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Seit Jahrhunderten schlägt der Finsterfluch unerbittlich zu. Eine uralte Krankheit, die Körper und Geist zerfrisst, hat die Erde erreicht und Nero befallen. Doch die Visionen, die ihn heimsuchen, geben ihm Hoffnung: In der mysteriösen Welt von Umir könnte eine Rettung auf ihn warten. Als er in diese Welt aus fliegenden Inseln eintaucht, gerät er zwischen zwei rivalisierende Mächte, die ihm ein Heilmittel versprechen. Während die einen auf magische Artefakte schwören, die ihm erste Linderung verschaffen, glauben die anderen an die uralte Legende des Nefertim, die den Finsterfluch bezwingen soll. Doch wem kann Nero vertrauen? Was hat es mit der Legende auf sich? Und was kann ihm wirklich helfen, um den Kampf gegen die tödliche Krankheit zu gewinnen?
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Kevin Michael Schott
Das Buch:
Seit Jahrhunderten schlägt der Finsterfluch unerbittlich zu. Eine uralte Krankheit, die Körper und Geist zerfrisst, hat die Erde erreicht und Nero befallen. Doch die Visionen, die ihn heimsuchen, geben ihm Hoffnung: In der mysteriösen Welt von Umir könnte eine Rettung auf ihn warten. Als er in diese Welt aus fliegenden Inseln eintaucht, gerät er zwischen zwei rivalisierende Mächte, die ihm ein Heilmittel versprechen. Während die einen auf magische Artefakte schwören, die ihm erste Linderung verschaffen, glauben die anderen an die uralte Legende des Nefertim, die den Finsterfluch bezwingen soll. Doch wem kann Nero vertrauen? Was hat es mit der Legende auf sich? Und was kann ihm wirklich helfen, um den Kampf gegen die tödliche Krankheit zu gewinnen?
Teil 1: Die Rache des Ordens
von
Kevin Michael Schott
Dies ist ein fiktionales Werk. Wenn nicht anders gekennzeichnet, sind alle Namen, Charaktere, Orte und Ereignisse der Fantasie des Autors entsprungen. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen lebenden oder toten Personen, Orten oder Ereignissen sind rein zufällig.
1. Auflage, 2024 © Kevin Michael Schott.
Alle Rechte vorbehalten.
Die Hitze war erdrückend. Schweiß lief mir von der Stirn, meine Augen brannten und ließen sich kaum offen halten. Um mich herum tobten lodernde Flammen und pechschwarzer Qualm. Das Atmen fiel schwer, nicht nur wegen des Rauchs, sondern wegen des Gestanks von verbranntem Fleisch. Einen Ausweg fand ich schon lange nicht mehr, ich irrte ziellos umher. Der Boden unter meinen Füßen neigte sich plötzlich, jede weitere Stufe wurde steiler als die vorherige, wie auf einer unheilvollen Treppe. Nach ein paar Schritten verlor ich den Halt und stürzte rücklings. Links und rechts bot sich kein Ankerpunkt – minutenlang rutschte ich durch dichten schwarzen Smog.
Die Hitze verblasste schließlich. Es wurde feucht und heller. Eine Kältewelle überrollte mich und riss mir den Atem weg, während ich mich an meinen Schultern festkrallte. Dann landete ich im Schnee, festgefroren, als hätte mich eine Lawine begraben. Mein Körper zitterte so stark, dass ich glaubte, an meinen Knochen zu klappern. „Wo bin ich hier nur hingeraten?!“ Meine verzweifelte Stimme hallte mehrmals wider.
Um mich herum erstrahlte noch alles in leuchtendem Weiß, doch der Schnee begann zu schmelzen, das Licht erlosch und Dunkelheit verschluckte mich erneut. Selbst meine Hand konnte ich nicht mehr vor Augen sehen. Ich setzte ein paar unsichere Schritte. Der Untergrund fühlte sich erst weich an wie Gras, doch wandelte sich bald in die Härte von Stein, als befände ich mich in einer Höhle. Die Umrisse eines Tunnels tauchten vor mir auf, am Ende glomm ein schwaches Licht. Aus der Ferne drang ein Geräusch zu mir, ein leises Tapsen, das in ein bedrohliches Knurren überging. Angst lähmte mich. Ich wagte nicht, mich umzudrehen, sondern lief einfach los.
Das Licht im Tunnel schien zum Greifen nah, doch aus einem Nebengang sprang unverhofft etwas hervor. Ein riesiger schwarzer Vogel packte mich mit seinen Krallen an den Schultern und hob mich in die Luft. Der Schrecken lähmte mich, meine Augen blieben verkrampft geschlossen. Erst, als der Luftzug um mich nachließ, öffnete ich sie wieder. Unter mir lag ein riesiges Land, zerrissen in schwebende Inseln. Der Nachthimmel glitzerte vor Sternen, und eine seltsame Ruhe lag in der Luft. Doch der Frieden hielt nicht lange. Der Vogel ließ mich los, und ich stürzte. Arme ausgestreckt, suchte ich nach Halt, aber überall um mich herrschte Leere. Die Inseln verschwanden in weiter Ferne, nur noch verschwommen waren sie zu sehen, während ich in die endlosen Tiefen fiel.
„Ist das der Boden?“ Ich konnte aus der Ferne eine glitzernde Barriere unter mir sehen. Sie funkelte in blauen, grünen und roten Tönen. Aber sie kam so schnell näher, als würde ich jede Sekunde aufschlagen. Je dichter ich der mystischen Barriere kam, desto stürmischer wurde es um mich herum. In allen Richtungen begann es zu blitzen und donnern. Die Himmelsschreie waren so laut, dass ich meine eigenen Gedanken nicht mehr hören konnte. Alles um mich herum vibrierte und flirrte, mein Kopf brummte und meine Sicht verschwamm. Ich kniff die Augen zusammen und hielt mir die Ohren so fest zu, wie ich nur konnte.
Die Stille beunruhigte mich. Auf einmal flog ich nicht mehr durch die Luft, hörte kein Unwetter mehr und spürte keine Vibration auf der Haut. Ich traute mich aber nicht, meine Augen zu öffnen. „Bin ich tot, oder war es wieder einer dieser Träume?“
Langsam nahm ich einen pulsierenden Schmerz in meinen Adern wahr – und zwar allen Adern im gesamten Körper, von Kopf bis Fuß. Ich war schweißgebadet und klatschnass. Am Rücken, am Bauch, an der Brust, an den Unterarmen, an den Schienbeinen, überall. Mir wurde kalt, eiskalt. Doch das Pulsieren nahm ruckartig zu. Meine Arme und Beine wollten jeden Moment vollständig verkrampfen. Die Schmerzen wurden Tag für Tag schlimmer, als hätte ich dauerhaft Muskelkater.
„Wann hört das endlich auf?“, entwich mir erschöpft, als ich langsam meine Augen öffnete. Ich blickte auf meine Unterarme und bemerkte, dass wieder ein paar schwarze Adern dazugekommen waren. Mittlerweile war mein ganzer Körper von diesen dunklen Flecken und Venen überzogen. Am schlimmsten war es an den Oberschenkeln und am Bauch, als würde sich meine seltsame Krankheit von dort ausbreiten. An den Armen und Unterschenkeln wuchs die Dunkelheit zwar auch, aber sie verblasste nach und nach. In Richtung Kopf und über meinem Hals reichte die Finsternis noch nicht.
Plötzlich klingelte der Wecker. Es war 06:30 Uhr. Schon wieder so früh, schon wieder so schlecht geschlafen. Ich rieb mir minutenlang die Augen und gähnte unzählige Male, bis ich mich in die Dusche schleppte.
Es war mein Ritual, lange und ausgiebig zu duschen, vor allem heiß. So heiß, dass mein kleines Bad immer komplett beschlagen war und ich meinen Spiegel kaum trocken wischen konnte, um darin mein Spiegelbild zu sehen.
„Verdammt!!!“, brüllte ich vor Schreck. Ich traute mich kaum, nochmal in den Spiegel zu blicken, den ich eben so mühsam trocken gewischt hatte. „Das sah aus wie...wie...wie dieser Vogel...aus meinem Traum. Jetzt sehe ich die Bestien schon tagsüber?“
Als ich einen zweiten Blick erhaschte, konnte ich mich zum Glück wieder selbst erkennen. Ich versuchte, zu verdrängen, was ich gesehen hatte. Da ich schon wieder spät dran war, packte ich schnell meine Sachen zusammen und machte mich auf den Weg zur Arbeit. Doch bereits im Treppenhaus war ich paranoid und drehte mich immer wieder um. Bei jedem Schatten, den ich wahrnahm, dachte ich an diesen schwarzen Vogel. Als ich unten ankam und kurz einen Blick in meinen Briefkasten warf, hörte ich ein Tapsen am Ende des Flurs.
„Das ist doch...das Tapsen aus dem Tunnel...“ Blitzschnell verließ ich das Haus und drehte mich nicht mehr um. „War das jetzt der Hund der älteren Frau im Erdgeschoss, oder verfolgen mich meine Träume noch bis zur Arbeit?“
Ich marschierte förmlich durch die Straßen.
