Dunkle Wurzeln - Diana Menschig - E-Book
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Dunkle Wurzeln E-Book

Diana Menschig

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Beschreibung

Eine uralte Sage wird zur blutigen Realität: Der Mysterythriller „Dunkle Wurzeln“ von Diana Menschig & Alexa Waschkau jetzt als eBook bei dotbooks. Wenn die Vergangenheit zur Bedrohung wird … Vor 20 Jahren wurden in einem kleinen Dorf im Schwarzwald Kinder entführt und brutal ermordet. Allein Lena und Nick konnten den Fängen des Täters entkommen. Nun glaubt Lena, von einem unheimlichen Schattenwesen verfolgt zu werden und flieht in den Wald. Verzweifelt versucht sie, ihre Freunde per Handy zu erreichen – aber kann sie ihnen wirklich vertrauen? Jetzt als eBook kaufen und genießen: „Dunkle Wurzeln“ von Diana Menschig & Alexa Waschkau. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Über dieses Buch:

Wenn die Vergangenheit zur Bedrohung wird … Vor 20 Jahren wurden in einem kleinen Dorf im Schwarzwald Kinder entführt und brutal ermordet. Allein Lena und Nick konnten den Fängen des Täters entkommen. Nun glaubt Lena, von einem unheimlichen Schattenwesen verfolgt zu werden und flieht in den Wald. Verzweifelt versucht sie, ihre Freunde per Handy zu erreichen – aber kann sie ihnen wirklich vertrauen?

Über die Autoren:

Diana Menschig, geboren 1973, eröffnete einen eigenen Spieleladen, nachdem sie lange Zeit im Personalmanagement und der Marktforschung arbeitete. Heute ist sie als selbständige Dozentin sowie Autorin tätig. Da ihr das Phantastikgenre eine Herzensangelegenheit ist, gründete sie mit einigen Mitstreitern im Januar 2016 das „Phantastik-Autoren-Netzwerk“ (PAN), in welchem sie den Vorstandsvorsitz inne hat.

Die Website von Diana Menschig: www.seitenrauschen.de

Alexa Waschkau, geboren 1974, studierte Volkskunde/Europäische Ethnologie und ist heute als Autorin und Journalistin tätig. Für den erfolgreichen Podcast „Hoaxilla“ klärt sie regelmäßig über Moderne Sagen, Esoterik und Verschwörungstheorien auf und liest für ihre Hörer aus Werken der düsteren Art vor. Nach der Publikation mehrerer Sachbücher ist „Dunkle Wurzeln“ ihr erster Roman.

Alexa Waschkau im Internet: www.hoaxilla.com

***

Originalausgabe September 2016

Copyright © 2016 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Redaktion: Ralf Reiter

Titelbildgestaltung: Johannes Frick, Neusäß, unter Verwendung eines Bildmotivs von Shutterstock/andreiuc88

E-Book-Herstellung: Open Publishing GmbH

ISBN 978-3-95824-520-4

***

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Diana Menschig & Alexa Waschkau

Dunkle Wurzeln

Mysterythriller

dotbooks.

20. September 2015

Ben

Ein Bingo-Abend im Pflegeheim seiner Großmutter war spannender als dieser Nachmittag in der Redaktion. Ben Schindler gähnte hinter vorgehaltener Hand, während er sich müßig durch die Angebote bei eBay klickte. Er suchte nach einer neuen Kamera und konnte sich nicht entscheiden, welche er überhaupt wollte.

Eigentlich hätte er längst Feierabend machen können. Die Freitagsausgabe des Schwarzwälder Boten war bereits in Druck, und es gab nichts mehr zu tun. Aber in seiner Wohnung würde er sich nur noch mehr langweilen. Er würde nie verstehen, was die Leute am Single-Dasein fanden, für ihn war das jedenfalls nichts. Vielleicht sollte er sich doch mal bei einer dieser Online-Partnerbörsen anmelden. Oder wenigstens eine Katze anschaffen.

Irgendein Wort oder sogar ein Satz ließ ihn aufhorchen und einen Blick zum dicken Fritz werfen, der am Schreibtisch gegenübersaß. Er hatte gar nicht mitbekommen, dass Fritz telefonierte. Wie immer hatte sich der Kollege zurückgelehnt und spielte mit den Hosenträgern, die sich über seinen Wanst spannten.

Als er merkte, dass Ben ihn beobachtete, grinste er, deutete mit dem Finger auf den Hörer und tippte sich anschließend an die Stirn. »... dann freue ich mich natürlich für Sie, dass Sie Ihre Tochter wohlbehalten wiedergefunden haben ... Ob ich was kenne? Strassberg? Natürlich kenne ich den Waldkindergarten und diese unselige Geschichte von damals. Hören Sie, ich bin seit fast vierzig Jahren Mitarbeiter des Boten. Aber ich wüsste nicht, was das eine mit dem anderen ... Ja, natürlich ... Nein, es gibt Meldungen, die nehmen wir nicht einmal in der Ferienzeit auf. Ich weiß nicht, was Sie sich da vorstellen ... Ja, selbstverständlich. Einen schönen Abend noch!« Fritz legte den Hörer auf. »Sie mich auch«, murmelte er mehr zu sich selbst. »Leute gibt’s.« Er nahm den Zettel der Mitschrift auf, zerknüllte ihn und warf ihn treffsicher in den Papierkorb.

Neugierig sah Ben ihn an und wartete darauf, dass Fritz sich endlich bequemte, ihm zu erklären, um was es bei diesem Telefonat gegangen war.

Fritz lehnte sich ein wenig vor, bis sein Bauch an die Schreibtischkante stieß. Nur noch ein paar Kilo mehr, dachte Ben, und sie müssten ihm vor der Rente doch noch eine Aussparung in den Schreibtisch sägen, damit er an seinen Kugelschreiber kam.

»Kennst du diese Typen, die mit aller Gewalt in die Zeitung wollen?«, sagte Fritz endlich, und Ben verdrehte prompt die Augen. Klar, von solchen Leuten lebte eine ganze Industrie Casting-Shows. Die, die für ein paar Sekunden Ruhm alles taten, oder eben für einen Artikel in der Zeitung, und sei er noch so klein. Hauptsache, der Name war richtig geschrieben.

