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Wenn die Masken fallen, werden die Kontinente brennen. Die Fortsetzung der High Fantasy Sensation. Großartiges Worldbuilding trifft auf atemberaubende Plottwists und knisternde Tension. No Spice Fantasy. Eine alte Frau weiß, wie diese Geschichte endet... Das Herz eines Drachen erwählt niemals einen Menschen. Und eine Seele muss verklingen, um die Kontinente zu retten. Was war, kann nicht länger sein. Denn die Ewigkeit flüstert von einem Ende, geboren aus Wasser und geschmiedet in Feuer. High Fantasy Dilogie - Klappenbroschur. Tropes: Enemies to Lovers - She falls first - Who did this to you? - Japanische Mythologie - Hidden Identity - Villain gets the girl
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Seitenzahl: 448
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Dunkelstern Verlag GbR
Lindenhof 1
76698 Ubstadt-Weiher
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Dieses Werk darf weder im Gesamten noch in Auszügen zum Training künstlicher Intelligenzen, Programmen oder Systemen genutzt werden.
Lektorat: Nicole Gratzfeld
Korrektorat: Nicole Gratzfeld
Cover: Bleeding Colours Coverdesign
unter Verwendung von Bildmaterial von Adobe Stock.
Satz: Bleeding Colours Coverdesign
ISBN: 978-3-98947-093-4
Alle Rechte vorbehalten
Ungekürzte Taschenbuchausgabe
Für die Liebe in unseren Herzen.
Sie ist niemandem Rechenschaft schuldig.
Inhalt
Vorwort
Eine alte Frau weiß ...
Eins - Aoi
Zwei - Asayo / Ryoko
Drei - Deerion
Vier - Ryoko / Asayo
Fünf - Deerion
Sechs - Ryoko/Asayo
Sieben - Aoi
Acht - Asayo / Ryoko
Neun - Deerion
Zehn - Ryoko / Asayo
Elf - Deerion
Zwölf - Aoi
Dreizehn - Ryoko/Asayo
Vierzehn - Deerion
Fünfzehn - Ryoko / Asayo
Sechszehn - Deerion
Siebzehn - Ryoko/Asayo
Achtzehn - Deerion
Neunzehn - Ryoko
Zwanzig - Deerion
Einundzwanzig - Ryoko
Zweiundzwanzig - Deerion
Dreiundzwanzig - Ryoko
Vierundzwanzig - Deerion
Fünfundzwanzig - Ryoko
Sechsundzwanzig - Deerion
Epilog - Deerion
Nachwort
Sprache der Yōkai
Glossar
Vorwort
Bevor du die Kontinente und das Herz Meridîans betrittst, möchten wir dich darauf hinweisen, dass du auf deiner Reise nicht nur auf die freie Sprache der Menschen treffen wirst. Sondern es werden dir im Laufe der Geschichte auch Begriffe aus der Sprache der Yōkai begegnen. Um ihre Bedeutung verstehen zu können, findest du am Ende dieses Buches ein Glossar mit allen Übersetzungen sowie Erklärungen.
Des Weiteren ist diese Geschichte von der japanischen Mythologie rund um die Yōkai inspiriert. Die Erzählungen sind aber auf diese Dilogie angepasst und verändert worden.
Uns war es ein Anliegen, die Legenden hinter den Monstern zu erzählen.
Achdeâ siragk
Nichts ist für immer
Eine alte Frau weiß ...
Töricht zu denken, eine alte Frau würde nur in ihren Schriften leben. Sie sieht im Verborgenen so viel mehr als die meisten mit geöffneten Augen.
Sie wusste, dass die junge Königin nach Wissen strebte. Wissen um ihre Vergangenheit und ihre Herkunft. Keine Wahrheit kann auf ewig ungehört bleiben. Es kam für sie nicht überraschend zu hören, dass die Generalin geschickt worden war, um den Drachen zu suchen, der einst das Leben der Königin gerettet hatte. Sie davor bewahrt hatte, von ihrem Geburtselement zu sich gerufen zu werden.
Doch selbst eine alte Frau konnte nicht ahnen, was die Generalin finden würde. Wie niederträchtig das Herz des Wasserkönigs war. So viel Leid hatte sein Streben über Meridîan gebracht, während sie ihre Schriften gehütet hatte. Unwissend. So viel sinnloses Sterben für die Gier eines Einzelnen.
Es wunderte sie nicht, dass der junge Ōji, der Prinz der Yōkai, für viele ein grauenvoller Tod wurde. Für sich selbst gar der Qualvollste. Nur mehr zwei Erben des Wassers überdauerten die fünfundzwanzig Jahre gezeichnet von Blut.
Stetig wachsende Sorge erfüllte das Herz der Generalin. Um die Wunder und Wesen, welche sich ihr offenbart hatten, an einem Ort, an dem lediglich Grausamkeit sie hätte erwarten sollen. So vieles wurde auf der Reise gefunden. Eine alte Frau würde wagen zu sagen, alles wurde gefunden, außer dem, wonach gesucht worden war.
Die Ziele des verdorbenen Königs sind unklar wie das faulige Wasser der Sümpfe, doch seine Taten wurden gesehen, seine Lügen finden nicht länger Gehör.
251 Jahre nach dem Götterfall künden die großen Stürme von Unheil, die verzehrenden Feuer flüstern von Tod und Verderben, die unberührte Erde bebt unter der Last des nahenden Krieges und die ewigen Wasser ertrinken in Zorn und Schmerz.
Und ein menschliches Herz, gerettet durch einen Drachen und zerrissen zwischen zwei Leben, ist dazu bestimmt, die Kontinente zu einen oder bei dem Versuch zu sterben.
Eine alte Frau weiß, wie diese Geschichte endet.
Eins
Aoi
»Jeder Tropfen vermag es, den Stein, auf den er fällt, seiner eigenen Veränderung zu unterwerfen. Wenngleich es nicht unsere Augen sind, die diese Wandlungsfähigkeit zu erfassen vermögen.«
Aus den Erinnerungen der großen Wasser
Die Schneedecke brach sich als ihr eigenes Spiegelbild im nicht existierenden Himmel meines Gefängnisses. Die immer gleichen, von Frost bedeckten Steine, Bäume, Sträucher und die glitzernde Oberfläche des wintergeküssten Teiches schienen sich in endloser Gewissheit zu erstrecken. Meine verkümmerte Welt seit beinahe fünfundzwanzig Jahren.
Ich tauchte eine Kralle in das kalte Nass, das von einer stetig wispernden Quelle gespeist wurde und zaghafte Wellen schlug. Ein leises Grollen löste sich aus meiner Kehle. Der Anblick meines eigenen Abbildes sorgte nur einmal mehr dafür, dass Trauer mein einsam schlagendes Herz umfing.
Ein Sohn Ryuus, angekettet und allein im Reich seines Elements. Zwischen unendlichen Wassertropfen und raunender Nässe war mein Leid von weit größerem Ausmaß, als wenn man stattdessen ein lichtverzehrendes Loch gewählt hätte, in das man mich für die verbleibenden Jahrhunderte zu sperren gedachte.
Langsam glitt ich mit dem gehörnten Kopf voran in die zeitlose Stille des Gewässers. Schloss die Augen und versuchte, meinem schmerzenden Körper Linderung zu verschaffen.
Ein Lachen durchdrang meinen Geist. Nahm mich für die Zeit eines Wimpernschlags für sich ein. Zeichnete die leicht verschwommenen Linien des Gesichts nach, in dessen Stirn eine einzelne weiße Haarsträhne fiel. Mein Kîrodai. Deerion ...
Ich sank bis auf den von Muschelsplittern übersäten Grund. Schlang den schuppenbedeckten Schwanz um meinen schwach schimmernden Körper und versuchte, mich daran zu erinnern, wie die Weite des Ozeans geschmeckt hatte. Die Gerüche und Geräusche Meridîans verblassten zu qualvollen Erinnerungen, die mich in meinen Träumen heimsuchten, bis ich schwer atmend erwachte und das Firmament mir sein erstarrtes Selbst zeigte.
Keine Sonne, keine Sterne. Kein Mond und keine Wolken offenbarten mir den Lauf der Zeit. Lediglich mein stetig schwächer werdendes Wesen verriet den voranschreitenden Wandel der Kontinente.
Ich hatte geahnt, dass es geschehen würde. Hatte gewusst, dass die Soldaten Kaitos mich von meiner Familie trennen würden. Und ich hatte geschwiegen. Hatte weder meinen Clanmitgliedern, noch Deerion verraten, was die Gabe des Sehens als meine Fügung erachtete.
