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„Balidhvendia wurden nur geboren, um Blut zu vergießen.“
Die Grenzen zwischen den Welten sind gefallen. Zahlreiche Feinde bedrohen das Land und wollen die Herrschaft der Draya ein für alle Mal beenden.
Als Larissa empathische Kräfte entwickelt, sehen Emily und Jim sich gezwungen, sie mit Christine in die Burg der Niatqa zu schicken. Fernab von allem lernt die Prinzessin sehr viel Gutes von ihrer Tante. Aber ob dies reicht, sie davon abzuhalten, die blutrünstigen Pläne der Zerstörer umzusetzen?
Währenddessen versuchen Emily und Jim alles, um ihr Königreich zu schützen. Doch Gab droht, Jims dunkelste Tat ans Tageslicht zu bringen und aufzuzeigen, dass der zukünftige König nicht so gutherzig ist, wie das Volk glaubt. Emily sieht sich gezwungen, ihren besten Spion auf Gab anzusetzen. Doch der Flüsterer kennt Gab von früher und zweifelt immer mehr an seiner Loyalität.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Sophie Obwexer
die Legende
der Draya
Band 3: Vollkommenes Blut
© 2025 Sophie Obwexer
Alle Rechte vorbehalten.
Sophie Obwexer
c/o Fakriro GmbH / Impressumsservice
Bodenfeldstr. 9
91438 Bad Windsheim
E-Mail: [email protected]
Website: www.sophieobwexer.de
Instagram: @sophie.obwexer_autorin
Tiktok: @sophie.obwexer_autorin
Lektorat: Luise Deckert
Korrektorat: Lucia Barreto Cabrera
Umschlaggestaltung: Schattmaier Design
Innengestaltung, Karten- und Runendesign: Sophie Obwexer
ISBN: 978-3-819-48375-2
Dieses Buch enthält Content Notes zu den einzelnen Kapiteln auf den letzten Seiten dieses Buches.
Runenverzeichnis
Die Rune der Draya: Emilys Rune
Die Rune des Balidru: Jims Rune
Die Rune der Catirinqa: Christines Rune
Die Rune der Avendraya: Ve‘ghas Rune
Die Rune der Havganedi: Die Rune der Drachen
Die Rune der Janisla: Gabs Rune
Die Rune der Balidhvendia: Henrys Rune
Die Rune des Onai Leyan: Larissas Rune
Die Rune der Schöpferin: Die Rune der Avenialya
Die Rune der Dray: Cals Rune
Die Rune der Valiadru: Andreas’ Rune
Die Rune der Ritreita: Quinns Rune
Die Rune der Skif: Die Rune der Gestaltwandler
Prolog
Im Westen des Havaleni, weit hinter den in Hulidru bekannten Bergen, ragten zahlreiche Vulkane in die Höhe. Einer von ihnen war besonders groß und spuckte regelmäßig Lava aus seinem Krater.
Ritnaati landete auf dessen oberster Ebene und faltete seine sandfarbenen Flügel.
Havdru ließ sich neben ihm nieder. Ihre silbernen Schuppen funkelten im Sonnenlicht. „Neuigkeiten?“
„Die Grenzen sind gefallen.“
„Wie du es vorausgesehen hast.“ Havdru schenkte ihm ein zähnezeigendes Lächeln. „Wann sollen wir losfliegen?“
Ritnaati grub seine Klauen ins Vulkangestein. „Bald. Mach unseren Clan zum Aufbruch bereit. Es wird Zeit, die Vorherrschaft der Ganedi zu beenden.“
„Was ist mit dem Clan deiner Schwester?“, fragte Havdru. „Denkst du, er wird uns Schwierigkeiten bereiten?“
„Vielleicht.“ Ritnaati bleckte die Zähne. „Ich hätte sie damals töten sollen, anstatt sie auf der anderen Seite der Grenze zurückzulassen.“
„Eure Mutter hätte das nie zugelassen.“
„Meine Mutter war eine Verräterin“, knurrte Ritnaati. „Eine verfluchte Zerstörerin.“
Havdru schwieg.
Ritnaati betrachtete die pechschwarzen Berge seines Herrschaftsgebiets, nahm jedes Detail von Havserten in sich auf, bevor sein Blick wieder an Havdru hängen blieb.
Ihre gelben Augen glühten. „Werden wir nach unserem Aufbruch direkt in die Schlacht ziehen?“
„Noch nicht“, sagte Ritnaati. „Zuerst werden wir uns Verbündete suchen. Dann werden wir die Draya und Avendraya endgültig vernichten.“
Havdru lächelte. „Wie du wünschst, mein König.“
Kapitel 1: Dunkle Geheimnisse
„Ihr seid Euch nicht einmal sicher, ob es klappt, Raffaels Erinnerung aufzunehmen, wenn Ihr diese von den Tavganedi holt?“ Dulcea saß vor mir an ihrem protzigen Arbeitstisch und wie üblich sah sie mich mit einem herablassenden Blick an. Genau genommen sah sie jeden so an, weshalb ich es nicht persönlich nahm.
Es war mir egal, was die Priesterin von mir dachte. Sie war nur ein Mittel zum Zweck.
Ich lehnte mich weiter in dem Sessel zurück. „Nein. Aber ich bin gewillt, es zu versuchen.“
„Das braucht jedoch seine Zeit und ich benötige jetzt etwas, das ich gegen das Königreich verwenden kann.“
„Ich kann Euch von Jims zweitgrausamster Tat erzählen.“ Ein Lächeln breitete sich auf meinem Gesicht aus, gepaart mit einem Funken Genugtuung, der durch meine Adern floss und sich an meine Magie schmiegte. „Interesse?“
„Vielleicht erweist sich diese Information ja als nützlich. Bis jetzt habt Ihr mich nur enttäuscht, Janisla.“ Dulcea strich eine Falte in ihrer Robe glatt.
Die Geste entging mir nicht. Keine ihrer Gesten entging mir. Sie war momentan vielleicht eine Verbündete, aber ich vertraute ihr genauso wenig, wie ich Trixy vertraut hatte. „Jim ist für die Abschlachtung der Ritreita zu Camillas Herrschaftszeit verantwortlich. Er hat sie alle ermordet – zumindest alle, die er finden konnte.“ Ich lehnte mich vor. „Wir können Andeutungen über seine Taten in der Bevölkerung verbreiten, sodass Jim gezwungen sein wird, darauf zu reagieren.“
„Mir gefällt, wie Ihr denkt, Janisla.“ Dulcea lächelte. „Diener!“
Eine Ganedi, die bewegungslos an der Wand gestanden hatte, trat vor. „Ja, Oberste Priesterin?“
„Holt den Heerführer“, befahl Dulcea.
Die Bedienstete verbeugte sich und verließ das Zimmer.
„Warum erlaubt Ihr Eurer Dienerschaft, im Raum zu sein, wenn Ihr Eure Kriegsstrategien besprecht? Woher wisst Ihr, dass sich kein Spion unter ihnen befindet?“ Eine Fliege landete auf meiner Schulter und ich verscheuchte sie mit einer Handbewegung.
„Ich weiß, wer für mich arbeitet“, erwiderte sie.
Närrin. „Euch ist bewusst, dass es Gestaltwandler gibt, richtig?“, bemerkte ich. „Ihr solltet vorsichtiger sein.“
„Eure Sorge rührt mich, Janisla, aber ich habe alles unter Kontrolle.“ Dulcea lächelte süffisant.
Ihr habt gar nichts unter Kontrolle und wenn mich Ritnaati nicht hergeschickt hätte, hätte ich mich niemals mit einer so inkompetenten Ganedi verbündet und wäre schon längst wieder weg. Ich seufzte innerlich und hoffte, dass ich Ritgamno bald verlassen konnte. Die Stadt war mir zu hektisch, zu überfüllt mit Händlern und Reisenden.
Es klopfte.
„Tretet ein“, befahl Dulcea.
Jens schritt in den Raum.
Nicht dieser Speichellecker.
„Ihr.“ Jens verengte die Augen.
Ich setzte ein arrogantes Lächeln auf. „Beeindruckend, dass Ihr überlebt habt. Von Eurem Fürsten kann ich das nicht behaupten.“
Der Witz von einem Heerführer umklammerte den Knauf seines Schwertes so fest, dass seine Fingerknöchel weiß hervortraten. Aus seinen Augen sprühte purer Hass. „Schade, dass es die Hochfürstin nicht geschafft hat. Ich hätte sie gut gebrauchen können, um mein Bett zu wärmen.“ Ein zufriedenes Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus.
Der Drang, Jens zu töten, flutete jede Zelle meines Verstandes. Trotzdem blieb ich sitzen und lächelte. „Warum sollte es mich interessieren, was mit der Hochfürstin geschehen ist?“
Das Grinsen verschwand augenblicklich. Jens blinzelte. „Ihr und sie …“
Ich hob eine Augenbraue.
„Genug mit diesen sinnlosen Machtspielchen“, bemerkte Dulcea kalt. „Ihr werdet zusammen einen Plan erarbeiten, um die Gerüchte über den Balidru in der Bevölkerung zu verbreiten. Sobald dies geschehen ist, will ich einen Bericht. Nun geht mir aus den Augen.“
Ich erhob mich. „Natürlich.“
Jens verbeugte sich tief.
Wir verließen beide den Raum.
„Kommt in einer Stunde in mein Audienzzimmer“, befahl Jens.
„Ich habe aber jetzt Zeit“, widersprach ich. „Oder habt Ihr Wichtigeres zu tun, als die Befehle der Obersten Priesterin auszuführen?“
Jens funkelte mich wütend an. „Folgt mir, Janisla“, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch. Er durchquerte den Flur und öffnete eine Tür am anderen Ende.
Ich trat in das Audienzzimmer des Heerführers und ließ mich ungefragt in einen Sessel fallen.
Jens setzte sich ebenfalls, seine Augen erneut verengt.
