Die Lehrerin - Michael Zorn - E-Book

Die Lehrerin E-Book

Michael Zorn

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Beschreibung

Eines Morgens betritt sie die Klasse. Ganz anders als alle anderen Lehrer. Die Kadenberg. Die Ferien sind vorbei, und das neue Schuljahr beginnt. Frank ahnt, alles wird sich ändern. Er will wissen, wer die Kadenberg wirklich ist. Aber das Leben tut weh, und Hass ist eine Leidenschaft. Genau wie die Liebe. Eine Coming-of-Age-Geschichte über einen fünfzehnjährigen Schüler, dessen Welt aus den Fugen gerät, als eine neue Lehrerin an die Schule kommt. Leidenschaft steht nicht auf dem Lehrplan. Gefühle kann man nicht lernen.

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Für Regina und Joachim

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

1

Als sie zum ersten Mal die Klasse betrat, wusste er sofort, es würde eine besondere Stunde werden. Sie stellte die Tasche auf das Pult, schrieb mit großer Handschrift ihren Namen an die Tafel und wartete ab, bis es auf den Plätzen ruhig war.

»Mein Name ist Kadenberg. Ich übernehme ab heute den Deutschunterricht.«

Frank starrte sie an. Das weite Kleid mit dem hellen Muster leuchtete im Sonnenlicht. Sie musste neu auf die Schule gekommen sein. Er hatte sie noch nie gesehen.

Sie hatte eine schlanke Figur und aufrechte Schultern, und als sie einen Schritt in den Schatten trat, machten die Brüste unter dem runden Ausschnitt eine sanfte Bewegung. Das dunkle Haar hatte sie zu einem Zopf gebunden.

Es war die dritte Stunde.

Die Kadenberg stand an der Tafel und begann über den Unterrichtsplan der nächsten Wochen zu sprechen. Die Sonne schien durch die offenen Fenster und warf ein unwirkliches Licht über die Reihen der Bänke, die Luft war heiß und schwül, und nicht ein Windhauch drang von draußen über den Schulhof in die Klasse.

Sie verschränkte die Arme vor der Brust und ließ den Blick über ihre Köpfe schweben. Vielleicht war es das, was die meisten an ihr störte, die Lässigkeit und Ruhe, mit der sie ihnen entgegentrat, ohne eine Schwäche zu zeigen. Sie griff in ihre Tasche auf dem Pult und holte ein kleines gelbes Heft heraus.

»Das besorgt ihr euch für die nächste Stunde!«

Frank hasste Reclamhefte. Als sie den Autor und Titel an die Tafel schrieb, drehte sie ihnen den Rücken zu, und der Zopf fiel ihr über die Schulter. Frank musste dauernd hinsehen. Dann wandte sie sich wieder der Klasse zu und warf einen Blick zur Bank neben der Tür, wo der dicke Wiegand auf seinem Platz saß und mit offenem Mund in die Ecke starrte.

»Wie wär´s, wenn du mir einen Sitzplan zeichnest?«

Der dicke Wiegand zuckte zusammen.

»Warum ich?«

»Weil dich gerade alle anstarren …«

Der dicke Wiegand machte den Mund zu und musste überlegen. Es dauerte immer sehr lange, wenn er überlegen musste. Endlich kapierte er, griff zu Stift und Papier und machte sich an die Arbeit.

Die Kadenberg schritt durch die Reihen. Das Geräusch ihrer Absätze klang auf dem Boden. Frank ging neben seinem Nachbarn in Deckung und zog den Kopf ein. Fabio kaute wieder an den Nägeln.

Ihr Vorgänger, der alte Höppner, hatte nicht den Ehrgeiz gehabt, die Klasse über die Klinge springen zu lassen, und auch wenn Frank meistens keine Ahnung hatte, worum es im Unterricht ging, war er in Deutsch am Ende immer durchgekommen. Mit der Kadenberg würde es nicht so einfach werden.

Es war die erste Woche nach den Sommerferien, und schon jetzt hatte er wieder das Gefühl, langsam im Strom zu versinken.

Ka-den-berg. Drei Silben waren der Name, drei Vokale die Melodie. Sie gehörte nicht zu den Lehrern, die nur noch in die Schule kamen, um ihre Zeit abzusitzen. Sie glaubte, eine Aufgabe erfüllen zu müssen und wollte in ihre Köpfe schauen, um bessere Menschen aus ihnen zu machen. Frank wollte kein besserer Mensch werden. Fabio sah auch nicht danach aus.

Ihr Alter war schwer zu schätzen. Die Augenbrauen liefen in einem Winkel über die Stirn, die Lippen waren schmal und nicht ohne Leidenschaft, und am Kinn hatte sie ein Feuermal, das noch mehr auffiel, wenn sie lächelte.

Die Kadenberg lächelte nicht oft. Dafür hörte sie sich gern reden. Ihre Stimme reichte ohne Anstrengung bis in die letzte Reihe. Frank konnte nicht aufhören sie anzustarren.

Der schöne Fahrenholt meldete sich als Erster. Danach kam die magersüchtige Theresa an die Reihe. Es war wie immer. Alle hockten zusammen, um sich erneut ein Jahr durch die Räder der Mühle drehen zu lassen, die ganze Galerie des Schreckens, vereint in gnadenloser Langeweile.

Als der Gong die Stunde beendete, atmeten alle auf. Die Kadenberg stand am Pult und machte den Eintrag ins Klassenbuch. Der dicke Wiegand kam nach vorne und überreichte ihr seinen Sitzplan. Sie sagte nicht mal danke, packte ihre Sachen zusammen und warf einen letzten Blick durch die Reihen. Auf dem Flur hörte Frank ihre Schritte leiser werden. An der Tafel stand noch immer ihr Name.

Fabio griff zum Handy und schaute auf der Website der Schule nach.

»Die ist neu«, sagte er und zog eine Grimasse. »Deutsch und Geschichte …«

Jeden Morgen kam er mit dem Rennrad zur Schule gefahren, um in Form zu bleiben und steckte in seiner verschwitzten Sporthose wie in einer aufgepumpten Windel.

Endlich war große Pause. Frank holte sich eine Cola und schlenderte über den Schulhof zur Sporthalle. Unter den Kastanienbaum setzte er sich in den Schatten und beobachtete die Mädchen in der Raucherecke gegenüber.

Mit Daniel hatte er oft zusammen unter dem Kastanienbaum gesessen und die Mädchen in der Raucherecke beobachtet. Sie kamen sich immer sehr toll vor, tanzten mit ihren kleinen Ärschen über den Schulhof und machten sich über die Typen lustig, die gerade wieder eine Abfuhr gekriegt hatten.

An manchen Tagen war die ganze Welt eine Möse.