Der Schmerz des Verlustes für die Meinen zeichnete brennende Narben auf meine Seele. Ihre Trauer und Angst lähmten mich noch immer, auch wenn außer meinem Kîrodai und Himani alle den Weg zu unserem ewigen Element bereits angetreten hatten. Eins geworden waren mit den endlosen Wassern. Es hatte nicht in meiner Macht gestanden, das Rad des Schicksals anzuhalten. Genauso wenig, wie ich es zu ändern vermochte, was die unendlichen Weiten der Sterne über den Archivar Meridîans flüsterten. Eine Fähigkeit, mit der man sah, was vorherbestimmt war, hatte weniger mit einem Geschenk als mit einem Fluch gemein.
Die Früchte schmeckten fad. Ihr Aroma ein verzerrtes Abbild der wohlschmeckenden Obstsorten, die die Tanuki in den Weiten Erîdjas anbauten. Ich wischte sie mit meinen Klauen beiseite und spürte das Flimmern, das von meiner Gestalt Besitz ergriff.
Die menschliche Erscheinungsform glich ebenso einem Gefängnis wie die immer gleiche, perfekt anmutende Schneelandschaft, in der ich mich befand. Doch ich konnte das Aussehen eines Ryuu nicht länger als bis zum Aufatmen der einbrechenden Dämmerung aufrechterhalten. Die schützenden Schuppen flossen von meinem Körper, einem Regenschauer gleich. Hinterließen die bekannten dunkelblauen Muster auf meiner Haut, mit denen auch das schulterlange weiße Haar zurückkehrte.
Seufzend erhob ich mich und trat unter das Geflecht aus tiefhängenden Ästen, das meine Schlafstätte notdürftig verbarg. Eine einfache Jacke aus mattem blauem Gewebe lag neben einer unscheinbaren Ansammlung von weichen Stoffen, die auf dem vereisten Boden ausgebreitet worden waren. Eine Gefälligkeit Kaitos, um seinem wertvollen Drachenerben nicht dieselbe unwürdige Behandlung zuteilwerden zu lassen wie den übrigen Bewohnern des fünften Kontinents.
Ich schloss die Knöpfe des Kleidungsstückes nicht, ließ die Kälte in meine nackte Brust beißen und grub die bloßen Zehen zwischen scharfkantige Eisscherben. Erinnerte mich an die raue Schönheit meines Elements, an seine Beständigkeit und kurzweilige Sanftheit. Und der Schnee unter meinen Sohlen schmolz. Offenbarte grobes Gestein und die eisblauen Kettenglieder, die sich um mein linkes Fußgelenk schmiegten, als wären sie um meinen Schutz besorgt.
Ich ging in die Knie und strich über das Material, das sich meinem Körper anzupassen schien, wann immer ich es schaffte, mein Aussehen zu wandeln. Winzige Dornen bohrten sich in meine Haut und goldene Tropfen perlten über meine zitternde Handfläche.
»Das hatten wir doch bereits, Aoi. Willentliche Berührungen erzürnen das Meisterwerk der außergewöhnlichen Schmiedekunst.«
Ich hob den Kopf, konnte einen von Flammen erhellten Abendhimmel erkennen, ehe die Tür mit der Umgebung zu verschmelzen schien und gletscherblaue Augen in die meinen blickten. Kaito stellte einen Korb neben einen der Winterbeeren-Sträucher und hob neugierig eine Braue. »Dein Talent zeigt dir die Zukunft, weshalb also lernst du noch immer nichts aus der Vergangenheit?« Er kam näher. Eine Hand umschloss ein kleines Säckchen, das er an seinem prunkvollen Gürtel befestigt hatte.
»Ich habe keine Antworten für dich«, sagte ich leise und wandte mich ab. Es war ein täglicher Kreislauf, aus dem es kein Entrinnen gab. Derselbe Befehl, dieselben bittenden Entschuldigungen, gefolgt von Zorn und Hass. Ein Albtraum, für den ich das Reich des Schlafes nicht betreten musste.
»Nun, ich bin heute nicht hier, um dich um etwas zu ersuchen, das du mir beharrlich zu verweigern scheinst. Auch wenn meine Geduld inzwischen der Stärke einer Eisschicht auf einer Pfütze gleicht.« Der Groll kam früher als erwartet und loderte dunkel in den Iriden des Mannes auf, der seit fünfundzwanzig Jahren die Meinen in den Tod trieb. Ein gefährliches Grinsen verzerrte seine Züge zu einer grotesken Fratze. »Meine Soldaten haben Bekanntschaft mit einem gewissen Prinzen gemacht. Seine Verwandlung lässt das dreckige Erbe der menschlichen Seele, die dem Gott des Wassers zum Opfer gefallen ist, jedes Mal nur allzu deutlich durchscheinen. Ein abartiges Monster: halb Drache, halb Mensch.«
Ich ballte meine Fäuste und Kaito hob das Kinn. »Er ist zäh und gnadenlos. Versucht zu schützen, was meinen Truppen wehrlos ausgeliefert ist. Doch ich werde seine Schwachstelle finden und sie mir zu Nutze machen. Und du wirst hilflos dabei zusehen müssen.«
Lachend warf er mir den ledernen Beutel zu, in dem sich etwas unruhig regte. Behutsam öffnete ich die Schnüre und ein Onibi kam zum Vorschein. Angsterfülltes Flackern schüttelte die körperlose Gestalt des Irrlichts, ehe es eilig Schutz zwischen meinen Fingern suchte.
»Ich dachte, du fühlst dich einsam. Und bis ich dir deinen schmerzlich vermissten Hüter bringe, hast du Gesellschaft in diesem wahrlich königlichen Gefängnis.« Ein beinahe sanfter Ausdruck erhellte für den Bruchteil eines Augenblicks das Gesicht Kaitos.
»Ich habe dich gerettet, vergiss das nicht, Aoi.« Mit diesen Worten trat er durch die verborgene Tür und Stille legte sich über die Szenerie.
»Es tut mir leid«, wisperte ich und schloss meine andere Hand über dem bebenden Onibi, das, ohne sein Element, im frostklirrenden Atem des Winters verging wie das Raunen der Wellen, wenn die Stimme der großen Stürme über dem Meer schwieg.
Eine Träne bahnte sich ihren Weg über meine Wange, doch bevor sie die Erde erreichen konnte, erstarrte sie zu ewigem Eis. Verbarg meine unendliche Trauer in einem Käfig aus schneidender Gewissheit. Und die einzige Linderung für mein brennendes Herz bewahrte die Melodie der Vergangenheit ...
Zwei
Asayo / Ryoko
Vieles im Leben wird dein Herz brechen. Als Königin ist es deine Pflicht, die Scherben zu tragen, sie neu zusammenzufügen, ohne dass der Schmerz deine Sinne trüben darf.
Lehre der verloschenen Herrscherin
Augen in der Farbe des tosenden Ozeans bemächtigten sich meiner Gedanken. Augen, die meine Seele niemals hätten erblicken dürfen. Die Maske war gefallen und dennoch verbarg das geschwärzte Holz meine Züge. Sein Dienst womöglich wichtiger denn je. Das Herz der Generalin war gestolpert und hatte sie zu Fall gebracht. Doch der unregelmäßige Takt in meiner Brust durfte nicht noch weiteren Schaden anrichten.
Zu viel Mühe und Kraft hatte ich aufgewendet, um zwei Leben führen zu können. Die Leben, die mein Volk vor allem Unheil bewahren sollten. Bereits vor Jahren hatte ich den Gedanken willkommen geheißen, dass mein Weg von Einsamkeit gezeichnet sein würde. Dass es niemals jemanden geben konnte, der mehr als Freundschaft mit mir teilen würde. Niemand, der meinem Geheimnis nahekommen durfte. Und dennoch benetzten Tränen meine Wangen. Gleich den Strömen des Meeres weigerten sie sich zu versiegen, seit die ewigen Wasser auf ihren Grund geblickt hatten.
Ich hatte die Vergangenheit gesucht und die Zukunft verloren. Alles, was mir blieb, war, meine Gegenwart zu nutzen, um diesen Krieg zu verhindern. Obgleich es für ihn keinen Unterschied machen würde. Zu viel Leid hatte sein Herz vergessen lassen, wie Vergebung sich anfühlte. Ich erwartete auch keine, wo ich nicht einmal das Recht besaß, um selbige zu bitten.
Der bittere Geschmack des Tees legte sich an meinen Gaumen. Es war bereits die dritte Tasse und noch immer konnte ich den blauen Schein in meinen Iriden ausmachen. Womöglich sollte ich länger abwarten. Den Kräutern Zeit einräumen, die verräterische Farbe unter verloschener Glut zu verbergen, doch in diesen Zeiten konnte ich nicht riskieren zu offenbaren, wer sich unter der Maske der Feuerkönigin verbarg. Jeder Schluck beschleunigte den Puls, bis er zu einem Rauschen anhob, als habe der Ozean Einzug in meine Ohren gehalten. Zwang mein Blut, schneller zu fließen, sodass sein eigentlicher Lauf beinahe träge wirkte. Ich erkannte die Anzeichen meines Körpers, die Warnung, nicht noch mehr der Kräuter aufzunehmen, und trank dennoch weiter. Bis meine Iriden ihr hoffnungsvolles Türkis aufgaben und erneut den Farbton roter Lehmerde annahmen, der mir nach all den Jahren so viel vertrauter war, als ihre Geburtsfarbe.