„Wir gehen folgendermaßen vor –“
„Um eines klarzustellen, Janisla“, unterbrach mich Jens hart. „Ich gebe hier die Befehle. Ihr seid nur Dreck, der momentan Informationen besitzt, die meiner Herrscherin von Nutzen sind.“
Das Grinsen, das ich aufsetzte, fühlte sich animalisch an. Meine Magie knurrte. Ich sandte einen Funken davon durch den Raum, ließ die Lampen an den Wänden flackern. „Mutig von Euch, einem Unverwundbaren zu drohen.“
„Unverwundbar, aber nicht unsterblich“, bemerkte Jens. „Eure Mutter wurde ermordet, was heißt, dass es auch möglich ist, Euch zu töten, wenn man weiß, wie.“
Ich lehnte mich in dem Sessel zurück und lachte. Meine Magie war jedoch bereit, anzugreifen, sollte ich es ihr befehlen. „Aber Ihr wisst nicht, wie, und Ihr werdet es nie erfahren.“
„Ihr unterschätzt mich gewaltig, Janisla.“ Jens’ Blick war eiskalt.
Oh, er denkt tatsächlich, er könnte es herausfinden. Niedlich. „Glaubt Ihr, jemand, der fast dreitausend Jahre alt ist, würde sein Gegenüber falsch einschätzen?“, fragte ich. „Ich könnte mit einem einzigen Gedanken Eure Luftröhre zerdrücken. Das habe ich nur noch nicht getan, weil Dulcea das nicht gut finden würde. Aber selbst meine Selbstbeherrschung hat Grenzen, deshalb wäre ich an Eurer Stelle vorsichtig damit, sie überzustrapazieren.“
„Meine Herrin hat recht“, sagte Jens. „Wir sollten mit den Machtspielchen aufhören.“
„Gut.“ Ich lehnte mich im Sessel vor. „Dann lasst uns mit der Arbeit beginnen.“
Zitternd stand der Bote vor mir. „Drachen“, brachte er hervor.
„Wie viele?“, fragte Jim, der hinter mir in der Tür auftauchte.
„Zu viele“, flüsterte der Bote.
Ich zog meinen Morgenmantel enger um mich. „Haben sie jemanden angegriffen?“
Der Kurier schüttelte den Kopf.
Jim hob eine Augenbraue. „Ist ein großer roter Drache unter ihnen?“
Der Bote nickte. „Er ist im Palastgarten gelandet.“
Ich fragte mich, was die Herrscherin der Drachen in meiner Hauptstadt wollte. „Zurück auf deinen Posten“, befahl ich und trat durch die Tür auf den Flur hinaus.
Dort stand Andreas in seiner schwarzen Uniform.
„Beschütz Larissa“, trug ich ihm auf.
Er nickte.
Jim folgte mir die Treppe hinunter, durch die hinteren Türen hinaus in den Palastgarten.
Waddlaria erwartete uns auf der großen Wiese. Neben ihr befanden sich Dinto und Havonai, ebenso ein Drache mit noch weißeren Schuppen als Dontors. Im sanften Licht des Morgengrauens glitzerten sie beinahe wie Glas.
„Warum bist du hier, Havganedya?“, fragte ich.
„Die Grenzen sind gefallen.“ Waddlaria bleckte die Zähne.
„Das wissen wir“, sagte Jim.
„Wir sind im Havaleni nicht mehr sicher“, ergänzte der weiße Drache.
Ich runzelte die Stirn. „Warum? Was genau liegt hinter der gefallenen Grenze im Osten?“
Waddlaria schnaubte und Rauch stob aus ihrem Maul. „Havserten. Eine von Havganedi beherrschte Welt, die nach ihren eigenen Regeln lebt.“
„Regeln, denen dein Clan nicht zustimmt?“, fragte ich.
„Sie verachten Ganedi“, antwortete die Havganedya. „In ihren Augen seid ihr nichts weiter als Futter.“
„Und für euch sind wir mehr?“ Jim sah sie herausfordernd an.
„Zugegeben, einige von euch sind auch nur Futter für uns“, sagte der weiße Drache.
„Mutter“, zischte Dinto.
„Aber nicht alle“, ergänzte die Havganedi mit den gläsernen Schuppen die Aussage ihrer Partnerin.
Ich musterte Dintos Mütter wachsam. „Und ihr seid hier, weil ihr Angst vor diesen anderen Havganedi habt?“
„Wir wären naiv, wenn wir keine Angst vor ihnen hätten.“ Waddlarias gelbe Augen glitzerten. „Deshalb erbitten wir Euren Schutz, Draya.“
„Warum sollten wir euch diesen gewähren?“, fragte Jim. In seinen Augen funkelte etwas Gefährliches.
„Weil ihr jede Hilfe brauchen könnt, um den großen Krieg nicht zu verlieren.“ Der weiße Drache blies Rauch in die Luft.
„Ich werde euch in der Hauptstadt dulden“, sagte ich, bevor Jim mir widersprechen konnte. „Solltet ihr aber auch nur einen der Bewohner fressen, werde ich euch augenblicklich aus der Stadt verbannen und den Schuldigen bestrafen.“
„Wir werden uns auf eine Diät aus Priesterinnen beschränken“, versprach Waddlaria. „Außerdem gibt es im großen Meer genug Ungeheuer, die sehr schmackhaft sind.“
„Dann wäre das ja geklärt“, bemerkte ich.
„Wäre es möglich, die Kamine des Palastes zu benutzen?“, fragte Waddlaria
„Wofür?“ Ich hob eine Augenbraue. „Die Havganedi sind zu groß, um den Palast betreten zu können.“
„Es geht um unsere Ungeschlüpften“, sagte die Havganedya. „Sie brauchen ein ständiges Feuer.“
„Ich werde sofort meine Diener beauftragen, die Eier in den Kaminen zu verteilen“, murmelte ich.
„Vielen Dank.“ Waddlaria senkte ihren Kopf leicht in meine Richtung.
Mir entging nicht, wie sich Dintos Augen weiteten und er seine Mutter anstarrte.
Ich wollte mich gerade umdrehen und in den Palast zurückkehren, als ein Rauschen vom Himmel her erklang.
Dontor landete sanft neben seinen Müttern.
Erleichtert legte ich eine Hand auf seine Schnauze und lehnte mich an seine kühlen Schuppen. Tagelang hatte ich mich gefragt, ob es ihm gut ging. Endlich hatte ich die Antwort. Meine Magie fuhr zufrieden durch mich.
„Du lebst“, murmelte Waddlaria. „Ich dachte, die Waddmatirin hätten dich getötet.“
„Nur fast.“ Rauch stob aus Dontors Schnauze. „Ich hatte Hilfe.“
„Von wem?“ Die Augen der weißen Havganedi verengten sich.
„Das ist nicht von Belang“, knurrte er.
Der Drache mit den gläsernen Schuppen baute sich vor ihm auf.
„Lass gut sein, Smertgrit“, rief Waddlaria. „Unser Sohn lebt, nur das zählt.“
Smertgrit schnaubte, zog sich aber zurück.
Hinter uns ertönten Schritte.
Larissa lief auf uns zu, gefolgt von Andreas. Sie schritt erhobenen Hauptes durch die Ansammlung an Drachen zu Dinto und berührte dessen eisblaue Schuppen.
Dieser schnaubte zufrieden.
„Das Vollkommene Blut“, flüsterte Smertgrit und senkte ihren Kopf.
Waddlaria und Havonai taten es ihr gleich.
„Meine Mutter hat einst Onai Leyan gedient“, sagte die Herrscherin der Drachen. „Und ich werde dies ebenfalls tun.“
Ein Klopfen hallte durch das Zimmer.
Schwaches Licht fiel zwischen den Vorhängen hindurch, weshalb ich annahm, dass es gerade erst dämmerte. Ich blinzelte und befreite mich vorsichtig aus Rayas Umarmung.
Sie gab ein Mmm von sich, schlief jedoch weiter.
So leise wie möglich schlich ich zur Tür.
Mein Vater stand davor.
Ich hatte ihn in den letzten Tagen immer wieder gesucht, doch er hatte sich in seinen Gemächern verbarrikadiert.
Leise schloss ich die Tür hinter mir.
„Können wir in deinem Zimmer reden?“, fragte er.
Ich schüttelte den Kopf. „Raya schläft.“
Henry seufzte. Seine grauen Augen waren voller Schmerz. Er mied meinen Blick, nestelte am Saum seines Ärmels.
Meine Macht wollte sich nach ihm ausstrecken und ich ließ zu, dass sich die bunten Magiestränge mit ihm verbanden. Sofort gaben meine Beine unter mir nach und ich schwankte gefährlich. Schmerz flutete jede Zelle, lähmte meinen Körper.
Henry fing mich auf und hievte mich zurück in eine stehende Position. „Zieh deine Magie zurück.“
Nur mit Mühe schaffte ich es, die Stränge von der Macht meines Vaters zu lösen und in mich zu ziehen. Erleichtert tat ich einen tiefen Atemzug. „Wie kannst du so ruhig dastehen?“, fragte ich mit bebender Stimme. Auch meine Hände zitterten leicht, mein Körper musste sich erst von den fremden Emotionen erholen, die wie ein Echo in mir nachhallten.
Henry traten Tränen in die Augen. „Es kostet mich meine ganze verfluchte Beherrschung, diesen Palast nicht dem Erdboden gleichzumachen.“
Ich nahm ihn in die Arme. „Gibt es irgendetwas, das ich tun kann?“
Er schüttelte den Kopf und drückte mir einen Kuss ins Haar. „Ich werde nach Valhvendia zurückkehren.“
Der Gedanke, dass er völlig allein in der Burg des Waldes sein würde, behagte mir nicht. „Bist du dir sicher, dass du nicht lieber eine Weile hierbleiben willst?“
Wieder schüttelte er den Kopf. „Ich halte es hier ohne deine Mutter nicht länger aus.“
Ich umarmte ihn erneut. „Das verstehe ich. Ich bin hier, falls du mich brauchst, Vater. Und Jim auch.“
Henry blinzelte die Tränen fort. „Richte der Königin von mir aus, dass sie weiß, wo sie mich finden kann, sollte sie meine Dienste benötigen.“
Ich gab ihm einen Kuss auf die Wange. „Pass auf dich auf, Vater. Die Grenze ist auch im Süden des goldenen Waldes gefallen. Wer weiß, was sich dahinter befindet.“
„Ich werde einige meiner Wandler ausschicken, um die Gegend zu erkunden. Falls jemand leichtsinnig genug ist, zu versuchen, sich einen Weg durch das große Moor zu bahnen, wird er nicht weit kommen.“
Ich nickte. „Mach’s gut, Vater.“
Er versuchte sich an einem schwachen Lächeln, doch Schmerz strahlte immer noch aus seinen grauen Augen. „Bis bald, Christine.“ Mit schnellen Schritten ging er davon.
