Die Legende vom letzten Bücherjäger - Diana Menschig - E-Book

Die Legende vom letzten Bücherjäger E-Book

Diana Menschig

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Beschreibung

Eine Hafenstadt, am Hang gelegen, wo die Kaufleute in Villen leben. Zwei Leuchttürme und eine Burg schmücken die Meeresbucht. Hier ist Jelto im Dienst der Fürstin unterwegs – als Bücherjäger: Jelto hat die besondere Gabe, Papier, Leder, sogar Tinte riechen zu können. Seine Aufgabe ist es, in Häuser einzudringen und Bücher ausfindig zu machen, denn Bücher, das weiß in Brück jedes Kind, sind gefährlich und daher verboten. Die Bücherjäger schwärmen nachts aus und treffen sich am nächsten Morgen, um die gesammelten Bücher zu verbrennen. Sie beschützen die Bewohner Brücks, denkt Jelto, denn so wurde es ihm sein Leben lang erzählt. Eines Abends bekommt er einen geheimnisvollen Auftrag: In einem Kontor im Hafen soll ein ganz besonders magisches Buch versteckt sein. Danach ist in Jeltos Leben nichts mehr wie zuvor. Er weiß nicht, wem er noch trauen kann – bis er die Drachenzüchterin Wyona kennenlernt. Auch Wyona besitzt Bücher, denn die sind, so beginnt Jelto zu verstehen, alles andere als gefährlich …

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Seitenzahl: 514

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Diana Menschig

Die Legende vom letzten Bücherjäger

Roman

atlantis

Für all die Menschen,

die meine Bücher möglich machen.

Personen

Floris: Ausbilder und Mentor der Bücherjäger, oberster Schwatzlinghüter

Per: Anführer der Bücherjäger

Jelto: Bücherjäger

Henk: Bücherjäger

Gilles: Henks Lehrling

Ruben: Bücherjäger

Seet: Bücherjäger

Leen: Bücherjäger

 

Pim: Schneider, Jeltos Vater

Manou: Schneiderin, Jeltos Mutter

Jacco: Lehrling in der fürstlichen Weberei, Jeltos Bruder

Wyona »Wynni«: Drachenzüchterin

Coen: Drachenzüchter, Wyonas Vater

Daltje: Drachenzüchterin, Wyonas Mutter

Lodi: Schneider, Jeltos bester Freund

Lieke: Schneiderin, Lodis Zwillingsschwester

 

Maite Farlinger: Fürstin der Stadt Brück

Rikus: Schafhirte auf den Salzwiesen

Mewes: Tuchhändler und Inhaber einer Weberei

Seetje: Gemüsehändlerin, Jeltos Nachbarin

Bea: Wirtin der Goldenen Muschel am Fischmarkt

Friso: Müllermeister im Mühlental

Jos: Geselle des Müllers Friso

Sanne: Gesellin des Müllers Friso

Febe: Gewürzhändlerin und Kapitänin zur See

Rona: Lumpenmädchen

Taschendrachen

Linga: Jeltos verstorbener Taschendrache

Quibus: Jeltos neuer Taschendrache

Elanda: Henks Taschendrache

Tjarda: Wyonas liebster Taschendrache

Sontander: verstorbener Taschendrache von Jeltos Eltern

Feikje: fiktiver Taschendrache in einem Kinderbuch

Rikusfest – Sommersonnenwende

Es war das erste Rikusfest, an dem Jelto die Erlaubnis bekam, allein mit seinem Freund Lodi und dessen Schwester Lieke über den Fischmarkt am Hafen zu streifen.

Seine Mutter drückte ihm drei Münzen in die Hand. »Dafür bekommst du etwas zu essen und zu trinken. Und jetzt lauf, aber pass auf dich auf!«

Jelto steckte sich die Münzen in die Bauchtasche der weiten Kindertunika, die er über den Strumpfhosen trug. Mit seinen sechs Jahren war er eigentlich schon zu alt dafür, aber Lodi und Lieke waren genauso gekleidet, daher entschied er, dass ihm das nicht peinlich sein musste.

Mit leuchtenden Augen fasste Lieke seine Hand. »Jetzt komm schon. Die Aufführung auf der Bühne beginnt gleich.«

»Ja, schon gut.« Rasch zog Jelto die Hand wieder weg. Mit einem Mädchen Händchen zu halten, dafür war er aber doch zu alt, ganz eindeutig.

Lodi beobachtete sie und grinste wissend. Er hatte behauptet, seine Schwester sei verliebt in Jelto. Und wenn schon, das musste ihn doch nicht kümmern.

»Es sind wieder weniger Buden als im letzten Jahr. Ich habe erst zwei Verkaufsstände gesehen, die aus Mittelburg gekommen sind. Und keinen aus irgendeiner anderen Stadt oder einem anderen Hafen«, hörte Jelto seine Mutter noch sagen.

Sein Vater brummte zustimmend. Er trug Jeltos kleinen Bruder Jacco auf den Schultern.

Ihm selbst war das gleichgültig. Die Händlerin mit den gestreiften Zuckerstangen war da, der Mann mit den Honigkerzen, deren Duft er so liebte, und auch die Hirtinnen und Hirten mit ihren Schafherden. Mehr brauchte er nicht.

»Jetzt kommt schon!« Lodi lief voraus und drängte sich geschickt durch die Menge.

Lieke nahm Jelto wieder an die Hand und zog ihn ungeduldig hinter sich her. Dieses Mal ließ er sich das gefallen, er konnte sich schon denken, wohin sein Freund wollte.

Und richtig. Außer Atem hielt Lodi an einem provisorischen Verschlag, der mit einigen Pfosten und dazwischen gespannten Seilen in einer Ecke des Marktplatzes nahe der Kaimauer aufgebaut war. Der Boden war komplett mit Stroh ausgelegt, weitere Ballen verstärkten die Absperrungen. Dahinter tappten weiße Lämmer mit schwarzen Nasen auf der Suche nach ihren Müttern umher, die seelenruhig in einer Ecke standen und Heu kauten.

Lodi kniete sich auf einen Strohballen und fuchtelte wie wild mit den Armen. »Da! Seht ihr den Bock mit den verdrehten Hörnern? Das ist der größte, das ist bestimmt der Leithammel.«

Ein Schafhirte mit einem Hut, einem Hirtenstab sowie – trotz der Hitze – traditionell besticktem grünen Umhang über Hose und Wams, näherte sich. Er hatte eine von der Sonne gebräunte Gesichtshaut, die Jelto an gegerbtes Leder erinnerte.

Gutmütig schmunzelte der Hirte über Lodis Begeisterung. »Da interessiert sich aber jemand sehr für meine Schafe.«

»Sie sind wunderschön, Schäfer. Wenn ich könnte, würde ich sofort mit dir zu den Salzwiesen ziehen.«

»Na, das trifft sich gut. Ich suche noch einen Lehrling. Was hält dich davon ab, mich zu begleiten?«

»Wirklich? Das könnte ich?« Lodi riss die Augen weit auf und zappelte so sehr, dass er beinahe vom Strohballen gerutscht wäre.

»Ich hätte nichts dagegen. Du magst Schafe, das ist schon einmal eine erste gute Voraussetzung.«

»Aber das geht nicht«, mischte sich Lieke ein und reckte sich auf die Zehenspitzen, um die Aufmerksamkeit des Hirten auf sich zu lenken. »Wir werden das Schneidern lernen und die Werkstatt von unseren Eltern übernehmen.«

Lodi setzte sich auf den Ballen und ließ die Beine baumeln. »Reicht doch, wenn du das machst. Dann kann ich Schafhirte werden.«

»Das könnte dir so passen.« Lieke warf ihren geflochtenen Zopf über die Schulter und verschränkte die Arme.

»Aber du willst es doch, Schneiderin werden. Genau wie Jelto.« Er zeigte anklagend auf beide.

Jelto war es unangenehm, dass jetzt alle Augen auf ihn gerichtet waren. Er nickte zögerlich. Es stimmte ja, warum sollte er es nicht zugeben? Die Frage, ob seine Eltern ihm erlaubten, etwas anderes zu lernen, hatte sich ihm nie gestellt. Er liebte das Gefühl von Stoff zwischen den Fingern. Genauso wie das Geräusch der mechanischen Nähmaschine, wenn seine Mutter ordentlich in die Pedale trat, bis das Schwungrad surrte und die Nadel so schnell tanzte, dass sein Blick ihr nicht mehr folgen konnte. Und er liebte es, wenn ein rechteckiges Stoffstück sich plötzlich in etwas verwandelte, eine Hose, ein Hemd, eine Tunika. Nur das Sticken lag ihm nicht so, dafür hatte er keine Geduld.

Der Hirte lüpfte den Hut und strich sich die dunklen Haare glatt. »Pass auf. Nein, Moment, wie heißt ihr eigentlich?«

»Lodi.«

»Ich bin Lieke, wir sind Zwillinge.«

»Aber ich bin der Ältere. Wir sind fast sieben.«

»Ich bin Jelto. Und das sind nicht meine Geschwister, wir wohnen nur nebeneinander.«

»Also Kinder, hört zu, und ganz besonders du, Lodi. Ich werde mit deinen Eltern sprechen. Du bist ja noch jung, ein paar Jahre kannst du dir mit der Entscheidung schon noch Zeit lassen. Ich heiße Rikus. Ja, genau wie unser Ehrwürdiger Stadtgründer, meine Eltern haben ihn so sehr verehrt, dass sie ihren Sohn nach ihm benannt haben.« Er lachte leise. »Diese gutgläubigen Schafsköpfe.«

Jelto sah die anderen beiden an, aber sie konnten mit dem letzten Satz offenbar so wenig anfangen wie er.