Frank kniff die Augen zusammen, und für einen Moment schien der ganze Schulhof im gleißenden Licht der Mittagshitze zu verbrennen. Die Welt stand in Flammen.

Nach der Pause hatten sie Unterricht bei Frau Doktor Jankowski im Chemiesaal der Schule. Eine kaputte Hüfte machte der Frau mit dem grauen Haar und dem russischen Akzent das Gehen schwer. Oft zog die Jankowski ein Gesicht, als wäre die Chemie das Einzige im Leben, von dem sie noch nicht enttäuscht worden war.

Danach hatten sie zwei Stunden Mathe bei Ewald Krone, einem gutmütigen alten Mann mit kahlem Schädel und großer Brille, der seine Klasse durch den Unterricht führte wie ein Großvater seine Enkel durch den Zoo. Ewald Krone schrieb die Tafel voll, wischte sie aus und schrieb sie wieder voll. Die Luft stand im Raum. Frank versuchte, wach zu bleiben. Die Mädchen schwitzten in der schwülen Hitze und hatten Glanz im Gesicht. Frank wusste, auch in diesem Jahr würde ihn keine ranlassen.

»Kommst du noch mit was trinken?«, fragte Fabio nach dem Unterricht. Er grinste, als wäre er zu lange Karussell gefahren. Daniel hatte recht gehabt. Fabio war ein Idiot. Trotzdem saßen sie auch in diesem Jahr wieder nebeneinander und taten, als wenn sie Freunde wären.

»Keine Zeit …«

»Wichsen kannst du auch später. Komm mit und wir quatschen über die Ferien.«

Frank hatte keine Lust über die Ferien zu quatschen. Es waren die miesesten Ferien gewesen, die er bisher erlebt hatte. Sie verabschiedeten sich bei den Fahrrädern, und Frank sah Fabio über den Schulhof davonkurven. Für einen Moment hatte er das Gefühl, alles könnte wieder so sein wie früher.

Der Himmel war blau und ohne Wolken, die Baumkronen leuchteten in der Sonne, und aus dem Gebäude strömte die Menge über die Straße und brachte den Verkehr zum Erliegen. Autos hupten. Leute fluchten. Die Luft brannte in der Hitze des Nachmittags.

Frank stand an der Haltestelle in der Menge und wartete auf den Bus. In seinem Schädel hämmerte das Blut. Irgendwer erzählte was von einer Arschfickparty. Alle lachten.

Frank schaute sich die Leute an. Er schaute sich die Häuser, die Straße und die Bäume an und hatte keine Ahnung, was das alles mit ihm zu tun haben sollte.

Als der Bus kam, setzte er sich ans Fenster, legte den Kopf an die Scheibe und fühlte seinen Schädel vibrieren. Plötzlich fürchtete er, es nicht mehr nach Hause zu schaffen.

2

Die Siedlung lag am Rande der Stadt zwischen den Feldern einer weiten Ebene und einem kleinen dunklen Wald, hinter dem das Rauschen der Züge zu hören war. Über dem Horizont lag der Himmel in einem endlosen Blau, und auf der Straße flimmerte die Luft in der Nachmittagshitze.

Frank ging durch die Unterführung, in der Tag und Nacht das Neonlicht brannte und kam zu den Containern, wo der Sperrmüll bis auf die Straße lag. Aus der Tiefgarage stank es wieder nach Pisse. Auf dem Hof spielten die Kinder Fußball und schossen das Leder auf die Mauer mit den Graffiti. Frank betrat die Eingangshalle, spuckte das Kaugummi in den Kübel mit den Plastikpflanzen und nahm den Aufzug in den elften Stock.

Seine Mutter stand in der Küche und machte Essen.

»Da bist du ja …«

Sie trug das graue Kostüm, das sie oft anhatte, wenn sie von der Arbeit in der Kanzlei nach Hause kam. Auf dem Herd standen zwei Töpfe, es gab Nudeln und Fleischsauce, und im Radio auf der Fensterbank spielten sie wieder den Sommerhit. Frank hasste den Sommerhit. Es war kein guter Sommer gewesen.

»Hast du Hunger?«

Frank schüttelte den Kopf.

Seine Mutter hörte auf im Topf zu rühren und legte die Hand an die Hüfte, als wäre sie noch immer eine junge Frau.

»Schlechte Laune?«

Auf den Balkonreihen gegenüber leuchteten die Markisen im Sonnenlicht, und der Dampf über den Töpfen zog durch das offene Fenster nach draußen. Einen Moment standen sie beide nur da und wussten nicht, was sie sagen sollten. Dann nahm Frank seine Tasche und verschwand auf sein Zimmer.

Er ließ sich aufs Bett fallen, schloss die Augen, und nur die Radiomusik aus der Küche verband ihn noch mit einer Welt, die ihn nicht mehr interessierte. Regungslos lag er da und versuchte mit einem Atemzug tausend Jahre auszuhalten.

Irgendwann rief ihn seine Mutter zum Essen, und Frank setzte sich an den Tisch und starrte auf den Teller.

»Hab doch gesagt, ich hab keinen Hunger …«

Seine Mutter schob sich die Brille auf der Nase zurecht. Sie sah aus wie ein Politiker auf einem Wahlplakat, der versuchte, das Volk zu belügen.

»Die schönen Nudeln …«

Frank hatte keine Ahnung, was an den Nudeln schön sein sollte. Seine Mutter fing an zu essen, und Fleischsauce klebte an ihrem Kinn. Es sah aus wie etwas, das man im Medizinstudium zu sehen bekam.

Frank schob den Teller beiseite und machte den Jogurt auf. Kirschgeschmack. Andauernd kaufte seine Mutter Kirschgeschmack. Die Musik im Radio wurde unterbrochen von einer Meldung über einen Falschfahrer auf der Autobahn. Bald würde es krachen. Brennender Schrott auf blutigem Asphalt. Alles bedeckt mit Fleischsauce und Nudelgedärm. Dann spielte wieder Musik, und seine Mutter wischte sich die Fleischsauce vom Kinn.

»Wie war´s in der Schule?«

»Wie soll´s gewesen sein?«

»Das frag ich dich …«

Frank rührte mit dem Löffel im Kirschjogurt.

»Wie immer …«

»Habt ihr keine neuen Lehrer?«

»In Deutsch …«

»Und?«

»Keine Ahnung.«

»Mann oder Frau?«

»Frau …«

»Und der Name?«

Frank zuckte mit den Schultern. Seine Mutter schüttelte den Kopf.

»Ich weiß die Namen meiner Lehrer noch immer!«

»Selbst schuld …«

Frank dachte wieder an die Kadenberg. Plötzlich war sie einfach da gewesen.