Schweißperlen mischten sich mit den stillen Zeugen meines Schmerzes, bis ich das eine nicht mehr von dem anderen unterscheiden konnte. Bis mein Herz nicht länger unregelmäßig flatterte, sondern in seinen rasenden Takt zurückfand.
Meine Schwäche für den Drachen durfte das Schicksal der Kontinente nicht beeinflussen. Mein Scheitern würde meine Hände in Blut baden. Jeder vergossene Tropfen in diesem sinnlosen Krieg würde von meinen Fingern rinnen.
Mein Blick fand den Balkon. Eine Silhouette löste sich aus den Schatten meiner Erinnerungen. Sie war klein, beinahe zierlich. Das dunkle Haar geflochten, die Kleidung in unscheinbarem Schwarz. Kein Flammenrot zierte ihre Gestalt, ebenso fehlte die Maske aus fein gearbeitetem Holz. Ihr Blick verlor sich in der unberührten Weite hinter dem Palast, dort, wo das Glühen der Feuerberge stets den Anschein der aufgehenden Sonne nachahmte.
Unsicher fanden ihre rotschimmernden Augen mich und sahen doch etwas gänzlich anderes, als die Frau, die sie einst werden würde. Dann setzte sie den ersten zögerlichen Schritt auf das Geländer. Ihre zarten Finger erreichten geradeso das Vordach. Der Feuerstein auf dessen Oberseite grub sich in ihre Haut, schnitt tief in ihr Fleisch, doch sie löste den Griff nicht. Nicht an diesem Tag und an keinem der folgenden.
Es sollte fünf Jahre dauern, bis sie den Mut aufbrachte, sich bei der Garde zu melden und weitere sechs, um Generalin zu werden. Doch an diesem Tag vor sechzehn Jahren wurde aus der schweigenden Prinzessin der Feuerlande eine Kämpferin, die eines Tages ihr Volk nicht nur mit Worten zu verteidigen vermochte, sondern auch mit kaltem Stahl und eisernem Willen.
Ein Klopfen durchbrach den Moment. Verwischte die Erinnerung wie Wasser einen Tropfen Blut. Längst konnte Unachtsamkeit mich nicht mehr so sehr ablenken, dass ich versucht wäre, meine Stimme zu erheben. Das Gewicht der Maske erinnerte mich beständig an die Person, die ich in diesem Moment war.
Zögerlich betrat der Kommandant die Gemächer. Erst als ich ihm zunickte, wurden seine Schritte sicherer. »Ihr habt nach mir geschickt, Flammengeküsste?« Wie es der Respekt verlangte, legte er sich eine Faust auf die Brust.
Meine Entscheidung war schwerwiegend. Sie könnte, die Flamme der Freundschaft zu einem Inferno anschwellen lassen, oder sie würde alles auslöschen, was über Jahre gewachsen war.
Ich bedeutete ihm, mir zu folgen, den formellen Gruß ignorierend. Seine lautlosen Schritte begleiteten an einen Ort, den niemand ohne Begleitung eines Regierenden betreten durfte. Einen Ort, der alles Wissen hütete und es vor jenen schützte, für die es nicht bestimmt war.
Wache gelbe Augen fanden uns in der Sekunde, in der die schwere Tür hinter uns ins Schloss fiel. »Eine alte Frau wusste, dass dieser Tag kommen würde.«
Ohne den Grund für unseren Besuch zu kennen, winkte Fumiko uns zu sich und tippelte voran in Richtung ihrer Behausung. Bereits vor langer Zeit hatte ich es aufgegeben zu hinterfragen, weshalb es nichts zu geben schien, das die Wächterin der Schriften überraschen konnte.
Kazens Erstaunen zeichnete beinahe kindliche Freude auf seine Züge. Ich konnte fühlen, wie viel Kraft es ihn kostete, gegen den Impuls anzukämpfen, einen der Folianten zu öffnen oder eine der Sammlungen loser Pergamentseiten durchzublättern.
Fumiko sah ihn streng über die Schulter an. »Nichts anfassen, Junge. Sie würde es wissen, wenn du es doch tust.«
Mit erhobenem Kinn verschränkte der Kommandant die Arme hinter dem Rücken und ich konnte mich des Schmunzelns nicht erwehren, das hartnäckig an meinem Mundwinkel zupfte. Die Hüterin der Schriften hatte auf mein kindliches Ich eine ebenso unumstößliche Wirkung gehabt. Woran es auch liegen mochte, es schien die eigenen Instinkte davor zu warnen, die kleine Frau mit der knisternden Kleidung zu verärgern.
In ihrem Zuhause angekommen deutete sie auf den Tisch. »Setzt euch. Für dieses Gespräch ist Tee vonnöten.«
Kazen räusperte sich und sah zunächst mich, dann die alte Frau an. »Dann darf ich annehmen, Ihr habt die Hüterin bereits über den Grund informiert, aus dem Ihr mich sprechen wolltet, Flammengeküsste?«
Noch bevor ich den Kopf schütteln konnte, stieß Fumiko ein Schnauben aus. »Eine alte Frau kann sehen, sie muss nicht informiert werden.«
Gemäß ihrer Anweisung ließen wir uns an dem niedrigen Tisch nieder. Für einen Moment fragte ich mich, woher das zusätzliche Sitzkissen kam. Wann immer ich die Hüterin bisher besucht hatte, waren lediglich ihr eigenes und meines vorhanden gewesen.
Eine Kanne heißes Wasser sowie drei Teegläser mit zerstoßenen Kräutern fanden ihren Weg auf die unscheinbare Holzplatte, bevor sich die alte Frau erstaunlich elegant mir gegenüber in einen Schneidersitz sinken ließ. »Durch unangenehmes Schweigen wird ein schwieriges Gespräch nicht einfacher, Kind.« Sie sah nicht auf, während sie die Kräuter übergoss und sich der herb-süßliche Duft des Tees in dünnen Schwaden über den Gefäßen kräuselte.
Ein Kloß versperrte meine Kehle, nahm mir die Fähigkeit zu sprechen, wie ich es gewöhnlich aus freiem Willen tat. Ein Räuspern wollte sich empor zwängen, doch zu lange war die Maske mit Stille verknüpft gewesen, als dass ich diesen Laut einfach gewähren lassen konnte.
Kazen übte sich in Geduld, wenngleich ich meinem Freund und Vertrauten ansehen konnte, wie jeder verstreichende Atemzug an seinen Nerven zerrte. Geduld würde wohl niemals eine Tugend sein, die sein Herz erfüllen würde.
Fumiko nahm einen Schluck aus ihrer Tasse und schlürfte vernehmlich. Eine Eigenart, die sie stets an den Tag legte, wenn sie mich zu etwas auffordern wollte, jedoch nicht gewillt war, mir die Bürde des Anfangs abzunehmen.
Sie hatte recht. Weder die Reaktion meines Kommandanten, noch seine Meinung zu meiner Offenbarung,würden sich ändern, nur weil ich länger zögerte. Eine bittere Tinktur wurde besser in einem Schluck getrunken als über etliche kleine. Doch trotz der Entschlossenheit zitterten meine Finger auf ihrem Weg zu meinem Gesicht. Auf ihrem Weg, die seidenen Bänder zu lösen, die das fein geschnitzte Holz hielten, das seit meinem Einzug in den Palast die Züge der Thronfolgerin und neuen Königin verborgen hatte.
Ein Keuchen entwich Kazens Lippen, als ihm gewahr wurde, was ich im Begriff war zu tun. Sofort senkte er den Blick auf den dampfenden Tee. »Flammengeküsste, Ihr solltet ...«
Fumiko lehnte sich ihm entgegen und schnippte gegen sein Ohr. »Sieh hin, törichter Junge.«
Die Maske gab ein dumpfes Geräusch von sich, als sie zum ersten Mal, seit sie in meinem Besitz war, nicht ihren angestammten Platz auf dem weichen Kissen fand, sondern auf unnachgiebiges Holz traf.
Mein Blick fand den der alten Frau und ein wissendes Funkeln erfüllte das leuchtende Gelb ihrer Augen. Sie war nicht verwundert.
Ein Lächeln huschte über meine Lippen. »Ihr wusstet es?«
Kazen gab einen erstickten Laut von sich und ein Beben fuhr durch seinen Körper. Doch noch immer blieb sein Haupt geneigt.
Die Hüterin der Schriften verzog die Lippen zu dem ihr ganz eigenen Lächeln, das an manchen Tagen wie ein Zähnefletschen wirkte. »Natürlich wusste eine alte Frau es. Dachtest du, ein verborgenes Gesicht könnte sie über die Gleichheit der Augen hinwegtäuschen?«
»Kazen?« Zaghaft wandte ich mich an meinen Freund. Er musste an seinem Verstand zweifeln.