»Dieser Mann hier«, fuhr Fritz fort und deutete auf das Telefon, »wollte, dass wir einen Artikel darüber schreiben, dass seine Tochter im Wald verschwunden war. Nicht dass wir uns falsch verstehen: Das Kind ist unversehrt wieder aufgetaucht. Der Kerl war mit Frau und Tochter im Wald irgendwas suchen … einen Crash? Gibt’s so was?«

»Einen Geo-Cache?«

»Richtig. Also er sucht da, das Kind verschwindet, und nach einer halben Stunde taucht es wieder auf. Unversehrt und ohne dem großen bösen Wolf begegnet zu sein. Und? Wo ist die Meldung, die ich in die Zeitung setzen könnte?«

»Hast du nicht eben etwas von einem Waldkindergarten gesagt?«

»Die waren in der Nähe dieses Geländes in Strassberg. Deshalb fanden sie es selbst ja so spannend: weil an diesem Spielplatz vor ungefähr zwanzig Jahren sechs Kinder verschwunden sind.« Fritz kniff seine Schweinsäuglein zusammen und musterte Ben abschätzend. »Kannst du dich an diese Sache erinnern, oder bist du zu jung dafür?«

Ben lächelte. So blutjung war er nun auch nicht mehr.

Er hatte sich entschieden, doch nach Hause zu gehen. Während er antwortete, schaltete er den Computer aus. »Ich erinnere mich sogar sehr gut. Ich war damals hautnah als Praktikant dabei. Das war, zwei Tage nachdem ich angefangen hatte.« Er unterdrückte ein Schaudern. Ihm war der ganze Vorfall richtig nahegegangen, und er war bis heute nicht halb so abgebrüht wie der dicke Fritz. Wenn er über ein schreckliches Unglück berichten musste, fiel es ihm manchmal schwer, professionelle Distanz zu wahren. Er fühlte einfach zu sehr mit, besonders wenn Eltern mit Kindern betroffen waren. Manche seiner Kollegen warfen ihm vor, er wäre zu weich für diesen Job, aber sein Chef schätzte die emotionsgeladenen Artikel, die daraus resultierten.

Fritz reckte einen Daumen in die Höhe, als wollte er Ben zu diesem spannenden Einstieg damals beglückwünschen. »Jedenfalls meinte der Herr Papa, sein Kind wäre sehr aufgewühlt gewesen und hätte fürchterlich geweint. Aber tun die das nicht immer, wenn sie verlorengehen?«

Ben zuckte mit den Schultern, zog seine Jacke über und angelte seine Umhängetasche unter dem Schreibtisch hervor. Gerade Fritz gegenüber gab er sich lieber kühl.

»Es hat geweint, geniest und gehustet und sich gar nicht mehr beruhigen lassen. Wenn du mich fragst, ist das Balg gegen irgendein Kraut allergisch. Herr Papa meinte, das wären dieselben Symptome gewesen, die viele Kinder damals in dem Waldkindergarten gehabt hätten. Was weiß ich, vielleicht ist seine Tochter in der Ruine herumgekrochen und hat Asbest eingeatmet? Wie auch immer, das Kind ist da und hat nichts außer ein bisschen Husten. Das will niemand lesen. Das ist nicht wie damals. Da wurden die Kinder umgebracht. Ratsch!« Er strich sich mit einem fetten Finger einmal quer über den Hals. »Weißt du, Ben, was mich an solchen Typen nervt? Wenn das Kind wirklich verschwunden ist oder tot aufgefunden wird, dann haben sie Besseres zu tun, als mich anzurufen und mir Bescheid zu geben. Solchen Meldungen muss man dann hinterherrennen. Aber wem erzähle ich das? Schönen Feierabend.«

Fritz stemmte sich mit der Grazie eines Walrosses hoch und stampfte in Richtung Toilette, während Ben fassungslos an seinem Schreibtisch stehen blieb. Meinte er das ernst? War sein Kollege auf die alten Tage nicht nur abgebrüht, sondern völlig abgestumpft, oder hatte er schon heimlich ein Feierabendbierchen getrunken?

Ben war sich nicht sicher, ob die ganze Sache wirklich so nichtig war. Jedenfalls wusste er nun, was ihn bei dem Telefonat hatte aufmerken lassen: die Erwähnung von Strassberg. Ja, er war dabei gewesen. Und er wusste sehr genau, dass die Kleinen dort im Waldkindergarten zum Zeitpunkt der Entführungen nicht nur ein bisschen gehustet und geweint hatten. Sie hatten gebrüllt und gekreischt, und einige waren rot angelaufen, weil sie vor lauter Husten und Würgen keine Luft mehr bekommen hatten. Ein Kinderarzt war dabei gewesen und hatte es kaum geschafft, sich um alle gleichzeitig zu kümmern. Hatte der nicht sogar später seinen eigenen Sohn gerettet? Der war auch entführt worden, daran erinnerte Ben sich genau. Wie hieß er noch? Es fiel ihm nicht mehr ein, aber das würde er leicht im Archiv herausfinden. Vor knapp einem Jahr erst hatte er eine Zusammenfassung der damaligen Ereignisse geschrieben.

Auf leisen Sohlen ging er zum Papierkorb und angelte den zerknüllten Zettel heraus. Wie es sich gehörte, hatte Fritz darauf den Namen des Anrufers und dessen Handynummer notiert.

Ben steckte ihn ein und wandte sich dem Ausgang zu. Gleich morgen würde er ein bisschen in den alten Artikeln wühlen, und vielleicht würde er den Mann anrufen und nach den Symptomen seiner Tochter befragen. Der dicke Fritz war ein schlauer Hund und witterte eine Story zehn Kilometer gegen den Wind. Aber er war auch ein Relikt, ein Dinosaurier aus alten Zeiten. Vor allem war er damals nicht dabei gewesen, sonst würde er nicht so reden. Die Ereignisse hatten niemanden kaltgelassen. Ben war sicher, dass er nicht der Einzige war, den monatelang Alpträume geplagt hatten.

Sechs Kinder waren entführt, vier davon getötet worden. Bis heute war nicht aufgeklärt, welcher kranke Geist dahintersteckte.

29. September 2015

Julia

Mit einem schweren Seufzer ließ Julia Cramer den vollgepackten Aktenordner auf den Küchentisch und gleich darauf sich selbst auf einen der blau gestrichenen Holzstühle fallen. Als Chris, ihr Mitbewohner, keine Reaktion auf diese dramatische Geste zeigte, sondern weiterhin die Nase in sein Buch steckte, zog sie einen zerknitterten Zettel aus dem Ordner und legte ihn ihm einfach auf die Seiten.

»Schau dir das an, Chris. Das sind die Seminare, in die ich noch reingekommen bin. Ich kann von Glück reden, dass ich das Modul Unternehmensführung schon letztes Semester gemacht habe, da hätte ich diesmal keine Chance gehabt.«

Chris hob nun doch den Kopf und sah sie mit zusammengekniffenen Augen an, als versuchte er, den Sinn der Worte zu erfassen.