„Hey! Pass doch auf!“, brüllte mich jemand an, den ich aus Versehen anrempelte. Ich reagierte gar nicht darauf und blickte weiterhin nach unten auf die Straße. Irgendwie wollte ich zur Arbeit kommen, ohne mich umzudrehen oder aufzublicken. Mich ließ der Gedanke nicht los, dass alles um mich herum schon wieder voller Schatten und dunkler Kreaturen war. Die Schmerzen von heute Morgen waren noch nicht abgeklungen und kalt wurde mir auch schon wieder.
Normalerweise fuhr ich mit der Straßenbahn, aber das waren mir an diesem Morgen zu viele Leute auf zu engem Raum. Dort könnte ich nicht sehen, ob sich der schwarze Vogel nähern würde, geschweige denn ihm entkommen. „Aber dann komme ich noch deutlich später auf Arbeit an...“, rang ich mit mir. „Egal, das hänge ich hinten ran.“
Eine Weile später kam ich im Büro an. Bevor mein Chef mich überhaupt fragte, warum ich heute so spät kam, schickte er mich prompt zum Arzt.
„So, wie du aussiehst, kannst du dich keine einzige Sekunde konzentrieren, Nero. Ich brauche dich bei 100%“, sagte er.
Also konnte ich mich den ganzen Weg zurück quälen und meinen Hausarzt besuchen. Nachdem ich ewig brauchte, um dort anzukommen, und beinahe im Wartezimmer angewachsen war, wurde ich endlich aufgerufen. Mein Arzt war ein netter weißbärtiger Herr, aber er nahm mich nie wirklich ernst und schrieb mich immer nur krank.
„Schlafen Sie sich mal richtig aus, Herr Dester“, pflegte er stets zu sagen. Ich kam nicht mal dazu, ihm von meinen Leiden und schwarzen Adern zu erzählen, da hatte ich schon einen Krankenschein in der Hand. „Und heute Abend muss ich noch zur Familienfeier“, seufzte ich.
* * *
Irgendwie hatte ich den Tag überstanden und es zu Fuß bis ans andere Ende der Stadt geschafft. Mein Vater hatte Geburtstag, weswegen ich ein Geschenk in der Stadt aufgetrieben hatte. Die Runde war zum Glück klein: meine Eltern, Tante, Schwester sowie Großeltern. Ich kam genau zum Abendbrot an und konnte mich dadurch dem Smalltalk größtenteils entziehen. Doch meine Tante wollte mich trotzdem nicht verschonen: „Sag mal Nero, willst du dieses Jahr noch in den Urlaub?“
„Hab das Geld noch nicht zusammen.“
„Und wo soll es hingehen?“
„Nordkorea.“
Es herrschte kurz Stille am Tisch. „Ist dein Leben so langweilig, dass du ausgerechnet dort Urlaub machen musst?“, hakte meine Mutter nach. „Dort kommst du doch nie wieder von zurück!“
Den Gedanken hatte ich auch manchmal: „Was wäre, wenn ich wirklich nicht zurückkomme? Was passiert dort mit mir? Werde ich ins Gefängnis gesteckt und gefoltert? Irgendwie reizt mich das“, sagte ich. „Ein Land wie Spanien, Italien, Griechenland könnte ich schnell und unkompliziert erreichen. Dort ist es gefühlt immer warm und an jeder Ecke gibt es McDonalds und Starbucks. So richtig reizvoll ist das nicht.“
„Aber man kann sich dort schön am Strand sonnen“, scherzte meine Schwester neben mir.
„Also ein Urlaub, in dem ich richtig was erlebe“, erwiderte ich sarkastisch. Wahrscheinlich spürte ich mittlerweile zu wenig durch meine Krankheit und brauchte deswegen diesen Kick.
Mein Leben war im Grunde genommen einseitig. Ich fragte mich ständig, ob das nicht bei jedem Menschen so war. Jeden Tag macht man dasselbe, vor allem auf den Wochentag bezogen. Am Wochenende war ich total platt von der monotonen Woche, da fragte ich mich: Wie können die Leute nur so viel unternehmen? Mit den Freunden und der Familie sonst wohin reisen, jegliche Events besuchen und auf den Social-Media-Bildern immer freundlich grinsen?
Dafür fehlte mir absolut die Energie. Aber vielleicht war meine Zeit gekommen, denn ich wollte versuchen, aus meinem Leben auszubrechen. Ich wollte etwas Neues ausprobieren. Mir gingen so viele Fragen durch den Kopf. „Wollt ihr denn nicht wissen, wie es dort aussieht? Also durch die eigenen Augen gesehen, nicht durch Bilder im Internet? Wie ist die Luft? Wie schmeckt das Essen? Wie sehen die Leute aus? Welche Kleidung tragen sie? Sind sie freundlicher als hier? Ist es dort laut? Sind die Straßen voll? Ist es sauber oder dreckig? Wie ist...“
„Eigentlich nicht“, warf meine Mutter ein und begann zu lachen. Die anderen lachten ebenso.
Doch mich ließen diese Fragen nicht los, weil es eine gewisse Unerreichbarkeit mit sich brachte. Ich wollte so eine Reise unternehmen. Etwas, das mich auf andere Gedanken brachte, wo ich mich nicht ständig vor jedem Schatten fürchten musste.
Zum Glück verging der Abend schneller als gedacht und die Gespräche verliefen oberflächlich. Jetzt stand nur noch mein langer Heimweg an. „Schon wieder zu Fuß oder doch lieber Bahn?“
Als ich feststellte, dass ich noch gut eine Stunde unterwegs sein würde, wurde ich ungeduldig und stieg doch in der nächsten Station ein.
Die Abteile waren zwar generell nicht mehr so voll, doch meiner wurde nach jedem Stopp ungleich leerer, bis ich nach ein paar Stationen allein dort saß. Jedes Ruckeln im Boden ließ die Lichter kurz flackern. Auch das noch, dachte ich mir und schloss langsam die Augen. Doch das Ruckeln häufte sich. Immer öfter und schneller ruckelte es, gar unnatürlich oft, als würden wir über Schotter fahren.
Als ich meine Augen öffnete und aufstehen wollte, fiel ich rückwärts auf meinen Sitz zurück und wurde vor lauter Furcht in den Sitz gepresst. Mir gegenüber saß ein riesiger Kerl, der locker über zwei Meter groß sein musste und gefühlt auch zwei Meter breit war. Er trug einen Hut, aus dem links und rechts seine Hörner empor standen. Dieses Biest war so muskulös, dass seine dicken Arme und Beine immer noch gut sichtbar waren, obwohl der schicke rote Anzug ziemlich grob und weit geschnitten war. Mit seiner ledrigen Haut warf er mir einen ernsten Blick entgegen und schnaufte wie ein Stier. Er war sogar einer, stellte ich dann fest.
„Ich bilde mir das nur ein...ich bilde mir das nur ein...ich bilde mir das nur ein...“, wiederholte ich innerlich und schloss meine Augen fest.
„Sieh mich an!“, brüllte der Stier mit seiner tiefen Stimme. Ruckartig öffnete ich meine Augen. Links und rechts neben ihm ragten zwei gewaltige Bestien bis zur Decke aus dem Boden, aber ich traute mich nicht ihre Silhouetten zu analysieren und blieb auf den Stier fokussiert. „Umir ruft nach dir, du kannst es nicht länger ignorieren“, sagte er.
„Wer ist Umir?“
Er schüttelte den Kopf und brummte dabei so laut, dass die Lichter nochmal flackerten. „Der Finsterfluch frisst dich auf. Wenn du nicht sterben willst, musst du nach Umir kommen. Die Zeit rennt davon.“
Kurz darauf erhob sich der Stier und mein Abteil wurde erneut kräftig durchgeschüttelt. An der nächsten Haltestelle stiegen er und seine Begleiter aus. Die Beleuchtung funktionierte wieder einwandfrei und es kamen normale Passagiere hinzu.
„Hab ich mir das nur eingebildet?“, grübelte ich auf dem Heimweg.
Zu Hause angekommen saß ich in meiner Decke eingerollt die ganze Nacht vor dem PC und recherchierte nach den Symptomen. Obwohl ich meine Heizung voll aufgedreht hatte, fror ich durchgehend. Der Stier hatte Recht, meine Zeit rannte davon. Aber als ich nach „Umir“ suchte, wurde ich nicht fündig. Ich hatte in den verstecktesten Foren des Darknets gesucht und die wildesten Verschwörungstheorien gefunden. Einerseits fand ich es amüsant und konnte meine Dämonen kurzzeitig vergessen, andererseits frustrierend, da ich nicht fündig wurde.
Mein Wecker klingelte – es war wieder 06:30 Uhr. Ich war mit dem Kopf auf der Tastatur eingeschlafen und hatte vergessen ihn auszustellen, da ich offiziell krankgeschrieben war. Die Chats und Foren aus der Nacht hatte ich noch geöffnet. Als ich mir die Augen rieb, musste ich sie mir direkt nochmal reiben, weil ich nicht glauben konnte, was ich dort las.
„Das Portal nach Umir entdeckt“, schrieb jemand und hinterlegte dafür einen Link zu einem Darknet-Blogpost. Ich verschlang sofort alles, was ich dort finden konnte. Dieses Portal befände sich exakt im Zentrum des Bermudadreiecks, das auch Teufelsdreieck genannt wurde.
„Das ist genau mein Humor!“, schoss mir durch den Kopf. Ein Seegebiet im Atlantik, irgendwo nördlich der Karibik, was dafür bekannt war, dass Flugzeuge und Schiffe dort verschwanden. Ich fing an zu googeln: „Wie kommt man zum Bermudadreieck?“
Natürlich bekam ich keine Anleitung, nur Artikel und Videos, wie sagenumwoben dieser Ort war. Also fing ich an, mir selbst einen Plan zu schmieden, und scrollte etwas auf Google Maps herum.