»Gehst du am Wochenende zu deinem Vater?«

»Keine Ahnung …«

»Wäre schön …«

Seine Mutter griff zu den Vitamintabletten, und das Wasser im Glas verfärbte sich zu einer gelben Brause. Seine Mutter glaubte an die Macht von Vitamintabletten, achtete auf ihr Aussehen und ging regelmäßig zum Sport. Nur manchmal, wenn sie sich unbeobachtet fühlte, wurden die Falten in ihren Augenwinkeln tiefer, und mit einem Blick, der müde und ratlos wirkte, schien sie nach etwas Ausschau zu halten, das sie vor langer Zeit verloren hatte.

»In den Fabriken mischen sie Beruhigungsmittel ins Essen«, sagte Frank.

Seine Mutter grinste.

»Sicher eine Verschwörung …«

»Die Politbonzen machen mit den Konzernen gemeinsame Sache. Die einen beherrschen das Volk und die anderen kassieren die Kohle.«

»Wenn du meinst …«

»Ich weiß, was da läuft. Bei mir wirkt das Zeug nicht.«

Seine Mutter blickte ihn über den Rand der Brille an.

»Vielleicht sollten sie mal die Dosis erhöhen?«

Frank mochte es nicht, wenn seine Mutter versuchte witzig zu sein. Dann bekam sie eine Nachricht auf dem Handy und tippte gleich eine Antwort zurück.

»Von Renate …«

»Will ich nicht wissen«, sagte Frank.

Parfumgestank hing in der Wohnung, wenn die Freundinnen seiner Mutter alle paar Wochen zu Besuch kamen, und aus dem Wohnzimmer klang das Lachen von vier Frauen, die zu viel Prosecco getrunken hatten. Dauernd beschwerten sie sich über ihre Männer, die keine Ahnung hatten oder über die Kinder, die ihnen das Leben schwermachten, sie jammerten über den Haushalt oder die Arbeit oder das Geld, das immer weniger wurde und beteuerten, wie nötig sie es hatten, endlich mal wieder aus allem rauszukommen. Dabei hatte Frank den Eindruck, es machte ihnen Spaß, unglücklich zu sein.

Renate war keine Ausnahme. Im Flur vor dem Bad hatte sie eines Abends aus Versehen mit den Brüsten seinen Arm gestreift und gelächelt. Seitdem hoffte Frank auf ihr Einverständnis, wenn er beim Wichsen an sie dachte.

Seine Mutter schwieg und aß weiter. Frank schob den Jogurtbecher über den Tisch und verschwand wieder auf sein Zimmer. Er warf sich aufs Bett und schloss die Augen. Noch bis zum Abend hörte er seine Mutter durch die Wohnung laufen, beschäftigt mit den unzähligen Kleinigkeiten, die ihr ganzes Leben ausmachten.

»Wir sollten den Scheißladen abbrennen«, hatte Daniel an ihrem letzten gemeinsamen Abend vor den Ferien gesagt. »Alles abfackeln und drauf geschissen …«

Er langte unter das Bett, das sie noch nicht auseinandergebaut hatten und holte eine Flasche Jägermeister hervor. Frank ließ es bleiben. An ihrem letzten gemeinsamen Abend wollte er einen klaren Kopf behalten. Daniel nahm einen großen Schluck und ließ die Flasche wieder unter dem Bett verschwinden.

»Jetzt mach nicht auf trocken …«

Der ganze Umzug kam ihnen vor wie ein großes Missverständnis. Frank blickte auf die fertig gepackten Kartons in der Ecke und hörte von nebenan, wie Daniels Eltern dabei waren, das Wohnzimmer abzubauen. Daniel drehte die Musik lauter.

»Und denk dran, ich will dich morgen hier nicht mehr sehen!«

»Aber die anderen kommen«, sagte Frank. »Die haben zum Abschied noch eine Überraschung besorgt.«

»Scheiß auf die Überraschung! Hauptsache du bist nicht da und ziehst eine Fresse.«

Sie hörten Musik und erzählten von früher, und nach einer Weile wollte Daniel wissen, welche Filme im Kino liefen. Frank griff zum Handy, um nachzuschauen. Plötzlich wurde ihnen klar, dass sie nicht mehr zusammen gehen würden. Daniel machte die Musik aus und warf einen Blick aus dem Fenster. Frank griff doch noch nach dem Jägermeister unter dem Bett und nahm einen großen Schluck.

»Brenn dir einen«, sagte Daniel. »Hau weg!«

Als es Zeit war zu gehen, stand Daniels Mutter auf dem Flur und hatte ganz rote Augen. Sie nahm Frank in die Arme, was sie noch nie getan hatte, und Daniels Vater schüttelte ihm lange die Hand und erzählte von einem neuen Kapitel, das nun für sie alle beginnen würde. Frank verstand kein Wort.

Daniel begleitete ihn nach unten. Im Aufzug standen sie beide in der Ecke und wussten nicht, was sie sagen sollten. Daniel sah blass aus. Seine Augen funkelten vom Jägermeister in einem irren Glanz.

Frank konnte nicht glauben, dass es ihr letzter gemeinsamer Abend war. Am Himmel leuchteten die Sterne in einem magischen Licht, und von den Feldern wehte ein lauer Wind zur Siedlung herüber. Es war genau die richtige Nacht, um sich mit ein paar Bier ins Gras zu legen und den Beginn der großen Ferien zu feiern.

Von früher gab es noch genug zu erzählen – von den Mutproben an den Bahngleisen, die sie als Kinder gemacht hatten, der Prügelei mit den Kanaken und dem ersten Besäufnis auf Wodka und Bier. Ärger hatte es genug gegeben! Immer waren sie davongekommen. Abgetaucht und weggeduckt. Bis zu diesem Abend. Und einer musste als Erster gehen. Daniel reichte ihm die Hand.

»Und lass dich nicht ficken!«

Frank kriegte kein Wort raus. Daniel blickte ihn an. Frank erschrak. Daniel war schon längst woanders. Frank drehte sich um und lief über die Straße. Als er stehenblieb und sich umsah, war Daniel bereits verschwunden. Der Hauseingang lag verlassen im Neonlicht.

Frank rannte los und stürmte über den Parkplatz. Er stolperte an den Autos vorbei und jagte von einer Hausnummer zur nächsten. Vor seinen Augen drehte sich alles. Auf einer Wiese hinter den Häusern konnte er nicht mehr weiter und fiel in der Dunkelheit auf die Knie. Seine Lunge brannte. Sein Herz raste. Dann kotzte er den Jägermeister aus.

