Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Kanada um 1888: die Indianer fürchten eine fremde und erbarmungslose Kreatur, die sie ehrfurchtsvoll den "Schleier" nennen. Sie erscheint ohne Ankündigung aus dem Nichts, ist kaum zu sehen und tötet mit bloßem Blick. Ihr Erscheinen bedeutet Tod und Leid und sie hinterlässt verbrannte Erde. Nach der Prophezeiung der Indianer wird ein Jäger als Beschützer und Erlöser kommen, der die Macht hat, den "Schleier" zu sehen und der ihm ebenbürtig ist. In dem 8-jährigen weißen Malcolm, der nach einem Unfall langsamer altert und ungewöhnliche Fähigkeiten besitzt, erkennen sie den Auserwählten. Im Laufe der Jahrzehnte jagt der hochintelligente Malcolm diese mächtige Kreatur, allerdings ist der "Schleier" in Begleitung eines "Halbschattens" ...
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 532
Veröffentlichungsjahr: 2025
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Franc de León
Die Legende des Jägers
Das Land der Horizonte
Fantasy
Texte: © 2024 Copyright by Franc de León
Umschlaggestaltung: © 2024 Copyright by Franc de León
Verlag:
Franc de León
c/o AutorenServices.deBirkenallee 2436037 Fulda
Herstellung: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Köpenicker Straße 154a, 10997 Berlin
Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung: [email protected]
Kapitel 1 `Der Tag danach` – Heute, der 22.01.2013
Erschöpft und gedemütigt an Handschellen gekettet saß ich auf einem harten Holzstuhl, in einem winzigen und kargen Verhörraum in irgendeiner trostlosen Polizeistation im Nirgendwo.
Ich atmete schwer und fühlte mich angeschlagen, mir dröhnte der Kopf. Meine Arme, Hände und Gelenke schmerzten. Eigentlich schmerzte mein ganzer Körper, ein unterschwelliger Schmerz breitete sich unaufhaltsam aus. Die Streifschussverletzung am linken Unterarm und die zwei gebrochenen Finger pochten ununterbrochen. Die unzähligen Schürf- und Schnittwunden im Gesicht und die aufgeplatzte Augenbraue brannten wie Feuer. Das Blut floss zäh über meine Wangen und tropfte am Kinn herunter. Meine provisorischen Verbände an Hände und Unterarme waren rot verfärbt und meine Kleidung hing wie Fetzen an mir herunter, sie war zerrissen, verdreckt, verschmiert.
Bis vor einer Stunde hat mich die Polizei wie ein wildes Tier durch die Stadt gejagt. Die halbe Nacht hat sie mich, hochgerüstet, durch die dunklen und schmalen Gassen von Denver gehetzt. Von Polizeihunden ausweglos in die Enge betrieben, wurde ich am Ende meiner Flucht beschossen, geschlagen, getreten, beworfen und durch ein geschlossenes Fenster aus dem zweiten Stock gestoßen. Die Cops, emotional sehr aufgewühlt, zerrten mich brutal an gefesselten Armen und Füßen fort, meine Beine schleiften am Boden, mein Kopf hing wie leblos herab.
Und das alles nur, weil ich viele Menschenleben retten wollte. Ich war mir sicher, irgendwie falsch verstanden worden zu sein.
Ich biss mir auf die Unterlippe und ärgerte mich maßlos über mich selbst. In all den letzten Jahrzehnten war ich immer vorsichtig gewesen, meine Vorhaben waren stets perfekt geplant und wurden noch perfekter ausgeführt. Ich war schon häufiger aus brenzligeren Situationen davongekommen. Und jetzt das. Wurde ich wirklich älter ?
Nach längerer Zeit hob ich meinen Kopf und sah mich mit schmerzverzerrtem Gesicht um. Dieser Raum hatte nichts, wofür es sich gelohnt hätte, länger als nötig hier zu verweilen. Es war nichts Besonderes zu sehen: vier Metallstühle, ein Holztisch, eine einfache Lampe, mausgraue Wände, dunkelgrauer Linoleumfußboden und eine laut tickende Wanduhr, die gerade 0:15 Uhr anzeigte. Alles sah einfach und gewöhnlich aus. Selbst die große Spiegelwand mir gegenüber sah eher schlicht aus. Aber mir war schon klar, dass ich von der anderen Seite der Scheibe argwöhnisch beobachtet und genau studiert wurde. Also senkte ich meinen Kopf wieder und starrte mit leerem Blick auf den Tisch vor mir.
Das abgedunkelte kleine Zimmer auf der anderen Spiegelseite erinnerte mehr an eine Abstellkammer und war genau so spartanisch eingerichtet wie der Verhörraum. Ein länglicher brauner Holztisch entlang des Spiegels mit zwei ausgesessenen Bürostühlen. Auf dem Tisch lagen ein paar verstaubte Mappen, ein Aufnahmegerät das durchgehend blinkte, ein flacher Computer der leise brummte und obendrauf ein kleiner Flachbildschirm.
Der Leiter der Polizeistation Ken Stewart war ein stämmiger Senegalese Anfang 60. Er galt als aufbrausend, manchmal sogar als hitzig, aber heute wirkte er auffallend ruhig und zurückhaltend. Er beugte sich nach vorne, stützte sich mit beiden Händen auf den Tisch. Sein Stellvertreter Luis Rovero, ein schlanker mittelgroßer Latein-Amerikaner mit dunklen kurzen Haaren und Bürstenschnitt stand neben ihn. Sein hageres Gesicht wirkte noch eingefallener als sonst. Beide blickten mich misstrauisch durch den Spiegel an.
„Was halten Sie davon?“ fragte Stewart, der sich aufrichtete und nach seinem beigen Kaffeebecher griff.
Rovero nahm seinen Zahnstocher, auf dem er ständig herum kaute, widerwillig aus dem Mundwinkel.
„Na ja, die Sachlage scheint endlich einmal eindeutig zu sein. Der Typ schleicht sich mit seinen Tomahawks ins Krankenhaus, tötet das Wachpersonal und einige Patienten, schlägt alles kurz und klein und legt hinterher Feuer. Noch schweigt er, aber es ist sicher nur eine Formsache. Kaum auszudenken, wenn die Flammen die anderen Gebäudeteile erfasst hätten. Das Krankenhaus war voller Patienten, es hätten sehr viel mehr Menschen sterben können. Schlimm genug, dass unter den getöteten Patienten zwei Polizisten waren. Ich tippe auf mehrfach lebenslänglich.“
„Der Kerl ist verrückt! Dieses wirre Gerede, über böse Wesen und das andere dumme Zeug“ sagte Stewart kopfschüttelnd, fuhr sich mit der flachen Hand über die dunkle, frisch rasierte Glatze und nippte an seiner Tasse.
„Der Fall ist mehr als eindeutig. Bergman und Roberts sollen sich den Irren vornehmen. Aber lassen Sie Bergman das Verhör führen, sie soll gerne ein paar Erfahrungen sammeln. Bei dieser Faktenlage wird es nicht allzu lange dauern“ fügte der Senegalese hinzu.
Wieder nahm Rovero genervt den Zahnstocher aus dem Mund und gab den Befehl emotionslos über die Gegensprechanlage weiter.
„Endlich“ dachte ich, als drei Minuten später sich die Tür zum Verhörraum mit einem leisen Klicken öffnete und Jasmin Bergman gefolgt von James Roberts eintraten.
„Die Handschellen“ jammerte ich mit gesenktem Kopf und fuhr fort „meine Hände sind schon ganz taub. Ich habe jedes Gefühl verloren. Bitte nehmen Sie mir die Dinger ab.“
„So gut kennen wir uns aber noch nicht“ antwortete Roberts mit einem hämischen Unterton, während er seine Unterlagen in hohen Bogen auf den Tisch warf und sich einen Metallstuhl polternd zurechtrückte.
Ich wartete einen Moment, bis er saß, lehnte mich in den Stuhl zurück und hob langsam den Kopf. Mein Blick fiel auf ein fies grinsendes, dürres Gesicht. Roberts war mir sofort unsympathisch. Mitte oder Ende 30, braungebrannt, die tiefschwarzen langen Haare mit viel Gel gestylt, zarter Oberlippenbart, perfekt manikürte Fingernägel, akkurat gezupfte Augenbrauen, viel schwerer Goldschmuck an beiden Armgelenken, helles Seidenhemd, feiner anthrazitfarbener Maßanzug. Er schien aus reichem Haus zu stammen und wirkte überheblich und selbstgefällig.
Wir würden bestimmt keine guten Freunde werden. Ich zwang mich meine Antipathie zu unterdrückten, die in mir aufkam, lächelte freundlich und dachte „Arschloch“.
„Wenn Sie der böse Bulle sind, dann sind sie der gute Bulle?“ fragte ich beiläufig, während mein Blick von Roberts zu Bergman wanderte, die mittlerweile ebenfalls saß.
Sie war eine hübsche Frau. Etwa Ende 20 mit schulterlangen, leicht gewellten blonden Haaren. Sommersprossen zierten ihr schmales Gesicht, sie trug ein dunkles Jackett und blaue Jeans. Die Polizistin legte ihren Laptop vor sich hin und öffnete ihn mit einer geschmeidigen Handbewegung.
„Falsch“ antwortete sie in einem forschen Ton und versuchte möglichst grimmig auszusehen „wir beide sind die bösen Cops.“
„Na, das war wohl nichts. Weder das grimmige Gesicht noch der strenge Ton passen zu Ihnen. Versuchen Sie es nochmal, Jasmin“ entgegnete ich Ihr selbstbewusst mit einem leichten Lächeln „und nehmen Sie mir bitte diese verdammten Handschellen ab.“
Sie sah mich sehr skeptisch und noch fragender an.