Trotz ihrer schlechten Laune musste sie über den abwesenden Blick ihres Ex-Freundes lächeln. Die dunkelblonden Haare standen ihm wie immer in allen Richtungen vom Kopf ab und hätten mal wieder einen Friseurbesuch vertragen können. Das schwarze T-Shirt einer obskuren Metal-Band und die dunkelblaue Jogginghose verrieten, dass er sich noch nicht wieder im Universitäts-, sondern im Ferienmodus befand.

Einige Wochen zuvor hatte er Julia in ernstem Ton verkündet, dass er sich eine kleine Auszeit nehmen werde. Und das hatte er auch konsequent durchgezogen, jedenfalls soweit ihm das möglich war, ohne zu viel Zeit für die Vorbereitung des Staatsexamens zu verlieren. Dass er dennoch ständig über Büchern hockte – nicht über Gesetzestexten, sondern solchen, die vom Kennedy-Mord, von UFOs oder dem Bermudadreieck handelten –, wunderte Julia nicht im Geringsten. Das war typisch für ihn und seinen Hang zu spinnerten Theorien. Zum Beispiel die Behauptung, dass die Amerikaner niemals auf dem Mond gelandet wären, sondern die Landung von Apollo 11 nur inszeniert hätten. Diese und andere Verrücktheiten pflegte er bei Diskussionen aufs Heftigste zu verteidigen und schien dabei an den wilden Spekulationen auch noch Spaß zu haben. Standen jedoch Vorlesungen oder Prüfungstermine an, konnte er sich in null Komma nichts vom Nerd in den seriösen, anzugtragenden Juristen in spe verwandeln.

Sie beobachtete, wie er langsam den Weg aus dem Buch zurück ins Hier und Jetzt fand. Sein verwirrter Gesichtsausdruck brachte sie zum Lachen. »Meine Güte, was liest du denn schon wieder? Du warst ja völlig weg!«

Er strich sich gedankenverloren ein paar Haarfransen aus der Stirn. »Ein Buch über Kryptographie. Verschlüsselung von Texten. Wie war es an der Uni? Der übliche Kampf um die Seminarplätze? Du Arme!« Endlich hatte er den Ernst der Lage erkannt und brachte das notwendige Mitleid auf.

Julia nickte und rollte mit den Augen. »Immerhin, für das Hauptseminar in Makroökonomik habe ich noch einen Platz bekommen. Insofern hätte es schlimmer kommen können.« Sie stand auf, füllte den Wasserkocher und nahm zwei Becher aus dem Geschirrschrank. »Tee?«, fragte sie Chris, der daraufhin nickte und das Buch zuklappte.

»Was meinst du, gehen wir heute noch zu Michael und Sue?«, fragte er. Ihm war anzuhören, dass ihn die Vorstellung nicht gerade begeisterte.

Julia fischte zwei Teebeutel aus dem Karton, drehte sich um und grinste. »Ich habe natürlich zugesagt, ich weiß doch, wie sehr du dich darauf freust.« Als sie seine finstere Miene sah, fügte sie schnell hinzu: »Nein, das war ein Scherz. Die beiden können gar nicht und haben das Treffen abgeblasen. Entwarnung.«

Chris atmete hörbar auf. Er war nie ein Partymuffel gewesen, aber in den letzten Wochen hatte er sich sehr zurückgezogen und in der Wohnung verkrochen. Nach einem kritischen Blick in seine Richtung drehte sie sich wieder zur Küchenzeile um. Diese neue Introvertiertheit lag bestimmt nur am Examensstress. Sie nahm sich vor, in der nächsten Zeit ein Auge darauf zu haben, dass er sich nicht allzu sehr von ihren Freunden abkapselte.

Gerade als der Wasserkocher zu brodeln begann und sich ausschaltete, klang ein gedämpfter Glockenton durch die Küche. Julia hielt in der Bewegung inne und nahm ihre Tasche, die neben dem Tisch auf dem Boden stand. Nach einigem Wühlen fand sie den Ursprung des Tons. Ihr Smartphone zeigte an, dass sie eine SMS bekommen hatte.

»Von Lena«, sagte sie laut, als sie Chris’ fragenden Blick bemerkte. Dann las sie und runzelte die Stirn. »Was soll denn der Quatsch?«, murmelte sie und starrte verwirrt auf das Display.

»Wieso, was schreibt sie denn? Was ist denn los?«, fragte Chris und rutschte unruhig auf dem Stuhl herum.

»Ich verstehe es nicht. Lena schreibt: Er kommt näher. Sonst nichts.« Sie sah Chris ratlos an. »Ich werde sie fragen, was sie meint. Vielleicht wollte sie schreiben, dass sie heute kommt, und die Autokorrektur hat es verstümmelt oder so. Passiert mir auch ständig.« Schnell tippte sie eine Antwort, dann legte sie das Handy auf den Tisch und stellte den Wasserkocher erneut an.

Kurz darauf goss sie die beiden Becher voll.

»Wäre ja schön, wenn sie heute wirklich zurückkommt.« Chris lächelte versonnen. »Sie hat wochenlang nichts von sich hören lassen.«

Julia reichte ihm einen Becher. »Wollte sie nicht nach ... wie heißt das Kaff noch mal, wo sie herkommt?«

»Strassberg. Schwarzwald. Ihr Elternhaus ist endlich verkauft worden, und sie muss deswegen zum Notar.« Mit einem nicht zu deutenden Gesichtsausdruck rührte Chris den Tee um.

»Woher weißt du das denn?«

»Sie hat es mir erzählt, ganz einfach.«

»Kein Grund, patzig zu werden.« Julia war erstaunt. Das klang schon fast nach einem schlechten Gewissen. Vollkommen unnötig, denn sie wusste ohnehin, dass Chris sich zu Lena hingezogen fühlte.

Sie und Lena hatten sich Ende des Wintersemesters auf einer der vielen Semesterendpartys kennengelernt. Da war Julia noch mit Chris zusammen gewesen. Trotzdem hatte sie aus einer Laune heraus von dem freien Zimmer in ihrer Wohnung erzählt. Sie hatte die schüchterne, aber herzliche Englischstudentin sofort gemocht. Obwohl Lena nur ein Jahr jünger war als sie selbst, hatte sie Mutterinstinkte in ihr wachgerufen. Dass Chris auf die zierliche, dunkelhaarige Lena fliegen würde, hätte ihr eigentlich klar sein müssen.

Wann hatte das angefangen? Wahrscheinlich hatte sie vor ihm selbst gemerkt, dass er sich in die neue Mitbewohnerin verliebt hatte. Und auch jetzt hatte er mit Sicherheit keine Ahnung, dass sie von seinen Gefühlen für Lena wusste. Und er wagte ja auch keinen Vorstoß bei ihr, obwohl Julia sich schon Anfang des Jahres von ihm getrennt hatte. Vielleicht lag es an Lenas Ausstrahlung, dass Männer sie grundsätzlich lieber beschützen und verehren als anbaggern wollten. Im Gegensatz zu ihr selbst war Lena eben Prinzessin statt Kumpeltyp.