Seine Mutter lag schon im Bett und schlief. Sie hatte ihm erlaubt, länger wegzubleiben. Frank schlich ins Bad, setzte sich auf den Rand der Wanne und suchte im großen leeren Auge der Waschmaschine nach einer Antwort …

Frank stand vom Bett auf und schaltete den Fernseher ein. Die Meldungen in den Nachrichten kamen ihm so lächerlich vor wie die Trickfilme auf dem Kinderkanal – Bomben explodierten, Flugzeuge stürzten ab, Städte fielen in Trümmer. Egal, was passierte, immer gab es einen, der wieder aufstand und weitermachte.

Auf dem Balkon gegenüber stand ein alter Mann in Unterhemd mit Bierdose in der Hand. Er starrte in den Hof und sah aus, als wollte er springen. Seine blasse Haut schien sich im Abendlicht aufzulösen. Sonst war es in der Siedlung ruhig.

Der Himmel war weit und klar, der flirrende Dunst der Hitze hatte sich verzogen, und irgendwo hinter dem Horizont lebte Daniel sein neues Leben und ließ nichts mehr von sich hören. Die Ferien waren vergangen wie der Traum einer Nacht. Die letzten Tage des Sommers hatten begonnen, und Frank stand am Fenster, blickte in die Ferne und wusste, dass alles keinen Sinn mehr hatte.

3

Die Kadenberg betrat die Klasse, legte die Tasche auf das Pult und blickte auf den Schulhof hinaus. Draußen fuhr der Wind durch die Bäume, und die Wolken zogen in langen Bahnen über den Himmel.

Einen Moment schloss sie die Augen und ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen. Es sah aus, als ob sie schwebte. Dann wandte sie sich wieder der Klasse zu, und mit einem Blick, der wohl eine Begrüßung sein sollte, suchte sie die Reihen ab, als wäre sie schon immer ihre Lehrerin gewesen.

An diesem Vormittag trug sie eine weiße Bluse mit weitem Kragen und kurzen Ärmeln und hatte das Haar zu einem Knoten gebunden, die hohe Stirn und der schwarze Lidstrich betonten den strengen Ausdruck ihres Gesichts. Ihre Augen leuchteten. Grüne Augen.

»Worüber haben wir das letzte Mal gesprochen?«

In der Klasse war es still. Sie stand an der Tafel und legte den Finger auf das Feuermal am Kinn.

»Nicht einer, der sich erinnert?«

Niemand meldete sich.

»Oder sich erinnern will?«

Frank zog den Kopf ein und schaute sich um. Er hatte sich schon lange nicht mehr gemeldet. In keinem Fach. Die Kadenberg warf einen Blick auf den Sitzplan und rief einen Namen auf. Fabio biss sich vor Schreck auf die Lippen und fing an zu stottern. Weit kam er nicht. Frank musste sich das Grinsen verkneifen. Mitleid war für die Sonderschule.

Die Kadenberg rief einen anderen Namen auf. Diesmal erwischte es Francesca in der letzten Reihe. Francesca gähnte. Was sie an Oberweite zu bieten hatte, fuhr sie aus wie ein Fahrwerk vor der Notlandung. Bei den meisten Lehrern funktionierte der Trick. Doch die Kadenberg stand nicht auf kleine Mädchen.

»Wie war die Frage?«

Die Kadenberg schaute böse. Zwei Blindgänger gleich zu Beginn der Stunde, das war nicht sehr ermutigend. Das Feuermal an ihrem Kinn glühte.

Francesca wurde rot. Plötzlich schienen ihre Brüste in dem engen Oberteil kleiner zu werden. Die Kadenberg stand am Pult und erledigte Francesca mit einem Blick. Frank hatte keine Ahnung, wie sie das mit den Augen machte. Francesca sank auf ihrem Platz zusammen und hielt den Mund.

Die Kadenberg trat ans Pult, legte den Sitzplan beiseite und holte ihr Notebook aus der Tasche. Auf die Rückseite des Bildschirms hatte sie einen kleinen grinsenden Totenkopf geklebt. Damit war klar, sie wurden von einer Verrückten unterrichtet.

»Ich habe den Eindruck, es fällt euch schwer, meine Arbeitsweise zu akzeptieren. Ich weiß nicht, was mein Vorgänger mit euch gemacht hat, aber ich mache es anders!«

Frank glaubte ihr jedes Wort.

»Schlechte Vorbereitung, vergessene Hausaufgaben und andere Schlampigkeiten bewerte ich in Zukunft mit einem Minus.«

Aus ihrem Mund klang der drohende Untergang wie eine geheimnisvolle Prophezeiung. Erschreckend und verführerisch zugleich.

»Wenn die Klasse sich weigert mitzuarbeiten, werde ich die Klausuren in Zukunft nicht ankündigen. Dementsprechend dürfte der Notenspiegel ausfallen …«

Sie ging durch die Reihen und versuchte in ihren Gesichtern zu lesen. Es gab nicht viele Lehrer, die das konnten. Die Kadenberg kannte alle Tricks und Ausreden. Frank hing an ihren Lippen.

Irgendwann trat sie einen Schritt zur Seite, und mit einer Bewegung, die Frank noch bei keiner Lehrerin gesehen hatte, hob sie den Po über die Tischkante, setzte sich auf das Pult und lehnte sich mit der Schulter ins Sonnenlicht. Ihre Augen strahlten.

Während sie redete, zog sie mit dem Schuh kleine Kreise durch die Luft. Frank konnte nicht aufhören hinzuschauen. Immer wieder zog sie mit dem Schuh kleine Kreise durch die Luft. Hin und her und auf und ab. Ein schwarzer Lederschuh in der Sonne. Frank starrte auf den Saum ihrer Hose und den nackten Fußknöchel darunter. Bisher hatte er in der Deutschstunde noch nie einen Ständer gekriegt.

Die Kadenberg redete weiter.

»Fontane war auch ein großer Schriftsteller dieser Zeit …«

Hörte nicht auf zu reden.

»Aber zu Fontane kommen wir später …«

Frank verstand kein Wort. Die ganze Zeit sah er die Kadenberg auf dem Pult in der Sonne sitzen und mit dem Schuh kleine Kreise in die Luft zeichnen. Erst der Gong riss ihn aus seinen Gedanken.

Nach dem Unterricht kamen alle zusammen und kriegten sich nicht mehr ein. Vor allem die Mädchen konnten nicht aufhören, sich das Maul zu zerreißen. Francesca kramte in ihrem Täschchen und frischte das Make-up wieder auf. Ihre Hand zitterte.

»Die Alte will uns ficken«, sagte Fabio und zog ein dummes Gesicht, das gut zu ihm passte. Frank hatte nichts dagegen. Wenn es eine Klasse verdient hatte, mal wieder richtig gefickt zu werden, dann ihre.