„Das Dreieck spannt sich zwischen Bermuda, Puerto Rico und Miami auf. Ich könnte direkt von einem der Orte aus in Richtung der Mitte segeln“, sprach ich mit mir selbst.
Mein Bauchgefühl sagte mir, direkt von Bermuda zu starten. „Wenn ich von dort aus segle, komme ich schlimmstenfalls auf einer Insel der Bahamas, also zwischen Miami und Puerto Rico, wieder raus.“
Das Schwierige war nicht, in die Nähe zu kommen, sondern durch das Zentrum zu fahren. Ich benötigte auf jeden Fall einen Kompass oder zumindest mein Smartphone. Ferner brauchte ich jemanden, der verrückt genug war, mich dort hinzufahren, denn ich selbst konnte weder segeln noch fliegen. „Wahrscheinlich treffe ich vor Ort irgendwen, den ich bestechen kann“, scherzte ich.
* * *
Da stand ich nun: Frisch geduscht und lauschte dem Tropfen und Zischen meiner Kaffeemaschine, bis endlich meine Tasse durchgelaufen war. Mich beruhigte der Geruch von Kaffee am Morgen, gemischt mit frischem Toast, der gerade seinen typischen gerösteten Geruch entfaltete, kurz bevor er fertig aus dem Toaster sprang. Es erinnerte mich stets an die Kindheit, vor allem sonntags, wenn meine Mutter das Frühstück vorbereitete und wir alle zusammen aßen. Ich schwelgte gern in meinen Kindheitserinnerungen, sie beruhigten mich. Vielleicht romantisierte ich die Vergangenheit zu sehr, aber es gab öfter Gerüche, die mich sofort zehn Jahre in die Vergangenheit schickten und mir dadurch ein unglaublich schönes Kribbeln durch den gesamten Körper jagten. Dieser spanische OrangeTee, den ich mir literweise hinterkippte, während ich meine Lieblingsserien am Abend anschaute, war mein Favorit.
Sofort stellte ich den Wasserkocher an und bereite einen Liter für meine Thermoskanne vor. Irgendein Beruhigungsmittel brauchte ich für meine Reise, denn es gab kein Zurück mehr. Meine Entscheidung war beim Duschen gefallen: Ich packe meine Sachen und mache mich spontan auf den Weg. Beim Zähneputzen hatte ich einen Last-Minute-Flug gebucht und wollte noch heute abreisen. Dass es so schnell gehen kann, war für mich überraschend.
Es war 09:56 Uhr, mein Flieger ging 13:00 Uhr. Die Koffer waren bereits gepackt – so viel brauchte ich nicht. Ich ging nochmal durch meine Wohnung und schaute, ob ich alles hatte. Die Fenster waren zu, der Müll geleert, genauso wie der Kühlschrank auch.
„Auf gehts“, sagte ich. Doch genau in dem Moment, als ich meine Tür von außen abschloss, wurde mir schwarz vor Augen. Ich fiel rückwärts um, doch landete weich. Geschockt öffnete ich meine Augen. „Ich sitze im Flieger? Hä? Was ist in der Zwischenzeit passiert?“
Ich stand panisch auf, ein paar Leute sahen mich verwundert an. Generell schien der Flieger aber ruhig, denn viele Leute hörten Musik, sahen einen Film oder schliefen. Ich öffnete den Stauraum oberhalb meines Sitzes – meine Koffer waren zum Glück da. „Komisch, was ist nur passiert?“
Doch dann wurde mir wieder schwarz vor Augen. Ich fiel in meinen Sitz, alles drehte sich und ich konnte eine Weile meine Augen nicht öffnen. Es fühlte sich wieder wie einer dieser Fieberträume an, in denen ich ständig den Ort wechselte und nie wusste, wo ich wirklich war.
Als es mir etwas später möglich war, meine Augen zu öffnen, saß ich auf einer Bank. Meine Koffer waren bei mir, ich trug aber plötzlich sommerliche Kleidung. Die Sonne küsste meine Haut und es war angenehm warm.
„Bin ich auf einer Insel?“, wunderte ich mich. Als ich mich umdrehte, sah ich ein großes Schild: „Willkommen auf den Bermuda-Inseln“.
Das ging schneller als gedacht. Ich zückte mein Smartphone aus der Hosentasche und bemerkte, dass genau so viel Zeit vergangen war, wie ich für die Anreise geplant hatte. Ich überprüfte meine E-Mails und Chats. Anscheinend hatte ich allen Leuten schon gesagt, dass der Flug gut verlief. Ich hatte ihnen mitgeteilt, dass, falls ich nicht in spätestens vier Wochen antworte, irgendwas schiefgelaufen sein muss und ich wahrscheinlich nie „Nordkorea“ erreicht hatte.
Ich ging immer der Nase nach. Die Bermuda-Inseln waren atemberaubend: tolles Wetter, klares Meer und nette Leute. Die meisten trugen Bermuda-Shorts, wie ironisch. Außerdem sprach jeder Englisch, nicht verwunderlich bei einem „britischen Überseegebiet“, wie es sich so schön schimpfte. Da ich kein Hotel hatte und keine Übernachtung vorgesehen war, machte ich mich direkt auf zum „Hamilton Harbour“, dem Hafen von Hamilton, der Hauptstadt der Bermuda-Inseln.
„Hoffentlich finde ich dort irgendwas, dass mich in Richtung Bermuda-Dreieck bringt“, kreiste mir ständig durch den Kopf. Mittlerweile verschwand das ganze Adrenalin aus meinem Körper. Ich fühlte mich, als wäre ich durch die Zeit gereist. Als hätte ich rein gar nichts in den letzten Tagen erlebt. Die Vorbereitung, meine Mitmenschen, mein Job – ich konnte mich an nichts erinnern, nur weißes Rauschen im Kopf.
„Wo war ich nur? Ist das gerade nur ein Traum? Bin ich wirklich in Bermuda? Über 6000 km von zu Hause weg? Warum kann ich mich an nichts erinnern?“
„Puuuuhhhhh“, atmete ich einmal tief aus. Mir war etwas mulmig, ich hatte schwitzige Hände und kein Hungergefühl mehr. „Hab ich mich jetzt doch übernommen?“, grübelte ich die ganze Zeit. „Jetzt aufgeben wäre reine Geldverschwendung!“, warf mein geiziges ich sofort ein.
„Aber wie mache ich jetzt nur weiter?“, murmelte ich vor mir hin und rieb mir minutenlang die Augen. Ich war ausgesprochen müde, bis mich plötzlich ein älterer Mann aus dem Nichts ansprach: „Ist alles okay bei Ihnen?“, fragte er freundlich.
„Ja! Alles in Ordnung“, antwortete ich grinsend. Er hat mich etwas erschreckt, aber mit seinem Lächeln aufgemuntert.
„Sie sind nicht von hier, oder?“, vergewisserte er sich.
„Nein, ich bin auf der Durchreise...mehr oder weniger.“
„Wohin gehts denn, wenn ich fragen darf?“
„Das ist mir etwas peinlich gerade“, antwortete ich mit einem leichten Kichern in der Stimme, um meine Unsicherheit zu kaschieren.
„Also wollen Sie zum Bermuda-Dreieck?“, stellte der Mann lachend fest.
„Ja“, sagte ich verlegen. „Bitte lachen Sie mich nicht aus!“
„Nein, ich lache Sie keineswegs aus, das ist ein schönes Ziel. Ich bin schon öfter mit den Müllabfuhr-Schiffen dorthin gesegelt und habe mir die glitzernden Wände angeschaut.“
„Glitzernde Wände?“, fragte ich deutlich erheitert.
„Ja, dort wo die Schiffe alles abladen. Das ist so ziemlich das Zentrum des Dreiecks.“
„Kann ich dort auch mitfahren und mir das mal anschauen?“
„Natürlich, es kostet nicht mal etwas. Haben Sie noch etwas vor? Sonst bringe ich Sie zum Hafen.“
Die Aufregung wuchs in mir. „Gern!“, antwortete ich.
* * *
Wir machten uns auf den Weg in Richtung Hafen. „Warum laden die Schiffe dort eigentlich den Müll ab?“
„Lassen Sie es mich mal so sagen...“, setzte der Mann an. „Das klingt überhaupt nicht umweltfreundlich, den Müll, den wir hier haben, dort abzuladen. Aber es ist ein gutes Geschäft. Viele Länder der Welt bringen ihren Müll per Schiff hierher und bezahlen dafür Geld. Dann schicken wir täglich unsere alten Tanker ins Zentrum des Dreiecks.“
Der Mann wartete kurz, da ich ihn etwas verwundert ansah. „Deshalb alte Tanker, damit es nicht so schlimm ist, falls mal einer abhandenkommt.“
Nach einer kurzen Pause fuhr er fort, da mich diese Erklärung nicht umgehauen hatte: „Also der Knackpunkt ist, beim Abladen selbst passiert etwas Wundervolles: Der Müll verschwindet hinter den glitzernden Wänden. Einfach weg! Wir konnten bisher keinen Müll umliegend entdecken, weder per bloßem Auge noch per Satellit oder U-Booten.“
„Okay, also den Part, ob das jetzt umweltfreundlich ist oder nicht, finde ich dabei eher zweitrangig“, erwiderte ich lachend. „Das Ganze ist einfach unglaubwürdig“.