Ich hatte das ungute Gefühl, einen Fehler begangen zu haben. Vielleicht hätte ich meinen Vater überreden sollen, länger im Palast zu bleiben. In der Burg des Waldes würde er sich nur noch mehr in seiner Trauer vergraben. Andererseits hatte sich mein Vater außerhalb seines Herrschaftsgebiets noch nie besonders wohlgefühlt. Er war mittlerweile beinahe ein Teil des Waldes, seine Magie so vertraut mit der Macht der Muttereiche, dass er ohne sie kaum noch leben konnte.
Ich seufzte und kehrte in mein Zimmer zurück, wo ich zu Raya unter die Decke kroch.
Emily stand auf der Südterrasse des Palastes.
Die Sonne schien auf das goldene Geländer, der weiße Steinboden glänzte.
Nichts deutete darauf hin, dass mein Bruder vor einigen Wochen hier gestorben war. Durch Larissas Entführung, den Fall der Grenzen und Gabs Mordversuch schien es viel länger her zu sein. Es fühlte sich fast so an, als wäre Raffael bereits seit Jahren tot.
Ich schluckte und versuchte, nicht weiter an meinen Bruder zu denken, denn der Schmerz saß immer noch tief.
Emilys goldenes Kleid flatterte im Wind, ebenso ihr braunes Haar.
Ich schloss meine Arme von hinten um sie und zog sie nah an mich. „Was tust du hier?“
„Nachdenken“, flüsterte sie.
Ich drückte einen Kuss auf ihre Wange. Mein Blick fiel auf einige der Drachen, die es sich auf der Wiese des Palastgartens gemütlich gemacht hatten. „Glaubst du, Waddlaria kann sie wirklich so weit kontrollieren, dass sie keinen unserer Untertanen fressen?“
Emily seufzte. „Ich denke schon. Außerdem sind sich die Havganedi bewusst, dass ich weiß, wie man sie tötet. Das sollte sie davon abhalten, etwas Unüberlegtes zu tun.“
„Du hast mir nie verraten, wie man einen Drachen besiegt.“
Sie drehte sich zu mir um. Ihr Blick traf meinen. „Weil ich geschworen habe, es niemandem zu sagen.“
„Aber sollte ich es nicht wissen, wenn es stimmt, was Waddlaria behauptet, und eine Armee an Drachen aus dem Osten kommt?“, fragte ich.
„Es dir zu sagen, würde meine Verbindung mit Dontor zerstören. Frag Havonai, vielleicht verrät er es dir.“
Ich nickte.
Das Läuten des Hauptturms, der zur zehnten Stunde schlug, hallte über die Stadt.
„Die Ratsversammlung beginnt bald. Wir sollten uns auf den Weg machen“, murmelte ich.
Emily nickte, ihr Blick war müde.
Wir stiegen schweigend nebeneinander die Treppen des Turms hinunter.
Emilys Miene war zunächst düster, wurde dann aber weicher und von einem Stirnrunzeln abgelöst. Sie kaute auf ihrer Unterlippe – etwas, das sie nur tat, wenn sie sich unbeobachtet fühlte.
Ich ergriff ihre Hand und ihre Schultern entspannten sich. Auch meine Magie beruhigte sich durch die Berührung, rollte sich wie eine Katze vor einem warmen Ofen zusammen.
Wir liefen weiter und betraten nach einer Weile den Ratssaal.
Alea saß bereits in ihrem Sessel, eine Reihe von Dokumenten vor sich ausgebreitet. Gegenüber von ihr befand sich Andreas, ebenfalls in ein Schriftstück vertieft.
Die anderen Stühle waren noch leer.
„Guten Morgen“, begrüßte Emily die beiden und setzte sich auf ihren Platz.
Alea sah auf. „Morgen.“ Sie gähnte und lehnte sich zurück.
Andreas nickte Emily und mir zu. „Ich habe Ivor bei Larissa gelassen und dir Cara für den restlichen Tag zugeteilt.“
„Gut.“ Emily sah zu mir. „Vielleicht wäre es schlau, Jim auch einen Valiadru zuzuweisen. Immerhin ist er nicht mehr unsterblich.“
„Ich kann auf mich aufpassen, Em.“ Sanft berührte ich ihren Arm, bevor ich mich neben sie setzte.
Andreas’ Stirn war in Falten gelegt. „Emily hat recht. Du bist der zukünftige König, weshalb deine Sicherheit in meinen Verantwortungsbereich fällt. Ich werde nach der Ratsversammlung sehen, wen ich dir zur Verfügung stellen kann.“
Ich seufzte. „Und was, wenn ich dir befehle, mir keinen Valiadru zuzuteilen?“
Andreas lächelte süffisant. „Dann erinnere ich dich daran, dass die Befehle der Königin über denen des Balidru stehen.“
Ich rollte mit den Augen, konnte mir aber ein Lächeln nicht verkneifen.
Alea entwich ein lachendes Schnauben.
Die Tür öffnete sich und Quinn trat in den Raum, gefolgt von meiner Schwester. Eine Reihe von gemurmelten Begrüßungen hallte durch den Saal und die beiden setzten sich auf ihre angestammten Plätze.
„Wo ist Vater?“, fragte ich, da der Stuhl des Schatzmeisters leer war.
„Er ist heute früh zurück in den goldenen Wald gereist“, bemerkte Christine. „Ich soll dir ausrichten, dass er bereitsteht, solltest du ihn brauchen, Emily.“
Emily nickte. „Und wer vertritt ihn im Rat?“
„Ich.“ Fay trat in den Raum, einen Stapel Dokumente auf dem Arm. Dey verbeugte sich vor uns. „Ich stehe dem Königreich zu Diensten.“
Ein Grinsen stahl sich auf mein Gesicht. „Schön, dich zu sehen.“
Fay setzte sich auf den Stuhl mit dem goldenen Baum. „Thomas schickt Grüße.“
„Willkommen, Fay“, begrüßte Emily die Vertretung des Schatzmeisters. „Da wir nun vollzählig sind, lasst uns die Versammlung beginnen.“
„Ich habe eine Botschaft von einem Eurer Spione, Majestät“, sagte Fay und ließ eine versiegelte Schriftrolle mithilfe eines Zaubers zu Emily schweben.
Das graue Wachs trug kein Wappen.
Emily las die Nachricht mit gerunzelter Stirn. Ihre Miene verdüsterte sich. „Gab hat sich mit Dulcea verbündet und ihr Informationen über Jim gegeben, um ihn in der Bevölkerung unbeliebt zu machen. Sie will mich als regierungsunfähig darstellen, da ich es wage, eine Ehe mit jemandem einzugehen, an dessen Händen Blut klebt.“
Ich schluckte. Für eine Sekunde konnte ich Raffaels Angst riechen. Ich stopfte die Erinnerung in die dunkelste Ecke meines Verstandes zurück, bevor sie an die Oberfläche gelangen konnte.
„An all unseren Händen klebt Blut“, erwiderte Alea. „Das ist in einem Krieg unausweichlich.“
Emily warf mir einen beunruhigten Blick zu. „Es geht hier nicht um den Krieg, sondern um Dinge, die Jim zu Camillas Herrschaftszeit getan hat.“
Ich umklammerte die Armlehnen und versuchte, meinen Gesichtsausdruck neutral zu halten, denn Alvinas leere Augen starrten mich aus einer Erinnerung heraus an. Dies war nicht der richtige Zeitpunkt, um die Kontrolle zu verlieren. „Ich muss etwas mit der Königin besprechen. Lasst uns bitte kurz allein“, sagte ich mit ruhiger Stimme, obwohl in mir ein Sturm tobte.
Die anderen Ratsmitglieder nickten und verließen den Raum.
„Was genau steht in diesem Brief?“, fragte ich.
„Der Flüsterer schreibt, dass Dulcea weiß, was damals mit Alvina Ritreita geschehen ist. Ich glaube, es ist an der Zeit, dass du mir erzählst, was damals passiert ist, Jim. Ich muss es erfahren, bevor mich irgendwelche Gerüchte erreichen, von denen ich nicht wissen kann, ob sie der Wahrheit entsprechen oder nicht.“ Emilys Blick traf meinen.
Ich atmete geräuschvoll ein und aus. „Camilla hat damals die Auslöschung der Ritreita angeordnet.“ Meine Handflächen waren feucht und ich wischte sie an meiner Hose ab. „Ich war derjenige, der den Befehl ausgeführt hat.“
„Oh.“ Emily starrte mich mit einem Ausdruck an, den ich nicht einordnen konnte.
Ich ergriff ihre Hand. Mein Herz hämmerte wild in meiner Brust. „Ich wollte es nicht tun. Sie hat mich dazu gezwungen.“ Alvinas flehende Worte hallten in meinem Verstand wider. „Du musst mir glauben. Ich habe versucht, gegen den Befehl anzukämpfen, aber … ich konnte nicht.“
Emily strich sanft mit ihren warmen Fingern über meine Wange. „Ich glaube dir, Jim.“
„Willst du keinen Beweis dafür?“
„Wenn du mir einen zeigen möchtest, kannst du das tun. Doch ich glaube dir auch so“, murmelte sie.
Ihre Berührung gab mir Halt. „Ich denke, es ist an der Zeit, dass ich jemandem zeige, was mit Alvina geschehen ist.“ Ich streckte meine Magie nach ihrer aus und sie verband sich mit meiner.