Er schüttelte den Kopf, doch endlich erinnerte ihn sein Erbe an die Pflicht, seinem Gegenüber stets in die Augen zu blicken. Verwirrung und Zweifel zogen seine Brauen zusammen und verliehen dem Perlenband auf seiner Stirn eine eigentümliche Form. »Wie konnte ich das nicht bemerken?«
Anders als ich erwartet hatte, zitterte seine Stimme nicht vor Wut. Lediglich endlose Fassungslosigkeit schwang in den Silben mit.
»Ich habe viele Jahre im Verborgenen geübt, bevor ich es wagte, als Ryoko unter die Fîerir zu treten. Meine Bewegungen mussten sich unterscheiden, meine Gestik, selbst die Linienführung meiner Schrift gleicht sich nicht. Ich habe alles getan, um die zwei Herzen in meiner Brust für jeden sichtbar zu trennen.«
Sein Blick flackerte rastlos über meine Gestalt. Bemüht, die beiden Menschen in Einklang zu bringen, die nichts miteinander gemein zu haben schienen, außer der Farbe ihrer Augen. In dem Versuch, meine Unruhe nicht zu zeigen, faltete ich die Hände in meinem Schoß und ergab mich seiner Musterung.
Fumikos wache Augen ruhte ebenfalls auf mir. »Eine alte Frau denkt, am Anfang der Geschichte zu beginnen, würde vielleicht helfen.«
Mit einem Blick auf den Kommandanten, der dankbar nickte, begann ich zu erzählen. Ich hielt nichts zurück. In dem Wissen, dass ich entweder ein wertvolles Bündnis schmieden oder mich in ein verzehrendes Feuer stürzen würde.
»Die Gerüchte über die Königin sind wahr und doch weit entfernt von der Wahrheit. Ein Yōkai brachte mich hierher, doch er griff mich nie an. Er rettete mich und ließ mich versprechen, niemals meine Stimme zu benutzen. Ich verdanke ihm mein Leben, so erschien mir dies ein kleiner Preis zu sein, und ich lebte nach dem Wunsch des Drachen. Unwissend, dass einzig diese Tatsache mir eines Tages den Weg eröffnen würde, die Generalin meines eigenen Landes zu werden.«
Kazen lauschte meiner Geschichte, ohne mich zu unterbrechen. Einzig der Tanz seiner Augenbrauen und die hin und wieder gekräuselten Lippen zeugten von seinen gemischten Gefühlen.
»Schließlich vergaß ich den Tee und meine Augen offenbarten Deerion mein wahres Wesen. Ein Bündnis mit den Bewohnern Meridîans ist verloren, dennoch werde ich nicht ruhen, solange Grausamkeit und Hinterlist den Kontinent des Wassers regieren.«
Stille senkte sich über uns, ähnlich der erdrückenden Ascheschicht, die jeden Morgen auf die Feuerlande niederging. Keinen Moment wandte mein Vertrauter den Blick von meinen Augen. Spürte der Erzählung nach, als würde er die Wahrheit der Worte ergründen wollen. Schien sichergehen zu wollen, nicht erneut einer Täuschung zu erliegen.
Fumiko nippte an ihrem Tee und wartete scheinbar ebenso gespannt auf die Reaktion des Kommandanten.
Der Wille, mich zu erklären, brannte in mir und verlangte Gehör. »Ich habe indes niemals gelogen oder in die Irre geführt. Mein Geheimnis stand niemals über dem Wohl der Fîerir.«
Ein leises Schnauben entkam ihm. »Viele würden wohl das Verschweigen der Wahrheit mit einer Lüge gleichsetzen.« Etwas trat in seine Augen, das ich nur zu gut kannte. Ein Glimmen wie von schwelendem Feuerstein. Das Feuer seiner Seele, das sich beharrlich weigerte, im Verborgenen zu bleiben. »Doch zu deinem Glück bin ich einzigartig.«
Endlich schien die Luft erneut erfüllt von Sauerstoff zu sein. Der Staub der sterbenden Feuer lichtete sich und hinterließ klare Sicht.
Kazen bemerkte mein Aufatmen und hob die Hand. »Allerdings ... schulden sowohl die Königin als auch die Generalin mir einen Hâbu, bevor wir uns auf den Weg nach Wîrohir machen.«
Die Erleichterung brach sich in einem Lachen bahn, so frei und offen wie zuletzt auf meinen Reisen durch Meridîan. An seiner Seite.
»Ich danke dir.« Ergeben lehnte ich mich nach vorne und er kam mir entgegen. Seine Stirn fand meine und für einen Moment teilten wir einen Atemzug, bevor wir uns wieder entfernten. Ich war nicht dazu gekommen, ihn zu bitten, mich in die Reiche des Wassers zu begleiten. Hatte nicht gewusst, ob ich einen solch großen Gefallen einfordern durfte, nachdem ich ihn jahrelang getäuscht hatte. Dass es für ihn keinen Zweifel daran gab, mich zu begleiten, war ein größerer Vertrauensbeweis, als ich verdient hatte.
Ernsthaftigkeit dimmte das Licht seiner Augen. »Ich habe der Königin meine Treue geschworen, weil ich sie für eine gute und weise Herrscherin halte. Jene Qualitäten sah ich auch in meiner Kameradin und Generalin. Ich habe dir in einem Leben Treue versprochen und in dem anderen Freundschaft und Rückhalt. Deine Offenbarung ändert nichts.«
Die Hüterin der Schriften gab ein zufriedenes Brummen von sich. »Eine alte Frau ist glücklich, dich nicht mehr alleine mit deinem Geheimnis zu wissen, Kind, und du«, sie wandte sich an Kazen, »darfst sie bei deinem nächsten Besuch durch die Regale begleiten. Anfassen darfst du dennoch nichts.«
Mein Kommandant hatte Mühe, gegen sein Schmunzeln zu kämpfen, und nickte ergeben. »Es wäre mir eine Ehre. Doch zuvor sollten wir einen Krieg verhindern.«
Entschlossenheit straffte seine Schultern, und während ich den inzwischen kalten Tee an meine Lippen führte und der herb-süße Geschmack meine Zunge benetzte, verschwammen seine Augen zu unendlichem Blau, welches ebenfalls stets von solcher Unnachgiebigkeit gezeichnet war. Einem Blau, das in meiner Erinnerung nun stets von Hass und Schmerz verunreinigt sein würde. Mein Versagen, ihn vor weiterem Leid zu bewahren, gebannt in der Endlichkeit meines Seins.
Drei
Deerion
»Veränderung umgibt uns alle. Doch wenn wir nicht mit ihr umzugehen wissen, wird sie unser Verderben sein.«
251 Jahre nach dem Götterfall – Rôhi
Das Heulen des Windes verfing sich zwischen den geschwungenen Dachbalken. Der Tempel der Einheit kam einem Felsen gleich, doch die ungewöhnlich frühen und erbitterten Herbststürme ließen die steinernen Wände ächzen.
Regen prasselte gegen das dunkle Holz der Fensterrahmen, wandelte sich in meinen Ohren zu einem unnachgiebigen Rauschen. Ich lehnte an der Nordseite, den Blick auf die stetig anschwellenden Flussbette gerichtet, die sich tiefer in die Landschaft gruben.
»Die Ereignisse haben den Takt des Herzens verändert. Wir müssen uns für einen langen und kalten Winter wappnen.« Koens Stimme wirkte ebenso unstet wie sein Element. Ich vermied es, ihn anzusehen, ebenso wie die Clanoberhäupter Hotarus und Midoris, die um den niedrigen Tisch saßen. Der Tee in der durchscheinenden Kanne war bereits seit Stunden kalt. Müdigkeit zeichnete deutliche Spuren auf die Züge meiner Familie, wurde jedoch auf den meinen von stiller Wut ersetzt.
»Ich hoffe, dass die heißen Quellen dem standhalten. Die Kitsune leiden bereits jetzt und da auch die Sonnenstunden stetig abnehmen, können ihre Körper die nötige Wärme schlechter speichern.« Ein Seufzen entkam Sorchas Lippen, doch sie erhob sich nicht, suchte nicht meine Nähe, wie sie es für gewöhnlich tat.
Ich öffnete meine Fäuste. Betrachtete die Furchen, die meine Krallen seit nunmehr einer Woche in meine Handflächen gruben. Ihre Mahnmale eine stetige Erinnerung an den brodelnden Zorn in meinem Inneren. Ich spürte Koens Blick, sein Zögern, ehe er auf mich zukam und vorsichtig seine Finger auf die meinen legte. Rôhi beobachtete den filigranen Augenblick, der binnen eines Atemzuges in aberhundert Scherben zu zerspringen drohte. Bereit einzugreifen, bevor ich meinem besten Freund eine weitere seelische Wunde zufügen konnte.