„Ihr Name steht auf Ihrer Marke, die links an Ihrem Gürtel steckt“ beantwortete ich die nichtgestellte Frage.
Argwöhnisch senkte Bergman ihren Kopf und sah an sich herunter „aber meine Marke ist von meinem Blazer verdeckt.“
Sie hob wieder ihren Blick, musterte mich sehr genau und schlussfolgerte „es war Ihnen gar nicht möglich meine Marke zu sehen.“
„Kann schon sein“ zuckte ich lässig mit den Schultern.
„Wir haben schon von ihren mystischen Fähigkeiten gehört, Mr. LeRoy. Aber uns beeindrucken Sie bestimmt nicht“ stellte Roberts lachend fest.
Ich beugte mich langsam nach vorne und sagte mit leiser Stimme „ich habe mein ganzes Leben damit verbracht Menschen zu beeindrucken. Auch Sie werde ich beeindrucken, verlassen Sie sich drauf.“
Für einen Moment wirkte er etwas verunsichert und fing an, seine unordentlichen Unterlagen hektisch zu sortieren.
„Das hört sich fast wie eine Drohung an“ stellte er schließlich knapp fest.
„Das würde ich mir nie trauen. Es war eher eine Art von Vorhersage“ versicherte ich Roberts.
„Sie haben ja Schneid, alter Mann. Sie sitzen hier wegen mehrfachen Mordes, Brandstiftung und Landfriedensbruch und riskieren eine verdammt dicke Lippe“ sagte der Polizist mit einem gehässigen Grinsen.
Doch die Lässigkeit, mit der er sprach, war aufgesetzt. Ich wusste genau, dass ich den richtigen Ton angeschlagen hatte, unter seiner Sonnenbräune wurde er blasser. Es war viel einfacher als ich dachte.
„Geben Sie mir ein paar Minuten“ meinte ich sehr überzeugend.
In diesem Fall war es mir wichtig, das letzte Wort zu haben. Jasmin rutschte auf ihren Stuhl hin und her, klappe ihren Laptop zu und wieder auf. Sie versuchte die Unzufriedenheit, die in ihr hochkam, zu unterdrücken. Der Einstieg in dieses Verhör war vollkommen mitraten.
„OK. Versuchen wir es nochmal“ fuhr sie beschwichtigend fort, wobei ihre Stimme diesmal schon viel freundlicher klang.
Ich nickte zustimmend in ihre Richtung „und die Handschellen?“
„Nur für das Protokoll, sind Ihnen Ihre Rechte vorgelesen worden?“ erkundigte sie sich und überging versehentlich meine Frage.
„Nein, aber das spielt keine Rolle, ich kenne sie auswendig. Ich habe sie schon häufiger gehört.“
„Das dachte ich mir schon. Brauchen Sie einen Anwalt? Wenn Sie sich keinen …“
„Nein, ich brauche keinen Anwalt. Und ja, ich kann mir sehr wohl einen Anwalt leisten. Ich kann mir sogar eine Armee von Anwälten leisten. Können wir uns etwas beeilen? Ich habe noch was vor“ unterbrach ich die Polizistin und versuchte die beiden mit meiner üblichen charmanten Art zu provozieren.
„Zweifacher Polizistenmord und die anderen Kleinigkeiten, die Ihnen zur Last gelegt werden, ergeben mehr Jahre, als sie wahrscheinlich noch haben werden. Sie können davon ausgehen, dass sie in den nächsten Jahren nichts vorhaben werden, Mr. LeRoy“ schimpfte sie empört.
„Hören Sie, egal was die Polizei gegen mich in der Hand hat, es wird nicht ausreichend sein, es wird sich in Luft auflösen. Außerdem bin ich unschuldig, ich habe niemanden getötet. Weder die Patienten noch das Wachpersonal oder die Polizisten. Warum sollte ich auch? Spätestens Morgen werde ich hier wieder raus spazieren, aber ich würde einen ganzen Tag im Kampf gegen diese Bestie verlieren. Und wenn ich es recht bedenke, haben sie eigentlich weniger als Nichts gegen mich in der Hand“ sagte ich mit einem süffisanten Lächeln.
Jasmin holte tief Luft und sah mich verstört an. Sie konnte kaum glauben, was sie gerade gehört hatte.
„Sie sollten normalerweise Angst haben und verunsichert sein. Aber diesen Eindruck scheinen Sie mir nicht zu machen, Mr. ‘Wer-immer-Sie-auch-sein-mögen‘. Sie sitzen hier selbstbewusst mit breiten Schultern. Man könnte fast glauben, dass Sie tatsächlich an den Unfug glauben, den Sie gerade gesagt haben. Aber solche Typen wie Sie kennen wir zu Genüge. Sie alle sind irgendwann eingebrochen und auch Sie werden einbrechen und ich werde es genießen, Ihnen dabei zuzusehen. Wir werten gerade die Bilder von der Überwachungskamera vom Krankenhausparkplatz. Sie sind geliefert“ lächelte Roberts zurück.
„Sie glauben mich zu kennen? Wir sind vielleicht vom selben Stern, uns trennen aber Welten. Sie kennen mich nicht. Und Ihre saubere Kamera hat sicherlich auch etwas anderes aufgenommen. Vielleicht eine zweite Gestalt oder irgendein verunstaltetes Lebewesen, welches Sie nicht identifizieren können?“
„Vielleicht, kann schon sein. Aber was verschweigen Sie uns und wer zum Teufel sind sie wirklich?“ fragte mein Gegenüber mit schmalen Augen.
Mein Grinsen wurde breiter, ließ die Frage aber unbeantwortet und lehnte mich noch tiefer in meinen Stuhl zurück. Ich war überzeugt, dass die Bilder der Überwachungskamera eher mir, als der Polizei helfen würden.
„Wir werden sehen, ob sich eine Mordanklage in Luft auflöst.“
Mit diesen Worten eröffnete Jasmin einen weiteren Versuch, das Verhör in geordnete Bahnen zu lenken. Sie hatte sichtlich Mühe, sich zu konzentrieren und fuhr fort „wenn unsere Unterlagen und unsere Recherchen richtig sind, dann haben Sie schon ein beträchtliches Alter erreicht, Mr. LeRoy.“
„Ich ernähre mich gesund, fahre viel Fahrrad, mache viel Sport, ich rauche und trinke nicht“ antwortete ich wenig überzeugend.
„Selbst bei einer extrem gesunden Lebensweise werden die wenigsten Menschen 133 Jahre alt. Sie haben bei Ihrer Flucht Polizisten abgehängt, die 100 Jahre jünger waren als Sie. Sie sehen kaum älter als 50 aus.“ sagte Bergman mit einem Anflug von Argwohn in der Stimme.
„Danke für das Kompliment“ lenkte ich ab.
„Würden Sie bitte die Frage beantworten? Und denken Sie dran, Sie sitzen hier wegen Widerstand gegen die Staatsgewalt, Landfriedensbruch, Sachbeschädigung und wegen vielfachen Mordes“ antwortete sie mit einem ungeduldigen Unterton und fing an mit ihrem Zeigefinger auf den Tisch zu tippen.
„Hören Sie, ich habe ein Art Gendefekt. Ich altere anders als andere Menschen.“
„Ich habe noch nie von einem solchem Defekt gehört. Haben Sie vielleicht die Identität ihres Sohnes oder Enkels übernommen?“ fragte die Polizistin und verzog ihr Gesicht.
„Ich habe keine Kinder, nicht bei meiner Vorgeschichte“ seufzte ich voller Wehmut.
Sie hatte meinen wohl einzigen wunden Punkt getroffen. Unter normalen Umständen hätte ich gern eine Familie gegründet.
„Bei welcher Vorgeschichte?“ bohrte Roberts gehässig nach, dessen Gesichtsfarbe langsam zurückkehrte. Ein schwaches Schmunzeln spielte in seinen Mundwinkel.
„Warum gleichen Sie nicht meine Fingerabdrücke mit denen, der Polizei in Edmonton ab?“ schlug ich mit einem Achselzucken vor und fuhr fort „vor ein paar Jahren bin ich dort wegen einer Lappalie festgenommen worden.“
Natürlich war mir bewusst, dass dies eine Standardprozedur war und dass die hiesige Polizei bereits mit den kanadischen Behörden meine Daten ausgetauscht und abgeglichen hat. Im Februar 1934 habe ich auf meinem Privatgelände bei Edmonton das Schießen mit einer Armbrust geübt und bin angezeigt worden. Ich vermutete, dass die junge Polizistin diesen Fall gerade auf ihrem Laptop geöffnet hatte.
„Vor ein paar Jahren?“ fragte Roberts ungläubig.
„Naja, es kommt mir gar nicht so lange vor.“
„Das war vor fast 80 Jahren! Das kann unmöglich sein. Wer sind Sie?“ fragte mich Bergmann mit scharfer Stimme.
Ich überlegte zwei oder drei Sekunden „reicht die Kurzversion? Ohne Handschellen?“
„Die Kurzversion ist völlig ausreichend“ stimmte mir die junge Frau sofort zu.
Sie klappte den kleinen Laptop zum wiederholten Mal zu und schaute mich erwartungsvoll an. Die Frage nach den Handschellen musste sie wohl überhört haben.
Ich atmete zweimal sehr tief durch, wartete einige Sekunden und begann, obwohl mir sowieso keiner glauben würde, in kurzen Stichworten zu erzählen. Nur allzu gut kannte ich die Reaktionen, die meine spektakuläre Geschichte nach sich zog.