„Das findet jeder, der es zum ersten Mal hört“, entgegnete mir der Mann selbstbewusst. „Aber es ist auch kaum außerhalb von Bermuda bekannt. Die Leute sehen es als Legende an und trauen sich nicht, selbst dort hinzufahren. Dabei ist das überhaupt nicht gefährlich – es sei denn, man fährt durch die glitzernden Wände, wir wissen schließlich nicht, was genau dort passiert.“
Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Meine anfängliche Begeisterung war wieder in Frage gestellt. Einerseits war das alles faszinierend für mich, andererseits beunruhigend.
Was ist, wenn ich aus diesen glitzernden Wänden nicht mehr herauskomme? Sind das eventuell solche Barrieren, wie in meinen Träumen?, fragte ich mich.
Ein paar Minuten waren wir bereits unterwegs.
„So, da sind wir auch schon!“, sagte der alte Mann und winkte gleichzeitig einem Seemann zu. „Siehst du den Mann, der uns zuwinkt? Dort kannst mitfahren.“
„Jetzt war ich so fasziniert, von dem, was Sie mir erzählt haben, dass ich gar nichts von der Umgebung mitbekommen habe! Ich kenne nicht mal Ihren Namen!“
Der Mann lachte herzhaft. „Das können Sie doch noch machen, wenn Sie zurückkommen. Dann trinken wir einen Cocktail an der Bar und ich sage Ihnen meinen Namen, einverstanden?“
„Einverstanden“, nickte ich ihm lächelnd zu und gab ihm gleichzeitig die Hand.
„Okay, ich glaube, dann verabschiede ich mich jetzt von Ihnen?“, lächelte ich den Mann mit hochgezogener Augenbraue an.
„Alles klar, ich wünsche Ihnen viel Erfolg und eine gute Reise. Genießen Sie die Aussicht“, sagte er und umarmte mich einmal fest. Er klopfte mir noch zweimal leicht auf den Rücken, dann ließ er los.
Den peinlichen Moment der Stille wollte ich mit einer kurzen Frage überbrücken: „Warum bringen die anderen Länder eigentlich nicht selbst ihren Müll dorthin?“
„Das finden Sie schon bald raus“, zwinkerte er mir zu.
Ich ging in Richtung Schiff. Es war zwar heruntergekommen und alt, dennoch bemerkenswert groß. Größtenteils schwarz lackiert, doch etwas weiter oberhalb stand in weißer Schrift „Umir“. Das war mir bis zu diesem Zeitpunkt gar nicht aufgefallen.
Als ich gerade hinauf ging, blieb ich kurz stehen und vergewisserte mich, ob dort wirklich „Umir“ stand. Ich drehte mich um und rief dem alten Mann nochmal zu: „Was ist denn Umir?“
„So haben unsere Vorfahren das Zentrum genannt“, rief er zurück.
„Danke“, erwiderte ich und zeigte einen Daumen nach oben.
* * *
Eine Stunde war ich bereits auf dem Schiff unterwegs. Die ganze Zeit schon hielt ich mich am Rand fest, genoss den Ausblick und die angenehme Brise, die über mein Gesicht zog. Der wolkenlose Himmel und das ruhig rauschende Meer nahmen mir die Angst. Innerlich dachte ich, dass es schlimmer sei und ich seekrank würde, doch mir gefiel es, wie entspannt wir mit dem alten Dampfer über das Wasser tuckerten.
Natürlich hatte sich niemand um mich gekümmert, weswegen ich die ganze Zeit ungestört blieb. Es war schließlich kein Luxusschiff, das schick, modern und vor allem nach Urlaub aussah. Nein, es war ein altes, rustikales Containerschiff.
Als ich über das Schiff spazierte, sah ich nur vereinzelt Matrosen, die gerade die Abladung des Mülls vorbereiteten. Einer der Arbeiter prüfte einen Container und hakte dabei auf der Checkliste auf seinem Notizbrett einen Punkt nach dem nächsten ab. Es war ein großer, schlanker und schwarzhaariger Mann. Er sah tiefenentspannt aus, als wäre er gleich mit seiner Routine fertig.
„Befindet sich der gesamte Müll in den Containern?“, fragte ich ihn.
„Ja, er wird in den Containern gelagert, damit es nicht so stinkt.“
„Aber die sind ja alle übereinandergestapelt. Werden die einfach ins Meer abgekippt?“
Der Mann lachte. „Natürlich nicht. Siehst du den Kran dahinten?“
Ich nickte.
„Mit diesem nehmen wir einen Container nach dem anderen und öffnen ihn über dem offenen Meer. Das wiederholen wir so lange, bis alle leer sind.“
„Ahh“, nickte ich erneut. „Ich habe gesehen, dass eine Stelle komplett frei ist – dort sind keine Container. Warum habt ihr es nicht voll beladen?“
„Das ist ein Platzhalter. Der schwierige Part ist, die Container wieder einzusortieren. Wir lassen immer eine Stelle frei, damit wir dort die leeren Container stapeln. Danach ist die Stelle von vorher frei und wir können dort wieder die Leeren stapeln“, sagte der Mann und gestikulierte dabei, als würde er die abgekippten Container in die freie Stelle einsortieren.
„Das ergibt Sinn, sonst müsste man die Container immer und immer wieder bewegen, das spart sicherlich Zeit?“
Der Mann nickte. Ich wollte ihn eigentlich nicht von der Arbeit abhalten, aber ich hatte so viele andere Fragen, die mir durch den Kopf gingen.
„Seit wann arbeiten Sie hier schon?“
„Schon immer.“
„Schon immer?“
„Mein Vater hat hier gearbeitet, mein Opa, mein Uropa – meine Familie arbeitet schon immer hier.“
„Also eine Art Familientradition?“, scherzte ich. „Und seit wann gibt es diese...Arbeit?“
„Schon immer. Besser gesagt, seitdem die Menschen segeln können.“
Meine Augen funkelten neugierig. „Aber wie ist man darauf gekommen?“
„Komm, wir machen eine Pause.“ Der Mann klopfte mir auf die Schulter und führte mich zu einer wenige Meter entfernten Bank. „Zigarette?“
Eigentlich rauchte ich nicht mehr, aber nahm die Zigarette reflexartig an.
„Vor langer Zeit haben unsere Vorfahren schon davon berichtet, dass immer wieder Schiffe in Richtung Puerto Rico verschwanden. Wenn man mittig segelt, um nicht zu weit ins offene Meer zu gelangen, passieren seltsame Dinge. Der Kompass spielt verrückt und seine Nadeln drehen ununterbrochen im Kreis, das Steuer ist auch unkontrollierbar. Weißer Schaum steigt aus dem Wasser auf, alles um einen herum wird neblig und man sieht die eigene Hand vor Augen nicht mehr.“
Während der Mann erzählte, zog ich aufgeregt an meiner Zigarette und spürte, wie der aufgestaute Druck in meiner Lunge schließlich Bahn brach und mich zu einem heftigen Hustenanfall zwang. Die Situation erinnerte mich an den Tag, als ich das erste Mal rauchte und den dicken Qualm im Hals nicht zurückhalten konnte. Wir brachen beide in Gelächter aus, dann fuhr er fort: „Aber wenn man diesen Schutzwall durchdrungen hat, kommt man ins eigentliche Zentrum, dort wo die glitzernden Wände sind.“
„Ein Schutzwall?“, fragte ich verwundert. „Müsste man den nicht auf Satellitenbildern sehen?“
„Es ist wie ein nebliger Ring. Dieser umgibt das gesamte Zentrum. Anscheinend reflektieren die Wände das Licht, sodass man es von oben nicht erkennen kann. Und wenn man zu hoch mit einem Flugzeug darüber fliegt, würde man es auch nicht entdecken. Man muss wirklich durchfahren.“
„Und was passiert, wenn man nicht nur durch den Ring fährt, sondern auch durch die glitzernden Wände?“
„Das wissen wir nicht. Alles, was dahinter verschwindet, ist weg und haben wir nie wiedergesehen. Das ist ja der Sinn des Ganzen: Wir laden einfach den Müll ab und fahren wieder zurück.“
„Deswegen bringen die anderen Länder ihren Müll nicht direkt dorthin, sondern überlassen das Ihnen?“, schlussfolgerte ich.
„Wahrscheinlich glauben sie nicht mal daran. Sie bezahlen uns einfach dafür, dass der Müll weg ist.“
„Ich finde das schon bedenklich, wenn man mal darüber nachdenkt, wo der Müll wirklich landet. Macht sich darüber niemand Gedanken?“, stammelte ich mit meinen Füßen auf dem Boden.
„Naja...das entscheiden die Politiker der Länder. Und die wollen einfache Lösungen haben, damit sie an der Macht bleiben. Ich kann dir versichern, wir machen das seit Hunderten von Jahren und bisher wurde kein Müll gesichtet, der dort abgeladen wurde.“
Ich zog noch ein paar Mal an meiner Zigarette und überlegte eine Weile. „Ich will durch die glitzernden Wände fahren“, sagte ich entschlossen.
Im nächsten Moment schaute mich der Arbeiter mit ernstem Blick an: „Warum bist du wirklich hier?“
„Weil ich nach Umir will.“
Der Arbeiter fing an zu lachen, nachdem er sich etwas am Rauch seiner Zigarette verschluckte.