Der Hirte sprach schon weiter. »Ich sage euren Eltern, wo ihr mich und meine Herde findet. Womöglich ergibt sich eine Gelegenheit, dass ihr mich hin und wieder besuchen könnt. Und wer weiß, Lodi, vielleicht sehen deine Mutter und dein Vater dann, was das Beste für dich ist.«

»Einverstanden, Rikus!« Lodi sprang vom Strohballen und hielt die Hand in die Höhe. Mit sehr viel Ernst, den Jelto in solchen Momenten von einem Erwachsenen gar nicht gewohnt war, schlug der Hirte ein.

Am anderen Ende des Marktplatzes wurde eine große Trommel geschlagen.

»Oh, jetzt müssen wir uns aber beeilen. Kommt!« Lieke zerrte ihren Bruder am Ärmel seiner Tunika weg.

Sie winkten dem Hirten ein letztes Mal zu und rannten, so schnell es die dichte Menschenmenge erlaubte, in Richtung des hölzernen Podestes. Darauf hatten sich bereits die Schauspielleute versammelt und nahmen jetzt ihre Positionen ein.

Ein Mann mit weizenblonden Haaren und Sommersprossen auf den hellen Wangen trat vor. Er begleitete seine Worte auf einer Mandoline. »So hört nun die Geschichte des Ehrwürdigen Rikus, wie er Reichtum und Wohlstand nach Brück brachte.«

Vereinzelter Applaus, aber auch verhaltenes Gegröle erklangen aus dem Publikum.

Ein Schauspieler, riesengroß und kräftig, mit goldfarbener Haut und dunklen Locken – ganz so, wie der Gründer der Stadt ausgesehen haben soll – trat vor und verneigte sich. Er trug, ähnlich wie der Schafhirte, einen Umhang, Hut und Hirtenstab. Doch Jelto sah unter dem Umhang ein reichverziertes Wams mit roten und goldenen eingewirkten Fäden aufblitzen.

»Eines Tages verschlug es Rikus, einen einfachen Hirten, mit seiner Herde in die Nähe von Brück.«

Eine Handvoll Kinder mit grauweißer Rohwolle um den Leib und auf dem Kopf kam hinter einem Vorhang hervor und hüpfte um Rikus herum.

Jeltos Vater hatte ihm erzählt, dass zu seiner Kindheit echte Schafe genommen worden waren, aber es hatte zu viele Zwischenfälle gegeben, weil die Tiere vom Applaus nervös wurden oder auch ohne Grund in Panik gerieten. Einmal soll sogar ein riesiger Hammel mitten ins Publikum gesprungen sein. Er verletzte sich dabei so schwer, dass er notgeschlachtet werden musste.

»Da drohte ein Gewitter!«

An mehreren Schnüren wurde dunkler gefärbte Wolle über die Bühne gezogen.

»Was soll das denn?«, fragte Lieke stirnrunzelnd.

»Das sind Wolken. Gewitterwolken«, erklärte ihr Bruder altklug. »Vor denen flieht er mit all seinen Schafen in eine Höhle, wo er den Webstuhl und eine Nähmaschine findet, zum Wohl von Brück.«

»Ein Webstuhl und eine Nähmaschine? Das glaubst du doch selber nicht! Wo soll denn hier eine so große Höhle sein, dass ein ganzer Webstuhl hineinpasst? Drüben in den Hügeln gibt es allenfalls ein paar größere Löcher«, wandte Jelto ein.

Auch Lieke schaute skeptisch.

Lodi zeigte auf die Bühne. »Wartet doch ab.«

Der Barde setzte die Mandoline ab und zog eine Holzfigur aus einer Umhängetasche. Er hob die Handfläche und stellte die Figur darauf.

Lieke zupfte erst ihrem Bruder und dann Jelto an der Kleidung. »Das ist ein Schwatzling!«

Beide nickten wissend. Sie hatten schon einige Diskussionen darüber geführt, ob Schwatzlinge lebendig waren oder nicht. Jelto war davon überzeugt, Lodi zweifelte daran und vermutete einen Trick. Aber bisher hatten sie noch keine Gelegenheit gehabt, eine Figur näher zu untersuchen.

Der Barde legte einen Finger auf die Lippen. Das Raunen im Publikum verstummte. Nur eine Möwe segelte einmal über den Platz und flog dann kreischend davon, als wundere sie sich über das Gebaren der Menschen.

Mit einem Stups erweckte der Barde die Figur zum Leben.

»Das ist die Geschichte des Ehrwürdigen Rikus«, schwatzte sie. »Hört und lernt und erinnert euch.«

Die Menge johlte begeistert.

Ein Sommer zehn Jahre später

Bücherjagd

Das war eine verdammt erfolgreiche Jagd gewesen. Jelto kauerte eng an dem Kamin auf dem Dach der mehrstöckigen Villa und gähnte herzhaft. Die Luft war kühl und frisch. Über ihm verwandelte die Morgendämmerung den Nachthimmel und verkündete einen neuen Tag.

Hier, im Nobelviertel Brücks nördlich der Altstadt, schmiegten sich die Villen der Kaufleute an den Hang. Manch ein Haus war so groß wie eine ganze Webmanufaktur, und Jelto begriff nicht, wofür eine einzige Familie so viele Zimmer benötigte. Gut, in der ein oder anderen Villa gab es im Erdgeschoss kleine, edle Werkstätten oder ein Kontor für die Verwaltung. Aber die Stockwerke darüber waren immer noch so groß, dass Jeltos Mansardenwohnung mehrmals hineingepasst hätte. Jedes Mal, wenn er in ein solches Haus einbrach, staunte er über so viel sinnlosen Platz.

Das Gute daran, in diesem Viertel unterwegs zu sein, war die Aussicht darauf, von einem der Dächer den Sonnenaufgang zu genießen. Von hier oben hatte er einen grandiosen Blick nach Süden über die Meeresbucht mit dem Hafen und den beiden Leuchttürmen sowie auf die östlich liegende Burg, hinter der es bereits orangerötlich schimmerte. Lange Wolkenbänke tauchten den Himmel in alle Schattierungen von Blau und Grau. Der Fluss Rintje, an dessen Mündung die Stadt lag, war von hier aus nur als dunkler Einschnitt in der Landschaft zu erkennen. Jenseits davon breiteten sich die Flachsfelder bis zum Horizont aus. Bodennebel lag wie ein zarter Schleier über den goldbraunen Halmen.

Zitternd pustete sich Jelto Atemluft in die klammen Hände. Es war erst Frühsommer, und so manche Nacht noch empfindlich kühl.

Er schaute kurz in den Himmel und verspürte einen Stich in der Brust. Im Geiste sah er Linga dort flattern. Doch das Taschendrachenweibchen begleitete ihn nicht länger. Ihr Verlust schmerzte immer noch, auch nach mehr als zwei Wochen.

»Hey da! Was hast du da oben zu suchen?«

Jelto fuhr zusammen. Die Stimme tönte von der Straße herauf. Vorsichtig reckte er den Kopf, um aus dem Schatten seiner Kapuze nach unten zu spähen.

Zwei Männer in den dunkelblauen Uniformen der Nachtwache blickten in seine Richtung. Die sollten doch um diese Zeit gar nicht mehr unterwegs sein?

»Solche übereifrigen Kanalratten haben mir gerade noch gefehlt«, murmelte er wütend.

Mehr aus Reflex als aus der Überzeugung heraus, dass sie ihn dann weniger gut erkennen konnten, schmiegte er sich an den Kamin. Er musste zusehen, dass er von hier wegkam. Hoffentlich waren unten auf der Straße nicht noch mehr von der Sorte.

Rasch hob er den Rucksack auf, der ein ordentliches Gewicht hatte, und das nicht nur wegen seiner Stiefel, die er mit den Schnürriemen daran geknotet hatte. Hauptsächlich lag es an den sechs Büchern, die er heute Nacht aus den umliegenden Häusern und Wohnungen geholt hatte, darunter eines der seltenen magischen Exemplare. Eine fette Ausbeute, wenn er bedachte, dass es eigentlich schon lange keine Bücher mehr geben dürfte – offiziell existierten sie nicht mehr. Offiziell existierten auch Bücherjäger wie Jelto nicht.

Die beiden Nachtwächter riefen erneut etwas, er sah jedoch keinen Sinn darin, sich mit ihnen zu unterhalten, schon gar nicht über die Entfernung von vier Stockwerken.

Dank seiner eng anliegenden Überzieher aus weichem Schafsleder, die er selbst genäht hatte, bewegte er sich beinahe lautlos. Er kletterte im Schutz des Kamins hinauf bis auf den First und rutschte auf der Gartenseite des Hauses über die Dachziegel hinab. Nur hin und wieder klickerte es unter ihm, aber das würden die beiden Wachen auf der Straße nicht hören.

Ab dem Dachrand konnte Jelto mühelos weiter an Regenrinnen und Rankgittern die Hauswand hinabklettern. Dabei sparte er ein Stockwerk, da das Gebäude in den Hang hineingebaut worden war. Wenn die Nachtwächter auch nur einen Funken Verstand hatten, würden sie begreifen, was er vorhatte, um das Haus herumkommen und ihm auflauern. Er musste einfach schneller sein. Mit etwas Glück schaffte er es die Bruchsteinmauer hinauf bis zu den Bäumen am Ende des terrassenförmig angelegten Gartens und würde dort untertauchen.

Im Grunde konnte ihm nichts passieren. Er tat nichts Verbotenes. Sollte er jemals während einer Jagd ertappt werden, müsste er nur das fürstliche Siegel vorzeigen, und er dürfte wieder seiner Wege ziehen. Aber natürlich war es eine Frage der Ehre, sich nicht erwischen zu lassen, schon gar nicht mit einer Tasche voller Bücher auf dem Rücken.