Die Erinnerung daran, wie ich Alvina gegen meinen Willen erdolcht hatte, spielte sich in meinem Kopf ab. Ihre flehenden Worte brachen mir das Herz.
Ich schied meine Macht von Emilys, sobald die Erinnerung vorüber war, und blinzelte die Tränen fort.
Emilys Augen waren ebenfalls feucht. Sie nahm mich in die Arme. „Was dir Camilla angetan hat, ist furchtbar. Sie hätte dich nicht dazu zwingen dürfen. Es war nicht deine Schuld, Jim.“
Ich presste mein Gesicht in ihre Schulter. Meine Gedanken wanderten zu Isarra. Ich bezweifelte, dass Emily diesen Teil meiner Vergangenheit genauso akzeptieren würde. Selbst ich verachtete diesen Teil von mir.
„Ich liebe dich“, flüsterte Emily.
Sanft legte ich meine Stirn an ihre. „Ich liebe dich auch.“ Meine Lippen trafen auf ihre und ich genoss ihre Nähe.
„Gibt es noch etwas aus deiner Vergangenheit, das Dulcea gegen dich verwenden könnte?“, frage Emily. „Wir müssen auf alles vorbereitet sein.“
Isarra. Der Schrei meines Bruders gellte durch meinen Verstand, doch ich ignorierte ihn.
Alle, die von dem Ereignis gewusst hatten, waren tot, also war es unmöglich, dass Dulcea davon erfuhr. Ich war nicht bereit, diesen Teil von mir offenzulegen. Vermutlich würde ich mich niemals dazu überwinden, jemandem davon zu erzählen. „Nein“, log ich deshalb. „Das ist alles.“
Emily strich erneut über meine Wange. „Wir werden eine Möglichkeit finden, die Gerüchte abzuschwächen und die gesamte Schuld auf Camilla zu schieben. Da du den Befehl gegen deinen Willen ausgeführt hast, sollte das kein Problem sein.“
Ich nickte. „Gut, hoffentlich macht Dulcea nicht noch weitere Probleme. Dass Gab bei ihr ist, gefällt mir nicht.“
„Mir auch nicht“, bemerkte Emily. „Aber der Flüsterer hat ein Auge auf ihn und wird uns über jeden von Gabs Schritten informieren.“
„Wäre es nicht schlauer, deinen Meisterspion zu den Avendraya zu schicken? Sie scheinen mir momentan ein größeres Problem darzustellen als die Avenialya.“
„Das habe ich mir auch kurz überlegt, aber die Avendraya lagern so nah an Wradingamno, dass es möglicherweise die Statthalterin verärgern könnte, wenn ich den Flüsterer schicke“, sagte Emily.
„Gut mitgedacht.“ Ich seufzte. „Vielleicht sollten wir alles Weitere mit den restlichen Ratsmitgliedern besprechen.“
Emily nickte.
Ich holte die anderen in den Saal zurück.
„Wir werden die Gerüchte nicht als Falschnachricht darstellen“, bemerkte Emily, „sondern einen unserer Historiker beauftragen, mit Jims Hilfe einen detaillierten Bericht über die damaligen Geschehnisse zu schreiben und zu veröffentlichen. So widerlegen wir mit der Wahrheit Dulceas verdrehte Version. Damit zeigen wir der Bevölkerung, dass wir offen mit der Vergangenheit umgehen.“
„Ich werde mich nachher sofort an die Arbeit machen“, sagte ich, obwohl sich mir, bei der Aussicht, mit einem wildfremden Ganedi einen Bericht über Alvinas Ableben zu verfassen, der Magen umdrehte.
„Dann ist das ja geklärt. Kommen wir zum nächsten Punkt“, fuhr Emily fort. „Die Drachen haben mir berichtet, dass hinter der Grenze im Osten ein Clan von Havganedi lebt, der uns gefährlich werden könnte.“ Sie blickte zu Quinn. „Verstärkt die Truppen in Havgamno. Die Statthalterin soll sich für einen Kampf rüsten. Auch sollen die Späher an der Grenze verdoppelt werden. Sobald ein Drache in mein Land einfliegt, will ich darüber informiert werden.“
„Was ist mit den anderen Grenzgebieten?“, fragte Quinn. „Was hält die Drachen auf, über die Gebirgskette des Havaleni im Norden oder über die verbotene Ebene im Süden einzufallen?“
„Nichts“, antwortete Emily. „Aber diese Teile der Grenze können wir nicht vollständig bewachen. Wradingamno soll den Süden im Blick behalten, so gut es ihnen möglich ist, und was das Havaleni anbelangt: Wenn die Drachen diesen Weg wählen, fliegen sie höchstwahrscheinlich über Lagdgamno. Dann sind die Drachen erstmal das Problem der Priesterinnen.“
Quinn schrieb etwas nieder. „Ich werde sofort nach der Versammlung der Statthalterin von Havgamno und der von Wradingamno schreiben.“
„Wir sollten die anderen Grenzen nicht vernachlässigen“, ergänzte ich. „Am besten wir schicken Späher in den Westen und in den Süden.“
„Im Westen liegt das Herrschaftsgebiet meines Vaters, deshalb besteht von dort keine Gefahr“, widersprach Emily. „Was den Süden anbelangt: Haben wir mittlerweile herausgefunden, was dort liegt?“
„Vermutlich das Königreich der Avendraya“, sagte ich. „Da diese sowieso schon in unser Land eingefallen sind, würde ich nicht allzu viele Späher für die südliche Grenze verschwenden. Außerdem bleibt neben der Wüste, dem Moor und der verbotenen Ebene nur ein kleiner Teil der Grenze übrig, wo es überhaupt möglich wäre, nach Hulidru zu gelangen. Genau dort lagert das Heer der Avendraya bereits.“
Emily nickte. „Irgendwelche Strategien in Bezug auf das Heer der Avendraya?“
„Ich habe Späher ausgesandt, um einzuschätzen, wie groß die Streitmacht ist und mit welchen magischen Wesen wir es zu tun haben“, antwortete die Heerführerin. „Im Laufe des Tages sollte ich Antworten von ihnen erhalten.“
„Gut,“ sagte Emily. „Wie sieht unsere weitere Vorgehensweise bezüglich der Priesterinnen aus? Irgendeine Idee, wie wir uns Ritgamno zurückholen können?“
„Ich arbeite noch an einem Plan, um nach Ritgamno zu gelangen. Es gibt einen geheimen Zugang, von dem die Avenialya nichts wissen. Das Problem ist, dass nur ich diesen Eingang nutzen kann.“ Wieder war es Quinn, die geantwortet hatte.
„Heißt das Ihr müsstet Ritgamno im Alleingang zurückerobern?“, fragte ich.
„Lediglich die Wasserkontrollanlagen“, bemerkte Quinn. „Sobald wir diese in unserer Gewalt haben, ist es ein Kinderspiel, einen Aufstand der Händler zu erzwingen, indem wir den Flussverkehr stoppen und so den Handel lahmlegen. Das wird die Priesterinnen dazu zwingen, die Stadt aufzugeben, wenn wir es lang genug durchziehen.“
Emily nickte. „Kommt zu mir, sobald Ihr einen genaueren Plan ausgearbeitet habt.“
„Natürlich, Majestät.“
Ve’gha stand regungslos am Rand des Lagers und blickte auf die hügelige Landschaft, die Wradingamno umgab. Der langgezogene See hinter der Festung glitzerte in der Mittagssonne.
Die Stadttore waren geschlossen, doch das würde die Armee der Todeskönigin nicht aufhalten. Trotz der Verluste nach der Schlacht im goldenen Wald würde es lächerlich einfach sein, die Stadt der Wächter einzunehmen. Dennoch hatte Ve’gha ihren Kriegern befohlen, wachsam zu sein.
Ei’lua und A’ran, die dem Heer vorstanden, traten neben die Königin. Sie waren, wie üblich, schwer bewaffnet und trugen die dunkelrote Kampfuniform der Avendraya.
„Neuigkeiten von den Havganedi?“, fragte Ve’gha.
Ei’lua reichte ihr wortlos einen Fetzen Pergament.
Die Kanten waren angesengt, doch die mit Kohle geschriebenen Worte darauf klar lesbar.
Ich werde Euer Angebot annehmen. Aber nur, bis das Vollkommene Blut tot ist. Dann seid Ihr auf Euch allein gestellt.
Trefft mich am 12. Tag des Frühlings, kurz vor Sonnenaufgang, am See gegenüber dem Wasserfall, der das Weltentor verbirgt.
Ritnaati, König der Havganedi
Ve’gha lächelte. „Ihr werdet mich begleiten“, befahl sie den Heerführern. „Aber zuerst werden wir Wradingamno einnehmen.“
Ei’lua und A’ran nickten. „Benötigt Ihr noch etwas von uns, meine Königin?“
„Habt ihr Neuigkeiten zu den Empathen?“, fragte Ve’gha.
„Unsere Jäger konnten keine finden“, antwortete die Heerführerin. „Es scheint, als hätte die Niatqa, die Euch angegriffen hat, die Wahrheit gesprochen.“
Ve’gha schnaubte. „Hoffen wir es.“
„Kein Empath kann sich vor der Macht der Waddmatirin verstecken“, sagte A’ran. „Das heißt, uns stehen nur noch die Draya im Weg.“
Ve’ghas Todesmagie fuhr freudig durch ihren Körper. Sie wartete sehnsüchtig darauf, dass Ve’gha die Königin Hulidrus in die Finger bekam und tötete. Ve’gha würde alles tun, um das zu erreichen, selbst wenn es sie ihr Leben kosten würde. Vielleicht würde Emily Drayas Tod dazu führen, dass sie sich nicht mehr so leer fühlte. Seit Mir’a’zaens Ermordung war ein Loch an die Stelle ihres Herzens getreten. Es war, als hätte er es mit ins Grab genommen.