Julia seufzte und schob diesen Gedanken beiseite. Sie nahm einen tiefen Schluck Tee. Erst jetzt merkte sie, dass Chris mit ihr sprach. »... anrufen. Oder?«

»Was? Was hast du gesagt?« Sie sah ihn verwirrt an.

»Ich finde, du solltest Lena anrufen«, wiederholte er. »Sie antwortet nicht.«

»Findest du das nicht etwas übertrieben?«, wandte sie ein, doch dann bemerkte sie seinen besorgten Blick. »Na, wenn du meinst.« Sie nahm das Smartphone vom Tisch und wählte die Nummer. Nach einiger Zeit hörte sie Lenas Stimme: »Hallo, dies ist die Mailbox von Elena Unger. Ich kann zurzeit nicht drangehen, bitte hinterlassen Sie eine Nachricht nach dem ... na, Sie kennen das ja.« Es folgte ein durchdringender Piepton.

»Hallo, hier ist Julia. Wenn du das abhörst, ruf mich doch bitte zurück, ja? Wir haben deine SMS bekommen und können mit deiner Nachricht nichts anfangen.« Julia beendete die Verbindung und legte das Telefon weg.

»Es passt nicht zu ihr, geheimnisvolle Nachrichten zu schreiben und dann in der Versenkung zu verschwinden. Ich glaube jedenfalls nicht, dass sie sich bei der SMS vertippt hat.« Chris war aufgestanden und ging zum Fenster. Die Septembersonne schien warm durch die Scheibe, brachte allerdings auch ans Licht, dass die WG-Bewohner schon länger keine Fenster mehr geputzt hatten.

Nervös trommelte er auf die Fensterbank.

Julia sah ihn besorgt an. »Findest du nicht, dass du total übertreibst? So geheimnisvoll ist diese Nachricht nun auch wieder nicht. Jetzt beruhige dich doch erst mal wieder. Es kann alles Mögliche heißen.« Trotz der gemütlichen Atmosphäre der WG-Küche lief ihr ein kurzer Schauder über den Rücken. Dann schimpfte sie innerlich mit sich selbst, dass sie wieder einmal kurz davor war, sich von Chris’ melodramatischer Vorstellung anstecken zu lassen. Er witterte doch ohnehin an jeder Straßenecke Verschwörungen und Verbrechen. Manchmal kam ihr sein ewiges Misstrauen schon wie Paranoia vor.

»Trink deinen Tee und entspann dich, Chris. Wir werden sie schon erreichen.« Der beschwichtigende Tonfall gelang ihr nicht ganz, aber im Gegensatz zu ihm würde sie sich nicht in wilden Spekulationen über diese unverständliche SMS ergehen.

Sie stand auf, nahm den verlassenen Teebecher und ging zu Chris. Freundschaftlich legte sie den Arm um seine Schultern und drückte ihn kurz.

Dankbar sah er sie an und lächelte. »Du hast mit Sicherheit recht. Ich bin ein Idiot«, sagte er leise.

Julia zwinkerte ihm aufmunternd zu und reichte ihm den Becher. »Klar habe ich recht. Los, abwarten und Tee trinken! Ich wette, in ein paar Minuten ruft Lena an, liefert uns eine Erklärung, und wir lachen uns kaputt.«

Als sie zum Küchentisch zurückkehrte, merkte sie, wie ein plötzlicher Hustenreiz einsetzte. Die Atemnot, die damit einherging, kannte sie zur Genüge: Ihr Asthma meldete sich. Es gelang ihr nicht, den Husten zu unterdrücken, und sie stützte sich mit gekrümmtem Rücken an der Tischplatte ab. Aufrichten. Atmen. Ein. Aus. Ein. Aus. Ein. Aus. Sie sprach sich die Worte im Geiste vor und atmete tief ein und hörbar aus, wie sie es gelernt hatte. Nach ein paar Minuten verschwanden Hustenreiz und Atemnot langsam, zurück blieb ein unbestimmtes Gefühl der Schwäche. Ihre Knie zitterten. Erleichtert, den Anfall auch ohne ihr Spray überstanden zu haben, setzte sie sich. Sie sah, wie Chris sie voller Angst anstarrte.

»Hey, das war nur ein kleiner Anfall!«, sagte sie mit einem schiefen Lächeln. »Es gab schon schlimmere. Was ist denn los, Chris?«

»Du sagst, Lena ruft an und es geht ihr bestimmt gut, und direkt danach bekommst du einen Asthmaanfall! Du machst dir auch Sorgen, das ist los!« Chris wirkte aufgewühlt.

»Nein, ich wundere mich, Chris, das ist ein gewaltiger Unterschied! Soll mein Asthma jetzt auch schon Teil einer Verschwörung sein?« Sie schloss kurz die Augen, um sich auf das Abklingen der Symptome zu konzentrieren. Dann sagte sie, um Gelassenheit ringend: »Ich weiß wirklich nicht, was du glaubst, was diese SMS für einen Hintergrund haben soll. Lena ist in Strassberg. Sie verkauft das Haus ihrer Eltern. Und dann kommt sie zurück und ist bestimmt froh, dass endlich alles geregelt ist. Was soll in so einem Dorf mitten im Schwarzwälder Nirgendwo überhaupt passieren? Da kennt jeder jeden, und jeder bekommt alles mit. Schlimmstenfalls gibt es Schwierigkeiten mit dem Notar, und sie braucht ein paar Tage länger. Na und?«

Noch immer wirkte Chris nicht überzeugt. Er lehnte, den Teebecher in der Hand, an der Fensterbank und kaute nachdenklich auf seiner Unterlippe. »Also, dass Strassberg ein Kaff im Nirgendwo ist, muss nicht bedeuten, dass dort nichts passieren kann. Ich weiß auch nicht, warum ich das Gefühl habe, dass es Lena nicht gutgeht. Ich finde es einfach merkwürdig, dass wir die ganzen Semesterferien nichts von ihr hören, nicht einmal eine Postkarte bekommen, und sie jetzt so eine SMS schickt. Er kommt näher. Das könnte doch bedeuten, dass jemand sie verfolgt!«

Inzwischen ging er vor dem Fenster auf und ab. Man konnte förmlich sehen, wie die Gedanken durch seinen Kopf rasten.