Es waren viele gewesen in den vergangenen Tagen. Geknurrte Worte und hasserfülltes Brüllen, gefolgt von kalter Distanziertheit. Ich ließ weder den Erben Soras, noch ein anderes Mitglied meiner Familie, nah genug an mich heran, um ihnen ein Verstehen zu ermöglichen. Entzog mich ihnen und verbrachte die Tage und Nächte allein in den Weiten Meridîans.
Der Schlaf mied mich. Mein Zuhause hatte ich nicht mehr betreten, seit die Nîrach die Lichtung mit ihrer Anwesenheit befleckt hatte. Das brennende Gefühl des Verrats und die daraus erwachsene Leere, hatten einen Schlund geöffnet, der mich zu verschlingen drohte, wenn ich mich ihm nicht rechtzeitig würde entziehen können.
Das Spiel des Feuers hatte mir mehr genommen, als ich jemals zu geben bereit gewesen war. Und außer verbrannter Erde war nichts geblieben.
»Rion?«
Ich begegnete sturmgrauen Augen, verzerrt von Sorge und Angst. Entzog mich Koens Berührung und biss die Zähne zusammen. »Wenn das alles ist, was ihr zu sagen habt, vergeude ich hier gerade meine Zeit.«
Ich trat an meinem besten Freund vorbei, sah, dass er mir nachsetzen wollte und Rôhi ihn aufhielt. Erneut bohrten sich die Klauen in meine Haut. Meine Gestalt hatte sich nicht vollständig gewandelt, lediglich die Flügel waren verschwunden. Ich wusste, dass ich damit die Einheit des Tempels zerstörte, da er seit jeher nur von den Kami und uns Götterkindern in unserer menschlichen Erscheinungsform betreten worden war. Doch diese hatte sich ebenso wenig in den vergangenen sieben Tagen gezeigt wie eine andere Emotion, die weder Hass noch Gleichmut umgab.
»Wann bist du das letzte Mal bei Himani gewesen?«, fragte Sorcha leise.
Ich wirbelte herum und das Blau meiner Schuppen verdunkelte sich, glich sich aufbäumendem Nachtschwarz.
»Was willst du mir unterstellen, Clanoberhaupt?« Das Grollen, das meiner Kehle entwich, brach sich donnernd an den Wänden, ließ die Elementfarben flackernd aufleuchten. Koen setzte einen Schritt nach vorn, doch sein Seelenpartner umfasste seinen Arm, hielt ihn weiterhin an seiner Seite, während sich mein Gegenüber erhob.
»Sie ist öfter allein als in deiner Gesellschaft. Und die Erinnerungen auf deiner Haut waren noch nie so zahlreich.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust, unterdrückte ein Zittern, doch hielt meinem Blick stand.
Die schimmernde Wasserader zu unseren Füßen schwoll an, brach sich an ihrem steinernen Gefängnis und ich hob das Kinn. »Während ihr nichts weiter tut, als zu beobachten und in Sorge zu ertrinken, vernichte ich, was unsere Grenzen übertritt. Wenn Himani also Gesellschaft wünscht, sollte es dir an Zeit nicht mangeln, oder, Erbin Hotarus?«
Sorcha schluckte und ein verletzter Ausdruck wandelte das Orange ihrer Iriden, verlieh ihnen dunkelgelbe Sprenkel. Doch es war Rôhi, der mir antwortete: »Es ist nicht dasselbe und das weißt du, Deerion. Und unsere Besorgnis gilt dir gleichermaßen wie dem Herzen Meridîans.«
Ein kaltes, leeres Lachen löste sich von meinen Lippen. »So groß kann eure Sorge nicht sein, wenn ich jeden Tag aufs Neue mein Leben riskiere, um die euren zu schützen.«
Tränen rannen Sorchas Wangen hinab und Rôhis Mund verzog sich zu einer schmalen Linie. Ich drehte mich erneut der Tür zu, doch Koens Stimme ließ mich innehalten.
»Wage es nicht noch einmal, diese Worte zu wählen, Deerion Ryuu.«
Seine Fäuste bebten. Das Hellgrau seiner Iriden tobte, einem Orkan gleich, kämpfte gegen den Tränenschleier an, der die dunkler werdenden Flecken betupfte, die den Sturmwolken am Himmel zu ähneln schienen.
Ich entblößte meine Fangzähne. »Was wirst du sonst tun, Sohn Soras?«
Koen erstarrte. Seine Schultern sanken herab und es war, als würde das Leben selbst ihn verlassen. Seine nächsten Worte waren so leise, dass der wütende Sturm sie beinahe übertönt hätte. »Geh! Ich werde dich nicht aufhalten. Nicht mehr, Rion.«
Ich stürzte hinaus, ließ mich von den reißenden Böen davontragen, die unter meine Schwingen griffen, und sah nicht zurück.
Die Ausläufer des gefallenen Waldes ertranken in einer Teichlandschaft, die die fruchtbaren Wiesen in moorastiges Grün wandelte. Wenngleich die leuchtenden Farben ihre Kraft nicht verloren hatten, wirkten die Töne verschwommen, als trauerten sie wie Meridîan selbst. Das filigrane Gleichgewicht der Elemente war aus dem Takt geraten. Ebenso wie ...
Meine Hand fand die Stelle auf meiner Brust, über der sich die dunkelste Hornschicht gebildet hatte. Knurrend ging ich in den Sinkflug. Wasser spritzte meine Beine empor, kaum dass meine Füße den Boden berührten. Die nassen Haarsträhnen klebten an meiner Stirn, waren länger geworden, da ich Himani nicht aufgesucht hatte, die sie mir für gewöhnlich kürzte, sobald sie meine Augen erreichten. Ich hatte Nacht für Nacht den Weg zum Zeitlosen eingeschlagen und war jedes Mal umgekehrt, kaum dass die durchscheinende Blätterkrone in Sichtweite gekommen war.
Meinen Oberkörper bedeckten die Schuppen beinahe vollständig. Lediglich an den Handflächen und einem Teil meines Halses ließen sie Haut durchscheinen. Der Stoff meiner weiten Hose rieb bereits über dunkelblaue Platten, die wie einsame Inseln meine Waden und Oberschenkel für sich einzunehmen schienen. Erinnerungen, die sich dicht an dicht entlang meines Körpers drängten, trübten das funkelnde Saphirblau. Sie nicht dem Archiv zu übergeben, bedeutete, eine Vielzahl von gewisperten Stimmen hören zu können, die jeden meiner Schritte begleiteten und gegen ihr finster gezeichnetes Gefängnis stießen, als begehrten sie dagegen auf.
Eine Gruppe Onibi umschwirrte mich, während zwischen der schützenden letzten Baumreihe hervortrat. Bäche hatten sich in die trockene Erde rund um die Statue der Feuerkami gegraben. Umspülten den steinernen Sockel und vereinten die große Flamme mit den ewigen Wassern.
Schnaubend ließ ich meinen Blick über die Weite schweifen, wissend, dass ich nicht finden würde, wonach etwas tief in mir zu verlangen schien. Stattdessen erkannte ich zwischen blattlosen Büschen und zerbrochenem Unterholz einen Spähtrupp. Vier Soldaten, gekleidet in die Rüstungen des Wasserkönigreiches, durchbrachen die Vegetation, als gehörte ihnen der fünfte Kontinent.
Erneut erhob ich mich in die Lüfte, ignorierte den eisigen Regen, der immer dichter zu fallen schien, und zog enger werdende Kreise über den Köpfen der Männer. Ihre Rufe trieb der Wind zu mir hinauf und ich änderte die Richtung. Führte sie fort vom gefallenen Wald und hinaus auf die überflutete Ebene.
Ein Pfeil streifte meine rechte Wange, hinterließ brennenden Schmerz und entlockte mir ein tiefes Grollen. Ihre Angriffstaktiken waren vielfältiger geworden. Sie setzten immer wieder Substanzen ein, die ähnlich dem Gift der Kappa Verätzungen hervorriefen, sobald sie mit Haut in Berührung kamen.
Ich landete unweit einer Ansammlung von Felsen, aus denen zischend heißer Dampf gen Himmel stob, sich wie Nebel auf die Umgebung legte und die Sicht einschränkte, jedenfalls für diesen feindlichen Abschaum. Ich öffnete meine Fäuste und wartete.
Ein weiteres Geschoss durchdrang die dichten Dunstschwaden. Dieses Mal umfasste ich den hölzernen Schaft und zerbrach ihn in splitternde Segmente. Die vier Silhouetten lösten sich aus dem Nebelschleier, und während drei ihre Klingen erhoben hatten, zielte die kleinste von ihnen mit dem nächsten Pfeil auf meine Stirn.
»Wir haben von dir gehört, Drache«, rief der Älteste und seine Stimme zitterte leicht. Sie schienen alle viel zu jung zu sein, um ihr Leben in einem derart sinnlosen Unterfangen zu verlieren, und dennoch folgten sie gedankenlos den Befehlen ihres falschen Königs. Ich verlagerte mein Gewicht auf den rechten Fuß, legte die Flügel an.