Die Königin drückte ihren Rücken durch und verbannte jegliche Gedanken an ihren Ehemann aus ihrem Kopf. „Teilt den Kriegern mit, dass wir im Morgengrauen angreifen werden“, befahl sie. „Zeit, den Draya Stück für Stück ihr Königreich zu entreißen.“
Cal schritt in den Palastgarten Valdrayas hinaus. Seine Magie war unruhig, denn alles in dieser verfluchten Stadt erinnerte ihn an Medea – jede Blume, jeder Strauch, jeder Stein des majestätischen Gebäudes. Sogar die verschiedenen Gerüche erweckten Erinnerungen an sie und nur mit Mühe konnte er verhindern, dass diese seinen Verstand überfluteten.
Ein Windstoß fuhr durch sein Haar und er zügelte seine Magie, damit sie das Wetter nicht noch weiter beeinflussen konnte.
Cal erreichte die große Wiese, die normalerweise für Feste genutzt wurde. Es war ein Fehler gewesen, hier spazieren zu gehen, denn sobald Cal die Augen schloss, konnte er Medeas Lachen hören und die Musik, die an ihrem Hochzeitstag hier gespielt worden war.
Er hatte Medea so sehr geliebt, aber sie hatte sich nur an ihn gebunden, weil er ihr einen außerordentlich mächtigen Liebestrank verabreicht hatte. Manchmal fragte er sich, ob sie ihn ohne diesen hätte lieben können. Doch da Medea tot war, würde er nie eine Antwort erhalten.
Die Sonne verschwand hinter den Wolken.
Cal rief seine Magie in sich zurück. Sie zischte, gehorchte jedoch.
„Ihr solltet nicht hier sein“, sagte ein lilafarbener Drache, der auf ihn zugekommen war.
„Ich glaube, Ihr verwechselt mich mit jemandem“, bemerkte er unschuldig.
Die Havganedi klopfte an seinen mentalen Schild.
Er ließ zu, dass sie ihre Gedanken mit seinen verband. Habt Ihr den Verstand verloren?Wenn irgendjemand erfährt, dass wir uns kennen …
Niemand hat etwas bemerkt.
Cal verschränkte die Arme vor der Brust. Was wollt Ihr?
Euch fragen, warum Ihr nicht in Trax seid.
Ihr wisst, dass ich abgesetzt wurde, zischte Cal. Anna hat Euch bestimmt davon berichtet.
Das beantwortet nicht meine Frage, bemerkte Alitaia. Ihr müsst zurück und Euch den Thron wiederholen.
Warum?Tito herrscht an meiner Stelle. Er ist genau wie ich ein sbricee.
Aber er ist nicht der rechtmäßige Herrscher. Rauch quoll aus Alitaias Schnauze. Ihr solltet zurückkehren.
Ich werde hier gebraucht, erwiderte Cal. Jemand muss das Vollkommene Blut leiten, da Anna nicht mehr unter uns ist.
Alitaia schnaubte, schwieg jedoch.
Oder gibt es einen neuen Anführer, von dem ich nichts weiß?
Dontor hat abgelehnt, sagte sie. Deshalb werde ich die Rolle übernehmen.
Ich verstehe immer noch nicht, warum ich es nicht tun kann. Cal sah sie herausfordernd an.
Es ist zu riskant. Eure Schwester hat den Bewahrern vermutlich vieles über Euch verraten, sprach Alitaia in seinen Gedanken.
Aber das Vollkommene Blut vertraut mir, erwiderte Cal.
Und diese Tatsache wird uns auch von Nutzen sein. Trotzdem könnt Ihr die Zerstörer nicht anführen. Reist umgehend nach Trax. Das ist ein Befehl! Alitaias Augen funkelten gefährlich.
Wie Ihr wünscht, Anführerin. Cal drehte sich um und kehrte in den Palast zurück.
Ich schritt, in Gedanken versunken, durch die Flure des Palastes.
Ganedi verschiedener Schichten wuselten umher, machten jedoch Platz, sobald ich an ihnen vorbeiging.
Ich beachtete sie kaum. Genauso wenig wie den Valiadru, der mir folgte. Meine Gedanken hielten mich gefangen und meine Magie war seit der Ratsversammlung unruhiger denn je. Der Wind heulte deshalb um die Palastmauern, ließ das Glas der zahlreichen Fenster vibrieren.
Raffaels Schreie hallten von der Erinnerung zu mir herauf. Nur mit Mühe schaffte ich es, sie wieder in die dunkelsten Ecken meines Verstandes zurückzustopfen.
Meine Atmung war unregelmäßig. Es fühlte sich an, als würde ich nicht genug Luft in meine Lunge bekommen. Egal, wie sehr ich mich darauf konzentrierte, mit jedem erneuten Atemzug hatte ich das Gefühl, zu ersticken. Meine Hände zitterten und ich steckte sie in die Hosentaschen.
Ich musste schnell aus dem belebten Flur weg, denn niemand sollte mich so sehen. Die Tür zum Audienzzimmer meiner Schwester war direkt vor mir, also öffnete ich sie und schlüpfte hinein.
Raffaels Schreie wurden wieder lauter. Ich werde dich töten, du verfluchter Bastard.
„Jim?“, fragte Christine neben mir, doch ihre Stimme klang weit entfernt.
Ich schnappte verzweifelt nach Luft, meine Brust war wie zugeschnürt und die Knie gaben unter mir nach. Meine Finger krallten sich in den Stoff meines Hemdes, meine Magie wimmerte mit mir, brach aus mir hervor.
Regen peitschte an die Fensterscheiben. In der Ferne donnerte es unheilvoll.
Bitte hör auf, Jim! Raffaels flehender Blick vergiftete meinen Verstand.
Ein Blitz erhellte das nun düstere Zimmer, doch ich bemerkte es kaum. Immer noch versuchte ich, zu atmen, aber egal, wie viel Luft ich in meine Lunge sog, es war nicht genug. Die Schuld saß zu schwer auf meiner Brust.
„Jim!“ Warme Hände berührten mein Gesicht und vertraute Magie umfloss mich. Christine nahm mir einen Teil meiner Emotionen.
Ich atmete keuchend ein. Langsam nahm ich meine Umgebung wieder vollständig wahr. „Danke.“
Meine Schwester kniete vor mir und sah mich besorgt an. Sie half mir hoch, führte mich zu einem Sessel vor dem Kamin.
Allmählich beruhigte sich mein Herzschlag. „Bitte sag Em nichts davon.“ Ich fuhr mit den Fingern durch meine Haare.
„Ich werde es für mich behalten.“ Sie setzte sich neben mich. „Willst du darüber reden?“
Wollte ich das? Vielleicht war es an der Zeit, jemandem von meiner grausamsten Tat zu erzählen. Christine würde mich nicht verurteilen – zumindest hoffte ich das. Sicher konnte ich mir nicht sein. Aber möglicherweise würde sie es verstehen, auch wenn ich wenig Hoffnung hatte, dass irgendjemand außer Felicia mein vergangenes Ich jemals verstehen würde. „Ich weiß nicht, ob ich darüber reden will. Doch ich glaube, ich muss, bevor ich die Kontrolle verliere.“ Mit einem Nicken deutete ich in Richtung der Fenster, hinter denen mittlerweile ein Gewitter tobte.
Christine sah mich erwartungsvoll an.
„Valia Laria”, flüsterte ich. Der Stillezauber legte sich um uns. Ich umklammerte die Lehnen des Sessels beinahe schmerzhaft. Nur mit Mühe schaffte ich es, die nächsten Worte hervorzupressen: „Hast du dich nie gefragt, warum Raffael mich so sehr gehasst hat?“
Ihre Miene war starr. „Nein, weil ich die Antwort kenne.“
Ich zuckte zusammen. „Du weißt, was ich getan habe?“
„Was du getan hast?“ Sie runzelte die Stirn. „Nein. Ich spreche davon, was Sahra getan hat.“
Verwirrt zog ich eine Augenbraue nach oben. „Ich kann dir nicht folgen.“
Christine stand auf und trat an ihren Arbeitstisch. Mit Kraft zog sie eine Schublade aus dem Möbelstück. Sie griff hinein und holte einen Brief hervor. „Raffael hat mich gebeten, ihn aufzubewahren. Er wollte nicht, dass du ihn liest, aber ich denke, du hast ein Recht, seinen Inhalt zu kennen.“ Sie reichte ihn mir und setzte sich wieder.
Raffael, stand in Sahras geschwungener Handschrift auf dem Briefumschlag.
Mit zitternden Fingern öffnete ich ihn.
Raffael,
ich dachte, ich hätte die richtige Entscheidung getroffen, ich dachte, dass du derjenige wärst, den ich liebe. Aber ich habe mich geirrt. Du weißt nicht, wie sehr es mir das Herz bricht, dir diese Worte zu schreiben. Doch sie dir persönlich zu sagen und dir dabei in die Augen zu sehen, würde ich nicht ertragen.
Vielleicht macht mich das zu einem Feigling, doch es ändert nichts an der Tatsache, dass ich immer noch Jim liebe. Ich befürchte, ich werde niemals damit aufhören, auch wenn ich wünschte, es wäre anders.
Ich erwarte nicht, dass du mir verzeihst, aber vielleicht kannst du mich eines Tages verstehen.
Es tut mir leid.
S.
Ich schnappte nach Luft. Mein Herz schlug viel zu schnell, meine Hände zitterten. Ich legte den Brief vor mir auf den Tisch. Meine Gedanken kreisten um Sahras Worte und ich versuchte, zu begreifen, was das bedeutete.
Sie hatte mich geliebt. Mich. Nicht Raffael.
Die Magie tobte in meinem Inneren, rauschte durch mein Blut, wollte freigelassen werden. „Wann hat sie ihm diesen Brief gegeben?“, fragte ich.
„Gar nicht“, murmelte Christine. „Er hat ihn nach ihrem Tod in ihrem Zimmer gefunden.“
„Wenn er ihn mir gezeigt hätte, wäre das alles nicht passiert“, flüsterte ich. Tränen traten mir in die Augen. Schuld schnürte mir die Brust zu, nahm mir den Atem. Ich war so lange wegen Sahra wütend auf ihn gewesen und hatte ihn dafür gehasst. All die schrecklichen Dinge, die ich ihm angetan hatte, waren aus diesem Hass entstanden. Aus der Erkenntnis, dass er mir Sahra gestohlen hatte.