Langsam und mit Nachdruck schüttelte Julia den Kopf. »Sie hat sich vertippt, glaub mir doch! Sieh es mal logisch: Angenommen, du bist ganz allein auf weiter Flur und stellst fest, dass jemand dich verfolgt und dir etwas antun will. Was würdest du machen? Deiner Mitbewohnerin am anderen Ende des Landes eine SMS schreiben, aus der sie gar nicht schlau werden kann? Oder vielleicht doch lieber den Notruf wählen oder zumindest jemandem Bescheid sagen, wo du bist und was los ist?« Sie hoffte, dass Chris nicht mitbekam, dass sie trotz ihrer nüchternen Worte immer wieder einen Blick auf das Handy-Display warf und auf einen Anruf hoffte. Seine Unruhe war einfach zu ansteckend, doch er sollte auf keinen Fall denken, dass auch sie in Panik geriet.

Diese Situation lief ganz nach dem üblichen Muster ab. Chris regte sich über irgendetwas auf oder machte sich wahnsinnige Sorgen, und Julia versuchte, ihn wieder auf den Teppich zu holen. In solchen Momenten fühlte sie sich viel älter als er, dabei war sie ein Jahr jünger. Und trotzdem übernahm sie, wie so oft, die Mutterrolle. Dass sie es hasste wie die Pest, brachte wenig. Es machte ihr mit einem Schlag wieder klar, warum Chris zwar ein toller Kumpel, aber kein Typ war, mit dem sie sich langfristig auf eine Beziehung einlassen konnte. Manche Dinge ändern sich eben nie.

Sie trank einen Schluck Tee, verzog angewidert das Gesicht und kippte das kalt gewordene Gebräu in die Spüle. Vielleicht sollte sie doch versuchen, Chris zum Ausgehen zu überreden. Da das Treffen ausfiel, konnten sie ja zusammen etwas unternehmen. Ein wenig Ablenkung würde ihnen beiden guttun. Und wenn Lena sich bis morgen nicht gemeldet hatte, würden sie überlegen, wie sie ihre Mitbewohnerin erreichen könnten.

***

Drei Stunden später saß Julia neben Chris in einem gemütlichen Kinosessel und versuchte, sich auf die Verfolgungsjagd auf der Leinwand zu konzentrieren. Sich einen Actionfilm anzusehen war der Kompromiss, auf den sie sich mit ihm geeinigt hatte, um ihn wenigstens für kurze Zeit aus den heimischen vier Wänden zu locken. Mit einem Schmunzeln musste sie an ihr erstes Date denken. Auch da waren sie im Kino gewesen, und auch da hatten sie sich keine romantische Komödie angesehen. Welcher Film es genau gewesen war, daran konnte sie sich nicht mehr erinnern. Sie hatte anderes im Kopf gehabt.

Plötzlich richtete sich Chris in seinem Sitz auf wie von der Tarantel gestochen. Seine Hand krallte sich um die Popcorntüte, und der Inhalt verteilte sich auf dem Boden vor ihnen. »Sie hatte Angst!«

Julia glaubte, sich verhört zu haben. »Wer hatte Angst? Wovon sprichst du?«, zischte sie aufgebracht.

Langsam wandte er sich zu ihr um. »Lena. Jetzt erinnere ich mich. Am Abend, bevor sie abgereist ist, habe ich mit ihr über die Reise und auch die Sache mit dem Hausverkauf gesprochen. Und sie meinte, sie habe ein mieses Gefühl, nach so langer Zeit wieder nach Strassberg zu fahren. Sie wirkte so ... angespannt.«

Resigniert schloss Julia die Augen. Ihr Plan mit der Ablenkung war dann wohl gescheitert. »Chris, es ist doch völlig klar, dass Lena ein bisschen nervös war, das alles allein regeln zu müssen. Es ist bestimmt nicht einfach, den Ort, an dem man aufgewachsen ist, nach so vielen Jahren wiederzusehen. An jeder Ecke Erinnerungen. Das würde jedem an die Nieren gehen.«

»Aber warum geht sie nicht ans Handy?« Chris’ Stimme klang wie die eines verlorenen kleinen Jungen.

»Ruhe da vorn!«, klang es hinter ihnen.

Julia beugte sich näher zu ihm und flüsterte: »Ich weiß es nicht. Vielleicht hat sie schlechtes Netz, einen leeren Akku oder weiß der Himmel was für ein Problem. Jedenfalls ist sie weder von Außerirdischen entführt worden noch Opfer einer geheimen Regierungsverschwörung geworden.« Sie sah an seinem Gesichtsausdruck, dass der Versuch, einen Scherz zu machen, gründlich danebengegangen war.

Chris wandte sich wieder der Leinwand zu. An den hektischen Bewegungen, mit denen er das Popcorn in sich hineinstopfte, konnte sie erkennen, dass er genau wie sie nicht mehr bei der Sache war.

In den Stunden seit ihrem Gespräch in der Küche hatte Julia mehrmals versucht, Lena anzurufen und immer nur die Mailbox erreicht. Langsam wusste sie nicht mehr, wie sie Chris beruhigen sollte. Sie musste sich schnell etwas einfallen lassen, bevor er durchdrehte und auf dumme Ideen kam. Sie seufzte und schielte auf das stumm geschaltete Telefon. Sie wünschte sich wirklich, Lena würde sich endlich melden. Einfach nur, damit wieder Ruhe einkehrte. Doch das Display blieb dunkel und die Erlösung aus.

Ein Tag zuvor

28. September 2015

Lena

»Das sollte dann alles gewesen sein, Frau Unger. Haben Sie noch irgendwelche Fragen?« Der ältere Herr im tadellos sitzenden Anzug, dessen graue Schläfen ihm ein seriöses und vertrauenswürdiges Aussehen verliehen, lächelte Lena freundlich an.

»Nein ... Ich bin froh, dass es vorbei ist, ehrlich gesagt.« Lena lächelte entschuldigend und schob den bequemen schwarzen Ledersessel zurück. Als sie aufstand, sah sie sich noch einmal in dem modern eingerichteten Büro um, in dem sie in den letzten Tagen etliche Stunden gemeinsam mit dem Notar über Unterlagen und Verträgen gebrütet hatte.

Eigentlich wäre für einen Juristen in einem kleinen Schwarzwaldstädtchen wie Strassberg eine Einrichtung aus altmodischem Eichenholz passender gewesen, fand sie. Passender, aber nicht unbedingt angenehmer. Sie war überrascht gewesen, als sie den hellen Raum zum ersten Mal betreten und die Designermöbel und teuren Kunstdrucke gesehen hatte. Zusammen mit dem zuvorkommenden und sympathischen Auftreten des Notars hatte die Atmosphäre dafür gesorgt, dass ihr das Abwickeln der Bürokratie nicht ganz so schwergefallen war wie erwartet.