»Du scheinst diesen ausweglosen Kampf allein zu führen.« Der Anführer versuchte sich an einem Grinsen und scheiterte, als ein Grollen meine Kehle verließ. »Wenn du dich ergibst, leiden deine monströsen Freunde vielleicht nicht länger.«
Ich setzte einen Schritt nach vorn und spürte, wie eine von Haken gespickte Pfeilspitze die untere Hälfte meines linken Flügels durchbohrte. Brüllend wirbelte ich herum. Zwei weitere Soldaten hatten sich aus ihrer Deckung gewagt und schoben sich langsam hinter dem Felsmassiv hervor.
»Verschwindet von hier!«, brüllte ich und packte den Mann, der mir am nächsten stand. Meine Klauen gruben sich in sein Fleisch und er wand sich schreiend in meinem Griff, während sein Gefährte ein weiteres Geschoss in meiner Schwinge versenkte. Ich brach dem Kämpfer das Genick und griff nach dem zweiten Angreifer. Versuchte, den Vierer-Trupp dabei nicht aus den Augen zu lassen.
Sie wollten mir die Möglichkeit zur Flucht nehmen. Die stählernen Zähne verhinderten, dass sich meine Flügel zurückziehen konnten, und boten den Vrâgk so ein viel zu leichtes Ziel.
»Wenn ihr angreift, verletzt diesen vom Wasser erschaffenen Dämon an der ledernen Haut. Die Schuppen könnt ihr nicht durchdringen«, wies der Älteste die Seinen an. Binnen eines Wimpernschlags war ich umzingelt, und wenngleich der Nebel es den Nîrach erschwerte, ihre Schritte sicher zu setzen, bewegten sie sich dennoch selbstbewusster, als ich erwartet hatte.
Der zweite Schütze fiel und sein Blut mischte sich mit den Wasserläufen zu meinen Füßen. Beschmutze die Erde Meridîans und der Zorn brandete einer Welle gleich durch meine Seele. Verschlang jedes andere Gefühl, bis ich nichts mehr wahrnahm als die schreiende Leere, die die Lüge Ryokos hinterlassen hatte.
»Und sind die ewigen Wasser gewillt, mich zu den Ihren zu bringen?«
»Weshalb?«
»Um ihnen meine Hilfe zuteilwerden zu lassen und um das Vertrauen ihres Ōji zu gewinnen.«
Ihre Worte zerfielen an meinem Geist. Rotbraune Augen wandelten sich zu flirrendem Ozeanblau. Eine Klinge streifte meine Hüfte. Mein Vertrauen zu gewinnen, um es dann für ihr falsches Spiel zu benutzen.Mich zu benutzen.
Knurrend entriss ich meinem Gegenüber seine Waffe und trieb sie ihm auf Höhe des Brustbeins durch den schmalen Spalt zwischen den Rüstungsplatten.
»Ihr wollt das Monster aus euren Legenden?« Blut tropfte von meinen Krallen. »Ihr habt es endlich erschaffen.« Und während sich der Donner in der Ferne als grollendes Echo zwischen den Bäumen brach, trauerte der Himmel um den Verlust des Mitgefühls im einzigen Herzen Meridîans, das in seinem Kern auch menschlich gewesen war.
Vier
Ryoko / Asayo
Die Legenden sagen, das Land Wîrohir habe es vermocht, die Augen zu betören. Städte, errichtet auf schwimmenden Inseln. Wasserströme, so klar, dass man sich in der Betrachtung ihrer Geheimnisse verlor und jegliche Zeit vergaß. Doch diese Legenden wurden in einem anderen Leben geschrieben.
Aus den Aufzeichnungen der Generalin
Kälte färbte meinen Atem weiß. Verlieh ihm den Anschein, dunstiger Nebel würde meiner Lunge innewohnen.
»Bei den heiligen Feuerbergen, ich hatte keine Ahnung, wie kalt es hier sein würde.« Kazen zog den dicken Umhang fester um seine Gestalt. Das dunkle Blau stand ihm, wenngleich sein Anblick mir bittere Säure die Kehle hinauftrieb. Der Wasserkönig war so zuvorkommend gewesen, Kleidung für uns bereitzustellen, damit unsere Anreise schneller vonstattengehen konnte und nicht zunächst neue Stücke aus Lysân angefordert werden mussten.
Ich selbst war in feste Hosen gekleidet und trug unter dem saphirblauen Umhang eine ähnlich pompöse Jacke, wie der Herrscher Wîrohirs sie bevorzugte. Es bedurfte all meiner Willenskraft, die Abscheu gegen diesen Aufzug nicht zu zeigen. Bereits jetzt, ohne einen Übungskampf, spürte ich, wie meine Glieder ihrer Bewegungsfreiheit beraubt waren, und fühlte mich bei jedem Schritt wie eine hölzerne Puppe, der man zu wenig Gelenke geschnitzt hatte. Ganz davon abgesehen, dass mich jede Nuance dieser Farbe an Augen erinnerte, deren Anwesenheit meinen Geist ablenkte. Etwas, das ich mir auf diesem Kontinent nicht erlauben durfte.
»Ich auch nicht.« Auch wenn ich die Feuerlande stets als meine Heimat betrachtet hatte, erfüllte diese Erkenntnis mich mit einem eigentümlichen Schmerz. Ich hatte niemals eine Wahl gehabt. Es war nicht mein Wunsch gewesen, in einem anderen Reich aufzuwachsen, und doch war ich meinem Geburtsort entrissen worden, bevor ich alt genug gewesen war, um mich an etwas zu erinnern.
Der feurige Blick meines Freundes ruhte auf mir und für einen Moment erwiderte ich ihn, hielt mich an dem vertrauten Anblick fest, bevor ich nickte. Es gab nichts mehr, womit wir das Treffen mit dem König hinauszögern konnten. Lediglich der Ankunftstag war uns gewährt worden, um uns von der Reise zu erholen. Heute sollte die Lehre seiner Gardisten beginnen.
»Ich würde gerne sagen, ich freue mich auf den Tag, doch das wäre eine Lüge.« Kazen sprach leise, schließlich befanden wir uns innerhalb der Palastmauern Wîrohirs, dennoch zierte ein freches Grinsen sein Gesicht. »Es gleicht einem Wunder, dass du es tatsächlich so lange geschafft hast, die Respektlosigkeiten dieses sogenannten Königs über dich ergehen zu lassen, ohne die Stimme oder dein Katana zu erheben.«
»Sagen wir, es war hilfreich, dass die Königin niemals eine Klinge bei sich trägt.« Kurz erlaubte ich mir das kleine Schmunzeln, welches an meinem Mundwinkel zupfte, dann streckte ich die Schultern durch und trat aus dem Zimmer.
Vor der Tür erwartete uns eine unscheinbar gekleidete junge Frau. Ihr Gesicht war gen Boden geneigt und die Art ihrer Körperhaltung weckte eine Erinnerung. Es war dieselbe junge Frau, die Kaito nach Lysân begleitet hatte. Mit einer Stimme, die klang wie fallender Schnee, bat sie uns, ihr zu folgen.
Kazen verengte skeptisch die Augen, unschlüssig, ob er sie auf den Frevel hinweisen sollte, einen Fîerir nicht anzusehen, doch ich schüttelte den Kopf. Die verspannte Haltung ihres Nackens und die sichtbare Wölbung ihrer Schultern zeugten davon, dass sie bereits sehr lange angehalten war, den Blick niemals zu heben. Inzwischen musste es ihr Schmerzen bereiten, eine aufrechte Körperhaltung anzunehmen. Und obgleich ich bisher keinen anderen Bediensteten des Wasserkönigs getroffen hatte, so war ich dennoch sicher, dass diese Zurschaustellung von Unterwürfigkeit nichts war, was diese junge Frau freiwillig tat.
Der Palast spiegelte den Prunk, den Kaito gerne an sich selbst sah. Dicke, unebene Mauern aus weißem Kalkstein stemmten sich gegen die klirrende Kälte und vermochten es dennoch kaum, Wärme zu spenden. Vielmehr erinnerten sie an erstarrte Meeresgischt, die jeden Augenblick in sich zusammenfallen und uns schutzlos dem ewigen Eis überlassen könnte. Intarsien aus schillerndem Perlmutt waren in die groben Poren eingearbeitet und zeichneten verschlungene Muster, die, gleich den Launen des Ozeans, keiner sichtbaren Ordnung folgten. Beinahe könnte man annehmen, dieses Gebäude wäre durch den Willen des Meeres erbaut worden, doch diese raue Schönheit wurde überblendet von pompöser Ausstattung, die das Auge bei jedem Schritt auf einen anderen schillernden oder goldverzierten Gegenstand lenken wollte.