Jelto konzentrierte sich auf den Abstieg. Mit fliegenden Händen packte er Kupferrinnen, Fenstersimse und hervorstehende Giebel. Der Vorteil an solchen Häusern war eindeutig, dass die Leute gern Geld für steinerne Verzierungen oder sogar Figuren ausgaben. Für einen geübten Kletterer wie ihn ein Geschenk.

Er ließ sich das letzte Stück in ein Blumenbeet neben der Veranda fallen und blickte sich um. Der Garten war nahe dem Haus von einem hüfthohen Holzzaun mit einem Tor umgeben, der in eine Ligusterhecke überging. Um ihn herum lag alles morgendlich still.

Kurz nahm Jelto sich die Zeit und zog seine ledernen Überzieher aus. Zum Klettern waren sie perfekt, da sie viel Gefühl in der Fußsohle zuließen, zum Gehen über das Straßenpflaster eher ungeeignet. Er stopfte sie in den Rucksack und zog die genagelten Stiefel an. Danach verharrte er und lauschte in die nächtliche Ruhe. Konnte er es wagen, über den Zaun zu springen und zur Straße zu laufen?

Die Frage beantwortete sich von selbst. Einer der beiden Nachtwächter tauchte an der Hausecke auf. Jetzt konnte Jelto auch einen roten Streifen auf der Schulterklappe der Uniformjacke erkennen. Sein Kumpel folgte ihm dichtauf. Zwei ältere Männer vom niedrigsten Rang, dazu beide eher untersetzt. Das käsige Gesicht des vorderen war bereits rot angelaufen.

Es sollte kein Problem sein, sie abzuschütteln.

»Hier ist er! Ich sehe ihn!«

»Ich sehe dich auch, du Hummer«, grollte Jelto bei sich. »Kein Grund, so herumzuschreien und die Nachbarschaft zu wecken.«

Der Nachtwächter musste noch das Gartentor überwinden. Es war wie der Zaun nur hüfthoch, aber die Angehörigen der Wache standen nicht gerade im Ruf, gewandt oder fix zu sein.

Der Nachtwächter drehte den Knauf. Das hölzerne Tor schwang quietschend auf.

Jelto fluchte. Ausgerechnet heute hatte er es mit einem gewitzteren Burschen zu tun. Dieser Tag begann ja glänzend.

Er rückte den Rucksack zurecht und lief den Hang hinauf weiter in den Garten. Nicht weit über ihm begann der Wald, der sich über die gesamte Hügelkuppe zog. Normalerweise endeten diese Grundstücke mit einem Zaun oder einer Mauer mitten zwischen den Bäumen, in der Regel kein echtes Hindernis – und Jelto hoffte, dass es auch hier so war. So wie seine Begegnung mit den beiden Nachtwächtern bisher verlaufen war, sollte er vielleicht besser mit einer hohen glatten Mauer rechnen.

Doch erst einmal galt es, den Abstand zu seinen Verfolgern zu vergrößern. Jelto warf einen Blick über die Schulter. Immerhin, was ihre Ausdauer anbelangte, machten sie dem Ruf der Nachtwache alle Ehre. Während Jelto mit geübtem Blick die schmalen Treppen in den Bruchsteinmauern ausmachte und die Terrassen mühelos erklomm, hörte er hinter sich vor allem ein Schnaufen wie von einem kaputten Blasebalg. Es war ihm ein Rätsel, wie Nachtwächter wie diese hin und wieder echte Eindringlinge oder Diebesgesindel fingen.

Im Schutz der Bäume erreichte er das Ende des Gartens, zu seiner Erleichterung nur eine Mauer, die ungefähr doppelt so hoch wie er groß war, und ebenfalls aus Bruchstein. Sie zu überklettern war ein Kinderspiel.

Jelto erklomm sie, sprang auf der anderen Seite hinab und schaute sich um. Den Sonnenaufgang hatte er dank dieser Schafsköpfe verpasst, doch unter den Bäumen herrschte noch düsteres Zwielicht. Soweit Jelto erkennen konnte, verlief hier ein zugewucherter Weg, allerdings nicht ganz so, wie er erwartet hätte. In südöstlicher Richtung säumte er die Grundstücksgrenzen der Häuser. Nach Nordwesten zog er dagegen weg von den Häusern und weiter den Hügel hinauf, verlor sich zwischen den schlanken Stämmen der Buchen und Fichten. Er war völlig mit Unkraut und Gras überwachsen.

Wohin führte er? Und warum benutzte ihn niemand? Jelto scharrte mit dem Stiefel im weichen Boden. Darunter kam Kopfsteinpflaster zum Vorschein.

Neugier war eine seiner stärkeren Eigenschaften. Jelto war versucht, dem Weg zu folgen. Erst als er den keuchenden Nachtwächter hörte, der sich allen Ernstes anschickte, die Mauer zu überklettern, kam er zur Besinnung. Es wäre töricht, in einer solchen Situation einem unbekannten und ungepflegten Pfad in den Wald zu folgen. Er konnte an einem Abhang enden, an einem Bach oder sonst einem Hindernis. Außerdem wurde es wirklich Zeit, zur Burg zurückzukehren.

Mit einem verächtlichen Blick zur Mauer, hinter der sich die Nachtwächter abmühten, wandte er sich ab, und trabte den Weg nach Südosten. Der würde ihn, davon war Jelto überzeugt, entweder zurück ins Hügelviertel oder direkt zur großen Handelsstraße bringen.

 

Ganz wie Jelto erwartet hatte, endete der Weg unterhalb des Hügelviertels nahe der ehemaligen Stadtmauer, deren Überreste davon zeugten, dass Brück längst über sich hinausgewachsen war. Die großen Webereien und die Lauben, unter denen die Kaufleute ihre Waren anboten, lagen jenseits der Altstadt.

Jelto nahm den Weg, der das Lauben- und das Webviertel voneinander trennte, überquerte die große Handelsstraße Richtung Hafen und hielt auf den Hügel mit der Burg zu. Einst Stammsitz der regierenden Stadtfürstin oder des Stadtfürsten, beherbergte sie heutzutage eine Reihe von Ämtern und Magistraten – und die Quartiere der meisten Bücherjäger. Fürstin Maite Farlinger und ihre Familie bewohnten nur noch den größten der drei Türme.

Die beiden fürstlichen Wachmänner am Tor erkannten ihn und winkten ihn durch. Jelto betrat den dreieckigen Burghof. Vier seiner Gefährten warteten bereits auf ihn.

»Sonnenlicht euch allen«, rief er ihnen entgegen.

Ruben und Henk, ebenfalls ausgebildete Jäger, brummten nur zur Begrüßung. Henks Lehrling Gilles, mit seinen zwölf Jahren rund vier Jahre jünger als die anderen, winkte eifrig und schmetterte ihm einen »Guten Sonnenaufgang!« entgegen.

Floris zog dagegen missbilligend die Augenbrauen hoch, die so weiß wie sein dichtes Haupthaar waren und sich deutlich von seiner olivfarbenen Haut abhoben. Er ging bereits auf die sechzig zu, hatte sie alle einst auserwählt und Jelto, Henk und Ruben noch persönlich ausgebildet. Auch wenn er schon lange nicht mehr selbst auf die Jagd ging, genoss er den uneingeschränkten Respekt der Jüngeren. Er schwieg, doch in dem, was er nicht sagte, hörte Jelto den Vorwurf, dass er zu spät gekommen sei, ebenso deutlich heraus, als hätte er eine Standpauke erhalten.

Beschwichtigend lächelte er, während er den Rucksack abnahm. »Ich habe noch einen kleinen Umweg gemacht, um die Morgenluft zu genießen.«

»Treib es nicht zu weit«, knurrte Floris.

Wie immer jagte das tiefe Dröhnen seiner Stimme Jelto einen Schauder über den Rücken. Nicht nur damit hatte der alte Mann ihn schon bei ihrer ersten Begegnung beeindruckt. Auch sein offizieller Titel – oberster fürstlicher Schwatzlinghüter – flößte Respekt ein.

Sie versammelten sich um die Feuerstelle, ein von breiten Steinen eingefasster Kreis, der mit Sand und Asche vergangener Feuer angefüllt war. Eine ansehnliche Anzahl Bücher stapelte sich dort, verschieden dick, manche schlicht, andere mit einem prunkvollen Ledereinband versehen.

Rasch warf Jelto die Beute seiner nächtlichen Jagd dazu. Mit gemischten Gefühlen betrachtete er anschließend den Haufen. Es waren rund zwanzig Bücher, so schätzte er. Zwanzig Exemplare weniger, die Schaden anrichten oder Menschen in Versuchung führen konnten. Die Bücherjäger hatten in dieser Nacht wieder ganze Arbeit geleistet. Jelto sollte zufrieden sein, aber wie so häufig war da ein unbehagliches Gefühl in der Magengrube. Diese Erwartung, dass gleich beim Feuer etwas passierte …

»Hält sich mal wieder für unantastbar. Wirst eines Tages schon sehen, wer der Bessere von uns beiden ist«, murmelte Henk hinter seinem Rücken. Nicht so laut, dass ihr Mentor es hören konnte, aber deutlich genug für Jeltos Ohren.

Er biss die Zähne zusammen. Es kostete ihn einige Mühe, seinem größten Konkurrenten keine passende Erwiderung zu geben.

Floris reckte einen Arm in die Höhe. »Dann mal los, Henk.«

Der Angesprochene pfiff gellend auf zwei Fingern. Von irgendwo über ihnen schoss Elanda, ein Taschendrachenweibchen, aus der Morgendämmerung zu ihrem Herrn herab. Das Tier knurrte begeistert und wollte sich auf Henks Schulter setzen, doch der wies auf die Bücher und gab einen halblauten Befehl. »Elanda, Feuerhauch.«

Der Taschendrache flatterte auf. Ein erster Sonnenstrahl, der es über die Burgmauer geschafft hatte, brach sich auf den Schuppen und sandte violette und rote Funken in alle Richtungen.