Strassberg wiederzusehen, ein Jahr nach dem Tod ihrer Eltern, die bei einem Autounfall in England umgekommen waren, noch einmal durch ihr Elternhaus zu gehen, um die neuen Besitzer bei ihrer letzten Besichtigung vor dem Abschluss des Kaufvertrags zu begleiten, von jedem Raum und jeder damit verbundenen Erinnerung Abschied zu nehmen, all das war um einiges aufwühlender gewesen, als sie ohnehin schon befürchtet hatte.

Obwohl sie schon vor Jahren zu Hause ausgezogen war und sich mittlerweile in Berlin ein eigenes Leben aufgebaut hatte, war sie von dem Gefühl überwältigt worden, ihre Kindheit noch einmal im Schnelldurchlauf zu erleben, nur um danach für immer damit abzuschließen.

Bevor ihre Gedanken wieder in Sentimentalitäten abdriften konnten, straffte sie entschlossen die Schultern. »Herr Doktor Brandt, ich möchte mich herzlich für die Unterstützung und Hilfe bedanken.« Lena hielt dem Anwalt ihre Hand hin.

»Gern, Frau Unger. Es hat mich gefreut, Sie kennenzulernen.« Mit festem Händedruck verabschiedete er sie und wies dann mit einer einladenden Geste zur Tür. »Bitte, nach Ihnen. Ich begleite Sie noch hinaus.«

Vor dem Haus, einer alten Villa vermutlich aus den dreißiger Jahren, blieb Lena kurz stehen. Sie schloss die Augen und atmete aus. Das war es also. Damit war das Kapitel Strassberg endgültig abgeschlossen. Formal zumindest. Tatsächlich hatte sie noch ein paar Tage Zeit, bevor sie nach Berlin zurückfahren musste und das neue Semester begann.

Gedankenverloren ging sie durch die altbekannten Straßen. Erst als sie am Ende der Straße, die zum Wald führte, das Haus ihrer Eltern sah, fiel ihr auf, dass sie ganz automatisch diesen Weg eingeschlagen hatte statt den zu der kleinen Pension Erika, in der sie untergekommen war. Traurig lächelnd betrachtete sie das zweistöckige Gebäude, das ihr Vater selbst mit Holz verkleidet und renoviert hatte. Der große Garten mit den Apfelbäumen war ohne seine sorgsame Pflege inzwischen verwildert. Dort, mitten auf der Wiese, stand der Baum, auf dem sie Klettern geübt und sich dabei den Arm gebrochen hatte. Wenn sie sich richtig erinnerte, hatte ihre Mutter die schreiende und heulende vierjährige Tochter unter Missachtung sämtlicher Verkehrsregeln ins nächste Krankenhaus gefahren und ihr zum Trost für die Woche Klinikaufenthalt, die ihr wie ein Alptraum erschienen war, einen großen knopfäugigen Teddy geschenkt.

Danach hatten die Eltern im Garten eine Schaukel und einen kleinen Kletterturm aufgestellt, um den Apfelbaum als Unfallquelle künftig auszuschließen. Lena hatte beides geliebt, zumindest bis ganz in der Nähe der neue Waldkindergarten samt riesigem angrenzenden Spielplatz gebaut worden war. Dort hatten die Kinder von Strassberg nach Herzenslust klettern, wippen, schaukeln und im nahe gelegenen Flüsschen Dämme bauen und Boote schwimmen lassen können.

Ob es den Spielplatz wohl noch gab? Wenn sie sich nicht irrte, war er nicht allzu tief im Wald gewesen, nur einen kurzen Spaziergang vom Elternhaus entfernt. Ohne nachzudenken, folgte sie der Straße vorbei am Haus ihrer Eltern bis zum Waldrand. Dort begann ein asphaltierter Forstwirtschaftsweg, von dem ein Waldweg abzweigte und den Berg hinaufführte. Am Straßenrand wies eine Karte auf die vielen malerischen Wanderwege der Umgebung hin.

Während Lena versuchte, sich auf dem Plan zu orientieren, fiel ihr eine Abkürzung ein, die querfeldein zum Waldspielplatz führte. Sie musste nur dem Waldweg ein Stückchen den Berg hinauf folgen, bis sie zu dem kleinen Flüsschen Engernach kam, das dort mit erstaunlicher Geschwindigkeit vorbeifloss. Einige Minuten Fußweg stromaufwärts, und sie käme direkt beim Spielplatz an. Natürlich gab es noch den offiziellen Anfahrtsweg. Aber um den zu erreichen, hätte sie einmal quer durch den Ort und dann noch um die Weiden eines Gestüts herumlaufen müssen, viel zu weit für eine kleine Tour.

Der Tag war angenehm warm und sonnig und die Aussicht auf einen Spaziergang verlockend. Wirklich gut ausgerüstet war sie für eine Kletterpartie abseits der Wege nicht, aber das hatte sie als Kind auch nie gestört.

Sie zog ihre Strickjacke aus, band sie um die Hüften und machte sich auf den Weg. Schon nach ein paar Metern auf dem Waldweg verwandelten die hohen Nadelbäume den Sonnenschein in ein grünes Zwielicht. Der Boden federte und knackte gedämpft unter ihren Füßen, und sie atmete tief den Duft der Tannen ein. Sie konnte förmlich spüren, wie mit jedem Schritt die Anspannung der letzten Tage von ihr abfiel.

Bald hörte sie das Gurgeln der Engernach. Der Lauf war zu tief und zu breit, um darüberzuspringen, und so blieb sie am diesseitigen Ufer und arbeitete sich bergauf voran. Es fiel ihr leicht, die Gedanken, die ihr seit der Ankunft hier durch den Kopf gerast waren, loszulassen und sich ganz darauf zu konzentrieren, nicht auf den bemoosten Steinen auszurutschen, die das Ufer säumten. Ab und zu unterbrach eine kleine Stufe den Lauf; weiße Gischt schäumte auf und ließ die Felsbrocken tückisch glatt werden.

Die Bäume bildeten ein dichtes Dach, durch das nur an wenigen Stellen Sonnenlicht bis zum Boden drang. Sobald sich eine Wolke vor die Sonne schob, wurde es sogar richtig düster, und Lena konnte kaum noch erkennen, wo sie hintrat. Gerade, als sie sich eingestehen musste, dass es eine Schnapsidee gewesen war, den Berg neben dem Flussbett hinaufzuklettern, statt den Wanderweg zu benutzen, sah sie in ein paar Metern Entfernung die Forststraße. Sie beschloss, das Klettern lieber Wanderern mit entsprechendem Schuhwerk zu überlassen und den Rest der Strecke auf dem breiten, sandigen Weg zurückzulegen.