„Ich bin Kanadier, heiße Malcolm Alexander LeRoy, habe ein verdammt langes Leben hinter mir und werde im November 134 Jahre alt. 1880 wurde ich in Sedgewick, Kanada geboren. Einen Teil meiner Kindheit verbrachte ich bei den Blackfoot-Indianern. 1888 hatte ich einen schlimmen Unfall und hätte eigentlich sterben müssen. Naja, genau genommen war ich tod. Aber nach etwa 10 Stunden erwachte ich wieder, wie aus einem Todesschlaf. Warum nach 10 Stunden? Keine Ahnung. Warum ich erwachte? Kaum zu erklären. Aber seitdem altere ich langsamer als andere Menschen und habe fantastische Instinkte. Mir wurden besondere Fähigkeiten übertragen, um einen bestimmten `Sammler` zu jagen. 120 Jahre habe ich diese verdammte Bestie gejagt. Und gestern habe ich dieses Monster nach so langer Zeit endlich erledigt. Naja, mehr oder weniger“ seufzte ich und lehnte mich in den unbequemen Stuhl zurück.
Bergman und Roberts schauten sich fragend an. Da Roberts mit den Schultern zuckte und ihm nichts einfiel, ergriff Jasmin die Initiative. Sie faltete ihre Hände, legte sie auf den Tisch und wählte ihre Worte sehr sorgfältig aus.
„Ich fasse zusammen: Sie sind schon sehr alt, lebten einige Jahre bei den Indianern, haben 10 Stunden Nahtod-Erfahrung und können einige Dinge, die andere nicht können. OK, soweit so gut. Aber wer oder was ist ein `Sammler`?
Ihr Blick sah sehr bemitleidenswert aus. Ich schloss kurz die Augen in der Vorahnung zu wissen, was nun folgen würde.
„Neben unserer Welt scheint es eine weitere, eine Art Zwischenwelt zu existieren. Dort sind Wesen gefangen, die nirgendwo hingehören. Sie sind überwiegend harmlos, einzig die `Receptoren` sind extrem böse Kreaturen und haben ein unendlich langes Leben. Sie sind uralte Geschöpfe mit gewaltigen Kräften. Einige wenige, wie die `Sammler`, haben sogar die Fähigkeit durch eine Zeitspalte hindurch Portale zu öffnen und können zwischen den Welten passieren. Es sind Bestien. Sie kommen in unserer Welt um zu Töten. Sie töten Mensch und Tier gleichermaßen und saugen ihren Opfern die Lebensenergie aus. Letzte Nacht habe ich S'kram, den schlimmsten aller `Sammler`, getötet. Ich weiß nicht genau, was passiert ist, aber ein Teil von S'kram hat überlebt. Dieses Ding kann wohl kein Portal öffnen, um in seine Welt zu entfliehen. Es scheint hier gefangen zu sein, ich habe es bis ins Krankenhaus verfolgt. Blöderweise hat mich die Polizei festgenommen und dieses Monster läuft immer noch frei herum.“
Wieder tauschten meine Gegenüber vielsagende Blicke aus, sie verzogen ihre Gesichter und musterten mich teilnahmslos an. Aber sie waren nicht fähig irgendetwas zu erwidern. Beide öffneten zwar den Mund, nur irgendwie brauchten die beiden mehrere Sekunden, um eine sinnvolle Frage zu äußern. Schließlich formte der Cop seine Augen zu schmalen Schlitzen und ergriff das Wort.
„So, so. Sie haben also irgendwie irgendein unsterbliches Ding getötet?“ beugte sich Roberts misstrauisch nach vorne.
„Dass ein `Sammler` ein unendlich langes Leben hat, heißt nicht, dass sie unsterblich sind. Und ja, ich habe dieses Monster getötet“ antwortete ich wie selbstverständlich mit Stolz erfüllter Brust.
„Hm … und wie tötet man etwas, was ein unendlich langes Leben hat?“
„Für die Antwort auf diese Frage habe ich über 100 Jahre gebraucht.“
„Sicher. Das glaube ich Ihnen gerne“ brachte der Polizist mit einem Schmunzeln hervor.
„Sie glauben wirklich an den Quatsch, den Sie gerade gesagt haben, oder? Und das Krankenhaus haben Sie auch nicht verwüstest oder angesteckt, nicht wahr?“
„Natürlich habe ich das Krankenhaus nicht in Brand angesteckt. Warum hätte ich es tun sollen? Es waren diese Überreste von S'kram. Er war schon immer vom Gedanken besessen, dass nur Feuer mich töten könnte“ antwortete ich genervt.
Aber ich sah, wohin diese Diskussion führte. Sie führte ins Nichts, aber es wunderte mich im Grunde genommen nicht. Während ich zum wiederholten Mal fassungslos gestarrt wurde, entstand ein langes und bedrückendes Schweigen.
„Sie wollten wissen, wer ich bin? Als mich der `Raumwächter` vor vielen Jahren ...“
Roberts schlug sich wild auf die Schenkel und verfiel im lauten Gelächter. Er stieß seinen Stuhl zurück, drehte sich zum Spiegel und grölte voller Freudentränen „dieser Kerl ist echt super, richtig klasse. Parallelwelten, `Sammler`, unendlich langes Leben, Zeitspalten, Kreaturen, `Raumwächter`. Mit dem können wir ein Vermögen verdienen. Ich will ihn behalten! Bitte! Bitte!“
Laut lachend drehte er sich zu mir um „bekomme ich noch eine Zugabe?“ Wieder fing er an mit den Händen zu trommeln, diesmal auf dem Tisch.
Selbst hinter dem Spiegel lärmte es, das laute Poltern und das Gelächter waren nicht zu überhören. Diese Reaktion hatte ich schon häufiger erlebt und sie überraschte mich daher nicht sonderlich. Aber ich konnte nicht leugnen, dass es mich kränkte und eine gewisse Wut in mir aufkam. Das wollte und konnte ich mir nicht gefallen lassen. Ich wollte Roberts schließlich beeindrucken und dies war der richtige Augenblick dafür.
„Nur eine Zugabe? Warum nicht mehrere?“ schaute ich ihn mit schmalen Augen an.
Während ich meinen Oberkörper und meine Schultern kurz anspannte, wischte sich Roberts die Tränen mit dem Ärmel ab. Es gab einen leichten Ruck, die Kettenglieder der Handschellen gaben nach und rissen. Meine Hände waren endlich befreit, mit einem leisen Stöhnen der Erleichterung hob ich sie etwas in die Höhe. Die einzelnen Kettenglieder aus Metall fielen mit einem kaum hörbaren Klimpern auf den Boden. Das Gefühl in den Fingern kehrte schlagartig wieder zurück. Es war ein sehr gutes, ein befreiendes Gefühl.
„Ich sprach von einer Zwischenwelt und nicht von einer Parallelwelt, JR“ korrigierte ich James.
Unvermittelt trat Stille ein, hinterm Spiegel verstummte das undeutliche Stimmengewirr, Roberts erstarrte, Jasmin schaute mich mit blassem Gesicht an. Ken Stewart und Luis Rovero, die immer noch hinter dem Spiegel standen, verharrten augenblicklich. Stewart ließ seine Tasse fallen und sein Stellvertreter verschluckte fast seinen Zahnstocher. Panik brach aus, keiner zerreißt Handschellen, erst recht kein 133-jähriger.
„Holt sie da raus! Sofort!“ brüllte Stewart in die Gegensprechanlage. Er schlug mit seinem dicken Daumen so fest auf die Tasten der Gegensprechanlage, dass sie heftig quietschten und fast abbrachen.
Triumphierend legte ich meine Hände auf den Tisch. Instinktiv griff James Roberts nach seiner Waffe, zog sie blitzschnell aus dem Halfter heraus und richtete sie auf mich. Ein tausendfach geübter Bewegungsablauf. Es war ein sehr hässliches und beunruhigendes Gefühl in den Lauf einer entsicherten Waffe zu schauen.
Beschwörend hob ich meine Hände vorsichtig auf Gesichtshöhe.
„Lassen Sie es Roberts. Ich kann zwar nicht sterben, aber so eine Schlusswunde tut trotzdem höllisch weh. Das sind tagelange Schmerzen und schlaflose Nächte, eine richtige Quälerei. Im Grunde genommen bin ich der Gute. Ich bin auf Ihrer Seite, eigentlich sind wir Partner.“
Die Waffe zitterte in seiner Hand, er nahm sie in beide Hände. Schweißperlen glitzerten auf seiner Stirn. Jasmin fing sich wieder und tastete ebenfalls nach ihrer Waffe, zog sie aber nicht aus dem Halfter.
„Tun sie nichts Unüberlegtes“ bat ich die beiden „ich zeige Ihnen, was ich meine.“
Beide Polizisten beobachteten mich scharf. Sehr sachte, ohne ruckartige Bewegungen zu machen, schob ich den linken Ärmel meiner Jacke etwas hoch, nahm den blutverschmierten Verband von meinem Unterarm ab und zeigte ihnen meine Streifschusswunde und die beiden gebrochenen Finger. Ich hielt meinen Arm über den Tisch und konzentrierte mich auf die Verletzungen. In Zeitraffer schloss sich die Wunde, die Finger richteten sich unter einem leisen, unangenehmen Knirschen. Erschöpft ließ ich den Arm auf den Tisch fallen und stöhnte „ich bin ein bisschen wie der `Highlander`, auch ich kann nicht sterben.“
Wie vom Blitz getroffen starrten mich beide ungläubig an.
„Du bist nicht der Gute, Du bist der Teufel“ krächzte Roberts mühevoll hervor. Das Blut wich ihm vollends aus dem Gesicht, seine Hände fingen wieder stark an zu zittern.
„Sie haben keine Ahnung, wer oder was ich wirklich bin.“
Hinter der geschlossenen Tür erklangen hastige Schritte. Die Klinge bewegte sich zwar, aber die Tür öffnete sich nicht. Roberts und Bergman, die ihre Waffe immer noch nicht gezogen hatte, schauten gebannt zur Tür. Dahinter wurde es unruhig und hektisch. Männer stemmten und warfen sich gegen die Tür, aber sie ließ sich nicht öffnen.