Jelto dachte wieder an Linga. Sie hatte eine ähnliche Färbung gehabt. Er ballte die Hände zu Fäusten. Wieso tat es immer noch so weh, seine kleine Gefährtin verloren zu haben? Ein Wesen, gerade einmal so groß wie eine gemeine Ratte, das weder mit ihm gesprochen noch ihm besondere Aufmerksamkeit geschenkt hatte, solange es nichts zu fressen gegeben hatte. Und dessen einziger Zweck es gewesen war, Spähflüge zu machen und Feuer zu speien.

Elanda spuckte eine Feuerfontäne und flog in einem Halbkreis über den Bücherstapel. Die ersten Seiten fingen an zu glimmen. Ein paar Funken stoben in den Himmel.

Nein, diese Charakterisierung von Linga war ungerecht. Jelto lebte als einer der wenigen Bücherjäger in einer eigenen kleinen Wohnung und nicht in der Burg. Und wenn sie zu Hause gewesen waren, dann hatte Linga sich gern auf seine Schulter gekuschelt und den Kopf in die Kuhle zwischen Schlüsselbein und Hals gelegt. Ganz freiwillig. Und sie war auch nachts immer wieder unter die Bettdecke gekrochen und hatte sich neben ihm zusammengeringelt. Was ihr eigentlich verboten worden war, als Jelto eines Morgens mit einem großen Brandfleck am Fußende der Matratze aufgewacht war. Doch er mochte die Wärme ihres kleinen Körpers, das Vibrieren, wenn sie schlief. Es gab nicht viele Menschen, die ihm wichtig waren, er war gern allein und für sich. Aber es gab durchaus Momente, in denen er sich einsam fühlte, und da konnte Linga eine Lücke füllen. Hatte eine Lücke füllen können. Jetzt nicht mehr.

Inzwischen hatte Elanda den Bücherhaufen mehrere Male umkreist und jedes Mal einen Flammenstoß ausgespien. Das Feuer loderte auf. Jetzt erlaubte Henk dem Taschendrachen, auf seiner Schulter zu landen, und gab ihm einen Algenköder zur Belohnung. Zufriedenes Knurren ertönte.

Ruben und Gilles nahmen bereitliegende trockene Äste und warfen sie in die Flammen, damit das Feuer besser brannte und nicht nur schwelte.

»Gut, soweit. Einen erfolgreichen Tag euch allen. Bis morgen.« Floris verabschiedete sich. Im Gegensatz zu den anderen musste er nicht warten, bis die letzte Buchseite zu Asche zerfallen war. Kurz bevor er sich abwandte, zwinkerte er Jelto verstohlen zu. Er war also nicht wirklich wütend, wie seine rüde Begrüßung vorhin hätte vermuten lassen. Natürlich hatte sein Mentor ihn zurechtweisen müssen, weil er zu spät gekommen war. Wenn Floris allerdings ernsthaft böse mit ihm wäre, wäre das nur schwer zu verwinden.

Jelto zog sich die Kapuze über den Kopf und trat einen Schritt zurück. Er mochte die Bücherfeuer, freute sich, wenn Papier und Einbände in den Flammen knisterten, weil er dann das Gefühl hatte, etwas Gutes für die Menschen in Brück getan zu haben.

Aber dann kehrte es zurück, dieses dumpfe Unbehagen, und ihm graute vor dem, was jetzt kommen mochte. Als Erstes erhoben sich besonders helle Funken. Jelto kniff die Augen zusammen, weil sie ihn blendeten. Er vermutete, dass sie von den magischen Büchern herrührten. Meistens blieb es dabei. Das Feuer würde ausbrennen und alles war gut.

Doch dann passierte es.

Genau, wie er es befürchtet hatte.

Schon wieder.

Jelto langte verstohlen mit der Hand unter sein Hemd und zwickte sich mit zitternden Fingern in den Arm. Doch seine Augen täuschten ihn auch weiterhin: Hin und wieder meinte er, mitten im Feuer eine menschliche Gestalt auszumachen, die innerhalb eines Wimpernschlags verging.

Es war verstörend. Jelto hatte keine Erklärung dafür. Und er hatte es bisher nicht gewagt, einen der anderen zu fragen, ob sie Ähnliches sahen; sonst zweifelten sie am Ende an seinem Verstand. Oder noch schlimmer, sie verdächtigten ihn gar, die Existenz von Büchern heimlich gutzuheißen.

Er betrachtete die Mienen der anderen aus den Augenwinkeln. Der kleine Gilles schien gelangweilt. Er ließ die Schultern hängen und pulte Dreck unter den Fingernägeln hervor oder fuhr sich mit der Hand durch seine ohnehin ständig zerzausten blauschwarzen Haare. Nur wenn er gelegentlich aufblickte, leuchtete der Widerschein des Feuers in seinen goldenen Augen in dem olivfarbenen Gesicht auf. Henk, dessen helle Haut mit dem blonden Schopf im Feuerschein orange glänzte, hatte seine muskulösen Arme vor der Brust verschränkt und stand stoisch wie eine Statue in der Szenerie. Ruben hatte sich an die Außenmauer gelehnt, ein entrücktes Lächeln auf den Lippen. Sein Gesicht lag im Schatten, wirkte dunkler als üblich, dabei hatte er fast die gleiche goldfarbene Haut wie Jelto, auch ähnliche dunkelbraune Locken. Ruben war etwas größer und kräftiger, und wenn sie gemeinsam unterwegs waren, hielten die Menschen auf der Straße sie oft für Brüder.

Eine Windbö wehte vom östlichen Burgturm hinab. Das Feuer knackte und loderte auf. Abermals schienen sich in den Flammen Gestalten zu bewegen. Jelto blinzelte, ließ den Blick unauffällig zu den Gesichtern der anderen schweifen.

Er bezweifelte, dass sie wahrnahmen, was er sah.

Schaudernd erinnerte er sich an eine seiner ersten Bücherverbrennungen vor knapp drei Jahren. Da hatte er gerade als Lehrling angefangen. Damals war er davon überzeugt gewesen, Stimmen aus dem Feuer zu hören, gefolgt von einem Schrei – nicht laut, sondern eher wie aus weiter Ferne, aber dennoch deutlich vernehmbar.

Vermutlich hatte der Wind ihm einen Streich gespielt. Er könnte sich in den Mauerritzen einer der drei Türme verfangen und diesen Ton erzeugt haben, es fegten oft kräftige Windstöße über den Burghof. Jelto war sich jedenfalls sicher, dass niemand außer ihm diesen Schrei gehört hatte. Und das hatte ihn beinahe mehr beunruhigt als dieser qualvolle Laut selbst.

Er hatte sehr lange gebraucht, sich im Nachhinein davon zu überzeugen, dass er sich diesen Schrei nur eingebildet hatte; dass es seiner Aufregung geschuldet war, zum ersten Mal bei der Bücherverbrennung dabei gewesen zu sein. Derartiges hatte sich nie wiederholt.

Vergessen konnte Jelto es trotzdem nicht. Und so hatte er stets zwiespältige Empfindungen, wenn er am Feuer stand. Solange er keinen Sinnestäuschungen erlag, überwog der Stolz auf seine Arbeit. Doch wenn die Figuren tanzten, was häufiger vorkam und auch ohne Schrei verstörend genug war, kam es ihm so vor, als habe er etwas Lebendiges getötet. Dann fragte er sich, warum sie die Bücher nicht einfach ins Hafenbecken warfen, wo der meiste Müll der Stadt landete. Das Wasser würde die Seiten aufweichen und die Tinte heraussaugen. Mit der Zeit würden sie sich einfach auflösen.

Eine Flamme leckte hoch. Und dann hörte er wieder einen solchen Schrei wie damals, wie beim ersten Mal. Rotgolden erhob sich die Silhouette eines Menschen auf einem Pferd aus dem Feuer. Sie stürmte ihm entgegen und verging, bevor Jelto Einzelheiten ausmachen konnte. Ein weiterer Schrei tönte über den Platz, vielleicht auch nur das Echo des ersten. Niemand reagierte darauf. Jelto lief es eiskalt den Rücken hinab. Seine Knie drohten nachzugeben, doch er schaffte es, äußerlich gefasst einige Schritte rückwärts zu machen und sich zwei Armlängen von Ruben entfernt an die Mauer zu lehnen. Wie gut, dass er seine Kapuze hochgezogen hatte. Sicherlich stand ihm der Schreck deutlich ins Gesicht geschrieben.

Er konzentrierte sich auf seine Stiefelspitzen und wartete mit den anderen schweigend darauf, dass die Bücher verbrannten. Dabei zwang er seine Gedanken in eine andere Richtung. Es gab etwas, auf das er sich freute. Daran sollte er denken. Morgen Nachmittag würde er bei Wyona, der besten Drachenzüchterin von Brück, seinen neuen Taschendrachen abholen.

Taschendrachen

Mit der Altstadt von Brück verband Jelto eine innige Hassliebe. Hier hatte er die schönste und zugleich schlimmste Zeit seines bisherigen Lebens verbracht. Hier war er aufgewachsen, hier lebte noch immer Lodi, sein ältester und bester Freund. Dieser war, wie so viele innerhalb der ehemaligen Stadtmauern, Schneider geworden und gerade im Begriff, mit seiner Schwester Lieke die Werkstatt seiner Eltern zu übernehmen. Daher sahen sie sich zurzeit so gut wie nie. Lodis großer Traum, als Schafhirte eine Herde weit nördlich den Fluss hinauf in den Hügeln grasen zu lassen, war verpufft. So war das mit Träumen. Sie gingen selten in Erfüllung.