„Nach Umir also? Dann bist du einer der wenigen von außerhalb, die wirklich daran glauben!“
„Irgendwie schon“, nuschelte ich.
Er stupste mich an. „Ach, das ist in Ordnung, manchmal sollte man seine kindliche Art nicht vergessen und von bestimmten Dingen träumen dürfen, oder?“ Prompt hatte der Arbeiter ein gewisses Feuer in den Augen. „Hey“, rief er einem anderen Arbeiter zu. „Das Jungchen hier braucht eines der alten Ruderboote. Lass uns das mal vorbereiten.“ Der andere Arbeiter nickte ihm zu.
„Ruhe dich am besten noch etwas aus. Wir brauchen circa zwei Stunden, dann sind wir in der Nähe des Rings“, sagte er und klopfte mir auf die Schulter.
Dann gab er mir einen Schlüssel. „Das ist der Schlüssel zu meiner Kabine – Raum 017 – dort kannst du dich aufhalten, falls es dir hier oben zu langweilig wird.“
Er stand auf und ging. Okay, dachte ich mir erleichtert. Das läuft bisher besser als gedacht.
Ich stand auf, drückte meine Zigarette in einer leeren Konserve aus und suchte Raum 017, wo ich etwas Ruhe fand. Nicht dass meine Fahrt bisher anstrengend war, aber langweilig war es schon, auf so einem alten Dampfer, wo man nichts machen konnte, außer den paar Arbeitern zuzuschauen.
* * *
Mittlerweile waren zwei Stunden vergangen. Ich lag nur im Bett herum, hatte keine Ruhe gefunden und stattdessen darüber nachgedacht, ob das alles nur ein großer Tourismus-Gag war. Dann klopfte es an meiner Tür – es war der Arbeiter von vorhin. „Wir sind gleich da. Dein Boot ist vorbereitet, wir wollen dich einweisen.“
Ich nickte ihm freudig zu, stand auf und ging in Richtung Schiffsbug. Währenddessen schaute ich nochmal auf mein Smartphone, bis ich bemerkte, dass ich keinen Empfang mehr hatte, was mitten auf dem Meer – mehrere Stunden von der Küste entfernt – nicht verwunderlich war. Ich hatte noch 67% Akku, aber mein Display sah aus, als würde es leicht flackern. So, als wäre die Bildwiederholungsrate etwas schwächer als sonst. Dasselbe galt für meine Smartwatch, diese hatte 61% übrig und flackerte genauso. Die Wischgesten auf beiden Geräten waren sichtbar langsamer, als wäre der Energiesparmodus an.
„Die Kompasse spielen auch schon verrückt“, sagte der andere Arbeiter zu mir, der das Boot mit vorbereitet hatte. Er zeigte in Richtung Horizont.
„Siehst du den weißen Schaum dort hinten? Da müssen wir durch – der Nebel kommt auch gleich.“
Ich steckte mein Smartphone in die Tasche und blickte vom Schiff hinunter. Der aufsteigende weiße Schaum sprudelte stärker, je dichter wir dem Nebel kamen. Immer größere Blasen stiegen auf und der Ozean wurde so trüb, bis es aussah, als würden wir in stärkehaltigem Nudelwasser fahren.
Es gab keine Zeit mehr zu verlieren. Die beiden Arbeiter zeigten mir mein Boot. Sie erklärten mir, wie ich mich damit fortbewege und worauf ich achten sollte, aber ich konnte nicht zuhören, denn ich war viel zu abgelenkt vom weißen Schaum.
„Wir setzen dich am besten ab, nachdem wir durch den Nebel sind, aber bevor wir den Müll abladen, dann treibst du nicht durch den ganzen Müll hindurch, sondern davor“, sagte der schwarzhaarige Arbeiter.
„Klingt sinnvoll“, entgegnete ich. „Aber wann kommt denn der Nebel?“
„Sieh selbst“, sagte der andere Arbeiter.
Ein langgezogenes „Wow“ rutschte mir vor Überraschung heraus. Eine Mischung aus Faszination und Schock durchdrang meinen Körper. Plötzlich war eine gigantische Nebelwand vor uns, die zwar dunkel und qualmend wie Rauch, aber gleichzeitig wie eine richtige Wand aussah. Der Nebel wirkte künstlich platziert, gar abgeschnitten.
„Wo kommt der auf einmal her? Der war doch eben noch nicht da?“, dachte ich laut.
Wir waren circa einhundert Meter entfernt, vielleicht auch mehr, schwer zu sagen auf offenem Meer. Ich war wie angewachsen, konnte mich nicht mehr vom Fleck bewegen und hatte meine Aufmerksamkeit voll und ganz dieser riesigen Nebelwand zugeschrieben. Sie war so hoch, dass ich nicht sehen konnte, wo sie endete. Als ich nach links und rechts blickte, erkannte ich eine leichte Wölbung, als wäre es tatsächlich ein Ring. Der Nebel kam immer näher, gleich fuhren wir hinein. Ich fühlte mich ambivalent. Einerseits konnte ich es kaum abwarten, andererseits hatte ich Angst und war noch immer wie paralysiert. Ich starrte durchgehend nach vorn in den Nebel, mittlerweile sah ich nichts anderes mehr als diesen dunklen Qualm vor Augen.
„Gleich ist es soweit. Fast sind wir da...und...jetzt!“, sprach ich innerlich zu mir selbst und schloss die Augen. Ich atmete tief ein. Dann wieder tief aus. Das tiefe Atmen wiederholte ich mindestens zehnmal, doch ich traute mich noch nicht, meine Augen zu öffnen. Ich hörte die Arbeiter um mich herum über das Schiff gehen und miteinander plaudern, aber sie waren alle entspannt – im Gegensatz zu mir.
Ich lauschte ein paar Momente den Umgebungsgeräuschen „Na gut, ich sollte die Augen wieder öffnen“, sprach ich laut zu mir selbst. Dann zählte ich rückwärts herunter: „3...2...1...“
Doch ich sah nichts, nicht mal meine eigene Hand vor Augen. Ich drehte mich ein paar Mal hektisch hin und her, aber sah niemanden. Alles war so ruhig, gar unheimlich ruhig geworden. Viel zu ruhig. Ich war ganz still, hörte genau hin. Doch ich hörte nichts, rein gar nichts, weder die Arbeiter noch den Wind. Ich hörte nicht mal das Wasser rauschen geschweige denn den weißen Schaum sprudeln. Absolute Stille.
Es war ungewohnt, nichts sehen oder hören zu können. Ich traute mich aber auch nicht, die Stille zu unterbrechen und laut zu rufen. Es fühlte sich falsch an, denn diese Stille hatte etwas Magisches. Ich konnte nicht feststellen, ob wir uns noch fortbewegten oder wo ich überhaupt war.
„Bin ich noch auf dem Schiff? Ist das gerade real? Meine Umgebung ist so leer...“ Fragen über Fragen schossen mir durch den Kopf. Aber ich konnte keinen klaren Gedanken mehr greifen, je mehr Fragen es wurden. Die Stille erzeugte eine Art weißes Rauschen in meinem Kopf.
* * *
Etwas Zeit war vergangen, ich konnte absolut nicht sagen wie viel, denn mein Gefühl dafür war wie ausgeschaltet. Als stünde die Zeit still.
Meine Haut war durch den Nebel etwas feucht und kühl, aber augenblicklich wurde mir wärmer. Ich begann ein sanftes Meeresrauschen wahrzunehmen, genau wie seichten Wind an meinen Fingerspitzen. Schließlich öffnete ich meine Augen und führte meine Hand vor mein Gesicht. „Ich lebe also doch noch“, sagte ich scherzhaft zu mir selbst.
„Wundervoll, oder?“, fragte jemand hinter mir. Doch die Stimme erkannte ich sofort – es war der schwarzhaarige Arbeiter von vorher.
Mir entwich ein langes „Jaaaa“, während ich spürbar erholt ausatmete.
„Diesen Moment genieße ich jeden einzelnen Tag zweimal. Das würde ich gegen nichts in der Welt eintauschen.“
„Glaube ich gern“, stimmte ich dem Arbeiter zu. Mein Kopf war spürbar freier als vorher, sämtliche Ängste waren aufgelöst. Ich war im Moment angekommen und genoss das Hier und Jetzt. Keine tausend Fragen mehr im Kopf, die beantwortet werden wollen. Diese Leichtigkeit hatte mir schon lange gefehlt.
Als ich gerade dieses wundervolle Gefühl der inneren Freiheit akzeptierte, bemerkte ich, dass wir beinahe aus dem Nebel heraus waren – ich konnte schon langsam den Schiffsbug erkennen, der sich ein paar Meter vor mir befand. Eben noch hatte ich Angst und Unbehagen wegen des Nebels, aber jetzt wünschte ich mir, ein wenig länger durch ihn fahren und mich weiterhin entspannen zu können.
Mein ganzer Körper war schwer, doch ich verstand, dass er nicht schwer war vor Angst, wie eine Art Starre, sondern stattdessen hatte diese Schwere mich gezwungen, den Moment zu akzeptieren und mich zu beruhigen.
Mittlerweile waren wir vollständig aus dem Nebel raus. Ich beobachte gespannt den Horizont, aber konnte noch nichts erkennen. „Ich sehe die glitzernden Wände noch nicht, wann ist es soweit – wann laden wir den Müll ab?“, fragte ich mit kindlicher Begeisterung den anderen Arbeiter.
