem jungen Mann zusammen, der dadurch mächtig ins Schwanken geriet. Himmel, der musste ja ordentlich viel getrunken haben. Zu seiner Überraschung war der Krug in dessen Hand aber noch fast voll. Die zweite Ladung also? Wer vertrug denn bitte so viel? Dieser Junge wohl nicht, denn er schaffte es gerade noch seinen Krug abzustellen, da beugte er sich auch schon davon weg und fing an würgende Geräusche zu machen. Rogue konnte gerade noch auf die Seite springen, bevor ein unheilvolles Platschen zu hören war, direkt gefolgt von einer zugleich sauren wie bitteren Gestankswolke. Kurz darauf wankte der Betrunkene kunstvoll hin und her wiegend davon. Da war man doch wirklich selbst schuld, wenn man sich so volllaufen ließ. Wie verzweifelt musste man denn sein, um sich so gehen zu lassen? So verzweifelt wie Du, sagte die Stimme in seinem Kopf. Er hatte heute alles versucht, um etwas über die Zerstörer seiner Heimat herauszufinden, doch das Einzige worauf das Schicksal es hinauszusteuern schien, war, dass er das zierliche Mädchen, das sein bester Freund mit aller Kraft beschützen wollte, foltern musste. So tief war er gesunken, dass er, der sich eigentlich immer für einen sanften Menschen und Frauenliebhaber gehalten hatte, sich an einem weiblichen Wesen vergreifen wollte, das kleiner war als er selbst und wahrscheinlich noch nicht einmal etwas für die Überfälle konnte. In dem Moment, in dem Rogue feststellte, dass der Trunkene seinen Krug zurückgelassen hatte, nahm er ihn auch schon in die Hand und schüttete den ersten großen Schwall Wein in sich hinein. Er musste husten, so stark war das Gebräu. Er fragte sich noch kurz welches perverse Zeug hier wohl noch beigemischt worden war, als der Alkohol auch schon begann seine Sinne zu vernebeln. Zur Hölle mit der Vernunft! Auf den nächsten Schluck.

 

7.                Ein Abenteuer beginnt

 

 

 

 

Firas wusch sich mit einer nie dagewesenen Schnelligkeit und Grimmigkeit. Rausgeworfen aus seinem eigenen Zimmer, von seinem dringend benötigten Frühstück fortgerissen, alles gegen seinen Willen. Sie hatten ihn in den Waschsaal geschickt wie ein kleines schmutziges Kind. Zu alledem kamen noch diese verwirrenden Wörter. Er wusste immer noch nicht was eine Vie war. Und was hatte ihn bitteschön dazu bewogen sich die Beine zu schrubben, ohne zuvor die Hose ausgezogen zu haben? Es reichte nicht, dass sie ihn ungefragt weggeschickt hatten wie einen Jüngling, jetzt benahm er sich auch noch so. Jammerte über Dinge, die bereits vergangen waren und nicht mehr zu ändern, brachte es noch nicht mal fertig sich in sinnvoller Reihenfolge zu waschen. Schluss jetzt. Firas zog die nasse Hose aus und klatschte sie zu dem nun ebenfalls nassen Tuch, dass er sich eigentlich zum Abtrocknen hingelegt hatte. Er wusch sich, zwar immer noch grimmig, aber wenigstens konzentriert, zu Ende. Dann trocknete er sich mit der Innenseite seines schmutzigen Hemdes ab, wenigstens das war trocken geblieben, und schlüpfte endlich in trockenes, frisches Leinen. Es wurde Zeit zu der mysteriösen Frau in seinem Raum zurückzukehren. Er wrang seine durchnässte verdreckte Hose aus und beobachtete die kleinen rotbraunen Rinnsale, die nun zum Abfluss in der Mitte des Raumes liefen. Das gleiche tat er mit seinem Tuch. Nachdem er seine Dreckwäsche abgegeben hatte, lief er durch die Gänge zu seiner Kammer. Er fragte sich wie dieser Ort wohl auf jemanden wirken mochte, der ihn zum ersten Mal sah. Er selbst kannte kein anderes zu Hause, deswegen waren für ihn die Mauern aus Sandstein und die Fackeln und Leuchter an Wänden und Decken eigentlich unsichtbar. Er blendete sie aus wie ein Hintergrundrauschen, genauso wie den stetigen Strom an Menschen, die ihm entgegenkamen, oder mit ihm den Gang entlangliefen. Genau wie die ständige Anwesenheit der Sandkörner, die immer in jeder Falte des Körpers lagen oder einem die Finger und Haare verstaubten. Ob diese Mauern wohl beengend wirkten auf die, die sonst in den weiten Grasmeeren, oder den Wüsten lebten? Er begann die Welt mit anderen Augen zu sehen, seit er dem Mädchen gestern Abend begegnet war. Siobhan. Er wiederholte den Namen in seinem Kopf und bewunderte seinen Klang. Nun er würde ihr helfen sich hier einzuleben. Aber zuerst einmal musste sie sich erholen.