Dagegen wäre Jelto gern Schneider geworden, das hatte sich nie geändert. Er liebte das Nähen, ob mit festem Leinentuch, mit der neuartigen weichen Seide oder mit dem selten verfügbaren Schafsleder. Es gab für ihn kaum etwas Besseres, als eine selbst angefertigte Hose oder ein neues Hemd anzuprobieren, schnörkellos, wie er es am liebsten mochte. So trug er auch heute wieder ein locker fallendes blaues Leinenhemd und eine dazu passende weite schwarze Hose ohne jegliche Verzierungen sowie den Kapuzenmantel darüber.

Jelto erreichte den Marktplatz, der vom ältesten der vier Glockentürme von Brück dominiert wurde. In seinem Schatten stand eine lebensgroße Statue des Ehrwürdigen Rikus, des Wohltäters von Brück, zu dessen Gedenken einmal im Jahr zur Sommersonnenwende ein großes Fest gefeiert wurde. In zehn Tagen war es wieder so weit.

Dann würde er auch Lodi und Lieke wiedersehen. Die beiden waren Teil der Schauspielgruppe, die die alljährliche Aufführung rund um die Geschichte des Stadtgründers organisierte. Bei ihrem letzten Treffen, das nun schon einige Monate zurücklag, hatte Lodi stolz erzählt, dass er auch in diesem Jahr den Rikus mimen werde. Er probe seine Rolle bereits.

Um die Rikus-Statue drängten sich wie jeden Tag die Stände der Kaufleute aus der Umgebung, die Obst und Gemüse, Honig, Öle oder Getreide anboten und sich jetzt am späten Nachmittag allmählich daranmachten, einzupacken.

Jelto schlug einen Bogen, um den Marktplatz nicht überqueren zu müssen, denn am nordöstlichen Ende befand sich sein Elternhaus. Manchmal fragte er sich, wie es seiner Mutter Manou erging. Ob sein Vater Pim jetzt sie oder den jüngeren Sohn Jacco schlug, weil er die Wut nicht mehr an seinem Älteren auslassen konnte. Jelto war aus dem Haus geflohen, nachdem sein Vater ihn eines Abends halb tot geprügelt hatte.

Er hatte seine Mutter ein halbes Jahr später zufällig getroffen. Sie hatte behauptet, sein Vater sei bestürzt über seine Tat gewesen und habe sich gebessert. Er habe nie zuvor die Hand gegen sie oder Jacco erhoben, das wisse Jelto ja selbst, und das sei auch jetzt nicht der Fall. Sie hatte sich gewünscht, er würde zurückkommen. Jelto hatte ihr nicht geglaubt. Außerdem war er in der Zwischenzeit Floris begegnet und längst genug in seinem neuen Leben als Bücherjäger angekommen, um zurückzukehren. Diesen Sommer würde das alles drei Jahre her sein.

Er näherte sich dem westlichen Teil der alten Stadtmauer. Diese hatte hier noch an einigen Abschnitten ihr ursprüngliches Aussehen behalten, auch wenn ihre Schutzfunktion nicht mehr benötigt wurde. Zum Meer hin erstreckten sich die großen Lagerhäuser des Hafens und dahinter die weitläufigen Deiche und Salzwiesen, die das Landesinnere vor dem Meer schützten. Schwemmland, dem Ozean abgerungen.

In einer Mauernische hockte ein Schwatzling aus grauem Holz. »Links: Seetjes Gemüsehandel«, schnarrte er monoton, als Jelto nahe genug herangekommen war. »Links: Jaaps Gerberei; rechts: Coens Drachenzuchtstation.«

»Danke!« Grinsend winkte Jelto, obwohl der Schwatzling das natürlich weder sehen noch hören konnte. Er mochte die Figuren, die er als Kind schaurig gefunden hatte, obwohl er längst gelernt hatte, dass sie nicht lebendig waren. Doch das Geheimnis, das sie zum Sprechen brachte, hatte er bis heute nicht gelüftet. Sie waren eine Besonderheit von Brück – so behaupteten es zumindest weit gereiste Seeleute oder Handeltreibende.

Jelto folgte dem Weg nach rechts bis zu einem Hoftor, das offen stand. Ein Schwarm Taschendrachen, schillernd wie ein Regenbogen, sauste plötzlich im Sturzflug über ihn hinweg. Der Wind trug ihr Zwitschern und Knurren davon. Über ihnen spannte sich der blaue Himmel, der nach einem kräftigen Regen am Vormittag aufgerissen war. Nur einzelne weiße Wolken trieben dahin.

Jelto grinste, weil die übermütige Schar hoch über die Stadtmauer segelte, abdrehte und dann nur knapp über das Dach eines Hauses flog. Ein Drache verlor dabei die Kontrolle und platschte auf die Dachziegel. Er überschlug sich, kam auf die Hinterfüße und rannte einige Schritte. Dabei taumelte er hin und her, von seinem eigenen Flügelschlag aus dem Gleichgewicht gebracht. Kaum hatte er sich jedoch abgedrückt und erfolgreich in die Luft erhoben, wurden seine Bewegungen wieder elegant und scheinbar mühelos. Er wedelte mit seinem langen Schwanz, als wollte er das Dach beschimpfen, weil es ihn ausgebremst hatte. Jelto legte den Kopf in den Nacken und beobachtete den Taschendrachen, bis der den Schwarm eingeholt hatte und in der Menge verschwand.

»Das ist deiner«, erklang eine feixende Stimme neben ihm.

»Wie bitte?« Jelto wandte sich um.

Wyona stand vor ihm, ein breites Grinsen auf dem blassen Gesicht voller Sommersprossen, die Hände hinter einer dunkelgrünen Schürze verborgen. Sie trug jedes Mal, wenn er sie sah, etwas Grünes. Vermutlich wusste sie, dass die Farbe perfekt mit ihren schulterlangen feuerroten Locken harmonierte, die heute in alle Richtungen sprangen, als wäre sie gerade erst aufgestanden. Sie sah einfach wunderhübsch aus.

Die Drachenzüchterin hob einen Arm und zeigte auf den Schwarm, der sich gerade mit einem begeisterten Knurren näherte. »Der ungeschickte Türkisblaue. Den hast du dir ausgesucht.«

»Oh.«

»Ich habe es dir gesagt. Du hättest auf mich hören und eins seiner Geschwister nehmen sollen.«

Jelto nickte versonnen. Die Taschendrachen des Wurfes, über den sie sprachen, waren alle bis auf einen rotviolett gewesen. Sie erinnerten ihn an Linga. Er wollte keine zweite Linga, er wollte einen neuen Taschendrachen, den er nicht ständig vergleichen würde.

»Na, dann hol ihn da runter und binde ihm eine Schleife um den Hals, damit ich ihn mitnehmen kann.«

Sofort verfinsterte sich Wyonas Blick über der spitzen Nase. »Ich verkaufe keine Schoßtierchen.«

»Das war ein Witz! Ich brauche ihn zum Arbeiten, nicht weil er hübsch aussieht.«

»Wie gesagt, da hättest du –«

»Was denn jetzt? Ist er nur hübsch oder taugt er auch zu etwas?«

Wyona hielt verdutzt inne und drückte dann lachend das Tor weiter auf. »Komm erst mal rein. Und Abendlicht für dich.«

»Dir auch eine gute Dämmerung.«

 

Jedes Mal, wenn Jelto ins Innere der Drachenzuchtstation trat, überwältigte ihn der Gestank. Obwohl der Raum, in dem sich die Volieren und Käfige aneinanderreihten, hoch und weitläufig war, fing sich der beißende Geruch der vielen Drachen auf einem Fleck. Die Hälfte des Daches bestand aus Glasfenstern, die gekippt werden konnten, doch die meisten waren geschlossen.

»Ich verstehe nicht, wie du das aushältst.« Er rümpfte die Nase und schluckte mehrmals gegen einen Würgereiz an.

»So schlimm ist es nicht. Wenn du den ganzen Tag hier arbeitest, merkst du es irgendwann nicht mehr.«

»Das bezweifle ich.« Jelto hatte einen außerordentlich guten Geruchssinn, sonst wäre er kein so guter Bücherjäger. Aber das würde er Wyona ganz sicher nicht verraten. Offiziell waren alle Bücherjäger Boten und Laufburschen im Dienste der Fürstin.

»Hier, schau dir das an.« Wyona deutete auf eine Voliere.

Er trat zu ihr und spähte auf eine Kugel, groß wie ein Salatkopf, die zwischen mehreren Sitzstangen und Käfigstreben klemmte. Sie war aus langen Grashalmen und Stofffetzen dicht gewebt, und aus einem Loch in der oberen Hälfte reckten sich mehrere winzige spitze Drachennasen. Ihre Schuppen funkelten in allen Farben des Regenbogens.

»Frisch geschlüpft«, erklärte Wyona stolz. »Es sind Halbgeschwister von deinem.«

»Die sind ja bunt. Wie schön!«

»Sie verlieren ein paar Farben, wenn sie älter werden, übrig bleiben immer zwei Haupttöne. Es heißt, dass sich die Kleinen in der Freiheit besser im Sonnenlicht tarnen können, wenn sie so bunt sind.«

»Stimmt das?«

»Keine Ahnung. Sie verlassen die Halle meistens erst, wenn sie die Farbe gewechselt haben.«

»Und diese Kugel, das ist das Nest? Haben die Dracheneltern die selbst gebaut?« Niemals hätte Jelto erwartet, dass Taschendrachen so etwas Kompliziertes zustande brachten.