„Du! Du bist das! Satan, Du versperrst die Tür!“ schrie mich Roberts mit einem wilden Blick an.
„Roberts“ versuchte ich beruhigend auf ihn einzureden „lassen Sie es. Wie sieht es aus, wenn Sie einen uralten und unbewaffneten Mann im Verhörraum erschießen, nur weil eine Tür klemmt? Das ist weder ruhmreich noch heldenhaft. Kommen Sie, das ist doch nicht ihr Stil.“
Das Flackern in seinen Augen wurde immer unruhiger, er geriet langsam außer Kontrolle, er war zu allem bereit. Notfalls würde er sterben, wenn es nötig gewesen wäre. Ich musste handeln.
Ich nickte kurz und Roberts erhielt einen unsichtbaren, gewaltigen Schlag auf die Waffe. Sie flog im flachen Bogen durch den Raum, prallte gegen die Wand und kam in einer Ecke auf dem Fußboden zum Erliegen. Roberts schrie auf, hielt sich schmerzverzerrt den rechten Unterarm.
Überall lärmte es. Von der Tür, weil diese sich nicht öffnen ließ. Immer heftiger warfen sich die Männer gegen die Tür. Stewart und Rovero fingen heftig an, gegen den Spiegel zu schlagen. Roberts stürzte schreiend zur Waffe und versuchte diese mit zusammengebissenen Zähnen aufzuheben, aber die Waffe bewegte sich keinen Millimeter, sie war wie fest zementiert. Vor Verzweiflung fing er an zu fluchen, der Schweiß lief ihm in Strömen übers Gesicht. Ich war mir sicher, ich hatte ihn beeindruckt. Für einen Augenblick empfand ich ein sehr triumphierendes Gefühl.
Jasmin starrte mich ehrfurchtsvoll an, sie ließ ihre Waffe los und hob die Hände „schon klar. Sie sind der Gute, wir sind quasi Partner.“
Sie glaubte selbst nicht an ihre Worte. Sie hatte entsetzliche Angst, ich sah es ihr an. Ihr Herz pochte wild in ihrer Brust.
Einige Minuten vergingen, Bergman saß unruhig auf ihrem Stuhl und schwieg mich missmutig an. Währen dessen versuchte Roberts immer noch verzweifelt seine Waffe vom Boden zu heben und murmelte dabei unverständliches Zeug. Ich nahm an, dass es bald ruhiger werden würde. Zumindest erhoffte ich es.
Und in der Tat zogen sich die Männer von Stewart zurück und das Schlagen hinter den Spiegel hörte endlich auf. Stewart hatte wohl begriffen, dass ich niemanden töten oder verletzen wollte.
„Wer sind Sie wirklich?“ fragte Bergman nach einigen Minuten leise, die meiner Meinung nach noch nervöser klang, als sie aussah.
„Das habe ich versucht Ihnen zu erklären. Als ich vor über 120 Jahren als Kind starb, holte mich der `Raumwächter` aus der Dunkelheit und seitdem bin ich sein Jäger. Ich jage dieses finstere Wesen, den `Sammler`.“
Ich machte eine kleine Pause, schaute sie durchdringend an und fuhr fort „ich weiß auch nicht, warum sich der `Raumwächter` mich ausgesucht hat. Aber egal was Sie von mir denken, ich bin auf Ihrer Seite.“
„Der `Raumwächter`? Der `Wächter` von was? Von der Erde? Vom Himmel?“ zuckte Jasmin verunsichert mit den Schultern.
„Er ist der `Hüter von Zeit und Raum` und ist für das …“
„Schon klar“ unterbrach sie mich mit einem ironischen Lächeln. Natürlich glaubte sie mir kein einziges Wort.
Etwas enttäuscht rutschte ich auf meinen harten Stuhl hin und her und legte meine Hände überkreuzt auf den Tisch.
„Spätestens wenn die Überreste vom S'kram mordend durch ihre Stadt ziehen, werden Sie sich an meine Worte erinnern.“
„Ach ja, dieses Ding. Ähem … ein `Sammler`, nicht wahr?“
„Die Kamera vor dem Krankenhaus. Wenn Sie mich gesehen haben, dann haben Sie auch etwas ganz anderes gesehen? Irgendeine kaum beschreibbare Gestalt, oder?“
Jasmin schwieg und schaute mit zusammengepressten Lippen an mir vorbei. An ihrem Blick konnte ich sehen, dass ich Recht hatte. Irgendetwas war auf diesen Bildern zu sehen.
„Es gibt dafür sicher eine Erklärung. Unsere Spezialisten sind gerade dabei, die Daten und Bilder zu analysieren“ sagte die Frau wenig überzeugend.
Ich schaute die Polizistin mit einem leichten Schmunzeln an.
„Sie sind nur ein verdammt guter Geschichtenerzähler und ein verrückter dazu, mehr nicht. Aber egal wie besonders Sie sind und egal was Sie noch draufhaben, Sie kommen nie und nimmer aus dieser Nummer raus“ sagte sie todernst.
„Aus der Nummer?“ fragte ich verdutzt.
„Sie wissen schon was ich meine, Ihre ganzen Vergehen. Wenn Roberts und ich hier heil rauskommen, könnten wir einen Teil er Anklage fallen lassen. Aber der Brand und die Morde. Hier kommen Sie niemals drum herum“ erklärte mir Jasmin sachlich und hatte sichtlich Mühe klare Gedanken zu behalten.
„Ganz so düster sehe ich das nicht. Ich bin doch unschuldig, ich habe niemanden verletzt und habe auch kein Feuer gelegt. Klar war ich im Krankenhaus und ja, ich habe mich dort versteckt. Aber ein 133jähriger ist hin und wieder etwas verwirrt und tüttelig. Die Tomahawks hatte ich nur zur Selbstverteidigung dabei. Man weiß nie, was passiert oder welche Verrückte einem übern Weg laufen. Im Krankenhaus habe ich mich verirrt und bin aus Angst vor der Polizei weggelaufen. Alles ist erklärbar, auch das Feuer. Gute Anwälte könnten die angeblichen Morde einfach wegdiskutieren“ antwortete ich mit einem unverschämten Augenzwinkern.
„Wegdiskutieren? Einfach wegdiskutieren?“ wiederholte sie empört und holte tief Luft “klar, gibt’s solche Anwälte. Die sind aber unbezahlbar.“
„Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich mir eine Armee von Anwälten leisten kann. In den letzten Jahrzehnten war ich überaus fleißig und habe durch zahlreiche Aktien- und Bankgeschäfte, Investitionen, Firmenübernahmen, Spekulationen und ein paar anderen - mehr oder weniger - schmutzigen Geschäften ein Vermögen gemacht.“
Sie musterte mich mit zusammengekniffenen Augen scharf an, sagte aber nichts.
„Heute besitze ich diverse Unternehmen weltweit. Derzeit bin ich wohl der reichste Kanadier.“
Sie schüttelte kaum merkbar den Kopf, als ob sie ihre Gedanken sortieren wollte und schaute mich ernsthaft böse an. Als ich mich nach vorne lehnte und zum Sprechen ansetzte, hob Jasmin abwehrend ihre Hand. Sie dachte überhaupt nicht daran, mich weitersprechen zu lassen.
„Hurra, hurra. Ich sitze hier also mit einem Milliardär zusammen? Das ist einfach ungeheuerlich“ sagte sie ruhig und sehr gefasst. Aber langsam stieg ihr die Röte stieg ins Gesicht, ihre hübschen Sommersprossen verschwanden schlagartig. Die Polizistin hatte sichtlich Mühe, sich zurückzuhalten und nicht auszuflippen.
Sie schaute mich gereizt und sehr durchdringend an. Ihr wurde wohl klar, dass ich mich tatsächlich unbeschadet aus der Affäre ziehen könnte. Schließlich hatte ich genug Geld und Macht, um mich nicht verantworten zu müssen. Die Geschichte hatte es schon häufig genug gezeigt, wer Geld hatte, kam meistens ungeschoren davon.
„Ich hatte es Ihnen gesagt, dass alles, was die Polizei gegen mich in der Hand hat, sich in Luft auflösen würde.“
„Wie haben Sie das gemacht? Die Handschellen und der Schlag auf die Waffe? wechselte die junge Frau von der einen auf die andere Sekunde plötzlich das Thema.
„Das würden Sie mir sowieso nicht glauben. Also unterlasse ich jede Erklärung.“
„Einer Ihrer Fähigkeiten?“ wollte sie mit unbewegter Miene wissen.
„Ja“ antwortete ich kurz und knapp.
„Und was haben Sie noch drauf, `Highlander`?“ fragte Bergman mit einem gereizten Unterton.
„Nicht viel mehr“ spielte ich meine Fähigkeiten etwas herunter.
Jasmin hatte das Gefühl in eine Falle zu tappen. Sie überlegte einen Moment, richtete sich in ihrem Stuhl auf und schlug plötzlich mit der Faust auf den Tisch, sodass ich ein bisschen erschrak.
„Nein! Da ist bestimmt sehr viel mehr“ fuhr Jasmin mich mit fester Stimme an.
Ich nickte lächelnd, fuhr mir mit der Hand durchs hellgraue, aber volle Haar. Sie hatte mich durchschaut.
„Ich beherrsche jede Sprache, sobald ich sie höre, ich kann Tiere kontrollieren und kann blaue Energie erzeugen. Kann sie aber leider nicht richtig einsetzen.“
„Blaue Energie? Was soll das sein? Und warum nicht rote oder gestreifte Energie?“ Bergman wurde bissig, in ihren Augen flackerte Angriffslust und sie war nach wie vor noch böse.