In der Pause saßen sie draußen vor der Halle und rauchten. Frank spuckte auf die Straße. Ohne Daniel machte selbst das Qualmen keinen Spaß mehr.

Elena kaute einen Apfel und machte Geräusche, als würde sie mit der Nase essen. Sie war kein Mädchen, für das sich die Jungs interessierten. Mit dem kurzen Haar und der flachen Brust sah sie selbst aus wie ein Junge, der sich nicht für Mädchen interessierte.

»Was macht Daniel?«

Frank blies den Rauch in die Luft und nickte. Auf dem Parkplatz gegenüber standen die Autos der Lehrer und glänzten in der Sonne. Einer der Wagen gehörte sicher der Kadenberg.

»Wenn er in der neuen Schule das Maul auch so weit aufreißt, kriegt er gleich auf die Fresse«, meinte Casino. Er war ein magerer Typ mit Rastalocken und Löchern in den Ohren und sah aus, als würde er eines Tages auf dem Bahnhofsklo an einer Überdosis sterben. Dabei gehörte er zu den Besten der Klasse.

»Du konntest Daniel nie leiden«, sagte Fabio.

»Große Fresse. Kleiner Verstand.«

Elena warf den abgekauten Apfel ins Gebüsch.

»Ich fand ihn witzig! Hat er ne Freundin gehabt?«

Bei Daniel war immer was gelaufen. Zuletzt mit Alina, dem russischen Mädchen aus dem Einkaufzentrum – große Brüste, hübsches Gesicht, aber ein Hintern so dick, dass Daniel nicht mit ihr angeben konnte. Vor dem Umzug hatte er sie mit einer kurzen Nachricht abserviert und schnell vergessen.

»Manche Frauen stehen auf große Fresse«, meinte Elena.

Fabio machte große Augen.

»Auch Francesca?«

»Wieso? Willst du bei der auch ran?«

»Nur schnuppern …«

Elena lachte. Die meisten Jungs in der Klasse waren schon einmal in Francesca verknallt gewesen. Manche sogar zweimal. Aber gelaufen war nie was. Francesca stand nur auf ältere Typen, und wenn sie nach der Schule von ihrem Freund im offenen Cabrio abgeholt wurde, strahlte sie wie ein gutbezahlter Pornostar.

»Mehr als dumm gucken und Titten raus kann die nicht.«

»Francesca ist fertig«, meinte Casino. »Die Kadenberg hat sie abgekocht.«

Elena klopfte Fabio auf die Schulter und grinste.

»Nicht die Einzige.«

Fabio kniff die Lippen zusammen.

»Wie die geguckt hat! Als wollte sie mir was abschneiden.«

Frank warf die Kippe auf die Straße. Die ganze Zeit das dumme Gequatsche. Aber mit Fabio, Elena und Casino die Pause zu verbringen, war immer noch besser, als allein über den Schulhof zu laufen und Freiwild zu spielen.

Auf der anderen Seite der Pausenhalle hatte sich wieder die Oberstufe versammelt. Eine Rauchwolke über den Köpfen. Dazwischen stand Arm in Arm ein Pärchen und konnte nicht aufhören rumzumachen. Niemand schien es zu interessieren. Nur Frank musste dauernd hinsehen. Dabei reichte die Vorstellung nicht mal für einen Stern bei YouPorn.

»Die Kadenberg will Opfer«, meinte Elena.

Casino nickte.

»Hält sich für was Besseres und macht Dampf.«

»Ausgerechnet in unserem Laden?«

»Vielleicht hat sie Bockmist gebaut und muss es bei uns ausbaden.«

»Das ganze Getue von ihr …«

»Was für Getue?«

»Hast du gesehen, wie die läuft? Als würde sie abends an der Stange tanzen!«

Fabio lachte.

»Schön die Beine spreizen!«

»Übrigens heißt sie Sabine. Hab auf der Website geguckt. Wir haben drei neue Lehrer an der Schule, und eine davon ist die Kadenberg. Die haben auch ein Foto reingestellt.«

Frank hatte es auch bemerkt. Als sie auf dem Pult Platz genommen und mit dem Schuh kleine Kreise in die Luft gezeichnet hatte. Das Becken einer Tänzerin. Gerade so ein bisschen. Biologische Ausnahme. Erotische Anatomie. Leider kein Schulfach. Nur Sabine heißen war nichts Besonderes. In jeder Straßenbahn gab es eine Sabine. Wenn nicht mehr.

Nach der Pause hatten sie Erdkunde bei der Schrohe. Die Schrohe sah aus, als hätte sie immer eine Flasche im Lehrerzimmer stehen, ohne sich die Mühe zu machen, den Sprit zu verstecken. An diesem Tag kam sie in die Klasse und trug ihre Sachen in der Tüte eines Sanitätshauses spazieren. Frank musste gleich an Windeln und orthopädische Strümpfe denken. Der Schrohe war alles egal. Vielleicht die beste Art, um auf Dauer mit allem fertig zu werden.

4

Frank wartete auf die Kadenberg. Er wartete jeden Tag und jede Stunde, und vielleicht wartete er sogar, wenn er glaubte, es nicht zu tun. Es war das Warten, das seine Zeit bestimmte, und so wie es ihn beschäftigte und durcheinanderbrachte, gab es ihm auch einen Sinn und eine Bedeutung.

Vor jeder Deutschstunde saß er auf seinem Platz am Fenster und hörte ihre Schritte über den Flur kommen. Immer wenn sie die Klasse betrat, musste er für einen Moment den Blick abwenden, aus Angst, sich sonst zu verraten.

Es waren die kleinen Dinge, die ihm an ihr gefielen – die Narbe, die sich über ihre Schläfe zog, der breite Silberring am Daumen, der für eine Lehrerin viel zu auffällig war, die Blechdose, die sie hervorholte, wenn sie ein Pfefferminz lutschte. Dinge, über die Frank sich den Kopf zerbrach, wenn er abends im Bett lag und nicht schlafen konnte.

Frank träumte von der Kadenberg. Er wollte sie haben. Seinen Kopf zwischen ihre Brüste drücken und festhalten. Sie küssen. Sie stieß ihn auf seinen Platz zurück und lachte ihn aus. Sie war die Lehrerin, und mit einem Flüstern, das sein Herz zum Rasen brachte, stellte sie ihm die einzige Frage, auf die er wirklich eine Antwort wusste: »Willst du mich?«

Immer wieder schritt sie an seinem Platz vorbei und blickte ihm in die Augen, öffnete das Haar und schüttelte die langen dunklen Strähnen über seiner Bank aus. Mit nassem Fleck in der Hose schreckte Frank mitten in der Nacht aus dem Schlaf auf und starrte in die Dunkelheit.

Die Kadenberg.