»Ja. Sie halten sich mit den Hinterfüßen an den Stangen fest, an denen sie ihr Nest bauen. Die Halme packen sie mit den Zähnen und den Vorderklauen und weben sie ineinander. Würden sie in Freiheit leben, würden sie sogar Lehm anschleppen und das Ganze mit ein bisschen Feuer wasserdicht verkleben. Das geht hier in der Stadt natürlich nicht. Daher sammele ich Lumpen und biete sie ihnen in Streifen an, damit sind sie zufrieden.«

»Wie interessant. Ich gebe meine Lumpen immer an Rona, kennst du sie?«

Wyona lachte fröhlich. »Rona, das Lumpenmädchen? Wer kennt die denn nicht? Rona ist Teil dieser Stadt wie die Schwatzlinge und die Laubengasse. Sie kommt oft her, manchmal nehme ich ihr Stoffreste ab, manchmal gebe ich ihr welche, je nachdem.«

Rona ist Teil dieser Stadt. Die Formulierung hallte in Jeltos Gedanken nach. So hatte er das noch nie betrachtet, aber er empfand es auch so. Er mochte sie gern, würde sogar behaupten, sie wären locker befreundet, aber Rona war unbeständig wie der Wind. Er wusste nie, wo oder wann er ihr das nächste Mal begegnen würde.

Wyona bedeutete ihm, ihr zu folgen, und ging voraus. »Komm, lass uns den Schwarm reinholen. Die fliegen sonst noch bis spät in die Nacht ihre Runden. Taschendrachen sind nicht müde zu bekommen.«

Sie griff nach einem Seil, das von der Decke baumelte, und zog kräftig daran. Mit einem Klacken öffneten sich über ihnen mehrere Glasfenster. Direkt darunter hing ein Weidenkorb.

Wyona deutete mit dem Kinn nach oben. »In dem Korb befinden sich frische Algenköder, die ich heute Morgen erst am Hafen gekauft habe. Das dauert nicht lange.«

Sie hatte den Satz kaum beendet, als sich der Schwarm auch schon mit einem Surren ankündigte. Eine lila schillernde Wolke stürzte in den Korb. Sie hörten Zwitschern und ein gelegentliches Knurren, mit dem sich die Taschendrachen um die Beute balgten.

Gerade wollte Wyona die Fenster schließen, als zwei Nachzügler durch den Spalt hineinschossen und auf den Korb zuhielten. Beide stießen gegen den Rand. Der rotviolette Drache schlug einen Purzelbaum und landete im Korb. Der türkisblaue geriet mit einem erschrockenen Kreischen ins Taumeln, überschlug sich und fiel flügelschlagend in die Tiefe. Erst kurz vor dem Boden fing er sich wieder und landete dann wenig elegant auf dem Boden. Fragend hob der Taschendrache den Kopf und zwitscherte verwirrt.

Wyona seufzte vernehmlich. »Das ist mir jetzt doch ein wenig peinlich. So ungeschickt hat er sich bisher nicht angestellt.«

Jelto ging in die Hocke und winkte dem kleinen Wesen zu. »Und wie heißt du?«

»Du kannst ihn nennen, wie du willst.«

»Dann wird er Quibus heißen.«

»Ein ungewöhnlicher Name.«

»Das ist ja auch ein ungewöhnliches Exemplar.« Er versuchte weiter, den Taschendrachen zu locken, der zwar interessiert den Hals streckte, aber auf Abstand blieb.

Wyona lachte. »Das stimmt schon. Er ist ein wenig verdreht. Gut, dann werde ich ihn als Quibus ins Zuchtverzeichnis eintragen. Ich hoffe, die im Schreibkontor sind damit nicht überfordert.«

»Warum sollten sie überfordert sein? Und was ist ein Zuchtverzeichnis?«

»Ich bin eine seriöse Züchterin, schon vergessen? Und als seriöse Züchterin lasse ich ein Zuchtverzeichnis führen.«

Jelto beobachtete Quibus, der ihn seinerseits anstarrte. Wyona spielte mit ihrer Bemerkung auf ihre erste Begegnung vor ungefähr zehn Tagen an, als sie einander auf dem Laubenmarkt begegnet waren. Er hatte gerade erst Linga verloren und dort Ausschau nach dem fahrenden Züchter gehalten, der ihm den Taschendrachen einst verkauft hatte. Wyona hatte ihn aufs Übelste ausgeschimpft, weil er bei einem dieser Nepper statt bei ihr gekauft hatte. Dieser Mann sei kein Züchter, sondern ein Betrüger, der sich an der Arglosigkeit und dem Geiz seiner Kundschaft bereichere. Seine Preise mochten günstig sein, hatte sie ihm erklärt, aber selten waren die Drachen auch gesund.

Bis heute stieß Jelto jedes einzelne ihrer Worte bitter auf, denn sie entsprachen der Wahrheit. Linga hatte einen so lächerlich geringen Betrag gekostet, dass er hätte misstrauisch werden müssen. Doch damals hatte er es nicht besser gewusst.

Wyona begriff erst im Laufe ihrer langen Schimpftirade, wie sehr ihn diese Vorwürfe trafen, und dass er seine Lektion bereits auf die harte Tour gelernt hatte. Zum Trost nahm sie ihn zum ersten Mal in ihre Zuchtstation mit. Dort starteten Quibus und seine Geschwister unter den strengen Augen ihrer Drachenmutter gerade die ersten Flugversuche – also eher ein Herumhopsen und Flügelschlagen auf dem Hallenboden. Jelto sah Quibus, damals noch ein namenloser Türkisfarbener, und verliebte sich sofort in ihn. Er wollte diesen Taschendrachen oder keinen.

Er riss sich von der Erinnerung los. »Das ist bestimmt ein ganz schöner Aufwand, so ein Zuchtverzeichnis«, meinte er höflich. Er hatte nicht die geringste Ahnung.

»Du hast ja nicht die geringste Ahnung«, sagte Wyona und verdrehte die Augen. »Es ist unglaublich teuer. Aber vor allem kostet es mich jedes Mal einen halben Tag Zeit. Es ist ja nicht nur die Lauferei bis zum Hafen, meistens muss ich auch warten, weil das Schreibkontor wieder einmal so voll ist. Ich hätte wirklich nichts dagegen, wenn ich das Zuchtverzeichnis selbst führen könnte.«

Jelto fuhr erschrocken auf, sodass Quibus einen Satz nach hinten machte und dabei mit den Flügeln schlug. »Du willst lesen und schreiben können? Bist du verrückt?«

»Na ja, du kennst doch den Spruch: Erst wenn du völlig den Verstand verloren hast, bist du bereit, einen Drachen auszubrüten. Es gehört schon eine gewisse verrückte Einstellung dazu, sich auf die Drachenzucht einzulassen.«

»Es ist verboten!«

»Wie bitte? Das Drachenzüchten?«

»Nein, das Schreiben! Und du müsstest logischerweise lesen und schreiben können, um ein Zuchtverzeichnis zu führen.«

»Das stimmt doch nicht. Es ist nicht verboten, nur stark reglementiert. Die Schreiberlinge können und dürfen es ja auch.«

»Die sind ausgebildet und vereidigt!«

»Es wäre doch nichts Schlimmes, schreiben zu können. Hier war mal ein Matrose, der von weit her kam. Er hat erzählt, dass viele Menschen in seiner Heimat lesen und schreiben können. Und es schadet ihnen nicht.«

»Woher willst du das wissen?« Jeltos Tonfall war scharf geworden. »Dieser Matrose kann doch das Blaue vom Himmel gelogen haben.«

Wyona wurde so rot, dass die Sommersprossen auf ihren Wangen beinahe nicht mehr zu erkennen waren.

Jelto erkannte, dass er sie verunsichert hatte, und lächelte beruhigend. »Schon gut. Das geht mich ja gar nichts an. Ich finde allein den Gedanken daran schon sehr befremdlich.«

Wyona senkte den Kopf und blinzelte ihn trotzig an. »Ich meine ja nur. Ich stelle es mir weniger umständlich vor, das ist alles.«

»Ich glaube, da machst du dir gründlich etwas vor. Als Nächstes erzählst du mir, dass du gern Bücher lesen würdest. So wie es die Menschen früher getan haben.«

»Davon spreche ich doch gar nicht! Ich würde einfach lieber die Einträge ins Zuchtverzeichnis selbst vornehmen. Es wäre auch praktisch, dieses Verzeichnis hier vor Ort zu haben und nicht am Hafen. Und halt, bevor du mir das jetzt vorwirfst: Damit sage ich nicht, dass ich mir eine Bibliothek zulegen will!«

Jelto schüttelte schockiert den Kopf. »Wer liest, kommt auf dumme Gedanken! Es ist gefährlich! Nicht umsonst leben die Schreiberlinge in strenger Klausur, und nicht umsonst dürfen Seeleute und andere Reisende keine Schriftstücke mit in die Stadt bringen.« Er fragte sich, ob Wyona außerhalb eines Schreibkontors mal ein Buch zu Gesicht bekommen hatte. Wer Wissen über Bücher, Tinte oder Papier hatte, oder auch nur Interesse daran zeigte, machte sich schnell verdächtig.

An Wyonas entsetzt aufgerissenen Augen erkannte er, dass sie auf den gleichen Gedanken gekommen war. Sie öffnete den Mund, brachte aber kein Wort hervor.

Er hob beschwichtigend die Hände. »Tut mir leid. Ich wollte dir keinen Schreck einjagen und dir schon gar nichts unterstellen. Es ist einfach nicht gut, sich solch eitlen Ideen hinzugeben. Sicherlich sind ein paar Dinge umständlicher, als sie sein könnten. Aber das dient nur dem Schutz der Menschen, das weißt du. Lesen verdirbt das Denken.«

Wyona atmete tief durch. »Mir ging es wirklich nur darum, mein Verzeichnis zu führen. Weil das für meine Arbeit wichtig ist. Nicht um diese Bücher mit den erfundenen Geschichten, nach denen diese Bücherjäger einst gesucht haben.«

»Es gibt keine Bücher mehr. Und ganz sicher gibt es keine Menschen, die sie jagen.« Jelto behauptete das nicht zum ersten Mal, aber es klang immer wieder seltsam.