Ihr Blick überredete mich. Ich hielt meine rechte Hand mit Innenfläche nach oben über den Tisch und hauchte ein geheimnisvolles „Wabasca“. Nach einigen Sekunden bildeten sich kleine blau leuchtende Punkte, die über die Handinnenfläche tanzten. Nach und nach wurden es immer mehr Punkte. Am Ende waren es tausende leuchtende Punkte, die sich schnell über die Hand bewegten. Alle Punkte zusammen ergaben eine farbige Einheit. Im Grunde genommen war es ein sehr schönes Phänomen, eine Hand getaucht im blauen Nebel. Das blaue Funkeln glich einem kleinen Polarlicht, Bergmans Augen leuchten ebenfalls auf. Für einen Augenblick wich ihr Zorn und sie vergaß, in welcher Situation sie war.
Während mein Blick auf meine Hand gerichtet war, schaute sie mich von der Seite an. Wider Willen stieg in ihr ein leichtes Gefühl der Bewunderung für mich auf.
„Nur leider kann ich sie wenig kontrollieren“ unterbrach ich die Stille „diese Energie bildet eine Art Schutzschild bei Gefahr. Sie kommt, wenn ich sie brauche und verschwindet wieder. Aber die Kräfte und Fähigkeiten des `Sammlers` sind dagegen viel, viel gewaltiger und furchteinflößender. Sie sind absolut tödlich.“
Ich schüttelte kurz meine Hand und der blaue Nebel löste sich unspektakulär auf.
„Mein ganzes Leben und meine verdammten Fähigkeiten sind ein einziger Fluch. Ich kann mich gar nicht mehr erinnern, wie mein Leben ohne diese Bestie war. Sie war eigentlich schon immer da, sie war schon immer ein Teil von mir. Ich weiß auch nicht, wie viele Menschen ich habe sterben sehen. Aber es waren viele. Viel zu viele. Familie, Freunde, Bekannte, Wegbegleiter, Mitstreiter. Ich habe sie alle nach und nach sterben sehen“ sagte ich nachdenklich und schaute ihr in die Augen “ich werde auch Sie sterben sehen ...“
Einen Moment stockte sie und überlegte kurz „OK, überredet. Die Kurzversion kenne ich jetzt. Nun möchte ich die lange Version hören.“
Eine neue, innere Glut hatte sie erfasst, die Neugier trieb sie an.
Ich kniff die Augen zusammen und forschte in ihrem Gesicht „die lange Version?“ und machte eine kleine Kunstpause „die lange Version habe ich noch nie erzählt. Würde mir sowieso keiner glauben.“
„Dann wird es aber mal langsam Zeit, Mr. Malcolm Alexander LeRoy. Parallel- und Zwischenwelten, Indianer und `Sammler`, gestrandete Kreaturen, Jäger und Raumwächter, blaue Energie, Zeitspalten. Sie haben doch eine Menge zu erzählen. Neben Ihnen sind selbst die Superhelden vom Marvel Universum erbärmliche Kleinkinder“ beugte sich Jasmin aus ihrem Stuhl hervor.
Wieder überlegte ich einen kleinen Moment, ich war wirklich überrascht.
„Ein geschickter Schachzug. Sie gefallen mir“ grübelte ich kaum hörbar.
Jasmin lächelte gequält, sagte aber nichts.
„Gut. Wenn ich schon die lange Version erzählen soll, dann brauche ich einen Latte Macchiato mit Karamellgeschmack und viel Schaum“ fuhr ich schnell fort.
„Einen Latte Macchiato mit Karamellgeschmack und viel Schaum“ wiederholte sie mechanisch meine Worte, während sie zur Tür schaute.
„Die Tür war nie verschlossen. Sie hätten jederzeit den Raum verlassen können, auch jetzt“ versicherte ich ihr.
„Und `McFly` können Sie mitnehmen“ fügte ich hinzu und zeigte auf den knienden Roberts, der immer noch versuchte die Waffe aufnehmen.
Jasmin war sich nicht sicher, ob sie mir wirklich trauen konnte. Ohne mich aus den Augen zu lassen, stand sie auf, ging rückwärts zu Roberts, packte ihn wortlos am Arm und zog ihn zur Tür. Ohne meinen Blick auszuweichen, tastete sie nach der Klinke und öffnete vorsichtig die Tür. Bergman schubste ihren Kollegen durch den Türrahmen und folgte ihm ohne zu zögern in den Korridor.
Die runde Uhr an der Wand tickte unaufhörlich und zeigte mittlerweile 1:40. Vor etwa 20 Minuten verließen Bergman und ihr Kollege den Raum und ich wusste nicht, wie es weitergehen würde. Würde ich Bergman oder Roberts wiedersehen? Würde eine Spezialeinheit den Raum stürmen? Würde ich diesen Raum lebend verlassen? Würde ich einen Latte Macchiato bekommen? Tausend Gedanken gingen mir durch den Kopf.
Kurz darauf glitt die Tür geräuschlos zur Seite. Sehr gespannt schaute ich, wer oder was das Zimmer betreten würde. Ich war angenehm überrascht, dass Jasmin mit einem großen Coffee-to-go-Becher den Raum betrat. An ihrem Gesichtsausdruck konnte ich aber nicht erkennen, mit welchen Gefühlen sie eintrat. Sie schien sich etwas unwohl zu fühlen, vielleicht war sie nicht freiwillig hier. Der unverwechselbare Duft von gebrühten Kaffee verbreitete sich rasch im Raum.
„Ich hatte nicht unbedingt erwartet, Sie wiederzusehen“ eröffnete ich freundlich den Dialog.
Sie setzte sich mir gegenüber hin, stellte den Becher vor sich. Sie schob ihn aber nicht zu mir rüber.
„Es war nicht ganz einfach, den Chef zu überzeugen“ erwiderte sie mit neutraler Stimme.
Ich starrte unverhohlen den Becher an und fragte „sind Sie der Neugier erlegen?“
„Kann schon sein …“ sagte sie kühl.
Sie wusste sehr genau, dass sich mein Hals langsam zuschnürte. Schließlich hatte ich seit Stunden nichts getrunken.
„Für einen Kaffee würde ich übrigens alles tun“ ließ ich Sie wissen und zeigte mit dem Zeigefinger auf den Becher „wäre schade, wenn er kalt werden würde.“
Ihre Stirn legte sich in viele feine Falten „auf meiner Marke steht nur mein Nachname, außerdem war sie verdeckt …“
Sie formulierte keine weitere Frage, aber ich wusste sofort, worauf Sie anspielte.
„Sie wollen wissen, wie ich auf Ihren Vornamen gekommen bin? Im Prinzip habe ich geraten. Als Ihre Kollegen mich hier reinbrachten, schleppten sie mich an der großen Tafel im Korridor vorbei. Die Tafel hinter der Glastür, auf der alle Namen der Mitarbeiter stehen.“
Ich schleckte mir die Lippen.
Sie neigte den Kopf fragend zur Seite „die Namenstafel? Dort stehen 50 Namen. Wie sind Sie auf mich gekommen?“
„Genaugenommen stehen dort stehen 48 Vor- und Nachnamen“ korrigierte ich sie. „Aber es befinden sich nur fünf weibliche Vornamen auf der Tafel“ ergänzte ich stolz, beugte mir vor und griff zum Becher.
Blitzschnell zog sie ihn zurück und kniff die Augen zusammen „das genügt mir noch nicht. Bei fünf verbleibenden Namen lag Ihre Trefferchange bei nur 20%.“
„Naja, die Namen sind nach ihrer Funktion geordnet. Ganz oben stehen die Chefs und ganz unten das Krümmelvolk. Und da Sie bei Ihrem Alter eher Anfänger sind, habe ich mir den untersten weiblichen Namen ausgesucht. Wie gesagt, im Prinzip habe ich geraten.“
Ich fing an, an den Fingernägeln zu knabbern.
Verwundert und fragend schob sie den Becher langsam in meine Richtung „Sie haben ein fotografisches Gedächtnis?“ Das war eher eine Feststellung und keine Frage.
Sofort griff ich nach dem Becher und riss ich den Deckel ab. Der süße Geruch von Karamell schlug mir entgegen. Dass sich der Schaum bereits aufgelöst hatte, machte mir nichts aus. Ich setzte mir den Becher an die Lippen und hielt mit einem Ruck plötzlich inne. Ich sah ihr fest die Augen, setzte den Becher etwas ab und fing an zu überlegen.
„Ja, Sie haben verdammt Recht. Sie sollten sich wirklich fragen, ob wir Ihnen etwas in den Kaffee beigemischt haben …“ erwiderte sie wertfrei meinen fragenden Blick.
Ich beschloss, dass ich ihr trauen konnte und setzte mir den Becher wieder an die Lippen, nahm hastig einen großen Schluck. Der Kaffee rann mir in den Mund und floss warm meine Kehle hinunter.
„Das ist gut, sogar sehr gut“ sagte ich mit einem Ausdruck der Erleichterung.
Erst jetzt wurde mir schlagartig klar, dass ich Jasmin als Anfänger abgestempelt hatte.
„Verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Ich halte Sie natürlich nicht für einen Anfänger. Und Sie gehören selbstverständlich auch nicht zum Krümmelvolk. Keineswegs meinte ich, dass …“
Langsam gingen mir die Worte und das Talent aus, ich befand mich in einer Sackgasse. „Rettungsversuch erbärmlich gescheitert“ dachte ich.
„Sie könnten mir alle 48 Namen in der richtigen Reihenfolge nennen?“ zischte sie mich ärgerlich an.
Ihre Stimme verriet große Anspannung. Sie versuchte sichtlich die Wut, die in ihr aufstieg, zu unterdrücken.
„Sicher“ nickte ich ihr zu und hielt es für das Beste, erst mal nichts weiterzusagen.