Zu seiner Überraschung fand er Kyrion immer noch vor seiner Kammer stehend vor. Der Heiler wiegte sich leicht von einem Fuß auf den anderen. Mittlerweile hatte sein Tag in den Räumen der Heilung eigentlich längst begonnen und seine Dienste würden von vielen anderen Patienten heute noch gebraucht werden. Er hatte gar keine Zeit hier herumzustehen und zu warten und Firas hatte diese eigentlich auch nicht. Seine Pflichten riefen auch ihn zu seinem gestrigen Arbeitsplatz. „Kyrion, deine anderen Patienten brauchen dich auch. Soll ich Siobhan helfen? Ich kann ja später nachkommen und dir weiter zur Hand gehen.“ Der alte Mann lächelte ihn liebevoll an. „Danke Firas. Ja, ich würde gerne zurück zu meinen anderen Patienten und Pflichten. Ich habe dich schon oft Verbände anlegen sehen und ich bin sicher du wirst auch hier hervorragende Arbeit leisten. Aber ich vertraue darauf, dass du mir in die Räume der Heilung folgst, sobald du dich um ihre Wunden gekümmert hast. Auch all die anderen nicht so hübschen Patienten brauchen deine Hilfe.“ Er zwinkerte, dass sich seine Falten bogen, und machte sich auf den Weg. Firas kam sich vor, als würde er Schlange stehen vor dem eigenen Zimmer. Er war immer noch hungrig und sehnte sich nach seinem Frühstück, außerdem wollte er Kyrion nicht zu lange warten lassen, also lugte er durch den kleinen Spalt zwischen dem dicken Tuch und der Wand, um zu sehen, wie lange es denn noch dauern würde. Seine Augen quollen hervor und seine Kinnlade klappte leicht auf, es hätte nicht viel gefehlt und er hätte ein „Woah“ ausgestoßen. Letzteres konnte er gerade noch in die Tiefen seines Halses zurückziehen, bevor es an die Oberfläche geraten konnte. Siobhan war ein spektakulärer Anblick. Sie kniete nackt vor seinem Tisch und war gerade dabei sich vorsichtig die zerschundenen Beine einzuseifen. Dabei drückten sich ihre Brüste auf ihre Oberschenkel und formten perfekte Kugeln. Ihr langes Haar war ihr ins Gesicht gefallen, sie musste es sich mit den Händen ausgekämmt haben, da es jetzt in ordentlichen Strähnen über ihre Schulter fiel. Wieder spielte das Licht auf den Strähnen und lies die Vie wirken wie ein zauberhaftes Wesen aus einer anderen Welt. Nun in gewisser Weise war sie das auch, dachte er. In diesem Moment stieß sein Magen ein Knurren aus, dass in seinen Ohren wie ein wildes Tier kurz vor dem Angriff klang, bedrohlich und ebenso laut. Er erstarrte und prompt hob sich Siobhans Kopf und sie sah in seine Richtung. Sie schaute ihn direkt an, doch sie erschrak weder, noch bedeckte sie sich hastig. Firas drehte sich weg, holte tief Luft, kniff die Augen zusammen und stellte sich ebenfalls wieder gerade hin. Den Kopf ließ er gegen die Außenwand seiner Kammer sinken. Ob er dieses Bild, das sich gerade in sein Gehirn gebrannt hatte, jemals wieder loswerden würde? Wollte er das überhaupt? Nein! Entschied er. Und ohne sein Zutun sah er sie in Gedanken ein zweites Mal aufblicken, dieses Mal wurde ihm ein Detail bewusst, dass ihm eben gar nicht aufgefallen war. Ihre Augen leuchteten in einem tiefen blauviolett. Sein Gehirn vergrößerte diesen Bildausschnitt und es fühlte sich an, als würde er in die Tiefen ihres Blickes hineingezogen, als würde er in einen tiefen See springen, der im Licht der aufgehenden Morgensonne leuchtete und dann langsam darin ertrinken.