Jetzt schien Wyona sich herausgefordert zu fühlen. »Aber es gab sie. Früher, vor der Großen Säuberung, besaßen alle Menschen in Brück Bücher. Bis die Bücherjäger gekommen sind, die Bücher eingesammelt, sogar aus den Häusern gestohlen und verbrannt haben. Und sie haben die Menschen, die Bücher schrieben oder auch nur herstellten, getötet oder vertrieben, bis niemand mehr da war. Und seitdem durfte immer nur noch eine Handvoll Auserwählter lesen und schreiben lernen.«

Betont gleichmütig zog Jelto die Schultern hoch. »Ich kenne diese Legenden.«

»Du glaubst sie nicht?«

»Ich glaube, dass Bücher gefährlich sind. Die Säuberung hatte sicherlich ihren Sinn. Die meisten haben ihre Bücher ja damals freiwillig hergegeben. Aber dass diejenigen, die sie hergestellt haben, getötet wurden, glaube ich nicht. Warum auch? Wenn niemand mehr Bücher liest, braucht es auch keine Leute, die sie anfertigen. Diejenigen werden sich einfach andere Berufe gesucht haben.«

Wyona wirkte nicht überzeugt, widersprach jedoch nicht.

Jelto atmete einmal tief durch. »Was auch immer genau passiert ist, es ist lange her.«

»Da muss ich dir zustimmen.«

Sie lächelten einander verlegen an, wobei Jelto sich gewaltig über sich selbst ärgerte. Wyona wirkte angespannt, über ihrer Nasenwurzel hatte sich eine steile Falte gebildet. Dieses Gespräch hatte einen ganz anderen Verlauf genommen, als er beabsichtigt hatte. Jetzt hatte er der Drachenzüchterin vor den Kopf gestoßen, indem er sie mit seinen Bücherjäger-Weisheiten belehrt hatte. Dabei hatte er sich vor seiner Ankunft hier vorgenommen, sie einzuladen. Sie faszinierte ihn, er wollte sie näher kennenlernen und sich abseits der stinkenden Halle mit ihr unterhalten. Ob er noch eine Gelegenheit dazu bekam?

»Warte hier, Jelto. Ich muss kurz nach oben und dein Besitzabzeichen holen.«

»Mein Besitzabzeichen? Was soll das sein?«

»Dass du bisher keines hattest, unterstreicht mal wieder, an was für einen Betrüger du mit deinem ersten Taschendrachen geraten bist.« Mit diesen Worten lief sie davon.

Jelto ging erneut in die Hocke und sprach leise auf den Taschendrachen ein. Quibus neigte argwöhnisch den Kopf, als würde er in Zweifel ziehen, was sein neuer Besitzer sagte. Das gab Jelto die Gelegenheit, den kleinen Burschen ausgiebig zu betrachten, die wulstigen Nasenlöcher an der Schnauze und den feinen dunkleren Strich über den Augen, der den Eindruck erweckte, der Taschendrache würde die Stirn runzeln.

Jelto glaubte, Wyona zu verstehen. Sie wollte nur, dass ihr Leben ein wenig einfacher wäre. Wer kannte das nicht, dieses ermüdende Warten im Schreibkontor, wenn es um eine offizielle Sache ging? Und da halfen auch Schwatzlinge nicht weiter. Für den täglichen Gebrauch gab es die Figuren seit einiger Zeit an jeder Ecke zu kaufen, aber für einen offiziellen Anlass durften nur welche verwendet werden, die aus dem fürstlichen Schwatzarium stammten. Und eine seriöse Drachenzucht war nun einmal etwas Offizielles. So lange, wie Wyonas Vater Coen diese Drachenzuchtstation bereits betrieb, hätte er inzwischen eine ganze Armee Holzfiguren ansammeln müssen. Sie waren extrem praktisch, aber ihre Kapazität sehr begrenzt.

Aber was half es? Bücher waren nun einmal gefährlich. Nicht umsonst gab es immer noch Bücherjäger. Längst nicht alle Brückas, wie die Einwohnerinnen und Einwohner der Stadt genannt wurden, hatten sich damals während der Großen Säuberung so freiwillig von ihren Büchern trennen wollen, wie er soeben behauptet hatte. Sonst bräuchte es nicht solche wie ihn, die immer noch Bücher aufspürten. Die Bücherjäger würden Bücher stehlen, so hatte Wyona es ausgedrückt. Sie war nicht die Einzige, die das so sah. Jelto wusste es besser. Erst vor ein paar Wochen hatte Fürstin Farlinger in einer persönlichen Ansprache an die Bücherjäger erklärt, wie wichtig es sei, die Menschen vor den Büchern und ihren Inhalten zu schützen. Es sei ihre Pflicht als Herrin über die Stadt, Schaden von der Bevölkerung abzuwenden. Wer noch Bücher besaß, hielte sie meistens für harmlos. Und das sei fahrlässig, aus Sorglosigkeit könnte erst recht Schaden entstehen.

Viele Brückas, vielleicht auch Wyona, wussten gar nicht, dass es nicht nur Bücher mit ausgedachten Abenteuern gab, sondern auch welche mit angeblichen Fakten und Informationen. Welche mit verbotenem Wissen. Die galten in Fürstin Farlingers Augen als noch gefährlicher, eben weil gern behauptet wurde, diese Inhalte würden irgendwelchen Wahrheiten entsprechen. Jelto folgte dieser Ansicht. Er überlegte, ob er das ansprechen sollte. Aber er wollte keine schlafenden Drachen wecken.

Er versuchte immer noch vergeblich, den Taschendrachen anzulocken, als die Drachenzüchterin zurückkehrte. Sie beachtete ihn nicht, ließ sich neben ihm auf ein Knie nieder, streckte die Hand zu Quibus aus und bot ihm einen Algenköder an. Jelto war es, als zitterte ihre Hand ein wenig. Aber da der Taschendrache sofort auf sie zuwatschelte und darauf hüpfte, war er sich nicht sicher.

»Wie machst du das?«

»Ich mache gar nichts. Der Algenköder ist das ganze Geheimnis.« Mit einem Lachen, das ein wenig aufgesetzt klang, erhob sie sich und setzte Quibus auf die Schulter, wo er an ihrem Ohrläppchen knabberte. Sie blickte Jelto nicht an, schien immer noch verunsichert über ihr Gespräch von vorhin.

Jelto meinte, etwas sagen zu müssen. »Du musst dir keine Gedanken machen, dass ich dich jetzt für eine dieser Buchfanatikerinnen halte oder so. Ich denke, du willst es mit der Drachenzucht einfacher haben. Und wer geht schon gern ins Schreibkontor, wenn er nicht muss?«

Sie schnaubte. »Wem sagst du das?«

»Wie oft musst du denn hin?«

»Mindestens einmal in der Woche. Nur für die Zucht, versteht sich.«

»Du Arme!« Jelto nickte mitfühlend. Das war wirklich mehr als lästig.

»Schon gut. Ich habe es mir so ausgesucht.« Sie schien sich etwas zu entspannen, die Falte über ihrer Nase verschwand endlich. »Und etwas Schöneres als die Drachenzucht kann ich mir nicht vorstellen, trotz all dem unnötigen Aufwand. Jetzt komm, es wird Zeit, dass Quibus sich verabschiedet.«

»Machst du alles allein? Offiziell gehört doch die Zuchtstation deinem Vater, oder?« Der Wegweiser-Schwatzling hatte von »Coens Drachenzuchtstation« gesprochen.

Wyonas Antwort bestand nur aus einem »Ja«.

Jelto hatte das Gefühl, dass er sich mit den letzten beiden Fragen wieder aufs Glatteis begeben hatte, und schwieg, auch wenn er nicht einmal wusste, worauf sich ihre Zustimmung bezog. Er folgte ihr schweigend in einen kleineren Raum innerhalb der Halle, wo sich allerlei Kisten mit Futter, Decken und viele andere Dinge befanden, die Jelto nicht einordnen konnte, die aber sicherlich etwas mit der Drachenzucht zu tun hatten.

Wyona ging zu einem Tisch und setzte Quibus dort ab. »Ich packe dir ein kleines Paket zusammen, damit er sich schneller eingewöhnt. Das ist im Kaufpreis inbegriffen.«

Der Taschendrache beäugte misstrauisch seine Umgebung. Hier im Licht war die Augenfarbe besser zu erkennen. Es war ein tiefes Azurblau, funkelnd wie Edelsteine.

Eine Holzkiste landete neben dem Drachen. Der reckte den Hals und versuchte, über den Rand zu spähen, während die Züchterin die Kiste füllte. »Futter für zwei Wochen, dazu ein paar Funkenkugeln. Diese fütterst du zusätzlich zu den normalen Mahlzeiten, dann verstärken sie das Feuer, wenn du das möchtest. Ein Geheimrezept, die bekommst du nur bei mir. Dann eine Decke. Er mag am liebsten dünnen Leinenstoff, er liegt nicht gern auf Stroh. Darin sind sie alle verschieden.«

Jelto sah zu und wartete geduldig, bis sie die gesamte Ausstattung für Quibus zusammengesammelt hatte.

Zuletzt legte sie eine Handvoll Algenköder in die Kiste und sah lächelnd auf. »Das sollte alles sein.«

Jelto gab sich einen Ruck. Jetzt ergab sich vielleicht doch noch eine Gelegenheit. »Wyona, würdest du …?« Er räusperte sich verlegen. Beim Sternenlicht, war das schwer.

Sie lächelte noch immer. »Was denn?«

»Ich wollte dich fragen, ob du vielleicht mit mir … ich wollte ein bisschen feiern, dass Quibus bei mir einzieht. Also, würdest du dich heute mit mir auf ein Abendessen treffen?« Jetzt war es heraus. Hastig wandte er sich ab, damit sie ihm seine Verlegenheit nicht ansehen konnte. Er bereute sofort, gefragt zu haben.