„Ein paar Minuten noch, dann sollten wir da sein. Unser Zielpunkt ist relativ klein und nur aus kurzer Distanz sichtbar.“ Er reichte mir ein Fernglas. „Versuch es mal damit.“
Eifrig schaute ich damit in die Ferne. Kurze Zeit später konnte ich mitten im Meer etwas erkennen, das ich nicht beschreiben konnte. Es sah aus wie eine funkelnde Wand, in der sich kleine Quadrate in schönen Farben wie Blau, hellem Rosa, vereinzelt auch Türkis, Grün und Weiß bewegten.
„So, wir würden dich dann langsam absetzen, da wir gleich den Müll abladen müssen, Jungchen“, sagte der schwarzhaarige Arbeiter zu mir. Ich gab dem anderen das Fernglas zurück und nickte beiden einmal zu.
„Muss ich jetzt den ganzen Weg dorthin rudern?“, fragte ich verlegen.
„Naja nicht wirklich“, sagte er gleichgültig. „Wie wir dir vorhin gezeigt haben...“, betonte er extra laut, „musst du das Boot nur hin und wieder anstoßen, denn die Wände haben eine Art Anziehungskraft. Eine leichte Strömung wird dich in die Richtung treiben, aber du kannst jederzeit umdrehen und dem entgegenwirken.“
„Ganz vergessen!“, entschuldigte ich mich. Ehrlich gesagt konnte ich mich an das Detail überhaupt nicht erinnern. Wir gingen am Rand entlang zur Mitte des Schiffes, wo sich mein Boot befand. Ich setzte mich hinein und atmete tief durch.
„Na dann!“, entwich mir.
Die Arbeiter ließen mich herunter. „Viel Erfolg und komm heil wieder zurück!“, riefen sie mir zu.
Ich winkte ihnen zu, dann ruderte ich ein paar Mal. Die Strömung trieb mich schneller in Richtung der glitzernden Wände, als gedacht. Als ich zurückblickte, stellte ich fest, dass ich bereits die Hälfte der Strecke zurückgelegt hatte. Es dauerte gar nicht lang und der erste Container hing schräg geneigt über dem Wasser in der Kralle des Krans, mit den Türen geöffnet, sodass der Müll langsam herausfiel.
„Was sind das nur für bunte Fässer dort?“, wunderte ich mich. Vollständig grüne, blaue, rote und gelbe Fässer trieben direkt in meine Richtung, genau wie die Arbeiter meinten. Als ich mich wieder in Richtung der Wände drehte, krallte ich mich instinktiv am Boot fest. Erst jetzt merkte ich, wie gewaltig diese waren. Vom Weiten wirkten sie, ähnlich wie der Nebel, deutlich kleiner. Doch als ich direkt davor war, konnte ich nicht mehr erkennen, wo diese endeten. Ich konnte meinen Hals nicht mal so weit nach hinten biegen – als würden sie bis in die Wolken reichen.
Die kleinen funkelnden Quadrate erkannte ich ebenso. Je dichter ich kam, desto lauter wurde es um mich herum. Wind zog auf, der über das Wasser peitschte. Es donnerte und blitzte unaufhörlich. Schlagartig erreichten mich Kopfschmerzen, als hätte ich Migräne. Die Augen musste ich zukneifen, weil sie vom enormen Wind ununterbrochen tränten. Umso öfter ich sie mir auswischte, desto mehr juckten sie und meine Sicht verschwamm. Ich kniete mich in mein Boot und presste meine Arme links und rechts gegen die Wände, so fest ich konnte. Den Kopf nach unten gewandt, wusste ich, dass es kein Zurück mehr gab.
Auf einmal hörte ich ein ungeheuerlich lautes Krachen, Rauschen und Pfeifen zugleich, sogar noch viel schlimmer als in meinen Träumen.
Dann fiel mir auf, dass es dort exakt so war. Diese funkelnde Barriere, auf der ich aufgeschlagen war, ähnelte dieser Wand in allen Belangen. Je dichter ich ihr kam, desto lauter wurde es und umso schlechter konnte ich klare Gedanken fassen.
Mir wurde mulmig und schwindelig. Durch die Aufregung krallte ich mich noch fester an mein Boot. Es schaukelte immer stärker, aber gleichzeitig wurde es in eine Art Strudel eingezogen. Ich wurde in die rechte Innenseite gepresst, je steiler wir im Gewässer nach unten gezogen wurden. Ständig spritzte Wasser über mich und mein Boot. Binnen weniger Sekunden war ich klatschnass und mir wurde verdammt kalt. Umgehend begann ich am ganzen Körper zu zittern, sodass sogar mein Rücken davon schmerzte.
„Was habe ich mir nur dabei gedacht?“, fluchte ich verzweifelt in dem Moment. Es schaukelte und wackelte, donnerte und krachte, das Boot drehte sich im Kreis und meine Füße standen schon unter Wasser. Gleich saufe ich ab, dachte ich noch und schloss die Augen.
Schlagartig wurde es still. Wieder schoss mir mein letzter Traum durch den Kopf. Doch als ich dort in diese Barriere fiel, wachte ich auf und hatte unglaubliche Schmerzen und meine schwarzen Adern vermehrten sich.
Dieses Mal war es anders. Ein sanfter Windstoß umwehte mich, als ich dem Gesang der Vögel im Hintergrund lauschte. Ich atmete tief ein und erkannte, dass die Luft anders roch. So frisch, als hätte es leicht über einer blühenden Sommerwiese geregnet. Ich öffnete vorsichtig meine Augen und sah mich verwundert um.
Wie bin ich hierher gekommen?, fragte ich mich, als ich auf dem Boden kniete und das Gras berührte. Eben noch hatte ich genauso im Boot gekniet, jetzt auf dieser Wiese. Ich erkannte schnell, dass ich mich auf einer Art schwebenden Insel befand, die nur so groß wie ein Fußballfeld war, bevor sie in einem Abgrund zu enden schien.
„Schön, dass du heil angekommen bist“, hörte ich eine Stimme hinter mir sagen. Ich erschrak und drehte mich sofort um.
„Wer bist du? Und wo bist du?“, rief ich laut und eindringlich. „Und wo bin ich hier überhaupt?“
Dann sah ich eine Gestalt aus dem Nichts auftauchen, strahlend hellweiß mit Umrissen, die menschlich wirkten, aber um ein Vielfaches größer als ich waren. Mit seinen breiten Flügeln, die er auf dem Rücken trug, schwebte diese gewaltige Gestalt in meine Richtung.
„Mein Name lautet Shampotti“, sagte er.
In meinem Kopf tauchten die Buchstaben seines Namens nacheinander auf. Aus den Tiefen meiner Erinnerungen reihten sich Bilder ein, wo ich diesen Shampotti schon mal gesehen hatte. Ich konnte nicht unterscheiden, ob diese real oder aus meinen Träumen waren. Sein Name war mir allerdings so vertraut, als wäre ich ihm schon mal im echten Leben begegnet. Eine seltsame, unheimliche Ahnung breitete sich in mir aus. Bei jeder weiteren Sekunde, in der ich tiefer in meinen Erinnerungen wühlte, wuchs mein Unbehagen. Seine gotthafte Erscheinung strahlte keine Gefahr aus, aber dass ich mir so unsicher war, ob ich ihn kannte oder nicht, beunruhigte mich.
Ich konnte ihn aber nicht ansehen, da das grelle Leuchten einen Film über meine Augen legte. Als ich an ihm vorbei blickte, sah ich den Müll, den das Schiff ablud, an uns vorbeifliegen. Diese knallbunten Fässer von vorhin fielen einfach ins Nichts.
„Wohin fliegt der ganze Müll?“
„Auf irgendeine Insel unter uns, aber wir müssen erstmal nach oben“, antwortete Shampotti und ergriff mich plötzlich von hinten unter den Armen. Ich hatte nicht einmal bemerkt, wie er so schnell hinter mir sein konnte. Wir stiegen schräg in die Höhe und es fühlte sich angenehm an, wie ich nach oben glitt.
„Und wohin genau?“, fragte ich, während ich mich mühselig umdrehte, um ihm ins Gesicht zu sehen.
„Aloria“, erwiderte er. Ich konnte jedoch keine Mimik erkennen, denn es war, als würde ich direkt in die Sonne blicken. Sein Kopf war eine einzige leuchtende Kugel.
Dann schaute ich wieder nach oben und erkannte eine schwebende Insel in der Ferne, die von unzähligen Wolken umgeben war. „Bin ich hier in Umir gelandet?“
„Wo solltest du sonst sein?“
Ein Grinsen breitete sich in meinem Gesicht aus. Kurze Zeit später setzte er mich ab.
„Sprich mit der großen Schlange, sie erklärt dir alles weitere“, sagte er abschließend und verschwand im Nichts. Er löste sich förmlich auf, genauso rätselhaft, wie er mir erschienen war.
Ohne zurückzublicken ging ich geradewegs über die Insel und streckte selbstbewusst die Brust heraus: „Die muss einfach zu finden sein!“
Die Wolken hatten von unterhalb alles verdeckt, sodass ich vorher nicht sehen konnte, wie gewaltig diese Insel war. Aloria war so groß, dass ich weder links noch rechts das Ende sah. Vor mir war die Landschaft hügelig und grün, wie ein Gebirge voller riesiger Bäume und einer unerschöpflichen Menge verschiedener Pflanzen. Wie ein Naturschutzgebiet, wo Mutter Natur im Einklang stand und sich unbeschadet entfaltete. Der Anblick eines solch nahezu unendlichen Waldes faszinierte und beruhigte mich zugleich.