Aber das hatte er nicht. Zumindest nicht wirklich.
„Verflucht“, brüllte ich und rammte meine Faust in die Wand neben dem Sessel. Schmerz schoss durch meine Knöchel, doch es war mir egal.
Christine zuckte zusammen. „Was ist in dich gefahren?“
Meine Hände zitterten. Ich vergrub das Gesicht für einen kurzen Moment in ihnen, versuchte, dem Drang zu widerstehen, den Palast dem Erdboden gleichzumachen.
Es wurde dunkel im Zimmer. Die Wolken verdüsterten sich erneut und es donnerte in der Ferne. Der Wind peitschte weiter unaufhörlich gegen die Fensterscheiben.
Christine legte eine Hand auf meine Schulter. Ihre Magie versuchte, meinen Panzer zu durchbrechen, doch ich ließ sie nicht. „Jim.“
Ich schluchzte. „Du weißt nicht, was ich getan habe.“
„Wovon sprichst du?“
„Raffael hat mich nicht wegen dieses Briefs gehasst“, flüsterte ich. „Obwohl, vielleicht dachte er das, denn er wusste nicht mehr, was ich ihm angetan habe.“
Christine setzte sich neben mich. „Was ist damals geschehen?“
„Raffael hat vor langer Zeit die Tavganedi gebeten, eine Erinnerung von ihm zu nehmen.“ Die Macht in mir brüllte. „Er konnte mir nicht mehr gegenüberstehen, ohne mir den Tod zu wünschen. Die Wut und der Hass, den er mir gegenüber empfand, kamen nicht von diesem Brief, sondern von der Erinnerung, die er aufgegeben hatte. Sie war so stark, dass die Gefühle nicht zur Gänze von den Tavganedi entfernt werden konnten.“
Christine war bleich geworden. „Was bei der Magie hast du getan, Jim?“
Alles in mir sträubte sich, doch ich musste es ihr erzählen. Ich würde platzen, wenn ich es nicht tat.
Ein Blitz schlug unweit der Hauptstadt ein.
Die Macht in mir war so unruhig wie schon lange nicht mehr. „Hat dir Raffael jemals von Isarra erzählt?“
„Ich habe nie von ihr gehört.“
„Sie war die Liebe seines Lebens“, flüsterte ich. „Und ich habe sie vor seinen Augen getötet.“
Kapitel 2: Schmerzhafte Empathie
Ich starrte meinen Bruder an und versuchte, die Worte zu verstehen, die er mir gerade gesagt hatte. Aber ich konnte und wollte nicht glauben, dass Jim Raffaels Partnerin kaltblütig ermordet hatte. Es musste eine Erklärung dafür geben. Vielleicht war es zu einer Zeit gewesen, zu der Jim nur noch eine willenlose Marionette der Draya gewesen war. „Wann genau ist das passiert?“
Jim saß in Tränen aufgelöst neben mir. Er sah an mir vorbei, sein Blick glasig und abwesend.
Ich ergriff seine Hand und drückte sie sanft.
Mein Bruder sackte in sich zusammen, vergrub das Gesicht in den Händen.
„Wann war das, Jim?“, fragte ich mit Nachdruck.
„Einen Tag, bevor Felicia Raffaels Hinrichtung angeordnet hat“, flüsterte er. Tränen rannen lautlos über sein Gesicht.
„Ist das der wahre Grund, warum wir mit Raffael vereinbart hatten, nicht über diese Zeit zu sprechen? Damit ihm niemals auffallen würde, dass ihm eine Erinnerung fehlt?“
Jim nickte langsam. „Ich konnte nicht riskieren, dass er sich jemals erinnert, was für ein Monster ich bin.“
Ich legte eine Hand auf seinen Arm. „Du warst während Felicias Herrschaft nicht du selbst, Jim.“
Mein Bruder lachte bitter. „Das ist nur die halbe Wahrheit. Felicia hätte Raffael hingerichtet, wäre sie nicht vorher gestorben, und ich hätte ihr dabei zugesehen.“
Schmerz kroch wie Gift in meine Magie, trübte die Farben, ließ alles trist und grau erscheinen.
„Was ist damals genau geschehen?“, fragte ich, obwohl ich mir fast sicher war, dass ich die Antwort nicht hören wollte.
„Wenn ich dir das erzähle, wirst du mich hassen.“
Jims Worte hatten so zerbrechlich geklungen, dass meine Magie ausschlug und sich mit seiner verband. Schuld erstickte mich sogleich, drückte mich tiefer in den Sessel, ließ einen ekelhaft bitteren Geschmack in meinem Mund zurück.
Ich trennte meine Magie von seiner. Das Gefühl verschwand und ich holte keuchend Luft. „Ich könnte dich nie hassen“, sagte ich leise. „Wir hatten alle düstere Episoden in unserem Leben. Das ist unausweichlich, wenn man so lange existiert.“
„Wann hattest du jemals eine düstere Episode?“ Er sah mich fragend an.
„Ich war kurz davor, unsere eigene Cousine zu ermorden“, antwortete ich. „Hast du das vergessen?“
„Sie hat versucht, dich zu töten“, erwiderte Jim. „Isarra hingegen hat mir nichts getan. Und trotzdem habe ich …“ Seine Stimme brach.
Ich schluckte den Kloß in meinem Hals hinunter. „Es ist Zeit, dass du es jemandem zeigst, Jim. Ich werde dich nicht für deine vergangene Tat verurteilen und sofern du es nicht willst, werden wir anschließend nie wieder darüber reden.“
„Du solltest mich dafür verurteilen.“ Jim wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. „Denn das Schlimmste ist, dass ich es an manchen Tagen nicht einmal bereut habe.“
Meine Magie zog sich zusammen und verkroch sich in mir. „Zeig es mir trotzdem.“ Ich hielt ihm eine Hand hin.
Jim ergriff sie zögernd. „Ich liebe dich, Chrissy. Bitte vergiss das nicht, selbst wenn du mich danach hasst.“
Ich nickte, denn ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich meinen Bruder jemals verachten würde. „Ich liebe dich auch, Jim.“
Er murmelte einen Zauber und die Erinnerung ergriff uns.
Die Nacht war angenehm warm; ausnahmsweise wehte kein Wind durch die Straßen Ritgamnos. Es war beinahe zu ruhig, wie die trügerische Stille vor einem Sturm – als würde die Welt den Atem anhalten.
Anderen hätte diese Stimmung wohl Angst gemacht, aber ich fand sie besänftigend. Ich hatte es schon immer gemocht, die Veränderung in der Luft zu riechen. Wenn es etwas gab, das immer gleich blieb, dann war es die Tatsache, dass Umschwünge unumgänglich waren. Nichts währte ewig.
Auch Dulceas Herrschaft würde irgendwann in Vergessenheit geraten. Im Moment war sie jedoch ein praktisches Werkzeug für die Pläne der Bewahrer, weshalb ich neben ihr auf der großen Terrasse des ehemaligen Herrschaftssitzes der Ritreita saß.
Die Oberste Priesterin hatte die Diener vor einiger Zeit weggeschickt. Vielleicht hatte sie sich meinen Rat ja doch zu Herzen genommen. „Die Verbreitung der Gerüchte war nicht erfolgreich“, bemerkte sie. „Der Balidru hat seine Sicht der Dinge dargestellt und so jegliche Schuld auf Camilla übertragen. Das Volk hat immer noch nicht erkannt, was für ein Monster er ist.“
„Dann ist es vielleicht an der Zeit, Raffaels Erinnerung zu holen. Wenn wir deren Inhalt kennen, wird es ein Leichtes sein, der Bevölkerung zu zeigen, wie blutrünstig ihr zukünftiger König wirklich ist“, sagte ich.
„Habt Ihr eine Ahnung, was diese Erinnerung beinhalten könnte?“, fragte sie.
„Mir ist bekannt, dass es mit Felicia der Grausamen zu tun hat.“ Ich ließ mir den Namen auf der Zunge zergehen. Selbst nach all den Jahrtausenden war ich froh, zu Felicias Herrschaftszeit nicht in der Hauptstadt gewesen zu sein. „Jim hat Raffael damals etwas Schreckliches angetan.“
„Hoffen wir, dass es sich lohnt, diese Erinnerung zu holen.“ Dulceas Blick war kalt. „Wann könnt Ihr aufbrechen?“
„Morgen.“
Ein Schatten erschien in meinem Augenwinkel.
Ich griff nach meiner Magie, hielt jedoch inne, da sich ein Lächeln auf Dulceas Gesicht ausbreitete.
„Zeigt Euch!“
Ich runzelte die Stirn, denn ich wunderte mich, mit wem sie sprach.
Eine düstere Gestalt trat aus den Schatten, ihr Gesicht war verhüllt, nur graue Augen blitzten wachsam zwischen dem Stoff hervor. „Ich kann später wiederkommen, wenn Ihr allein seid.“
Die dunkle Stimme jagte mir einen wohligen Schauder über den Rücken. Meine Magie zog sich ruhig in mich zurück, sie schien sich von dem Unbekannten nicht bedroht zu fühlen.
Dulcea winkte ab. „Habt Ihr Informationen?“
„Die Streitmacht, die sich in der Nähe Wradingamnos niedergelassen hat, wird von einer Waddmatirin angeführt“, sagte der Vermummte. „Ihr Name ist Ve’gha Avendraya.“
Ich erstarrte. „Seid Ihr Euch sicher, dass diese Information der Wahrheit entspricht?“
Der Spion nickte. „Meine Quellen sind sehr zuverlässig.“
Dulcea stand auf. „Gibt es noch mehr?“
„Die Avendraya scheinen die Königin stürzen zu wollen, aber es ist nicht klar, wie genau sie dieses Ziel zu erreichen gedenken“, fuhr der Unbekannte fort.