Sie sagte nichts. So lange, bis er verschämt zu ihr emporblinzelte. Hatte er sich komplett lächerlich gemacht? Sie stand immer noch vor dem Tisch. Unbewusst strich sie sich eine widerspenstige Locke von der Schläfe. Jelto wagte es, den Kopf zu heben und versuchte sich an einem Lächeln.

Endlich rührte sie sich und schob die Kiste in seine Richtung. »Ich kann heute nicht«, erklärte sie freundlich. »Außerdem wäre es nicht gut für Quibus’ Eingewöhnung. Er muss lernen, dass du sein neuer Herr bist.«

»Ach so, natürlich. War auch nur eine Idee.« Er traute sich nicht, nach einem anderen Abend zu fragen. Ihre Antwort klang nach einer Ausrede, da konnte sie einen noch so ungezwungenen Ton anschlagen. Was hatte er auch erwartet?

Was Wyona über seinen Vorstoß dachte, war ihr nicht anzumerken. Unbekümmert holte sie einen Algenköder aus der Kiste und drückte ihm den in die Hand. Der Geruch nach Meer und Verwesung stieg ihm in die Nase.

»Das stinkt aber.«

»Quibus ist anderer Ansicht.«

Der Taschendrache stellte sich auf die Hinterläufe und schlug aufgeregt mit den Flügeln, während sein Hals immer länger wurde.

Jelto streckte ihm die Hand mit dem Köder entgegen. Quibus knurrte zögerlich, doch dann fasste er Mut und hüpfte ihm auf die Hand. Mit einem weiteren Knurren, schon mehr wie ein Schnurren, nahm er die grüne Stange zwischen die Vorderpfoten und begann zu fressen.

»Na also, der erste Schritt ist getan: Mensch Jelto dient als Futterquelle. Ihr werdet euch aneinander gewöhnen.«

»Das hoffe ich, wirklich.«

»Mach dir keine Sorgen, wenn er häufiger irgendwo gegenfliegt. Er ist das schon gewöhnt, es wird ihn nicht umbringen.«

Das hoffte Jelto erst recht. Doch er brachte die Worte nicht über die Lippen, weil er wieder an Linga denken musste. Normalerweise wurden Taschendrachen bis zu dreißig Jahre alt, das entsprach einem halben Menschenleben. Nicht selten überlebten sie eine Generation und wurden vererbt. Linga war keine fünf geworden. Sie hatte ein gutes Leben gehabt – zumindest glaubte Jelto das –, aber ein viel zu kurzes.

Wieder lachte Wyona. Sie ahnte nicht, woran er gerade dachte. »Ich habe es vorhin auch nicht so gemeint. Quibus mag etwas ungeschickt sein, aber er ist ein liebenswürdiger Bursche. Er braucht vielleicht ein wenig länger, bis er begriffen hat, was du von ihm möchtest. Du wirst dennoch deine Freude an ihm haben. Du hast eine gute Wahl getroffen.«

»Jetzt im Ernst?«

»Gelegentliche Abstürze inbegriffen. Ja, ganz im Ernst: Ich würde ihn dir nicht verkaufen, wenn mit ihm etwas nicht in Ordnung wäre.« Sie zog eine Lederschnur mit einem breiten Silberring aus einer Hosentasche und legte sie in die Kiste. »Schau mal, das ist dein Besitzabzeichen. An Quibus’ Hinterlauf ist das Gegenstück. Auf beiden Silberringen ist dasselbe Zeichen, mein Siegel als Züchterin und mehrere Ziffern. Er ist der vierte aus dem zwölften Wurf in diesem Jahr.«

»Wozu soll das gut sein?«

»Wenn er abhaut und ihn jemand findet, dann kann er bei der Stadtwache abgeliefert werden. Die bringen ihn zu mir zurück. Du kannst wiederum mit deinem Ring beweisen, dass er dir gehört.«

»Verstehe.«

»Alle weiteren Angaben wie sein Geburtsdatum, seine Abstammung und so weiter stehen im Zuchtverzeichnis.«

»Warum grinst du so bösartig, während du das sagst?«

»Na, was habe ich dir vorhin über das Zuchtverzeichnis erzählt?«

»Oh, ich verstehe. Wenn ich das alles wissen möchte, muss ich zum Schreibkontor und mir die Informationen raussuchen lassen.«

»Du solltest einige Stunden Wartezeit einplanen, falls du das vorhast.«

»Nicht nötig, ich vertraue dir. Und ich könnte dich fragen.«

»Wonach fragen? Glaubst du, ich habe alle Daten über meine Drachen im Kopf? Ich habe ein bis zwei Würfe pro Monat, immer acht bis fünfzehn Drachen.«

Abermals schlug er verlegen den Blick nieder. Wie schaffte es Wyona nur, ihn so zu verunsichern?

Er griff in seine Hosentasche und zahlte den vereinbarten Preis. Quibus kostete ihn ein Vielfaches von dem, was er damals für Linga ausgegeben hatte. Aber dieses Mal hatte er ein besseres Gefühl.

Wyona gab ihm noch eine Leine mit und schärfte ihm ein, Quibus in den nächsten Tagen nie ohne Aufsicht draußen fliegen zu lassen, da er ansonsten wieder zur Drachenzuchtstation zurückkehren würde. Und jedes Mal, wenn ihm das gelänge, würde es schwieriger werden, ihn an ein neues Zuhause zu gewöhnen. Jelto leinte Quibus an und setzte ihn einfach in die Kiste, wo er vergeblich an den Leinenbeuteln kratzte, die das Futter und weitere Algenköder enthielten.

Sie verabschiedeten sich voneinander, und Jelto sah zu, dass er die Halle möglichst schnell durchquerte, weil ihn der Gestank zu überwältigen drohte. Die Kiste mit seinem aufgeregt zwitschernden Taschendrachen in den Armen ging er nach Hause.

Eigentlich hatte er vorgehabt, sich den ganzen Abend um Quibus zu kümmern und ihn sich eingewöhnen zu lassen. Doch vor seiner Haustür erwartete ihn unliebsamer Besuch.

Hausdrachengeheimnis

Wynni blickte Jelto vom Ausgang der Halle aus nach, bis er über den Hof durch das Tor und weiter hinter der nächsten Straßenecke verschwunden war. Erst dann wagte sie es, tief durchzuatmen. Was hatte sie sich dabei gedacht, ihm so viel über die Registrierung der Drachen und das Zuchtverzeichnis zu erzählen? Zum Glück hatte er nicht bemerkt, dass sie seine Nachfrage, warum sie fürchte, die Schreiberlinge könnten mit Quibus’ Namen überfordert sein, nicht beantwortet hatte. Weil dieser Qu-Laut eine komplizierte Sache war und nicht alle Schreiberlinge das gesamte Alphabet gut genug beherrschten. Aber das verstand nur, wer selbst schreiben und lesen konnte.

Ab dem Moment war sie viel zu nervös gewesen, um weiter unbefangen zu plaudern. Und ihr guter Eindruck, den sie bisher von Jelto gehabt hatte, hatte sich gewandelt.

»Ich halte dich jetzt nicht für eine dieser Buchfanatikerinnen«, äffte sie ihn mit verstellter Stimme nach. Sie ballte die Hände zu Fäusten. »Wenn du wüsstest! Aber ich halte dich jetzt für einen Verräter, von dem die Bücherjäger Informationen über versteckte Bücher erhalten. Ach, es gibt sie nicht? Hast du wirklich keine Ahnung, oder tust du nur so?« Sie drohte mit der Faust in die Luft und schloss dann die Halle. Das Tor zum Hof wurde selten verriegelt, da es auf dem Außengelände nichts gab, was sich zu schützen lohnte.

Mit hängenden Schultern ging Wynni zu dem Weidenkorb, in dem es inzwischen ruhig geworden war. Langsam, um die Taschendrachen darin nicht zu wecken, ließ sie ihn mit dem Flaschenzug zu Boden und öffnete anschließend die Volieren. Die Drachen würden sich selbst ihr Nest suchen und nur zu gern in der Nähe ihrer Futternäpfe bleiben, sobald diese erst einmal gefüllt waren. Meistens verschloss Wynni nicht einmal die Käfigtüren. Wen störte es schon, wenn ein Taschendrache des Nachts durch die Halle flog? Sicher, ihr Vater Coen sah es nicht gern, aber der ließ sich kaum noch in der Halle blicken.

Mit jedem vertrauten Handgriff ärgerte Wynni sich mehr über sich selbst. Ihre Mutter hatte sie immer gewarnt, niemandem zu vertrauen, wenn es um das Lesen und Schreiben, wenn es um Bücher ging. Das gesamte Thema war der Grund, warum sie Mann und Tochter verlassen hatte.

Falls Jelto herausfand, dass Wynni sehr wohl zu denjenigen gehörte, die er als buchfanatisch bezeichnete, konnte er ihr gefährlich werden – so wie jede andere Person in dieser Stadt. Ahnte er etwas? Hatte er gesehen, wie ihre Hände zwischendurch gezittert hatten?

Die Bücher und das Wissen daraus waren es ja nicht allein … Sie hütete mehr als ein Geheimnis. Sie musste aufpassen, wachsamer sein.

Wynni begab sich in den Lagerraum zu einer Kiste, füllte Näpfe mit Haferflocken und Leinsamen und verteilte diese in die Volieren. Ein paar Taschendrachen im Korb waren wach und verrieten sich durch gelegentliches Scharren und leises Knurren. Doch sie rührten sich noch nicht. Manchmal wirkte es, als spielten sie ein Spiel: Wer sich als Erstes auf den Napf stürzte, hatte verloren. Sobald nämlich ein Tier den Anfang machte, waren die anderen nicht mehr zu halten.

Nachdem Wynni in alle Volieren Futter gebracht hatte, füllte sie einen großen Becher und ging damit zu drei Käfigen, von denen zwei mit Tüchern verdeckt waren. Sie standen nahe beieinander –