Wahrscheinlich ging ich schon zwei Stunden über die Insel, aber ich konnte nicht genau feststellen, wie spät es war. Unterwegs fiel mir auf, dass sowohl mein Rucksack als auch Smartphone und meine Smartwatch verschwunden waren. Im Boot hatte ich noch alles bei mir, aber nachdem ich die Augen öffnete und in Umir ankam, war alles weg.
Doch diese Gedanken verflogen schnell. Ich sah sprichwörtlich den Wald vor lauter Bäume nicht mehr – die Natur nahm kein Ende. Es war nicht so dicht bewachsen, wie ich anfangs dachte. Extrem viele Pflanzen und Bäume so weit das Auge reichte, aber dennoch genügend Zwischenräume, die man erkunden konnte. Teilweise eröffneten sich mir Wege, die automatisch von der Natur freigehalten wurden, wie Wanderrouten.
Auffällig waren jedoch die Farben: Zwischen den Bäumen, Wurzeln und Steinen sprießten ständig neue Blumen aus dem Boden. Vom Stiel beginnend waren sie rot, blau, gelb oder violett. Die Blüten und Früchte sprossen ebenso in den unterschiedlichsten Farbtönen aus dem Boden.
Ich entschloss, mir das genauer anzusehen. Als ich mich an den Rand des Weges begab, nahm ich einen zierlichen bläulichen Stängel in die Hand. Am oberen Ende hatte er kleine geschwungene, gelbliche Blüten und in der Mitte wuchs eine mit Blütenstaub bedeckte rosa Knospe.
Ich schloss die Augen und nahm einen intensiven Atemzug durch die Nase. Der Geruch war angenehm süß, aber nicht zu süß, sodass ich direkt grinsen musste. Diese Insel strahlte eine derartige Ruhe und Schönheit aus, dass ein anhaltendes Glücksgefühl meinen gesamten Körper erfüllte.
Zwischen dem ganzen Kribbeln unter meiner Haut spürte ich ebenso, wie laut mein Magen knurrte. Das letzte Mal hatte ich zum Frühstück gegessen. Augenblicklich setzte die Erschöpfung ein. Im Grunde genommen war ich den ganzen Tag schon unterwegs und spazierte bereits stundenlang über die Insel.
„Ob diese Blume giftig ist?“, sprach ich mit mir selbst. Keine Sekunde später verschwand die Blüte in meinem Mund. Klebrig, nur leicht süßlich, aber auf jeden Fall köstlich – sie erinnerte mich an Physalis, doch satt wurde ich von dem Bisschen definitiv nicht. Ganz im Gegenteil wurde ich noch hungriger.
Ich stürzte mich auf alle Blumen mit Beeren und Knospen in meiner Sichtweite, die halbwegs essbar aussahen. Nach einer mehrminütigen Fressorgie begann ich lautstark zu lachen. Als ich meine Hände anschaute, bemerkte ich, dass sie komplett klebrig und voller Farbe waren, vermutlich genauso wie mein Mund und meine Zunge. In diesem Moment hatte ich mich wie ein kleines Kind gefühlt.
Ich liebäugelte mit einem kleinen Nickerchen, während ich meine Arme kräftig ausstreckte und laut gähnte. Fast automatisch sackte ich auf den Boden und schloss die Augen.
Wie im Himmel, dachte ich noch, bevor ich es aus allen Richtungen zischen hörte. Ich schreckte auf und sah mich um, aber nein, es war nicht die große Schlange, wie ich kurzzeitig dachte. Um mich herum waren überall kleine Schlangen, die verdächtig bunt aussahen, wie die ganzen Blumen, die ich eben verschlungen hatte.
Meine Augen wurden immer größer, als ich die schiere Menge Schlangen überschaute. Aus allen Richtungen, hinter jedem Baum und unter jedem größeren Stein kamen sie hervorgekrochen. Ich fühlte mich wie auf frischer Tat ertappt. Sie kamen immer näher an mich heran und richten sich eine nach der anderen auf. Sie zischten schneller und lauter – ihre Zungen wedelten regelrecht.
„Nichts wie weg!“, brüllte ich, sprang über ein paar Schlangen hinweg und rannte um mein Leben. „Wo bin ich denn hier nur wieder hingeraten!“
Zwar lief ich ununterbrochen davon, aber musste mir dabei das Lachen verkneifen und bekam so starke Seitenstiche, dass ich mich kurze Zeit später am nächsten Baum abstützen musste.
„Seit wann sind Schlangen blau, gelb oder violett“, keuchte ich erst, dann schlug es wieder in Lachen um. Plötzlich nahm ich ein Rascheln im Gebüsch links neben mir wahr. Ich hatte das Gefühl, eben beim Weglaufen schon irgendetwas im dichten Grün gesehen zu haben, aber dachte die ganze Zeit, dass es wieder Schlangen seien. Ich bewegte mich vorerst im schnellen Schritt weiter, da mich meine Seitenstiche noch ausbremsten. Als ich mich nochmal umsah, stellte ich fest, dass ich weit und breit keine Schlangen mehr erblicken konnte.
Die ganze Zeit schon ging es bergauf. Erneut legte ich eine endlose Strecke zurück. Mittlerweile schleppte ich mich nur noch nach oben. Mein Herz pumpte kräftig, meine Kleidung war überall nass, mir tropfte der Schweiß von der Stirn und meine Waden verkrampften beinahe.
„Ich muss unbedingt etwas trinken“, japste ich. Der Tee, den ich mir morgens aufgegossen hatte, wäre genau das Richtige gewesen, aber der befand sich in meinem Rucksack. Die Knospen vorhin waren zwar saftig, aber den Durst könnten sie nicht stillen.
Verwundert war ich jedoch über die Knollen, die ich regelmäßig am Rand des Weges sah. Bei näherem Betrachten fiel mir auf, dass es Steine mit bunten Kanten waren, als wären dort Smaragde und Saphire aufgeklebt. Ich pickte einen auf und nahm ihn in die Hand. Die Oberfläche tastete ich vorsichtig mit meinen Fingern ab. Es fühlte sich hart wie ein Stein an, doch sah dieser fruchtig und essbar aus.
Ich konnte nicht anders, als reinzubeißen. Die Frucht war härter als ein Apfel, eher wie Baiser, aber das Fruchtfleisch innen weicher und süßer als eine reife Kiwi. Ein herrlicher Geschmack breitete sich sofort in meinem Mund aus. Mir tränten sogar die Augen, als meine Speicheldrüsen Vollgas gaben.
„Oh mein Gott“, entwich mir. Nicht dass ich noch hungrig war, aber mein Durst war nach einem Bissen gestillt. Als ich den Stein anblickte, war die Stelle schon getrocknet, wo ich kurz vorher abgebissen hatte, als wäre die Frucht wieder frisch.
Auf einmal fühlte ich mich unglaublich energetisiert, förmlich aufgeputscht, wie nach zwei Energieriegeln und einer großen Tasse Kaffee. Ich merkte, wie ich immer schneller und entschlossener bergauf trabte. Aus dem Traben wurde Joggen. Aus Joggen wurde Rennen. Mein Blick war fokussiert auf das Ende des Bergs, meine Arme schwangen mit mir mit – links, rechts, links, rechts. Meine Atmung war schnell, aber kontrolliert. Die Umgebung nahm ich aufgrund des Tunnelblicks immer weniger wahr.
Doch ich musste ruckartig bremsen. Oben auf dem Hügel angekommen, stand ich vor einer Klippe. Ich hatte auf eine Art Plateau gehofft, auf der es weitergehen würde oder zumindest genauso bergab, wie es bergauf ging. Stattdessen lag vor mir ein Tal, das bis in die Unendlichkeit reichte. Selbst von diesem hohen Berg, von dem aus ich ungehindert einen Blick in alle Richtungen werfen konnte, sah ich weder Anfang noch Ende der Insel. Grün, grün und nochmals grün. Wälder so weit das Auge reichte. Diese Insel war definitiv eine grüne Lunge.
Ich wagte einen Blick nach unten von der Klippe, doch lehnte mich umgehend zurück. Der Blick in die Tiefe bereitete mir Schwindel. Ich konnte nicht einmal die Umrisse der Bäume unten erkennen.
„Bin ich wirklich so weit bergauf gelaufen?“, wunderte ich mich. Dann begann nicht nur die Klippe, sondern der gesamte Berg auf dem ich mich befand zu vibrieren. Er wackelte regelrecht, sodass ich mich hinknien musste. Ich rutsche ein paar Meter nach unten, aber hielt mich an einem Baumstamm fest.
„Was ist denn jetzt los?“, rief ich panisch, als mich kaum noch festhalten konnte, da die Rinde Stück für Stück bröselte. Mein größtes Pech wäre, den ganzen Weg nach unten zu rutschen.
Vor mir bewegte sich etwas Riesiges. Schnell kletterte ich seitlich der Bäume entlang und versuchte, mich zwischen ihnen zu verstecken. Ich konnte meinen Augen nicht trauen, als sich eine gigantische Schlange vor mir aufbaute. Nur ihr riesiger Kopf, der so groß wie ein Mehrfamilienhaus war, ragte über der Klippe empor.