Tatsächlich war es nur noch ein kurzer Marsch, bis sie das Gebäude des alten Waldkindergartens sah. Vor den offen stehenden Flügeln des hölzernen Tors, das auf das Gelände führte, blieb sie stehen. Der Eingang war von einem brüchigen Spalier überkront, um das sich Efeu rankte. Das Schild mit der Aufschrift Waldkindergarten in der Mitte hing schief und war kaum noch zu entziffern.

Zögernd trat Lena näher und versuchte einen der Torflügel weiter aufzudrücken, bis sie feststellte, dass er von einem hochstehenden Grasbüschel blockiert wurde. Sie trat ein paarmal dagegen, bis es sich lockerte und den Torflügel freigab.

Sie schlüpfte hindurch und sah sich um. Hier war schon lange niemand mehr gewesen, vor allem keine Kinder oder Erzieher. Der Holzzaun, der das langgezogene, einstöckige Gebäude mit dem Flachdach aus Schiefer umgab, war zum Teil umgestürzt und verfallen. Gras wuchs auf dem Dach des Hauses, und von den meisten Fensterscheiben waren nur noch Splitter im Rahmen zurückgeblieben.

Nicht sehr einladend, dachte Lena und widerstand dem Impuls, auf dem Absatz kehrtzumachen und sich zurück in die Beschaulichkeit des Städtchens zu flüchten. Das gesamte Gelände wirkte so deprimierend und verlassen, dass sie plötzlich tiefe Trauer überkam, als hätte sie einen großen Verlust erlitten. Und irgendwie war ihr nicht mehr wohl zumute bei dem Gedanken, hier mutterseelenallein im Wald in einer alten Ruine herumzukriechen. Beinahe kam sie sich vor, als ob sie eine Totenruhe störte.

Sie atmete tief ein, dann rief sie sich energisch zur Ordnung.

Du bist so ein Weichei, das ist nur ein leeres Haus und viel Natur drum herum und nichts, wovor man sich gruseln muss! Sie ärgerte sich, dass ein wenig Stille und Abgeschiedenheit sie in Angst und Schrecken versetzen konnte. Scheinbar war sie wirklich ein Kind der Großstadt geworden. Aber jetzt war sie hier und würde sich den Kindergarten aus der Nähe ansehen, wie es schließlich ihr Plan gewesen war.

Vorsichtig, um nicht über Wurzeln oder Kaninchenlöcher zu stolpern, betrat sie das Gelände und suchte den Eingang auf der anderen Seite des Hauses. An der Außenwand, die von der Straße abgewandt lag, verzierten zahlreiche Abdrücke von Kinderhänden das Mauerwerk, noch immer erkennbar, auch wenn die Farben inzwischen ziemlich verblasst waren. Was wohl aus den ganzen Kindern geworden war? Lena lächelte wehmütig. Sie hatte das Gleiche mal an ihren Zimmerwänden versucht, als sie zum Geburtstag neue Fingerfarben geschenkt bekommen hatte. Die Tage darauf hatten sie und ihr Vater dann mit dem Streichen des Zimmers verbracht.

Der Haupteingang des Kindergartens bestand aus einem Türsturz ohne Tür, da selbige zerborsten im Inneren des Hauses in einer Ecke lag. Ein Blick in die Räume rechts und links des Flurs mit ihren herabhängenden Tapeten und schuttbedeckten Böden genügte, dass Lena keine sonderliche Lust mehr verspürte, das Gebäude weiter zu erforschen. Hier gab es ja doch nichts zu sehen, was hatte sie auch erwartet? Sie konnte sich ohnehin nur bruchstückhaft an ihre Kindergartenzeit erinnern.

Stattdessen wandte sie sich um und schlenderte langsam durch das hohe Gras zurück in Richtung Garten. Weiter hinten, jenseits der Wiese, war der Spielplatz gewesen. Damals hatte er wohl noch auf einer Lichtung gelegen, direkt am Waldrand. Doch im Laufe der Zeit hatte die Natur das Gelände des Kindergartens Stück für Stück zurückerobert. Erst auf den zweiten Blick entdeckte Lena zwischen armdicken jungen Bäumen, hüfthohen Farnwedeln und Brombeerranken die Reste von Schaukeln, Wippen und Klettergerüsten. Die meisten Spielgeräte waren aus Holz gefertigt und stark verwittert. Nur die Engernach gluckerte wie eh und je vor sich hin.

Eigentlich hatte das Ganze sogar etwas Malerisches.

Lena wischte ein wenig totes Laub von einer Plattform an einem Kletterhaus und setzte sich. Jetzt wirkte alles friedlich, immer noch einsam und traurig, aber nicht mehr beängstigend. Da war ein altes, baufälliges Haus, das die Behörden sicher bald komplett beseitigen würden, ein überwucherter Spielplatz, sonst nichts.

Sie genoss den Augenblick und hing ihren Gedanken nach. Bienen summten im Sonnenlicht, und ein paar Mücken tanzten in der spätsommerlichen Wärme, der Duft von Waldmeister lag in der Luft.

Das Summen wurde unvermittelt lauter. Verwirrt sprang Lena auf und sah sich suchend um, in der Erwartung, einen ganzen Schwarm Insekten zu sehen und sich gegebenenfalls in Sicherheit zu bringen. Die Tiere klangen angriffslustig. War sie, ohne es zu wissen, in die Nähe eines wilden Nests gekommen?

Aber da war nichts.

Plötzlich kam es ihr so vor, als habe das Summen alle anderen Geräusche verschluckt. Es dröhnte in den Ohren, durchdrang ihren Körper, und sie konnte regelrecht spüren, wie es jeden Nerv und jede Zelle in Schwingung versetzte.

Lena wurde übel. Was war das? Woher kam dieses Geräusch? Warum kam ihr auf einmal jeder Atemzug so schwer vor, als wäre sie unter Wasser?

Keine Panik, alles wird gut, das geht vorbei!

Sie taumelte, ließ sich auf einen umgestürzten Teil des Klettergerüsts sinken und zwang sich, gleichmäßig zu atmen. Ihr Hals fühlte sich an, als würde sie Schmirgelpapier schlucken. Sie bekam keine Luft mehr!

Lena würgte. Je verzweifelter sie nach Atem rang, desto weniger Sauerstoff schien in ihrer Lunge anzukommen ...

Leise, kaum wahrnehmbar, mischte sich ein Flüstern unter das Summen.

Lena fuhr herum und starrte angestrengt in den halbdunklen Wald. Ihre Nackenhaare stellten sich auf. Da war doch jemand, zwischen den Bäumen! Eine dürre, hoch aufgeschossene Gestalt mit unmöglich langen Gliedern. Wer war ihr da gefolgt?