Seit sie da war, gab es viel Gerede und Gerüchte. Die Mädchen konnten nicht aufhören, sich das Maul zu zerreißen. Andere versuchten, sich beliebt zu machen, und sogar die Idioten, die sonst nichts hinkriegten, strengten sich plötzlich an und versuchten gerade zu sitzen.

Die Kadenberg ließ sich nicht täuschen und bevorzugte keinen. Sie war nicht wie andere Lehrer. Auch nicht wie die Freundinnen seiner Mutter, die zu Besuch kamen, Prosecco tranken und über die Angebote im Reisebüro redeten. Frank hörte auf, an Renate zu denken.

Die Kadenberg las viele Bücher, ging ins Theater oder Museum und besuchte Ausstellungen und Konzerte. Sie mochte gutes Essen und guten Wein, und wenn sie ausging, um sich zu amüsieren, tanzte sie bis zum Morgen in einer Salsa Bar und schlenderte durch die leeren Straßen nach Hause, um in Gedanken den Klängen der Musik zu lauschen.

Am Wochenende ging sie reiten, lief die Langstrecke im Park oder ruderte bei schönem Wetter mit dem Boot auf den See hinaus. Abends saß sie zu Hause im Garten, sah die Sonne über den Dächern der Stadt untergehen und schrieb lange Sätze in ihr Tagebuch.

Tatsächlich konnte Frank nur wenig über sie in Erfahrung bringen. In diesem Schuljahr war sie neu auf das Gymnasium gekommen, und Nadine, deren Bruder in die Oberstufe ging, erzählte, dass sie dort einen besonderen Namen bekommen hatte.

»Stichsäge!«

Die Kadenberg trug keinen Ehering. Sie war eine Frau, die wusste, was sie wollte, und es wäre dumm gewesen, sich einzubilden, sie für sich allein zu haben.

Die Kadenberg brachte ihn oft auf dumme Gedanken. Einmal wartete Frank zu Beginn der großen Pause im Treppenhaus vor dem Lehrerzimmer auf sie. Als er Stichsäge in der Menge die Stufen herunterkommen sah, trat er aus der Deckung hervor, griff nach dem Handy und ließ die Kamera laufen. Im hektischen Durcheinander bemerkte niemand, wie er filmte.

Obwohl die Aufnahme nicht gut war, speicherte Frank die Datei auf seinem Computer ab. Er speicherte auch das Foto ab, von dem Elena ihnen erzählt hatte und das die Kadenberg mit zwei anderen Lehrern auf der Website der Schule zeigte, eine Aufnahme, auf der sie so unbeschwert lächelte, wie sie es im Unterricht noch nie getan hatte.

Im Internet fand Frank die Schule, an der sie zuvor unterrichtet hatte, ein Gymnasium in Rosenheim, wo sie inmitten eines großen Kollegiums abgebildet war, ein kleines Gesicht unter vielen anderen, ernst und verschlossen, als hätte es ihr dort nicht gefallen. Ansonsten gab es nicht mal einen Telefoneintrag von ihr.

Wieder beschloss Frank zu warten, setzte sich nach dem Unterricht auf eine Bank vor der Pausenhalle und behielt die Straße im Auge. Es sah aus, als wäre es Zufall.

Die Sonne schien durch die Blätter der Bäume und warf helle Flecken auf das Kopfsteinpflaster, auf dem Parkplatz gegenüber standen die Autos der Lehrer und glühten in der Hitze. Endlich lief die Menge auseinander, und vor dem Gebäude wurde es still. Frank saß auf der Bank und wartete.

Nach einer Weile hörte er wieder die Glastür der Pausenhalle zuschlagen und Schritte die Stufen zur Straße heraufkommen. Das Geräusch ihrer Absätze hätte er überall wiedererkannt.

Sie schien es nicht eilig zu haben. Die Tasche über der Schulter, schlenderte sie in Gedanken versunken zum Parkplatz, ohne ihn auf der Bank zu bemerken. Der graue Rock rutschte bei jedem Schritt ein Stück über ihre Knie, und die helle Bluse schimmerte im Sonnenlicht, das durch die Baumkronen fiel. Das hochgesteckte dunkle Haar fiel ihr in Strähnen in den Nacken. Es sah wild und verwegen aus, und plötzlich, bevor sie den Parkplatz erreichte, blieb sie noch einmal stehen, um sich den Schuhriemen über die Ferse zu ziehen.

Mit einer Bewegung, die Frank daran erinnerte, was Elena gesagt hatte, fand sie wieder in den gewohnten Schritt zurück. Die Kadenberg war eine Tänzerin.

Sie ging über den Parkplatz, verschwand zwischen den Autos und tauchte in einem roten Alfa wieder auf. Es war ein altes Model. Der Wagen hätte mal wieder zur Wäsche gemusst. Sie gab Gas, ließ den Motor aufheulen und raste an der Schule vorbei. Auf dem Kennzeichen stand SK. Mit ausgestreckten Armen saß sie am Steuer, eine Sonnenbrille auf der Nase und bog an der Kreuzung hinter der Brücke ab, ohne zu blinken. Dann war sie im Verkehr verschwunden.

Frank steckte sich eine Zigarette an und sah den Qualm über die Straße wehen.

»Ich wusste nicht, dass du rauchst?«

Frank zuckte zusammen. Er hatte die Jankowski nicht kommen gehört. Plötzlich stand sie neben ihm, den Aktenkoffer in der Hand und grinste, wie sie es im Unterricht noch nie getan hatte. Wie vertrocknete Blüten hingen die grauen Locken von ihrem Kopf herab. Sie musste einen harten Tag gehabt haben.

»Mach schon, Junge!«

»Zigarette?«, fragte Frank.

»Was sonst? Deine Unschuld will ich nicht haben.«

Frank reichte ihr die Packung. Die Jankowski ließ sich Feuer geben und genoss das Gift in tiefen Zügen.

»Bus verpasst?«

Frank schüttelte den Kopf.

»Oder Ärger gehabt?«

»Ärger?«

»In deinem Alter hat man doch dauernd Ärger.«

Frank hatte keine Ahnung, was die Jankowski wollte.

»Kein Ärger …«

Wieder nahm sie einen Zug und stieß den Qualm aus. Sie musste schon als Kind angefangen haben zu rauchen. Die Jankowski bemerkte seinen verwunderten Blick.

»Früher durften wir im Lehrerzimmer immer rauchen. Im Winter haben wir nicht mal die Fenster aufgemacht, weil es draußen so kalt war.«

Frank streifte die Asche ab.

»Klar …«

»Für so was würden sie uns heute rausschmeißen. Für die Schulbehörde ist Rauchen schlimmer als Kindesmissbrauch.«

Die Jankowski hatte einen merkwürdigen Humor.