Die Oberste Priesterin warf ihm einen Beutel mit Gold zu. „Findet heraus, was genau die Avendraya vorhaben, und berichtet mir dann.“ Sie wandte sich an mich. „Macht Euch sofort auf den Weg, Janisla.“ Mit wehender Robe eilte sie ins Gebäude.
Ich betrachtete den Spion aufmerksam. Etwas an ihm kam mir vertraut vor, aber ich konnte es nicht einordnen. „Wer seid Ihr?“
„Man nennt mich den Flüsterer. Ich verkaufe Informationen“, sagte er, seine Stimme rau und dunkel.
Ich verschränkte die Arme vor der Brust. „Das beantwortet meine Frage nicht.“
„Meine Anonymität schützt mich“, bemerkte der Flüsterer trocken.
Oder sie lässt dich an Orte gelangen, an denen du nicht sein solltest. „Hm.“ Langsam kroch meine Gedankenmagie auf den Spion zu. Sie prallte an einem undurchdringbaren Schild ab. Diese Art von Zauber hatte ich bisher nur bei den Drachen gesehen.
„Glaubt Ihr wirklich, ich würde ohne Schutz hierherkommen?“ Die Augen des Spions blitzten gefährlich auf. „Versuch nicht noch einmal, in meine Gedanken einzudringen, Gabriel.“
Meine Magie knurrte. Schuld sammelte sich in meiner Magengrube und Pippas Gesicht blitzte in meinen Gedanken auf. „Niemand nennt mich Gabriel.“
„Nicht, seit deine Schwester gestorben ist“, ergänzte der Flüsterer. „Tragisch, was mit ihr geschehen ist. Genauso tragisch wie das, was mit deinen Eltern passiert ist.“
Ich stand auf und baute mich bedrohlich vor dem Spion auf. Meine Magie war bereit, ihn wenn nötig zu zerschmettern. „Wer seid Ihr?“
„War es nicht ein bisschen übertrieben, Oskar hinzurichten?“, fragte der Flüsterer. „Trotzdem kann ich es verstehen. Es war sehr grausam, was er mit deiner Mutter gemacht hat.“
„Kaum jemand weiß davon!“ Ich wollte den Spion an der Kehle packen, doch dieser wich aus.
Schnell sprang er über die Brüstung der Terrasse.
Ich eilte zum Geländer und blickte hinunter.
Niemand war zu sehen.
Verschlafen rieb sich Larissa die Augen.
Sonne glitzerte schwach zwischen den Ritzen der Vorhänge hindurch. Ein Gedanke ihrerseits genügte und der wallende Stoff gab das Fenster frei, das sich daraufhin öffnete.
Larissa atmete die frische Morgenluft ein. Sie lächelte, als der Wind durch ihr Haar fuhr.
Ihre Magie schlängelte sich in bunten Wellen um sie, erfüllte den ganzen Raum.
Ein Klopfen ertönte.
„Herein“, rief Larissa.
Andreas steckte den Kopf durch den Türspalt. „Deine Mutter erwartet dich in einer halben Stunde.“
Die Magie der Prinzessin erfasste den Valiadru, umhüllte ihn auf eine Weise, wie sie es noch nie getan hatte. Larissa zuckte zusammen.
Andreas’ Gefühle stachen in ihren Verstand: seine Zufriedenheit darüber, zurückgekehrt zu sein, seine Sorge um das Königreich, seine unbändige Liebe zu Alea und seine Entschlossenheit, Larissa zu beschützen.
Sie hielt sich die Ohren zu, versuchte, die Gefühle loszuwerden und sie nicht mehr zu spüren. Doch sie überschwemmten sie weiter, überreizten ihre Sinne.
„Was ist los?“ Andreas eilte an ihre Seite.
Larissa keuchte und schaffte es mit Mühe, einen klaren Gedanken zu fassen. „Hol Tante Christine.“
Andreas rief einem Diener den Befehl zu. Er blieb dicht bei ihr.
Larissa versank weiter in dem Meer aus Emotionen. „Warte vor der Tür.“ Sie steckte ihren Kopf zwischen die Knie.
Andreas nickte und ging zurück auf seinen Posten.
Sobald er das Zimmer verlassen hatte, schnappte Larissa nach Luft, da ihre Magie keine fremden Gefühle mehr greifen konnte. Zitternd rollte sie sich auf dem Bett zusammen. Ihre Muskeln schmerzten, als wäre sie tagelang gelaufen. Weiterhin waberte ihre Magie im Raum herum und Larissa hatte keine Kraft, sie in sich zurückzuziehen.
Wenig später öffnete sich die Tür.
Ihr Vater und ihre Tante betraten das Zimmer, wodurch deren Gefühle für sie greifbar wurden.
Larissa schrie. Der Schmerz ihres Vaters überflutete sie, genauso wie der ihrer Tante, die beide Anna vermissten.
„Larissa!“ Ihr Vater nahm sie in die Arme, doch dadurch konnte sie seine Gefühle noch besser wahrnehmen.
Seine Sorge ertränkte ihren Verstand. Ein Wimmern entwich ihrer Kehle.
„Geh!“, wies Christine ihn an. „Sofort!“
„Ich werde nicht von ihrer Seite weichen“, knurrte Jim.
„Sie besitzt empathische Kräfte“, erwiderte sie. „Geh! Ich kümmere mich um sie.“
Jim presste seine Lippen aufeinander und nickte.
Die Tür schloss sich.
Christine schirmte ihre Gefühlswelt vor Larissa ab. „Atme“, befahl sie sanft.
Larissa gehorchte und sog Luft durch die Nase in ihre Lunge, bevor sie sie wieder ausstieß.
Christine nahm sie in die Arme, strich beruhigend über ihr Haar. „Entspanne deine verkrampften Muskeln.“
Larissa löste die Anspannung von ihrem Geist und ihrem Körper. Ihr erleichtertes Wimmern erfüllte die Stille.
„Ich werde deine empathischen Kräfte abschirmen, sodass sie nicht frei ausbrechen können“, murmelte Christine. „Sobald du dich ausgeruht hast, werde ich dir beibringen, sie zu kontrollieren.“
Larissa nickte benommen. „Warum tun meine Muskeln von den Gefühlen der anderen weh?“
„Stell dir vor, du müsstest nicht nur dein eigenes Körpergewicht tragen, sondern das eines jeden Ganedi, der sich mit dir im Raum befindet. Wärst du dann nicht auch sofort erschöpft?“
„Vermutlich.“
„Schlaf jetzt“, flüsterte Christine und strich weiter über Larissas Haar.
Wenig später war die Prinzessin eingeschlafen.
Leise schlich ihre Tante aus dem Zimmer.
Larissa hat empathische Kräfte.
Ich wiederholte Jims Worte immer und immer wieder in meinem Kopf, versuchte, Ruhe zu bewahren, doch ich wusste, dass mein Verlobter den Sturm in meinem Inneren spüren konnte.
Er sagte aber nichts, sondern lief in meinem Audienzzimmer auf und ab. Seine Magie rauschte wie ein Windstoß durch den Raum. Bereits seit dem Vortag war seine Macht unruhig und die Neuigkeit über Larissas Kräfte hatten seine Stimmung weiter getrübt.
Ich hatte noch keine Zeit gefunden, ihn zu fragen, was vorgefallen war, doch in diesem Moment war das auch nicht wichtig. Wir mussten uns um unsere Tochter kümmern, alles andere konnte warten.
Endlich klopfte es.
Jim riss die Tür auf und bat seine Schwester herein.
„Wie geht es ihr?“, fragte ich.
„Sie schläft“, murmelte Christine. „Ich habe ihre empathischen Kräfte vorerst abgeschirmt, aber da sie königliches Blut in sich trägt und dadurch weitaus stärker ist als ich, wird der Schild nicht lange halten.“
„Kannst du sie ausbilden?“ Obwohl Jim die Worte an seine Schwester gewandt hatte, blickte er nur für einen winzigen Moment zu ihr, fast als würde es ihm schwerfallen, ihr in die Augen zu sehen.
„Ja“, antwortete Christine. „Aber ich weiß nicht, ob ein Palast voller Ganedi der beste Ort dafür ist.“
„Solange sich niemand mit ihr im Zimmer aufhält, kann sie die Gefühle von anderen nicht spüren, oder?“, fragte ich.
„Ja und nein“, sagte Christine. „Momentan sind Larissas empathische Kräfte nicht groß genug, um Wände zu durchdringen. Aber da sie eure Tochter ist, befürchte ich, dass sich das bald ändern wird, und dann wird Larissa hier nicht mehr leben können.“
Ich schluckte. „Was schlägst du vor?“
„Es gibt einen Ort, an dem die Wände der Zimmer magisch verändert wurden, um solche Magie in Schach zu halten“, murmelte Christine.
Jims Blick verdüsterte sich. „Dort ist es zu gefährlich.“
„Seit Jahrtausenden hat kein lebendes Wesen die Burg betreten“, bemerkte sie. „Niemand wird uns dort finden und ich kann Larissa in Ruhe trainieren, während ihr herausfindet, wie man Wände magisch verstärkt, sodass empathische Kräfte sie nicht überwinden können. Erst dann wird es Larissa möglich sein, im Palast zu leben, ohne dass sie an ihrer Macht zerbricht.“
Ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen, doch mein Magen hatte sich mit jedem ihrer Worte weiter zusammengezogen. „Was ist das für ein Ort?“
„Die Heimat unserer Mutter, der ehemalige Herrschaftssitz der Niatqa“, erklärte Christine. „Sie waren einst Fürsten von Ethgamno und hatten eine Burg mitten in der Wüste. Seit dem Tod unserer Großmutter gilt sie jedoch als verflucht, die neuen Herrscher haben sich ein Regierungsgebäude in der Hauptstadt gebaut.“
„Warum sollte es mitten in der Wüste nicht sicher sein?“, fragte ich.