Für einen Augenblick überlegte sie, mich auf die Probe zu stellen. Aber mit einer abwertenden Handbewegung wischte sie den Gedanken wieder fort.
„Bereuen Sie es, dass sie nichts in den Kaffee beigemischt haben?“
Sie verzog missmutig das Gesicht, äußerte sich aber nicht weiter. Dies war eine sehr vielsagende Antwort.
„Und nun zu Ihnen, Mr. Milliardär. Ich habe meinen Teil der Abmachung eingehalten“ fuhr sie fort und nickte in Richtung des fast leeren Bechers.
„Erzählen Sie!“ forderte sie mich auf.
Weder ihr Blick noch ihr Tonfall duldeten den kleinsten Widerspruch. Erwartungsvoll ließ sie sich in ihren Stuhl zurückfallen und legte ihre Hände in den Schoß.
Obwohl mir etwas unwohl zumute war, dass meine Erinnerungen mich aufwühlen könnten, lehnte ich mich ebenfalls zurück, entspannte mich, schloss die Augen und ließ meine Gedanken über 100 Jahre zurückgleiten …
Kapitel 2 – `Das Land der Horizonte` – Dezember 1888
Wir durchquerten gerade einen Streifen Nadelwald, als ein ungewöhnlich frischer Westwind aufkam, der uns von der Seite traf und kalt durch die Kleidung drang. Der scharfe Wind wehte mühelos den zentimeterdicken Schnee von den Zweigen und Ästen herunter. Der schmale, schneeverwehte Weg führte an hohen Tannen und umgestürzten Bäumen entlang und endete auf einem breiten Plateau, der auf der einen Seite steil abfiel.
Einen Moment hielten wir am Abgrund inne und schauten über die ruhige, weiße Landschaft Albertas, im Westen Kanadas. Über der Gegend lag ein kaum beschreibbarer Zauber, dieser Anblick von Kälte, Wildnis und Einsamkeit war überwältigend. Im Norden erstreckten sich schier endlose, mit Douglaskiefern und Sitka-Fichten bewaldete Berghänge. Weiter östlich erhoben sich die schneebedeckten Ausläufer der `Birch Mountains` hell gegen den grauen Himmel. Unter uns verengte sich das Tal zu einem keilförmigen geschnittenen Flussbett. Eine Handvoll kahler Weiden säumten die vereisten Flussufer der Wabasca.
In weiter Ferne lief ein Rudel Wölfe auf der Suche nach Beute durch den tiefen, unberührten Schnee. Auch ihnen machten die Wetterverhältnisse der letzten Wochen schwer zu schaffen.
„Komm schon Malcolm, wir müssen uns beeilen. Es ist schon spät“ rief mir meine große Schwester zu und winkte mich rüber.
„Du hast Recht, Cady. Wir müssen weiter“ stimmte ich ihr zu.
Ich wuchtete mir den schweren Rucksack wieder über die Schultern und ging ihr stöhnend hinterher. Wir gingen den kurvenreichen, steilen Pfad hinunter. Der dichte Pulverschnee knirschte bei jedem Schritt.
Für ihre erst 14Jahre war meine Schwester ein außergewöhnlicher Mensch. Sie besaß einen scharfen Verstand und ein sicheres Gespür, das sie selten täuschte. Zuverlässig führte sie den Haushalt, nachdem unsere Mutter gestorben war. Eine Zuversicht ausstrahlende und hübsche junge Frau. Ihre langen, sehr fein gelockten braunen Haare umhüllten ihr engelhaftes, sommersprossigen-gesprenkeltes Gesicht.
Plötzlich blieb Cady stehen, zog sich ihren Schal aus dem Gesicht und zeigte mit ihrem Finger nach Westen.
„Siehst Du die dunkle Wolkenfront?“ fragte sie besorgt und schaute mich an.
„Ein Schneesturm“ stellte ich beunruhigt fest und klammerte mich an ihrem Arm.
Einen Moment lang hielt sie sich die Hand über die Augen, stand still da und betrachtete die Szenerie. Aber je länger sie überlegte, desto schlechter wurden die Aussichten. Anschließend nickte sie zustimmend.
„Wird schon werden“ meinte sie wenig überzeugend und versuchte Ruhe zu bewahren.
Ich war zwar erst 8Jahre alt, aber ihren vielsagenden Blick konnte ich durchaus deuten. Und diese Deutung machte mir große Angst. Riesige schwarze Wolkentürme rasten über die Bergflanken und umhüllten die Täler in Dunkelheit. Wie ein schwarzes Unheil lagen sie auf der Landschaft. Die gigantische Wetterfront kam genau auf uns zu und drohte uns zu überrollen.
„Wir müssen ins Tal, dort sind wir sicherer. Unsere Sachen lassen wir hier, die können wir später holen“ entschied Cady und warf ihren Rucksack in den Schnee.
Ich nahm meinem Rucksack ebenfalls ab und schnürte ihn mit Cadys zusammen.
Dumpf, wie ein entferntes Donnergrollen, erklang ein Tierschrei. Der Schrei hallte leise ins Tal und wieder zurück. Einige Male hörten wir das Echo, es war beunruhigend.
„Ein Grizzlybär“ riefen wir beide fast zeitgleich und starrten den Pfad bergauf. Aber es war nichts zu sehen.
Ich sah in das kreidebleiche Gesicht meiner Schwester, ihre dunkelbraunen Augen waren weit aufgerissen. Wir wussten sofort, dass wir in der Falle saßen. Von Westen der Schneesturm, oben auf dem Plateau ein Grizzly, unten im Tal der vereiste Fluss und wir dazwischen auf dem unwegsamen und verschneiten Pfad. Ich war wie gelähmt, konnte mich nicht bewegen.
Erneut brüllte der Bär, diesmal klang er näher! Wieder hallten Echos durch die Täler.
„Lauf! Lauf so schnell Du kannst! Und dreh Dich nicht um“ brüllte Cady mich an und packte mich unsanft am Kragen.
Meine Bewegungsstarre löste sich augenblicklich, ich rannte mit Cady zum Tal hinunter. Nach einigen Metern drehte ich mich um, schaute bergauf. Zuerst nahm ich nur einen verzerrten Schatten wahr, der aber schnell Gestalt annahm. Der Grizzlybär hatte unsere Witterung aufgenommen!
Normalerweise sind diese großen Tiere, die uns kräftemäßig weit überlegen sind, keine Gefahr. Sie neigen eher zum Rückzug, sobald sich ein Mensch nähert. Nur ein Bär, der sich in die Enge getrieben fühlt oder der seinen Nachwuchs verteidigen muss oder hungrig ist, reagiert aggressiv oder greift an. Und dieser Grizzlybär schien hungrig zu sein …
Cady und ich rannten noch schneller bergab. Immer wieder fielen wir hin, halfen uns gegenseitig wieder auf die Beine und liefen panisch weiter. Auch der Bär rannte den Pfad hinunter, immer und wieder immer hallte sein Brüllen.
Erschöpft und nach Luft ringend kamen wir endlich im Tal an, vor uns lag der vereiste Flusslauf. An seinen Ufern ragten riesige Eisbrocken empor und Eisschollen mit messerscharfen Kanten stapelten sich mannshoch übereinander. Die Wabasca war fast komplett mit einem Eispanzer überzogen. Nur wenige Stellen waren noch frei vom Eis. Da der Bär immer weiter aufholte, mussten wir schnell über den Fluss.
Doch etwa 50m von uns entfernt richtete der Grizzly seinen gewaltigen Körper auf und schaute sich irritiert um. Er schien seltsamerweise verunsichert zu sein und blieb verwirrt stehen.
Schlagartig trat Stille ein. Kein Wind wehte, kein Laut war zu vernehmen, die Luft stand vollkommen unbewegt da. Dies war eine merkwürdige und trügerische Situation. Es schien, als ob die Zeit stehen geblieben wäre. Sekunden später verdunkelte sich plötzlich der Himmel, eine gigantische schwarze Wolkenwand raste über uns hinweg. Von weitem war ein leises Scheppern zu hören, welches schnell lauter wurde.
Wir blickten uns um und stellten mit Schrecken fest, dass der Schneesturm ein `Dark Blizzard` war! Die extremen Winde, die den riesigen Wolken folgten, rissen alles mit sich. Eisbrocken, Schnee, Eisschollen, Geröll, die Eisdecke des zugefrorenen Flusses. Alles wurde geräuschvoll hochgerissen und augenblicklich pulverisiert. Herumfliegende Eissplitter und Steine verwandelten sich in gefährliche Geschosse. Der Boden begann zu zittern, das Scheppern wurde immer lauter und schriller. Wir waren in der todbringenden Schneise des Blizzards gefangen, es gab kein Entkommen.
Rasch zog mich Cady zur nächsten Eisscholle „halte Dich gut fest! Du darfst auf keinen Fall loslassen, Malcolm!“
Ohne etwas zu sagen, kniete ich mich hin und hielt mich mit geschlossenen Augen so gut es ging am Eis fest. Sie kniete sich neben mich und tat das Gleiche. Immer heftiger bebte der Boden, Eispartikel prasselten auf uns nieder. Ich fühlte mich blutleer und hatte furchtbare Angst.
Cady gab mir einen Kuss auf die Wange und flüsterte „hab Dich lieb, Brüderlein.“
Ich öffnete die Augen und sah in ihr hübsches, lächelndes Gesicht. Sie schien keine Angst zu haben, sie strahlte wie immer eine große Zuversicht aus. Eiskristalle ließen ihre Wimpern zusammenfrieren. Meine große Schwester war wirklich der großartigste Mensch, den ich kannte.