»Hat sich vieles geändert, seit ich damals angefangen hab.«

Manchmal fuhr ein Auto auf der Straße vorbei, und die Räder schlugen über das Kopfsteinpflaster vor der Schule. Plötzlich hatte Frank eine Idee.

»Alles ändert sich irgendwann«, stimmte er zu. »Unser Deutschlehrer ist auch vor den Ferien weg.«

Die Jankowski hielt die Kippe in der Hand wie ein Handwerker und nickte.

»Ich weiß. Der alte Herr Höppner. Große Verabschiedung im Lehrerzimmer. Ich war auch dabei und hab eine Träne verdrückt.«

»Dafür haben wir jetzt eine Neue. Kadenberg …«

»Frau Kadenberg«, sagte die Jankowski.

»Frau Kadenberg«, wiederholte Frank.

Die Jankowski überlegte.

»Die Kollegin ist neu bei uns. Ich weiß gar nicht, wo die vorher war.«

Frank verriet es ihr nicht.

»Anderes Kaliber. Hält euch in Form?«

»Geht so …«

»Dann ist der Streichelzoo vorbei?«

Frank sagte nichts.

»Abwarten«, meinte die Jankowski. »Die Kollegin muss sich erst eingewöhnen. So ein Wechsel auf eine andere Schule ist nicht leicht. Und reden kann man mit Frau Kadenberg gut. Es gibt Kollegen, die sind voll und ganz auf ihrer Seite. Auch wenn mir ihr Ansatz persönlich nicht gefällt, muss ich zugeben, frischer Wind tut uns gut …«

Frank ließ sie reden.

»Der Direktor hat uns gewarnt. Da käme jemand mit klaren Ansichten, der keiner Diskussion aus dem Weg geht. Was für gewöhnlich heißt: Vorsicht, Nervensäge! Aber bisher gibt es nichts Schlechtes zu sagen.«

In der bunten Bluse mit den weiten Ärmeln sah die Jankowski aus wie ein abgestürzter Südseevogel.

»Sitzt du jetzt immer nach der Schule hier rum?«

»Wieso?«

»Dann weiß ich, wo ich in Zukunft meine Kippen schnorren kann.«

Sie lachte, warf die Zigarette auf den Gehsteig und trat die Glut unter ihrem orthopädischen Schuh aus.

»Ich muss weiter.«

Frank nickte. Die Jankowski wünschte ihm einen schönen Tag und humpelte los. Auf der Straße drehte sie sich noch mal um.

»Und deine Beteiligung muss besser werden!«

Frank sah sie auf dem Parkplatz zwischen den Autos verschwinden. Hoffentlich hatte sie nichts gemerkt. Frank warf die Kippe unter die Bank und machte, dass er nach Hause kam.

Sofort setzte er sich an den Schreibtisch und begann zu zeichnen. Seit Wochen hatte er den Uni Kuru Toga nicht mehr angerührt. Nun holte er wieder die Sachen heraus und legte sich das Papier zurecht.

Für gewöhnlich fiel es ihm schwer, einen Einfall zu Ende zu bringen. Diesmal ging ihm das Zeichnen leicht von der Hand. Sein Stil war klar und einfach, keine unnötigen Details durften von der Geschichte ablenken.

Frank zeichnete die Kadenberg – ein wenig musste er üben, bis ihm das Gesicht aus der Erinnerung gelang. Der Ausdruck der Augen, die Stirn und die Wangen. Schließlich die Haltung des Körpers und das Feuermal am Kinn, das er mit besonderem Vergnügen setzte.

Seine eigene Figur war schwieriger. Zu fremd kam ihm sein Gesicht vor. Zu unvorstellbar.

Frank verkleinerte seine Nase, machte die Wangen schmaler und zog die Augenbrauen länger, seine Stirn ließ er, wie sie war, aber das Haar strich er wilder und die Konturen schärfer. Irgendwie ähnelte seine Figur Daniel.

Dann zeichnete er die Schule, ein Vormittag während der Pause, als er über den Flur lief und plötzlich die Kadenberg vor sich in der Menge auftauchen sah. Sie kam näher und zog ihn auf die Seite.

»Ich muss mit dir reden …«

Sie meinte tatsächlich ihn. Wieder trug sie das Haar zu einem Knoten gebunden, und ein Hauch von Parfum flog ihm aus dem offenen Ausschnitt der Bluse entgegen.

»Am besten, wo wir ungestört sind. Vielleicht am Wochenende, wenn du Zeit hast?«

Frank verstand nicht.

»Am Wochenende ist keine Schule …«

Die Kadenberg schaute sich um. Niemand beachtete sie. Sie kam einen Schritt näher und sprach leise.

»Du musst es für dich behalten.«

Dann drückte sie ihm einen Zettel in die Hand. Frank ließ das Papier in der Faust verschwinden.

»Ruf mich an und wir besprechen alles …«

Damit ließ sie ihn stehen und verschwand wieder in der Menge. Auf dem Schulhof las Frank den Zettel und wusste ihre Nummer gleich auswendig.

Abends rief er sie an. Von der Endstation der Buslinie in der Siedlung, wo sich um diese Zeit kein Mensch mehr herumtrieb. Nicht lange und sie meldete sich.

»Schön, dass du anrufst …«

Sie klang erleichtert.

Einen Moment schwiegen sie beide.

»Hast du jemand was erzählt?«

»Nein«, sagte Frank.

Sein Blick ging über den Horizont in die Ferne. Die untergehende Sonne warf lange Schatten auf die grünen und gelben Felder neben der Straße.

»Warum hast du angerufen?«

»Du hast gesagt, ich soll …«

Es fiel ihm schwer, sie zu duzen.

»Ist das der einzige Grund?«

»Nein …«

»Was noch?«

»Ich will dich sehen …«

Wieder schwiegen sie.

»Ich möchte dich auch sehen«, sagte sie. Es hörte sich an, als ob sie lächelte. »Ich wollte es von dir hören.«

Am anderen Ende der Leitung spielte leise Musik. Frank traute sich nicht, danach zu fragen.

»Was ist mit Samstag? Vor der Schule?«

Sie verabredeten sich für zwei Uhr. Die Musik hörte auf zu spielen.

»Und du kommst?«, fragte sie.

»Ja …«

»Ganz sicher?«

»Ja …«

»Ich freu mich«, flüsterte sie.

Frank schwieg.

»Und noch was …«

»Was?«

»Mach es nicht so auffällig.«

»Auffällig?«

»In der Schule. Die anderen dürfen nichts merken.«

Frank zögerte.