„Da bist du ja endlich, Vielfraß“, sagte sie mit einer so tiefen Stimme zu mir, dass nicht nur die kleinen Kieselsteine auf dem Boden vibrierten, sondern meine Knochen im gesamten Körper ebenso. Ich blickte geduckt nach oben zur Schlange auf.
„Ich kann dich seeeeh-eeeen“, hauchte sie erneut mit einer unergründlichen Tiefe in der Stimme, die alles um mich herum zum Vibrieren brachte.
Ich sprang auf und rief ihr zu: „Ich wurde zu dir geschickt! Bring mich nicht um!“
Sie antwortete mir nicht. Stattdessen kam sie dichter an mich heran. Ich war paralysiert und bewegte mich keinen Millimeter. Meine Augen standen sperrangelweit offen. Wir starrten uns eine halbe Ewigkeit an.
Die Schlange entfernte sich plötzlich von mir und gab dabei ein langes Brummen von sich. In diesem Moment fiel mir auf, wie furchteinflößend sie einerseits war, aber wie wunderschön andererseits. Oberhalb war ihre ledrige Haut blau und grün mit schwarzen Flecken sowie braunem Schimmer verziert. Unterhalb am Hals entlang war sie perlweiß. Ihre giftgrünen Augen beobachten mich ganz genau.
„Haben die Knospen geschmeckt, Vielfraß?“, unterbrach sie mein Erstaunen.
„Ausgezeichnet!“, entwich mir unverzüglich.
„Und wie war der Fruchtstein?“
„Wie eine Droge!“ Die Schlange kniff die Augen misstrauisch zusammen, daher korrigierte ich mich: „Vielleicht nicht direkt eine Droge, eher wie ein Aufputschmittel. Ich bin unglaublich vitalisiert...und...aufgeregt...“, wurde ich immer leiser.
„Die Knospen sind in Ordnung, aber den Fruchtstein hast du verschwendet. Man isst sie nicht einfach zum Vergnügen, sie dienen stets einem Zweck.“
„Das konnte ich nicht wissen!“
„Natürlich nicht“, brummte die Schlange lang und ausgiebig. „Aber vielleicht weißt du andere Dinge.“
„Die da wären?“
„Ich stelle dich vor drei Rätsel. Wenn du klug genug bist, sie zu lösen, verzeihe ich dir deine Unwissenheit.“
„Immer her damit“, erwiderte ich.
„Na gut. Die erste Frage: Ich bin in der Mitte von Wasser, aber habe weder Hunger noch Durst. Was bin ich?“
Für eine Weile überlegte ich. Die ganze Zeit über musste ich an einen Traum denken. Dort könnte ich von Wasser umgeben sein, aber weder Hunger noch Durst haben. Vielleicht wäre es auch etwas, dass direkt im Wasser schwimmt.
„Ein Stück Holz im offenen Meer“, nuschelte ich. „Nein...ein Schiff...nein auch nicht.“
„Und?“, hakte die Schlange nach.
„Eine Insel?“, fragte ich vorsichtig.
„Nicht schlecht!“
Ich war überrascht, dass meine Antwort richtig war.
„Nächste Frage: Ich kann fliegen, ohne Flügel zu haben. Ich kann weinen, ohne traurig zu sein. Was bin ich?“
Wieder dachte ich an einen Traum, dieses Mal jedoch an meinen Traum von kürzlich. Rauch und Qualm können fliegen, ohne Flügel zu haben.
„Aber sie können nicht weinen“, nuschelte ich wieder mit leiser Stimme.
„Was sagst du da?“, hakte die Schlange ungeduldig nach.
„Eine Wolke?“, antwortete ich schnell.
„Schon wieder richtig! Damit hätte ich nicht gerechnet.“
„Ich auch nicht“, lachte ich verlegen.
„Letzte Frage: Ich bin das, was man oft verbirgt, aber niemals wirklich loswird. Was bin ich?“
Instinktiv dachte ich an meine Krankheit.
„Vielleicht...“, setzte ich an.
„Vielleicht?“, hakte die Schlange nach.
„Nein, doch nicht.“
„Nun sag schon!“
Ich überlegte ein paar Sekunden angestrengt. „Ein Geheimnis?“, fragte ich noch vorsichtiger als beim letzten Mal.
Die Schlange lachte lautstark, sodass der Boden stärker vibrierte als vorher. „Und schon wieder richtig! Du hast mich verblüfft. Deine Gier an meinen Pflanzen sei dir vergeben.“
„Na ein Glück“, entwich mir. Eingangs dachte ich, sie würde mich verspeisen. Dieser Shampotti meinte allerdings, dass ich eine große Schlange aufsuchen sollte.
„Du kannst jetzt übrigens rauskommen“, sagte die Schlange. Als ich mich umdrehte, sah ich jemanden aus dem Gebüsch heraussteigen.
„Wusste ich’s doch! Du hast mich verfolgt, stimmts?“
„Die Leute haben dich schon wieder gesehen? Du musst wirklich besser darin werden“, sagte die Schlange mit einem weichen Lachen in der Stimme.
Ich rieb mir kräftig die Augen. Es war gar kein Mensch, der da auf mich zu kam. Er reichte mir seine rechte Pfote. „Mein Name ist Penji Meils. Wie ist dein Name, wenn ich fragen darf?“
Meine Kinnlade fiel nach unten – ich wusste gar nicht, was ich antworten sollte, aber schüttelte erstmal seine Pfote. „Ich bin Nero.“
„Nur Nero?“
„Nein...ähh, Nero Dester. Nero Flynn Dester, um genau zu sein.“
„Schön dich kennenzulernen“, sagte Penji.
„Die Freude ist ganz meinerseits.“ Seine Pfote hatte ich immer noch in der Hand. Dann fragte ich ihn endlich: „Bist du ein Mops?“
„Das sieht man doch, oder?“, antwortete er grinsend. Er war etwas kleiner als ich, maximal 1,70m. Schwer zu sagen, wie alt er in Menschenjahren war – um die 50 schwirrte mir direkt im Kopf herum. Aber wie sollte ich das Alter eines Mopses in dezent förmlicher Kleidung einschätzen? Sein dunkelblauer Anzug, mit einer dunklen Weste darunter, passend zum weißen Hemd, ließen ihn elegant aussehen. Unter seinem Anzug war er in blondem Fell sowie schwarzer Maske im Gesicht gekleidet, wie ein Mops eben.
„Lasst uns erstmal Tee trinken“, warf die Schlange ein, während aus der Klippe eine riesige Tasse voller Tee erwuchs. Zeitgleich ragten Stühle, ein Tisch mit Tassen und eine Kanne voller frischen, dampfenden Tee aus dem Boden. Es war angerichtet wie auf einer Terrasse, damit wir auf einer glatten Ebene sitzen konnten.
„Ich hoffe, du magst Minze“, sagte die Schlange, als wir uns setzten. In diesem Moment stieg mir der frische Geruch des Tees in die Nase. Genau wie bei meinem Orangentee, rief der Mentholgeruch Erinnerungen ins Leben. Meistens dachte ich bei diesem Geruch jedoch ans Kranksein.
Indes bemerkte ich, dass sich um uns herum die kleinen bunten Schlangen von vorhin versammelten, aber sie kamen vorsichtig angekrochen und machten einen friedlichen Eindruck. Sie zischten nicht mehr wie vorhin und umgaben uns, als würden sie Gesellschaft suchen.
„Warum sind die kleinen Schlangen jetzt friedlich, aber vorhin haben sie mich gejagt?“
„Irgendwer musste dir ja den Weg zu mir zeigen“, scherzte die große Schlange und nahm dabei einen Schluck aus ihrer riesigen Tasse. Ich trank ebenso von meinem Tee. Der sanfte Minzgeschmack im Abgang erfrischte meine Kehle.
„Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt, Nero. Mein Name ist Wadjet Slitherhoff.“
„Stimmt“, lachte ich peinlich auf. „Worauf haben deine Rätsel eigentlich abgezählt, Wadjet?“
„Du solltest ein Verständnis von Umir bekommen.“
Ich zuckte mit den Achseln. „Die Rätsel haben mir dabei nicht geholfen.“
„Umir ist eine geheimnisvolle Welt, in der alle Inseln von Wolken getragen werden.“
Ich dachte kurz über seine Aussage nach, dann nickte ich. „Alle Antworten zusammen beschreiben diese Welt.“
„Richtig.“
Während ich weiterhin nickte, wanderte mein Blick nach unten auf Penjis Pfote, an der ein grüner Ring schimmerte. Dieser saugte meine Aufmerksamkeit vollständig ein, sodass ich mich nicht mehr abwenden konnte. Ich war wie besessen von der Perfektion und Schönheit des Rings. Je länger ich auf ihn starrte, desto mehr glaubte ich, dass er mit einer zähen Flüssigkeit gefüllt war, die sich bewegen würde. Ich war davon überzeugt, Umrisse von Pflanzen und bunten Früchten auf der Oberfläche des Rings tanzen zu sehen.
Penji tippte mich an. „Alles gut bei dir?“
„Alles super“, sagte ich reflexartig. Er holte mich ins Hier und Jetzt zurück. Doch in mir breitete sich eine Unruhe aus. Ich wollte endlich herausfinden, warum ich wirklich hier war.
„Wadjet, warum hat Shampotti mich zu dir geschickt?“