Unser Weg endete vor reich verzierten Türen aus gebleichtem Treibholz. Mit größter Sorgfalt waren die, vom Ozean geschliffenen, Stücke aneinandergefügt und bearbeitet worden. Wellen, so detailreich, dass es den Anschein erweckte, man blicke auf die Weite des Meeres, verflochten sich mit der verblassten Maserung.
Würde ich den Herrscher, der uns im Thronsaal dahinter erwartete, nicht kennen, wüsste ich spätestens nach diesem kurzen Weg durch seine Residenz, wie viel ihn von den versiegten Herrschenden dieses Kontinentes trennte. Welche Kluft zwischen den Erbauern dieses Schlosses und seinem verzogenen Bewohner existierte.
Die junge Frau nickte mit gesenktem Kopf einem der Gardisten zu, der die breite Flügeltür flankierte, und dieser ließ seine Faust auf das ächzende Holz fahren, als habe er vor, es zu zerbrechen. Ob diese Art irgendeiner Form von Machtdemonstration uns gegenüber entstammte oder ob lediglich alles, was in Verbindung mit Kaito stand, zu viel sein musste, wusste ich nicht. Noch nicht.
Unsere Begleiterin sank in eine tiefe Verbeugung und erhob ihre zarte Stimme. »Wie gewünscht bringe ich Eure Gäste, Gischtgekrönter.«
»Die legendäre Generalin der Fîerir und ihre rechte Hand.« Der Wasserkönig erhob sich nicht von seinem Thron, sondern schlug lediglich die Beine übereinander und sank gegen die massive Lehne aus perlmuttüberzogenem Stein.
Ein Bild blitzte in meinen Gedanken auf. Ein flüchtiger Augenblick, kaum genug, um ihn zu erfassen, doch er zeigte einen anderen Mann, der auf diesem Thron saß. Einen mit warmherzigen meerblauen Augen und einem schwarzen Bart durchzogen von weißer Gischt. Blinzelnd wischte ich den Moment fort. Verärgert darüber, dass die Sehnsucht nach meiner Herkunft Bilder des versiegten Königs in meinen Geist zeichnete, die ich während meiner Recherchen in den Hallen der Schriften erblickt hatte.
»Legenden werden von den Lebenden über die Vergangenen geschrieben. Es kann keine Geschichte entstehen, wo der Lauf der Zeit noch nicht sein Ende erreicht hat.« Entgegen der Sitte beim Treffen einer höhergestellten Person ignorierte ich die Notwendigkeit eines Grußes. Schließlich hielt sich mein Gegenüber selbst nicht gerne mit Respekt gegenüber anderen auf und ich wollte wissen, wie weit sein Wunsch reichte, seine Garde ausgebildet zu sehen.
»Dann gedenkst du, dein Leben fortan niederen Zwecken zu widmen, oder weshalb sollte es wichtig sein, nicht bereits im Leben Teil der Geschichte zu werden?« Das Gletscherblau seiner Augen lag abwartend auf mir. Lauernd.
»Ich gedenke, den Geschichtenschreibern weit mehr zu berichten zu geben als meinen Umgang mit einer Klinge.« Seinen stechenden Blick zu erwidern, verursachte mir kein Unbehagen. Ein Umstand, der meinem Gegenüber nicht zu gefallen schien.
»Meiner bescheidenen Meinung nach sollten Legenden auch dann erzählt werden, wenn die Zeit keinen Einfluss zu nehmen vermag und ein Leben ewig währt.« Seine Stimme nahm einen bitteren Ton an.
Sicher eine Anspielung auf die Yōkai, wenngleich sein Zorn ihn auch in dieser Ansicht blendete und er scheinbar weit weniger Wissen über die Wesen besaß, die er so leidenschaftlich hasste, als ich angenommen hatte.
»Nichts ist für immer.«
Nichts ist für immer, Nîrach. Die Worte hatten meine Lippen verlassen, ohne dass ich darüber nachgedacht hatte. Ohne dass ich mir bewusst gewesen wäre, dass sie in mir widerhallen würden, gesprochen von einer Stimme, die ich nie wieder hören würde.
Ein Lachen durchschnitt den Moment. Teilte die Erinnerung in scharfkantige Scherben. »Nun, ich nehme an, gemessen an einem beinahe jugendlichen Alter muss das wohl so erscheinen.«
Ich vernahm ein kaum hörbares Schnauben hinter mir. Kazen fand diese Aussage wohl gleichermaßen lächerlich.
Der König klatschte in die Hände. »Aber wir sind nicht zusammengekommen, um über den begrenzten Horizont eines jungen Lebens zu sprechen. Nicht wahr?«
Flammen des Zorns brodelten in meinem Inneren und dieses Mal stand zwischen mir und der Unverschämtheit dieses Herrschers keine Maske, die mich hätte zügeln können. Das Gewicht meines Katanas war mir in diesem Moment allzu bewusst. Bemüht, die gleichgültige Miene aufrechtzuerhalten, wartete ich auf seine nächsten Worte. Denn dass er noch weitere auszusprechen gedachte, war so gewiss wie der morgendliche Ascheregen Fîerirs.
»Da mein Volk große Gefahren für die Wasserlieferungen in Kauf nehmen muss, erwarte ich, dass meine Garde den Künsten der Kämpfer Fîerirs in nichts nachsteht. Verstanden, Generalin?«
Meine Augen verengten sich kaum merklich. »Das ist das Ziel, jedoch liegt es nicht in meiner Hand, ob es erreicht werden kann. Selbst ein Drache kann einem Fisch nicht das Fliegen beibringen.«
Wut flackerte durch die Iriden des Wasserkönigs. Die Erwähnung eines Drachen in seinem Schloss forderte seine Selbstbeherrschung heraus, doch noch brach sie nicht. »Ich bin überzeugt davon, das Ziel kann erreicht werden. Zum Wohle aller Völker.«
Die kaum verhohlene Drohung seiner Worte ließ meine Mundwinkel zucken. Zorn war ein ebenso schlechter Berater wie Angst. Emotionen dieser Intensität ließen selbst den größten Strategen unvorsichtig werden. Und wer unvorsichtig wurde, beging Fehler.
Die Arme hinter dem Rücken verschränkt hob ich das Kinn. »Dann hoffe ich, Eure Garde ist angewiesen, jeder Anordnung meinerseits Folge zu leisten. Ich werde weder über meine Maßnahmen noch über mein Vorgehen diskutieren. Und ich nehme nicht an, dass Ihr bei jeder Unterrichtung anwesend sein möchtet, um meine Befehle weiterzugeben.«
»Sofern sich diese Anordnungen auf die Ausbildung erstrecken, sehe ich keine Schwierigkeiten darin.« Zum ersten Mal, seit wir den Thronsaal betreten hatten, blickte mein Gegenüber direkt in meine Augen. Nicht auf meine Lippen, nicht auf Kazen schräg hinter mir, nicht an die Decke. Was er zu finden gedachte, wusste ich nicht. Doch was auch immer es war, bekommen würde er es nicht.
Ich nickte lediglich.
»Dann beginnt. Ich werde mich später von den Fortschritten überzeugen. Raeliana, weise unseren Gästen den Weg zu den Gardequartieren und Übungsplätzen.«
Die junge Frau mit den hellen Haaren regte sich. »Natürlich, Gischtgekrönter.«
Kazen wandte sich ab, um ihr zu folgen. Da er während der gesamten Unterredung nicht einmal direkt angesprochen worden war, schien er eine Verabschiedung für unnötig zu halten, und ich konnte ihm da nur zustimmen.
An der Tür blieb ich stehen und sah über die Schulter. »Nur damit wir keinem Missverständnis erliegen, Kaito: Ich befolge lediglich Anweisungen einer einzigen Person. Solltet Ihr also etwas wünschen, wendet Euch an die Königin.«
Rote Flecken erschienen auf den Wangen des Wasserkönigs. Ihn bei seinem Namen zu nennen, war die größtmögliche Respektlosigkeit, die ich hätte begehen können. Und ich wusste, dieses Vergehen würde meinem anderen Herzen vorgetragen werden. So, wie ich es geplant hatte, um den Herrscher der Wîrohir mit seinen eigenen Waffen niederzustrecken. Mit Heimtücke und List. Dieser Mann hatte es nicht verdient, seinen Untergang kommen zu sehen.
Beißende Luft griff unter den Mantel und bäumte ihn auf. Verlieh dem Stoff den Anschein, eine sturmgepeitschte Welle würde meine Schritte begleiten, kaum dass wir die Mauern des Schlosses hinter uns ließen.
Nur wenige Bewohner hielten sich in der Nähe auf und jene, die es taten, eilten geschäftig und mit gesenkten Blicken über den ausladenden Platz. Als wäre es ein Vergehen, die Wohnstätte des Königs zu betrachten. Denn ich war überzeugt, selbst für die Wîrohir musste der Anblick des Palastes eine ganz eigene Faszination verströmen.