»Wir müssen aufpassen«, sagte sie. »Bis morgen.«

»Nicht Samstag?«

»Morgen haben wir Unterricht.«

Sie lachte und legte auf. Frank setzte sich auf den Bordstein und zählte die Ameisen, die in einem Riss unter dem Asphalt verschwanden. Als er nach Hause kam, war es schon dunkel.

Sie ließen sich beide nichts anmerken. Die Kadenberg war eine gute Schauspielerin. Nur einmal trafen sich ihre Blicke während des Unterrichts wie zufällig über den Köpfen der anderen, und Frank fühlte das Geheimnis, das sie von nun an miteinander teilten.

Am Samstag wartete er vor der Schule auf sie. Als er den roten Alfa die Straße heraufkommen sah, zögerte er. Die Kadenberg stoppte den Wagen unter den Bäumen, und Frank öffnete die Tür und ließ sich auf den Sitz fallen. Im ersten Moment traute er sich nicht sie anzusehen. Dann wagte er einen Blick und konnte es nicht glauben. Sie war wirklich gekommen.

»Anschnallen«, lächelte sie.

Im Radio lief leise Musik. Der Duft ihres Parfums nahm ihm den Atem. Frank wollte endlich etwas sagen. Sie standen am Straßenrand und fuhren nicht los.

»Bist du sicher?«, fragte sie.

Frank nickte. So sicher war er nie gewesen. Sie legte den Gang ein und fuhr los. Frank drückte sich in den Sitz und warf ihr heimlich Blicke zu. Sie mochte es, schnell zu fahren und wechselte oft die Spur. Wieder trug sie das Kleid mit dem hellen Muster, das sie schon in der ersten Stunde angehabt hatte. Um den Hals eine lange Kette aus weißen Perlen.

»Herrliches Wetter«, sagte sie und raste bei Gelb über die Kreuzung. »Wohin möchtest du?«

Frank wusste es nicht. Einfach immer weiter. Mit ihr zusammen. Sie erreichten den Stadtrand und fuhren aufs Land hinaus. In bunten Farben flogen die Felder an ihnen vorbei. Sie sprachen kein Wort. Nach einer Weile ging sie vom Gas und lenkte den Wagen auf einen Feldweg neben der Straße. Auf einer Lichtung hielt sie an und machte den Motor aus. Frank schaute sich um. Das Radio spielte weiter. Hinter den Bäumen lag ein See, und das Wasser spiegelte sich in der Sonne.

»Kommst du oft her?«

»Denk nicht, ich mach das mit jedem«, sagte sie.

Frank dachte es nicht.

»Aber ich hab gemerkt, wie du mich ansiehst …«

»Du bist die Lehrerin.«

»Du siehst mich nicht an wie eine Lehrerin …«

Zum ersten Mal wirkte sie verlegen. Sie legte die Hände ans Steuer und blickte auf die Lichtung hinaus. Eine Weile schwiegen sie beide und warteten auf den anderen. Wieder trug sie den großen Silberring am Daumen, und Frank hätte gern ihre Hand gehalten.

»Und was gefällt dir an mir?«, fragte sie.

Frank konnte nicht denken.

»Alles …«

Sie lachte. Die Perlen um ihren Hals schimmerten in der Sonne. Im Ausschnitt hatte sie viele Sommersprossen. Der Saum ihres Kleides war beim Fahren über die Oberschenkel gerutscht, und die braungebrannten Knie berührten sich unter dem Lenkrad. Frank wollte mit seiner Hand ...

Sie legte den Gurt ab und öffnete die Tür.

»Lass uns ein bisschen laufen!«

Frank folgte ihr über die Lichtung zum See. Die Sonne leuchtete in den Bäumen, und der Wind kühlte die Hitze auf ihrer Haut. Frank wollte sie haben. Zu sich ins Gras ziehen und nicht mehr loslassen. Sie zog die Schuhe aus und lief am Ufer des See entlang. Frank folgte ihr durch den Sand. Plötzlich griff sie nach seiner Hand und hielt sie ganz fest. Für einen Moment drehte sich alles.

»Ich will, dass dir alles gefällt«, sagte sie.

Auf ihren Lidern lag brauner Schatten, und die Lippen glänzten in einem Rot, von dem er wissen wollte, wie es beim Küssen schmeckte.

»Dein Haar«, flüsterte Frank.

»Was ist damit?«

»Mach es auf …«

Sie lächelte, griff hinter den Kopf und drückte ihm die Haarklammer in die Hand. Vor seinen Augen schien sie sich zu verwandeln. Sie trat näher und wartete. Ihr Atem streifte sein Gesicht. Frank schloss die Augen …

Er legte den Stift beiseite und hörte auf zu zeichnen. Vierzehn Blätter, die er bis zum Abend zusammen hatte und keines davon misslungen oder falsch. Zufrieden betrachtete er die Zeichnungen, schob die Blätter zusammen und legte sie in die abschließbare Schublade seines Schreibtisches. Den Schlüssel trug er immer bei sich. Nicht einmal Daniel hätte er die Zeichnungen gezeigt.

In der Nacht konnte Frank nicht schlafen. Schatten huschten über die Wände in seinem Zimmer. Zweimal musste er es sich selbst machen und fand trotzdem keine Ruhe. Wenn er die Augen schloss, glaubte er, sie noch immer spüren zu können, ein glühender Punkt in der Dunkelheit, der sich langsam in sein Herz brannte, bis er nicht mehr denken konnte und endlich einschlief.

5

Frank brauchte lange, um aus dem Bett zu kommen. Im Bad traf er mit dem ersten Strahl die Schüssel und versuchte, sich an den Traum der letzten Nacht zu erinnern. Aber da war nichts.

Vor dem Spiegel drückte er sich einen Pickel aus. Duschte. Putzte sich die Zähne. Rasieren musste er sich nur selten. Frank warf wieder einen Blick in den Spiegel und sah, was er jeden Morgen zu sehen bekam. Ein Gesicht, auf das die Mädchen nicht abfuhren.

Er zog sich an und packte die Sachen für die Schule zusammen. In der Küche machte er Kaffee. Seine Mutter lag noch im Bett und döste zur Schlagermusik aus dem Radiowecker.

Draußen war es schon hell, und die Morgensonne vertrieb die Schatten von den Balkonreihen gegenüber. Mit hängenden Schultern schlichen die Leute über den Parkplatz und fuhren zur Arbeit. An diesem Vormittag würde er die Kadenberg wiedersehen.

Seine Mutter kam in die Küche und gähnte.

»Du bist spät …«

Im roten Morgenrock mit weißem Flamingo auf dem Rücken sah sie aus wie die Aushilfe in einem Billigpuff. Frank ließ sie stehen, nahm seine Tasche und schlug die Wohnungstür hinter sich zu. Der Hausmeister würde sich freuen. Über Nacht hatte keiner in den Aufzug gepisst.