Noch bevor ich antworten konnte, wurde es ohrenbetäubend laut. Mit der Lautstärke einer heranfahrenden Dampflokomotive brach der Boden unter uns auf. Unsere Eisscholle wurde augenblicklich zerfetzt. Ich verlor jeden Halt und wurde hochgerissen, sofort war ich orientierungslos. Kaum hatte ich wieder Boden unter den Füßen, wurde ich schon von der nächsten Böe erfasst und wieder durch die Luft geschleudert.
Nach 20 oder 30 Sekunden ließen die ersten schweren Böen nach und ich blieb benommen liegen. Mein ganzer Körper schmerzte entsetzlich. Alles drehte sich und ich wusste überhaupt nicht, wo ich war. Der böige Wind war zwar immer noch sehr stark, hatte aber nicht mehr die Kraft mich fortzutragen. Dafür sank die Temperatur rapide. Mein erster Gedanke war Cady. Wir wurden getrennt.
Komischerweise war ich nicht panisch oder hektisch. Vorsichtig stand ich auf, klopfte mich grob ab und überlegte einen Moment, ob ich nach Cady rufen sollte. Den Gedanken verwarf ich aber gleich wieder, da ich nicht wusste, ob der Grizzlybär noch in der Nähe war.
Mehrmals blickte ich mich um, aber ich hatte nur eine Sichtweite von wenigen Metern. Mir fehlte jeder Orientierungspunkt. Aber ich vernahm ein Fließgeräusch und ein sehr, sehr sachtes Vibrieren unter meinen Füßen. Sofort wurde mir bewusst, dass ich auf der Eisdecke der Wabasca stand. Glücklicherweise hatte der Blizzard nicht den kompletten Eispanzer des Flusses abgetragen. Da ich auf die andere Uferseite wollte, versuchte ich mich an der Sonne zu orientieren, aber der Himmel war nicht da. Er war einfach nichts zu sehen. Egal wohin ich schaute, ich sah nur eine hellgraue Nebelwand. Die Luft sah durch die vielen und sehr feinen herum schwebenden Eiskristalle aus wie Mehl.
Es wurde noch kälter und erst jetzt bemerkte ich, dass ich meine Mütze und meine Handschuhe verloren hatte, der Sturm hatte sie mir weggerissen. Ich schlang die Arme um meinen Oberkörper und fing an, mich mit den Händen warm zu reiben. Mein Atem wurde sichtbar. Immer wieder verlagerte ich mein Gewicht von einem auf das andere Bein und schaute mich dabei um.
Auf einmal vernahm ich einige Meter vor mir, ein knacksendes Geräusch, welches näher kam. Es war das typische Geräusch brechenden Eises! Das Eis begann zu reißen. Irgendwo vor mir hatte der Riss seinen Ursprung und bildete sich langsam in meine Richtung fort. Er bannte sich seinen Weg unter meinen linken Stiefel und durch die restliche Eisdecke hinter mir. Ich hörte auf zu atmen, verlagerte instinktiv mein Gewicht auf das rechte Bein und schloss die Augen besinnungslos vor Angst.
„Verdammt“ dachte ich „die Eisdecke bricht weg!“
Ein paar Sekunden später – die mir wie eine Ewigkeit vorkamen – hörte ich noch ein knacksendes Geräusch. Diesmal etwas weiter rechts. Erneut bildete sich ein Riss. Ich konnte ihn zwar nicht sehen, aber sehr wohl hören. Mein Herz klopfte hart in meiner Brust, mir wurde speiübel.
Dann gab es ein weiteres Knacksen. Ich konnte sehen, wie der dritte Riss allmählich entstand. Er hatte einen fast parallelen Verlauf zum ersten Riss.
„Ich muss hier runter, auf der Stelle“ sagte ich mir selbst.
Noch bevor ich entscheiden konnte, in welche Richtung ich gehen sollte, hörte ich einige Meter vor mir ein leises, schleifendes Geräusch. Es verstummte gleich wieder. Leider konnte ich es nicht einordnen, ich wusste nicht, was es war.
Dann schoss mir Cady durch den Kopf. Vielleicht lag sie vor mir und versuchte sich übers Eis zu schleppen? Vielleicht war sie verletzt und konnte nicht rufen? Vielleicht brauchte sie meine Hilfe? Vielleicht starb sie gerade?
Ich ging sehr vorsichtig einen Schritt nach vorn und lauschte. Es war nichts zu hören, also tat ich noch einen Schritt und horchte erneut. Ich hörte so was wie ein Knarren, als ob man Leder reibt. Sehr undeutlich erkannte ich einen Umriss.
„Cady?“ flüsterte ich und traute mich noch einige Zentimeter weiter.
Der Schatten mir gegenüber bewegte sich in meine Richtung und baue sich vor mir auf, schlagartig wurde mir klar, dass es nicht Cady sein konnte.
Schemenhaft bemerkte ich den Grizzlybären, der sich vor mir aufrichtete und dabei brüllende und schnaubende Geräusche machte. Er hatte eine imposante Gestalt von etwa 4m Höhe.
Sofort bildeten sich weitere unzählige Risse, die gesamte Eisfläche begann zu Knacken und Knirschen. Die Eisdecke hielt zwar stand, aber sie sackte teilweise bedenklich ab. An den Bruchkanten entstanden Absätze, Wasser drang durch die Risse an die Oberfläche. Ich wusste, dass ich mich in allerhöchster Gefahr befand.
Wie durch einen Schleier sah ich den Bären, der sich nach vorne fallen ließ. Ich machte einen unkontrollierten Satz zur Seite und schlug unsanft auf. Der Grizzly krachte brüllend mit seinen Vorderpfoten durch die Eisdecke. Wasser und faustgroße Eisbrocken regneten auf mich nieder. Das Eis unter mir begann zu schwanken, sehr lange würde der Eispanzer nicht mehr zusammenhalten.
Der Bär ruderte panisch mit seinen Vorderpfoten, weiteres Eis brach ab. Irgendwie schaffte er es, sich aus dem Wasser zuziehen und schüttelte sich. Ich lag etwa drei Meter vor ihm auf dem Rücken und begann hektisch rückwärts zu krabbeln.
Es begann zu tröpfeln, der Blizzard hatte auch Eisregen mitgebracht. Zunächst nieselte es sehr zart und gleichmäßig, die Eisdecke wurde sofort rutschiger. Die mehlig aussehende Luft wurde klarer, ich konnte besser sehen. Die Silhouette des Bären zeichnete sich deutlicher ab.
Mühevoll gelang es mir aufzustehen, zum einen schwankte der Untergrund und zum anderen wurde es auf dem Eis immer glatter. Der stärker einsetzende Eisregen erstarrte unmittelbar, sobald dieser auf das Eis traf. Wie eine Schicht Zuckerguss setzte er sich fest.
Vier vielleicht fünf Meter trennten mich vom Bären, der wild schrie und schnaufte und mit seinen riesigen Pfoten scharrte. Er schleuderte seinen massiven Kopf ruckartig hin und her. Seine dunklen Augen sahen unheimlich aus, sein Fell war tiefschwarz. Nur an einer Schulter hatte er einen großen hellen Fleck. Entlang seines Körpers war eine sehr lange und üble Fleischwunde zu sehen. Er schien sich beim Sturz durch die Eisdecke verletzt zu haben. Die Wunde klaffte weit auseinander und das Blut sprudelte unaufhörlich aus ihr raus. Das Eis unter ihm färbte sich in tiefroten Tönen. Der Bär hatte sich schwer verletzt und war damit noch unberechenbarer als sonst. Ich kannte diesen Grizzly, er wurde von den Jägern `Kim` genannt und war ein gefährliches Tier. Der Bär vor mir war wohl der gefährlichste von allen, der hier je sein Unwesen trieb. Er tötete bereits Menschen.
Unvermittelt sprang er in meine Richtung und landete direkt vor mir. Ich schrie so schrill, dass man es kaum für menschlich halten konnte. Die Eisdecke unter mir brach in tausend Stücke und gab schließlich nach. Ich fiel ins kalte Wasser, die Strömung drückte mich unter den Eispanzer und riss mich mit.
Ich war unter der Eisdecke gefangen und die Strömung zog mich Stück um Stück weiter. Panisch rang ich nach Luft und versuchte ich mich irgendwo festzuhalten. Meine Lungen schmerzten und drohten zu platzen. Mit letzter Kraft krallte ich mich an der Unterseite der Eisdecke fest, die scharfen Kanten des Eises zerschnitten mir die Finger. Ich versuchte unter Wasser zu schreien, mein Magen verkrampfte sich. Verzweifelt schlug ich mit der Stirn gegen die untere Seite des harten Eispanzers, mir wurde schwindelig. Mit jeder Sekunde ließen meine Kräfte nach, ich würde jämmerlich ertrinken. Cady war mein letzter Gedanke und ich hoffte so sehr, dass wenigstens sie überleben würde.
Als sich das Hämmern in meinen Kopf bis zur Unerträglichkeit steigerte, erkannte ich wie im Traum einen Schatten über mir, der allmählich Gestalt annahm. Der Grizzlybär hatte mich lokalisiert, fing an zu kratzen und zu schlagen.
Mit einem Donnerschlag brach die Eisdecke zwischen uns zusammen. Irgendwie gelang es mir nach Luft zu schnappen, ich bekam den Rand des Eisloches zu fassen und hielt mich mit beiden Händen verzweifelt fest. Das messerscharfe Eis schnitt sich tief in meine Hände. Der Grizzly stürzte in die Wabasca und wurde, wie ich vorher, unter die Eisdecke gedrückt. Er schlug unkontrolliert um sich und traf mich schmerzhaft. Seine Krallen bohrten sich tief in mein Bein, es gab ein hässlich knirschendes Geräusch. Ich stöhnte laut auf, wurde beinahe ohnmächtig und wurde wieder unter Wasser gedrückt, aber ich ließ die rettende Bruchkante nicht los.