„Weil die Gerüchte, dass die Burg verflucht ist, nicht erfunden sind“, sagte Jim. „Empathen können magische Rückstände hinterlassen, wenn sie sterben.“
Ich hob eine Augenbraue. „Wollt ihr mir etwa weismachen, dass es in der Burg spukt?“
„So etwas in der Art“, murmelte Christine. „Unsere Großmutter wurde in der Burg ermordet. Deshalb schwirrt ein Teil ihrer Magie dort herum und attackiert jeden, der versucht, das Gebäude zu betreten.“
Ich verschränkte die Arme vor der Brust. „Wie willst du dann Larissa dort ausbilden?“
„Ich kenne eine Möglichkeit, Großmutter loszuwerden“, bemerkte Christine. „Es gibt Zaubertränke, mit denen ich die Erscheinung einfangen kann, aber es wird ein paar Tage dauern, diese vorzubereiten.“
„Gibt es eine Alternative zur Burg der Niatqa, falls das Einfangen scheitert?“ Fragend blickte ich Jim an.
Er schüttelte den Kopf und wandte sich seiner Schwester zu. „Was brauchst du alles, damit dein Vorhaben gelingt?“
Sie legte die Stirn in Falten. „Eine mächtige Alchemistin für das Brauen der Tränke und jemanden mit der Fähigkeit, Magie über eine große Strecke zu erfühlen, um die Burg zu finden. Mutter war die letzte, die den genauen Standort kannte, und sie hat ihn niemandem verraten.“
Ich nickte. „Als Alchemistin stelle ich dir Raya zur Verfügung. Leider kenne ich kein Wesen, das so eine Fähigkeit besitzt, aber Waddlaria vielleicht. Sobald sie von der Jagd zurück ist, werde ich sie fragen.“
„Ich werde mit Raya reden, damit sie die nötigen Vorbereitungen trifft“, sagte Christine.
„Sehr gut. Wird dein Schutzschild um Larissa in der Zwischenzeit halten?“, wollte ich wissen.
„Ich hoffe es“, murmelte sie.
Ich versuchte mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr mich diese Worte beunruhigten. „Falls Larissa aufwacht, werde ich nach dir schicken lassen.“
Christine nickte und verließ das Zimmer, ohne Jim eines Blickes zu würdigen.
„Was, wenn es nicht funktioniert, die Erscheinung zu vertreiben?“ Ich lehnte mich gegen meinen Schreibtisch.
Jim zog mich in seine Arme. „Dann finden wir eine andere Lösung, Em.“
„Okay.“ Ich löste meine angespannte Haltung und schloss die Augen.
„Wir müssen eine magische Erscheinung vertreiben?!“ Raya hatte die Arme verschränkt. „Hast du den Verstand verloren?“
„Hast du eine bessere Lösung?“, fragte ich. „Wenn der Schild um Larissa nicht mehr hält, wird sie an ihren Kräften zerbrechen!“
„Ist es momentan wirklich der einzige Weg?“
Ich nickte.
Sie atmete geräuschvoll aus und lockerte ihre Körperhaltung. „Dann werde ich sofort mit dem Brauen der Tränke beginnen. Aber ich brauche einige sehr spezielle Zutaten dafür.“
Ich kramte in meiner Tasche, legte eine Drachenschuppe und die Asche einer Empathin auf den Tisch.
Raya griff nach den außergewöhnlichen Gegenständen. „Die Tränke werden übermorgen fertig sein.“
„Danke, Raya.“
Bevor ich gehen konnte, zog sie mich an sich und küsste mich sanft. „Bis später“, hauchte sie.
Ein Kribbeln fuhr durch meinen Körper. Ich wünschte, ich könnte sie für eine Woche in eine einsame Hütte entführen und mit ihr allein sein. Leider gab es im Palast zu viel zu tun. Nach dem Krieg würde ich hoffentlich Zeit haben, tagelang mit ihr im Bett zu bleiben. „Bis später.“ Lächelnd verließ ich Rayas Labor.
Auf dem Flur begegneten mir nur wenige Ganedi, doch die meisten Gespräche wurden leiser, als ich vorbeiging.
Mein Lächeln verflog. Ich war es gewohnt, dass hinter meinem Rücken über mich geredet wurde – über die Empathin, die ihre Kräfte nicht vollständig kontrollieren konnte, über die jahrtausendealte Tochter des Waldes, die nur eine Marionette der Draya war. Seit ich mit Raya zusammen war, hatte sich der Tratsch verdoppelt. Eigentlich sollte mich das Gerede der Leute nicht stören, doch selbst nach Tausenden von Jahren hatte ich noch das Gefühl, es jedem recht machen zu müssen.
Ich wünschte, Raffael wäre hier. Er hatte unter den Gerüchten immer genauso sehr gelitten wie ich und meine Gefühle zu diesem Thema nachvollziehen können.
Jim hingegen schien das Gerede egal zu sein. Ich wusste, dass es ihn nicht vollkommen kalt ließ, aber er hatte vor langer Zeit gelernt, es nicht an sich heranzulassen. Seit er mir die Erinnerung mit Isarra gezeigt hatte, verstand ich auch, warum. Wenn es ihn scheren würde, was andere von ihm dachten, wäre er schon längst an der Vergangenheit zerbrochen. Trotzdem hatte ich jeden Funken seiner Angst gefühlt, als er mir die Erinnerung gezeigt hatte. Es war ihm wichtig, was ich von ihm dachte.
Die Szene mit Isarra spukte durch meinen Verstand und mir wurde schlecht. Ein Gesprächsfetzen hatte sich in mein Gedächtnis eingebrannt:
Was würde Christine von dir denken, wenn sie dich so sehen würde? Raffaels Stimme hatte bei diesen Worten vor Wut gezittert.
Jim war mit blutverschmierten Händen auf seinen Bruder zugetreten. Es ist mir egal, was sie denken würde. Sie wird nie hiervon erfahren. Aber du wirst die Bilder nie wieder aus dem Kopf bekommen.
Ich werde dich töten, du verfluchter Bastard. Raffael hatte daraufhin so brutal an seinen magischen Ketten gerissen, dass die Erde gebebt hatte.
Ich verdrängte den Rest der Erinnerung, denn die Worte meiner Brüder schmerzten.
Wie hatte es nur dazu kommen können, dass sie sich solch schreckliche Dinge angetan und sich so gehasst hatten?
Ich unterdrückte die Tränen, schluckte den ekelhaften Geschmack in meinem Mund hinunter.
All die Jahrtausende hatte ich gewusst, dass Jim und auch Raffael unter Felicias Herrschaft grausame Dinge getan hatten. Aber im Gegensatz zu Raffael hatte Jim das Blutvergießen genossen. Als er mir die Erinnerung gezeigt hatte, hatte ich all seinen Hass auf Raffael gespürt. Die letzte Emotion, die ihm damals noch geblieben war, das Letzte, was ihn davon abgehalten hatte, einfach aufzugeben – bis selbst der Hass verblasst war.
Obwohl ich wusste, dass Jim nicht mehr so war wie zu Felicias Herrschaft, war ich mir nicht sicher, wie ich mit dieser Erinnerung umgehen sollte.
Das lange Leben, das uns allen beschert worden war, kam mir immer mehr wie ein Fluch vor. Zu viel war geschehen, das jeden von uns im Inneren auffraß.
Selbst ich war nicht ohne Schuld, auch wenn meine Taten weitaus weniger blutrünstig als die meiner Geschwister waren.
Wieder wollte sich die Szene mit Isarra in meinem Verstand manifestieren, doch ich grub mich aus den Tiefen der dunklen Gedanken nach oben, atmete langsam ein und aus – ein und aus.
Die Vergangenheit war vergangen und ich konnte sie nicht ändern. Es brachte nichts, mich darin zu verlieren.
Ich schritt durch die Flure des Palastes und versuchte, den Valiadru, der mir folgte, zu ignorieren. Einerseits verstand ich, dass sich Emily um meine Sicherheit sorgte, andererseits fand ich es lächerlich, dass ich eine Leibwache besaß. Als würde es irgendetwas ändern, sollte ich wirklich angegriffen werden.
„Jim!“ Fay eilte auf mich zu.
Ich blieb inmitten des Korridors stehen. „Was gibt es?“
Dey zögerte. „Ich weiß nicht, ob mein Herrscher erfreut wäre, wenn ich es anspreche.“
„Raus damit, Fay.“
„Ich mache mir Sorgen um Henry“, bemerkte dey. „Es ist verständlich, dass er trauert, aber ich weiß nicht, ob es ihm guttut, momentan im goldenen Wald zu sein. Er verkriecht sich in seinen Gemächern und redet mit kaum jemandem. Könntest du vielleicht demnächst nach ihm sehen?“
Ich seufzte. „Natürlich. Danke, dass du mir Bescheid gegeben hast, Fay.“
Dey nickte, ein schwaches Lächeln umspielte deren Lippen. Etwas glitzerten in deren Augen, als würde dey weitersprechen wollen. Jemandem, der Fay nicht gut kannte, wäre es vermutlich nicht aufgefallen, doch ich kannte demm sehr gut.
„Gibt es noch etwas?“, fragte ich.
Sorge spiegelte sich in deren grünen Augen wider. „Wie geht es dir, Jim?“
„Gut“, antwortete ich automatisch.
Fay zog mich in den angrenzenden Thronsaal.
„Warte draußen“, befahl ich dem Valiadru und schloss die Tür vor ihm.
Eine angenehme Stille umhüllte uns.
„Wie geht es dir wirklich?“ Das Grün von Fays Augen wandelte sich zu dem hellen Gelb, das dey im goldenen Wald immer trug.
Die Vertrautheit von deren Blick führte dazu, dass ich meinen Schutzpanzer fallen ließ. Eine Welle von Gefühlen durchbrach die Oberfläche und Trauer flutete meinen Verstand. „Ich …“ Emotionen erstickten meine Stimme.
Fays Arme schlossen sich um mich. „Lass es raus.“
Für einen kurzen Moment ließ ich mich in meine Emotionen und die Umarmung fallen. Ich presste das Gesicht in den weichen Stoff an Fays Schulter. Meine Tränen tropften lautlos auf deren Hemd.