Bevor sie einen weiteren Gedanken fassen konnte, war sie wie von selbst aufgestanden und stolperte, von krampfartigen Hustenanfällen geschüttelt, auf die Straße zu. Fast wäre sie über den am Boden liegenden Zaun gestürzt und konnte sich gerade noch abfangen. Der Husten schmerzte so sehr, dass sie sich nicht gewundert hätte, Blut zu spucken. Schleim sammelte sich in ihrem Rachen, und trotzdem blieb ihr Mund staubtrocken.

In Panik lief sie die Straße hinunter. Endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, erkannte sie die ersten Häuser von Strassberg und schluchzte vor Erleichterung. Am Ortsschild blieb sie stehen und klammerte sich völlig außer Atem an den eisernen Pfahl. Ihr Hals tat zwar noch weh, doch das Summen war nicht mehr zu hören. Sie räusperte sich noch ein paarmal, doch der quälende Hustenreiz war verschwunden. Erleichtert richtete sie sich auf und ging, immer noch mit weichen Knien, weiter.

In ihrem Zimmer in der Pension angekommen, schloss sie mit zitternden Händen die Tür ab und warf sich auf das frisch bezogene Bett. Was zum Teufel war das gewesen? Eine Panikattacke? Und wenn ja, warum gerade jetzt, wo alles, wovor sie Angst gehabt hatte, vorbei war? Hatte sie sich nur eingebildet, dass jemand sie aus dem Wald heraus beobachtet hatte?

Sie war völlig erschöpft, und ihr war lausig kalt. Erst jetzt bemerkte sie, dass ihr Tränen über die Wangen liefen. Ihr Hals brannte wie Feuer. Wie ein Kind rollte sie sich angezogen auf dem Bett zusammen, zog die Decke um den Körper und weinte sich in den Schlaf.

***

Als sie aufwachte, dauerte es einen Augenblick, bis sie wieder wusste, wo sie war. Die Sonne schien noch, stand aber schon merklich tiefer. Die Luft im Zimmer war zum Schneiden. Lena fasste sich an die Stirn und bemerkte einen dünnen Schweißfilm. Kein Wunder, dass sie Kopfschmerzen hatte. Während sie sich mit den Fingerspitzen die Schläfen massierte, taumelte sie zum Fenster und riss es auf. Der leichte Wind, der hereinwehte, war eine Wohltat.

Im Nachhinein kam ihr der Besuch beim alten Waldkindergarten wie ein schlechter Traum vor. Die Tannennadeln, die überall im Zimmer und auf dem Bett verstreut lagen, bewiesen jedoch, wie real ihre Wanderung gewesen war. Aber was war mit dem seltsamen Geräusch? Der Atemnot und dem Husten? Wahrscheinlich waren die letzten Tage doch zu viel für sie gewesen. Bestimmt war sie einfach vor lauter Stress zusammengeklappt. Kein Wunder eigentlich. Dummerweise würde sie keine Möglichkeit mehr haben, mal so richtig auszuspannen, denn in ein paar Tagen gingen die Vorlesungen, Seminare und der ganze Alltagstrott wieder los. Krankfeiern kam nicht in Frage. Oder doch? Ihr Hals fühlte sich immer noch wund an, vielleicht brütete sie eine Grippe aus? Laut seufzend beschloss sie, Nägel mit Köpfen zu machen.

Sie nahm ihre Tasche und verließ das Zimmer. An der Rezeption der Pension betätigte sie die altmodische Klingel.

»Ich komme!«, schallte es aus dem kleinen Raum hinter dem Tresen. Kurz darauf erschien Frau Eggers, die Inhaberin, höchstselbst. Sie lächelte aufmunternd. »Na? Was kann ich für Sie tun?«

»Gibt es hier einen Arzt in der Nähe? Einen, der jetzt noch Sprechstunde hat?« Auf den besorgten Blick der rundlichen Wirtin hin fügte sie hinzu: »Ist nichts Schlimmes, ich habe nur das Gefühl, ich bekomme eine Erkältung.«

»Sie Arme! Gehen Sie am besten zu Doktor Holtkamp. Der hat die Praxis vom alten Wagner übernommen, als der gestorben ist. Kirchgasse vier. Das ist auch schon wieder ein ganzes Jahr her. Schlimme Geschichte. Herzinfarkt. Einfach so. Dabei wollte er doch die Praxis ohnehin bald abgeben und in Rente gehen. Und er war noch gar nicht so alt! So ein armer Mann. Die ganze Stadt war bei der Beerdigung!«

»Ähm, danke, Frau Eggers, ich mach mich gleich auf den Weg«, unterbrach Lena den Redeschwall. Mit einem schwachen Lächeln wandte sie sich um und machte sich aus dem Staub. Anders war dem Mitteilungsbedürfnis der Wirtin nicht beizukommen. Vermutlich kannte die alte Dame die Lebensgeschichte jedes einzelnen Bewohners von Strassberg auswendig. Jedenfalls hatte sie Lena bei ihrer Ankunft begrüßt wie eine verloren geglaubte Enkelin. Behagt hatte ihr das nicht, aber sie konnte wenig dagegen tun, ohne unhöflich zu sein.

Wie alles in dieser kleinen Stadt war auch die Kirchgasse ganz in der Nähe, und Lena erinnerte sich wieder an die Besuche bei Doktor Wagner, der bis zum Teenageralter ihr Kinderarzt gewesen war. Er musste kurz nach ihren Eltern gestorben sein. Prompt verspürte sie wieder einen Kloß im Hals, doch sie schob den Gedanken entschlossen beiseite.

Die Praxis war noch offen. Eine junge, fröhlich aussehende Sprechstundenhilfe bat Lena, im Wartezimmer Platz zu nehmen. Sie war die einzige Patientin. Die Räume waren fast unverändert, bis auf ein paar neue Bilder an der Wand. Sie griff nach einem Magazin und versuchte, sich mit Mode- und Kosmetiktipps abzulenken.

Nach wenigen Minuten erschien die junge Frau in der Tür. »Frau Unger, Sie können jetzt mitkommen. Sprechzimmer eins, bitte.«

Lena nickte und legte die Zeitschrift weg.

Doktor Holtkamp erwartete sie hinter dem massiven Schreibtisch aus schwarz lackiertem Holz, an den Lena sich zu erinnern meinte. Anscheinend hatte er die Praxis mit einem Großteil des Inventars übernommen. Der Arzt war wesentlich jünger, als Lena gedacht hatte, wirkte gar nicht wie ein Hausarzt in der Provinz. So braungebrannt und mit perfekt gestylten dunkelblonden Haaren hätte er besser in eine Großstadt gepasst. Und dort wäre er, seinem gelangweilten und überheblichen Gesichtsausdruck nach zu urteilen, auch wesentlich lieber gewesen.

»Guten Tag, Frau Unger. Na, dann setzen Sie sich mal. Was führt Sie denn in meine bescheidene Praxis?«