Kaskaden kristallklaren Wassers hatten sich einst über die Mauern ergossen und die unzähligen Wasserstraßen gespeist, die sich durch die gesamte Stadt zogen. Doch der eisige Wind der Endlichkeit hatte sie ihres Lebens beraubt und so überzogen sie den weißen Kalkstein mit bizarren Gebilden aus spiegelndem Eis. Sie brachen das Tageslicht und zeichneten Muster auf die Umgebung. Von den schmalen Vordächern, welche die Fenster vor den Wasserfällen geschützt hatten, reckten sich armdicke Speere erstarrten Wassers dem Boden entgegen. Glichen schmuckvollen Gitterstäben, die nicht in der Lage waren, das Grauen in ihrem Inneren einzusperren.
»Wir sollten eine der Eiskutschen nutzen. Die Quartiere liegen außerhalb des inneren Ringes, an der Küstenlinie.« Die zarte Stimme der jungen Frau drang kaum durch das beständige Knistern und Knacken, welches der Wind den Eisschichten entlockte.
Kazen rieb die Hände aneinander und auch ich spürte bereits nach diesem kurzen Augenblick des Stillstandes, wie die Kälte unnachgiebig in meine Glieder kroch.
»Wir folgen dir.«
Mit einem Nicken wandte sie sich nach rechts. Am Rand des Vorplatzes verlief eine breite Wasserader, deren beständiger Fluss kein fröhliches Glucksen mehr von sich gab, sondern leblos dalag. Die Oberfläche war glatt und spiegelte ein Abbild des Gefährtes, welches auf ihr stand. Gebogene Hölzer bildeten etwas, das einem Boot ähnelte, wenngleich es auf metallischen Kufen angebracht war. Davor lagen einige Felle aufgetürmt. Womöglich um die Mitfahrenden warm zu halten.
Ein Wîrohir mit jugendlichen Augen und einem Tuch vor Mund und Nase wartete daneben. Ein kaum wahrnehmbares Beben rann durch seinen Körper, als er die gekrümmte Gestalt unserer Begleiterin sah. Doch er wandte sich so schnell von ihr ab, dass es wie eine zufällige Bewegung wirken könnte, wenn man nicht genau hinsah. Seine Augen verrieten jedoch, dass er sie kannte, und auch ohne seine Lippen zu sehen, wusste ich in diesem Moment, dass er sie zusammenpresste.
Er musterte uns mit wachem Blick. Einem Blick, der keinen Zweifel daran ließ, dass er ebenso genau beobachtete wie ich. Ohne nach unserem Ziel zu fragen, deutete er auf die schmale Öffnung in der Seitenwand des eigentümlichen Bootes. »Ihr steht besser während der Fahrt nicht auf.« Seine Stimme klang schroff und doch, konnte sein Ton nicht über die Ähnlichkeit zu jener von Raeliana hinwegzutäuschen. Geschwister also.
»Tyr, aufwachen.«
Ein Grollen war die Antwort, so tief, dass es die Eisschicht vibrieren ließ. Was angemutet hatte wie ein Berg Felle, kam in Bewegung und erhob sich. Ein Jääkarhu.
Ein Keuchen erklang hinter mir. Im Gegensatz zu mir hatte Kazen nie zuvor ein solches Wesen gesehen. Nicht in Büchern und schon gar nicht leibhaftig.
Das Tier überragte uns um zwei Handbreit, der weiße Pelz strahlte im Licht der klirrenden Kälte und schwarze pupillenlose Augen richteten sich auf uns. Erneut erklang ein Brummen aus den Tiefen seiner Kehle, bevor es den Kopf neigte und Raelianas Bruder mit seiner armlangen Schnauze anstieß.
Dieser griff in einen Beutel an seiner Hüfte und holte etwas hervor. »Ich weiß schon, zuerst die Bezahlung.« Wenngleich solcherlei Speisen in Fîerir nicht verzehrt wurden, erkannte ich das gedörrte Fleisch von meinem Besuch mit den verloschenen Herrschenden. Es war unglaublich salzig, da es zunächst über Tage in den Fluten des Meeres gelagert wurde, bevor es schließlich getrocknet werden konnte.
Zufrieden brummend leckte sich der riesige Eiswolf über die Nase.
Ein Bild blitzte in meinen Gedanken auf. Nur eine Momentaufnahme. Meine Hände, viel kleiner als heute, vergraben im weichen Fell eines Welpen, der eingerollt an meiner Seite schlief.
Ich hatte angenommen, dass dies geschehen würde. Bereits bei meinem ersten Besuch hatte es Momente und Situationen gegeben, die Bilder in mir erweckt hatten. Erinnerungen eines Mädchens, welches vor fünfundzwanzig Jahren gestorben war.
»Steigt Ihr nun ein oder wollt Ihr doch zu Fuß gehen?« Ich vernahm das Grinsen in der Stimme des Bruders so deutlich, dass er das Tuch über seinen Lippen nicht fortziehen brauchte. Wenn man aufwuchs und die eigenen Zieheltern stets hinter Masken verborgen blieben, lehrte es einen, Nuancen wahrzunehmen, die Anderen verborgen blieben.
Mit einem Nicken folgte ich seiner Anweisung, doch Kazen zögerte. »Vielleicht sollte ich zu Fuß nachkommen, um mir einen Überblick der Gegebenheiten zu verschaffen. Das könnte wichtig für die Ausbildung der Gardisten sein.«
Mild lächelnd wandte ich mich meinem Kommandanten zu. »Die Gegebenheiten können wir bei anderer Gelegenheit begutachten.« Um meinen Freund nicht bloßzustellen, wandte ich mich an Raelianas Bruder. »Ich hörte, Jääkarhu seien sehr friedliebende Tiere. Es war mir jedoch nicht bewusst, dass die Wîrohir sie zu zähmen vermögen.«
Der junge Mann erwiderte meinen Blick, scheinbar unsicher, ob er gefahrlos mit mir sprechen konnte. Ebenso wie ich waren die Geschwister darauf bedacht, jedes Geräusch und jede Regung der Fremden zu beobachten, die nun ihre Gesellschaft teilten. Und auch wenn ich mich des Gedankens nicht erwehren konnte, dass zumindest der Bruder keine Sympathien für den König hegte, so konnten Informationen auch zum eigenen Vorteil eingetauscht werden. Dies galt jedoch ebenso für uns.
»Das liegt daran, dass man sie nicht zähmen kann. Sie sind friedlich, jedoch nur, wenn sie nicht gestört werden. Es gelingt nicht vielen Wîrohir, einen Jääkarhu zu ihrem Freund zu machen.« Die kaum wahrnehmbare Spur eines Lächelns ließ Raelianas Worte klingen wie ein frostiges Windspiel.
Die Brauen noch immer skeptisch zusammengezogen folgte Kazen meinem Beispiel und trat näher an das Gefährt. Jeden Schritt mit Bedacht gesetzt, bereit zurückzuweichen, sollte Tyr sich bewegen.
Die Dienerin Kaitos setzte sich uns gegenüber, während sich ihr Bruder hinter ihr auf eine Plattform stellte. Lediglich ein ledernes Band, welches er um sein Handgelenk legte, sicherte seinen Stand. »Eine kleine Warnung: Tyr verabscheut es, langsam zu gehen.«
Als wären diese Worte ein Kommando an den Eiswolf gewesen, setzte sich dieser in Bewegung. Das Gefährt folgte mit einem leisen Knacken, als würde das Holz unter der Kraft des Tieres ächzen.
Gewaltige Krallen gruben sich mit jedem Schritt in die spiegelnde Oberfläche des erstarrten Flusslaufes. Trieben uns schneller voran, bis beißender Wind einzelne Strähnen meines eng geflochtenen Haares befreite. Doch trotz der beinahe schmerzhaften Kälte erinnerte mich das Gefühl an eine Freiheit, die ich zuletzt in den Armen des Drachen erfahren hatte.
Mit ihm durch die ewigen Winde zu gleiten, war zunächst beängstigend gewesen, doch schließlich hatte sich mein Körper an das Gefühl zu fallen gewöhnt, und mein Geist war in der Lage gewesen, die einzigartige Aussicht auf den Kontinent in unserer Mitte zu genießen. Dieses Gefühl, losgelöst von allem zu existieren und dennoch ein Teil davon zu sein.
Schneller als angenommen verlangsamte der Jääkarhu seinen Lauf und Raelianas Bruder sprang von seiner Plattform. Selbst bei den Richtungswechseln hatte er keine zusätzliche Stabilität benötigt. Seine Balance war unglaublich. Ein König mit wacherem Blick für die Menschen seines Volkes hätte diese Stärke längst für seine Garde zu nutzen gewusst.
Kazen gab ein seltsames Geräusch von sich. Sein Gesicht war blass wie der uns umgebende Schnee und seine Lippen bildeten eine strenge Linie. Dennoch richtete er sich auf, wenngleich die Übelkeit ihn beinahe zu übermannen schien.