Besessen vom Gedanken Cady wiederzusehen, zog ich mich verbissen gegen die Strömung in Richtung des Eisloches. Meine Finger schmerzten immer mehr und bluteten stark. Mit unbändiger Kraft schaffe ich es, meinen Kopf aus dem Wasser zu heben und atmete einige Male sehr tief durch. Meine Lungen brannten bei jedem Atemzug. Ein extrem scharfer Wind fegte durch das Tal und mittlerweile regnete es stark. Der Regen verharrte direkt beim Auftreffen, er war bitterkalt. So eine Eiseskälte hatte ich nie erlebt.
Mit einem kräftigen Ruck hob ich meinen Oberkörper aus Eisloch. Meine Fingernägel krallten sich auf der spiegelglatten Oberfläche fest und brachen ab. Aber schließlich zog ich mich aus dem kalten Fluss und blieb benommen liegen. Mein rechter Unterschenkel schmerzte und hatte eine sehr unnatürliche Haltung, das Hosenbein war blutgetränkt. Der Bär hatte mir Schien- und Wadenbein gebrochen. Schmerzen fühlte ich jedoch nicht. Aber ich fror fürchterlich, ich zitterte am ganzen Körper. Schnell bemerkte ich, dass es im Wasser wärmer war.
Noch einmal hörte ich den Grizzly leise brüllen, ich warf den Kopf zur Seite und sah ihn etwa 200m entfernt am Flussufer liegen. Er hatte sich mit letzter Kraft dorthin gerettet und blieb regungslos liegen. Ihm ging es wohl nicht besser als mir.
Ich konnte das rettende Ufer sehen, es war etwa fünf Meter entfernt. Da ich nicht laufen konnte, fing ich an zu robben. Es war sehr mühsam, zumal dieser eiskalte Wind mir fast den Atem nahm und die nasse Kleidung wie Blei auf mir lag. Meine Zähne klapperten so stark aufeinander, dass sie beinahe abbrachen. Das Blut, das mir aus den Fingern tropfte, gefror, ehe es auf den Boden traf.
Für einen kurzen Moment ruhte ich mich aus. Die Handinnenflächen froren sofort an der Eisoberfläche fest. Mit schmerzverzerrtem Gesicht riss ich sie vom Eis und schleppte mich wie in Trance weiter. Weniger als zwei Meter fehlten noch bis zur Uferseite.
Fast besinnungslos vor Erschöpfung lag ich regungslos da und beobachtete meine rechte Hand. Sie hatte mittlerweile eine bläuliche Färbung angenommen. Von unten fror sie fest und der Eisregen überzog sie von oben mit einem Eispanzer, der schnell fester wurde. Obwohl nur noch eine Körperlänge bis zur Uferseite fehlte, hatte ich weder den Willen noch die Kraft mich weiter zu wehren.
„Fang niemals an aufzuhören“ hörte ich von weitem die mahnenden Worte meines Vaters. Es war ein ganz leiser Gedanke, aber eine klare Aufforderung nicht liegen zu bleiben, sondern weiterzumachen. Aufgeben war für meinen Vater nie eine Alternative gewesen.
Hilfesuchend starrte ich zum Ufer und dachte „solange ich das geringste Anzeichen von Leben in mir spüre, bleibe ich nicht liegen.“
Ich wusste, dass es sich kitschig anhörte, aber solange es mir Mut machte, war es OK. Mit einem leisen Stöhnen hob ich den Oberkörper an, nur meine rechte Hand bewegte sich nicht, sie war wie fest zementiert unter einem Überzug aus Eis. Ich riss mehrfach an ihr, aber ich konnte sie keinen Millimeter bewegen.
„Das ist nicht fair!“ schrie ich wie ein Verrückter und schaute verzweifelt nach oben. Diesmal hallten meine Echos durch das leere Tal.
Mit allerletzter Verzweiflung hob ich meinen Kopf, holte Schwung und schlug mit meiner Stirn auf die vereiste Hand. Mir wurde sofort schwarz vor Augen, Blut schickere durch mein blondes Haar. Alles drehte sich, aber meine Hand war wieder frei. Der Eispanzer war gebrochen, wieder robbte ich einige Zentimeter weiter. Bis auf eine einzige Armlänge rutschte ich an das Ufer heran, es war zum Greifen nah.
Dann ließ ich mich erschöpft auf die Seite fallen, schlug die Arme um meinen Körper, rollte mich ein und fing an zu weinen. Meine Tränen vereisten noch in den Augen. Ich war am Ende meiner Kräfte, es ging nicht mehr. Ich hatte, als 8jähriger in einer schier ausweglosen Situation sehr viel mehr gegeben, als ich hätte geben können. Mein kleiner Körper war vollkommen ausgelaugt. Es hatte einfach keinen Zweck mehr, ich blieb kraftlos liegen. Ich hatte bereits gezeigt, zu welchen Leistungen ich imstande war.
„Das ist wirklich nicht fair“ flüsterte ich ein letztes Mal mit versagender Stimme.
Mein Körper fühlte sich kalt an. Eine Taubheit kroch an mir hoch, die Schmerzen wurden nun mit jedem Herzschlag erträglicher. Vieles wurde leichter, ich atmete freier, das Zittern verschwand, das gnadenlose Schlagen in meinen Schläfen hörte endlich auf, mein Kopf sank langsam zu Boden. Der Tod zog nach und nach immer enger seine Kreise um mich. Ich wusste, dass ich im Sterben lag. Geist und Körper trennten sich, allmählich fiel ich in eine dumpfe Bewusstlosigkeit. Es wurde dunkel.
Im Augenblick des Todes, sah ich verschwommen Cadys Gesicht mit den zusammengefrorenen Wimpern und hauchte „hab Dich auch lieb, Schwesterlein.“
Das kleine Städtchen `Four Hills` lag friedlich und idyllisch am Fuße der gewaltigen Bergkette `Buffalo Head Hills`, umzingelt von hohen schneebedeckten Tannen. Die Häuser standen auf einer erhöhten Ebene, der Loon-River floss in Sichtweite und machte kurz vor den ersten Gebäuden einen scharfen Knick. Eine massive Holzbrücke verband beide Uferseiten. Aus den meisten Schornsteinen stieg gräulicher Rauch auf, an den Dachüberständen bildeten sich unzählige lange Eiszapfen. Das Dorf lag glücklicherweise nicht in der unmittelbaren, desaströsen Schneise des schweren Schneesturms und hatte daher nur kleinere Schäden davongetragen. Die extremen Winde hätten die meisten der einfachen Holzhütten einfach weggerissen oder zerlegt.
Eine halbe Stunde nach dem Blizzard machten sich einige Bewohner von `Four Hills` auf die Suche nach Cady und mir. Mit großen Sorgen hatten sie die vorbeiziehende Wetterfront beobachtet und gehofft, dass meine Schwester und ich nicht da rein geraten waren. Die zerstörerische Gewalt war meilenweit zu hören. Doch nach und nach nahm der schwere Wind ab und die tiefstehende Sonne drang allmählich durch die dicke Wolkenschicht.
Jim LeRoy, mein Vater, war ein breitschultriger Mann mit einem kantigen Gesicht und vollen dunklem Haar. Er hatte es eilig, da er nur noch etwa 90 Minuten Tageslicht hatte. Hastig machte er sich mit seinem Bruder Carter, der immer nur `Big` genannt wurde, auf den Weg und ritt auf der Südroute nach `White Foxhills`, um mich und meine Schwester zu suchen. Er machte sich sehr große Vorwürfe, weil er uns dorthin geschickt hatte, um Lebensmittel und Medikamente abholen.
Sein bester Freund, der Landarzt Dr. George Little, ein kleiner herzensguter 56jähriger Mann mit ergrautem Bart und Halbglatze, ritt mit zwei weiteren Anwohnern kurz darauf die westliche Route nach `White Foxhills`.
Die südliche Route war zwar kürzer als die Westroute, sie war aber auch gefährlicher und tückischer. Keiner wusste auf welcher Route wir unterwegs waren.
Die kleine Gruppe um George Little ritt über die Holzbrücke, entlang des Loon-Rivers bis zu dessen Einmündung in die Wabasca. Einige Minuten ritten sie wortlos flussaufwärts, als der erfahrene Jäger Mitch Fuller einige große Greifvögel am Himmel über ein kleines Bergmassiv kreisen sah. Ein Zeichen dafür, dass sie einen Kadaver oder Aas umflogen.
Je weiter die drei in Richtung der kreisenden Raubvögel ritten, desto unwegsamer wurde die Gegend. Die Folgen des Blizzards waren unübersehbar. Das Gebiet sah wie niedergewalzt aus, hüfthohes Unterholz und junge Bäume lagen ausgerissen herum. Sträucher wurden entwurzelt und zerlegt. Die starken Äste mehrerer großer Weiden waren wie Streichhölzer abgebrochen. Sie waren weder dem Sturm noch dem Eisregen gewachsen. Loses Geröll hatte sich von den steilen Gebirgswänden gelöst und versperrte den Pfad.
Ein Rudel Wölfe hatte sich auf dem teilweise zugefrorenen Fluss um einen leblosen Körper versammelt. Die Gruppe wusste, dass sie angekommen war. Die Männer stiegen schweigend und mit einem unguten Gefühl von ihren Pferden ab. Nur Miriam blieb auf ihrem Pony sitzen. Die kleine dunkelhaarige Mexikanerin, dessen Nachnamen keiner kannte, half normalerweise in der Praxis des Arztes aus.
Fuller und Little näherten sich mit entsicherten Gewehren vorsichtig dem ungewöhnlichen Geschehen. Der hagere Jäger ging mit sehr kleinen, wohl überlegten Schritten voran. Er kannte sein Jagdrevier sehr genau, ihm entging nichts. Mit kurzem Abstand folgte der kleinere, untersetzte Doktor.