„Komm herein, junger Krieger!“ Ihre glockenhelle Stimme drang durch den Stoff und er wappnete sich innerlich wie äußerlich. Aufrecht und mit einer Entschlossenheit, die den Tumult in seinem Kopf Lügen strafte, trat er durch den Vorhang in die fremde, gefährliche Welt, die dieses kleine Mädchen aus seiner eigenen Kammer gemacht hatte. Sie hatte sich nun in frisches Leinen gekleidet und sah ihn entschlossen an. „Bitte führe mich zu deinem Meister! Raegon war sein Name, richtig?“ Firas glotzte verständnislos. Er hatte sie vor noch nicht mal einem halben Tag bewusstlos, verdreckt und verletzt in seine Kammer getragen und jetzt stand sie hier vor ihm wie eine königliche Abgesandte eines fremden Volkes, die einem Bediensteten Befehle erteilte. Stopp! Entschlossenheit hin oder her, aber ihre Gesundheit ging vor. „Ich werde dich zu Meister Raegon führen, aber zuerst verbinde ich deine Wunden und gönne dem Biest in meinem Magen ein Frühstück.“ Sie protestierte noch und beharrte, dass die Angelegenheit dringend sei, doch nachdem er ihr ins Gesicht gesagt hatte, dass sie wohl kaum den ihr fremden Weg zum Meister allein auf blutenden Füßen zurücklegen würde, gab sie nach. Für einen kurzen Moment hatte er den Eindruck gehabt, sie würde einfach an ihm vorbei durch den Vorhang marschieren und es drauf ankommen lassen. Ihr Körper hatte jedoch andere Pläne, sie erlitt einen Anfall von Schwäche und schwankte bedrohlich, so dass er den Arm ausstreckte, um sie zu fangen. Nachdem er sie in die hintere Ecke seines Bettes bugsiert hatte, wo sie jetzt schief an der Wand lehnte, drückte er ihr wortlos die Frühstücksschale mitsamt dem Löffel in die Hand. Das Tier in seinen Eingeweiden starrte der Beute noch einen Augenblick hinterher, doch der besorgte Heiler in seinem Kopf gewann die Oberhand. Nachdem er die vielen Schnittwunden an ihren Unterschenkeln und Füßen inspiziert hatte, nahm er sich Salbe und Verbandsmaterial und machte sich stumm an die Arbeit. Er schmierte die Wunden so vorsichtig er konnte ein, dennoch zuckte sie hin und wieder zusammen. Als er die Verbände angelegt hatte, blickte er auf, um ihr zu sagen, dass sie die Salbe noch ein paar Stunden ihre Arbeit tun lassen sollte. Doch er wurde sofort abgelenkt, da sie ihm die noch halbvolle Schüssel hinhielt. „Iss, bevor dein knurrender Magen dir noch weitere peinliche Momente beschert.“ Die Intensität ihres Blickes traf ihn mit voller Wucht. „Es tut mir leid“, stammelte er. Mit einem Lächeln sank sie wieder zurück auf sein Kissen. Er hörte noch ein leises „Danke.“ von ihren Lippen und schon schloss sie die Augen. Firas seufzte tief und machte sich über den Rest des Frühstücks her. Noch nie hatte der morgendliche Grießbrei so gut gerochen. Nachdem er auch noch den letzten cremigen Rest ausgekratzt und kontrolliert hatte, ob nicht doch noch ein winziges bisschen Brei an der Außenwand klebte, stellte er die Schale wieder auf seinen überfüllten Tisch. Kyrion brauchte dringend seine Hilfe. Alles in ihm sträubte sich dagegen Siobhan hier allein zu lassen, doch er hatte dem Heiler versprochen sobald es ging zu kommen. Vielleicht, so dachte er, gab es ja noch eine andere Möglichkeit. „Siobhan?“ Sie öffnete die Augen wieder, das Licht aus der Luke über seinem Bett verfing sich in den violetten Tiefen. „Hm?“, brachte sie nur heraus. „Ich muss meinen Dienst in den Räumen der Heilung antreten, Kyrion braucht meine Hilfe. Wir haben zurzeit sehr viele Verletzte und Kranke dort. Eigentlich sollte ich dich hier allein lassen, aber es wäre mir lieber, wenn du mitkommen würdest.“ Als er von den Verwundeten gesprochen hatte, waren ihre Mundwinkel nach unten gesunken. Ein Schatten von Trauer, doch er verschwand so schnell wieder, dass Firas sich nicht sicher war, ob er sich das nur eingebildet hatte. Die junge Frau schaute an ihren Beinen herunter zu ihren Füßen, alles war mit frischen, duftenden Verbänden bedeckt. Ihre Stimme klang fest und entschlossen: „Ich möchte mit dir kommen, lass uns gehen.“ Firas stand zuerst auf und klemmte sich die Ringelblumensalbe zusammen mit den restlichen Verbänden unter den Arm. Um die Schale mit Lavendel würde er sich später kümmern. Siobhan kämpfte sich mit sichtlicher Anstrengung aus dem Bett, er sah sie vor Schmerz zusammenzucken, doch dann schritt sie erhobenen Hauptes auf den Gang hinaus und er konnte angesichts dieser Schauspielkunst nur den Kopf schütteln.