Die letzte Göttin - Lora Beth Johnson - E-Book
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Die letzte Göttin E-Book

Lora Beth Johnson

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Beschreibung

Sie erwacht in einer fremden Welt. Er ist immer an ihrer Seite. Aber will er ihr wirklich helfen?

Andra gehört zu den Auserwählten, die in einen künstlichen Schlaf versetzt wurden, um die Erde zu verlassen und einen neuen Planeten zu besiedeln. Doch statt der vereinbarten hundert Jahre erwacht sie ganze tausend Jahre später – und noch dazu an einem Ort, der nicht so ist wie erwartet: Andra findet sich in einer kargen Wüstenlandschaft wieder, umgeben von einem Volk, das sie als Göttin verehrt. Nur der junge Soldat Zhade hilft Andra dabei, sich in der für sie fremden Welt zurechtzufinden, in der Technik als Magie und deren Nutzer als übermenschliche Wesen angesehen werden. Auf der Suche nach den anderen Schläfern kommen sich die beiden näher. Doch was Andra nicht weiß: Zhade hilft ihr nicht nur aus Nächstenliebe, sondern verfolgt eine ganz eigene Mission …

»Diese futuristische Neuinterpretation des Dornröschen-Märchens besticht durch einen beeindruckenden Weltenbau. Ein vielversprechendes Debüt, das Romantasy, Sci-Fi-Abenteuer und Palastintrige miteinander vereint.« New York Times

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Seitenzahl: 599

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Buch

Andra gehört zu den Auserwählten, die in einen künstlichen Schlaf versetzt wurden, um die Erde zu verlassen und einen neuen Planeten zu besiedeln. Doch statt der vereinbarten hundert Jahre erwacht sie ganze tausend Jahre später – und noch dazu an einem Ort, der nicht so ist wie erwartet: Andra findet sich in einer kargen Wüstenlandschaft wieder, umgeben von einem Volk, das sie als Göttin verehrt. Nur der junge Soldat Zhade hilft Andra dabei, sich in der für sie fremden Welt zurechtzufinden, in der Technik als Magie und deren Nutzer als übermenschliche Wesen angesehen werden. Auf der Suche nach den anderen Schläfern kommen sich die beiden näher. Doch was Andra nicht weiß: Zhade hilft ihr nicht nur aus Nächstenliebe, sondern verfolgt eine ganz eigene Mission …

Autorin

Lora Beth Johnson verbrachte den Großteil ihrer Kindheit im Lesesessel ihrer Eltern, wo sie entweder die Nase in Bücher steckte oder selbst Geschichten erfand. Als Erwachsene entdeckte sie nach diversen Abschlüssen, Karriereumwegen und Reisen ihr Talent dafür, diese fantasievollen Geschichten in ihrem Kopf endlich auch zu Papier zu bringen. Wenn sie nicht gerade schreibt, unterrichtet Lora Beth Johnson Englisch am College oder bringt sich selbst Fremdsprachen bei. Die Autorin lebt in Davidson, North Carolina. »Die letzte Göttin« ist ihr Debütroman.

Weitere Informationen unter: www.lorabethjohnson.com

Besuchen Sie uns auch auf www.instagram.com/blanvalet.verlagund www.facebook.com/blanvalet

Lora Beth Johnson

Die letzte Göttin

Roman

Deutsch von Petra Koob-Pawis

Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel »Goddess in the Machine« bei Razorbill, an imprint of Penguin Random House LLC, New York.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright der Originalausgabe © 2020 by Lora Beth Johnson;

published in agreement with the author, c/o BAROR INTERNATIONAL,

INC., Armonk, New York, USA

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2021 by Penhaligon in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Catherine Beck

Umschlaggestaltung und -motiv: www.buerosued.de

DN · Herstellung: MR

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-24263-3V001www.penhaligon-verlag.de

Für Kelsey, Amanda, Taryn, Nadia,Kailan, Alex und Bre –Göttinnen meiner Girlgang:Ich toleriere euch.

TEIL EINS AUFERSTEHUNG

Nach dem ersten Aufwachen ist mit Orientierungsproblemen, Muskelsteifheit, Atemnot, verminderter Sehschärfe und Stimmungsschwankungen zu rechnen. Dabei handelt es sich in der Regel um milde Symptome. Aufgrund der Einschränkungen, denen der menschliche Körper grundsätzlich unterliegt, hat allerdings noch niemand hundert Jahre in einer Stasis verbracht, sodass ein letztgültiger Beweis dieser Annahmen fehlt. Die Symptome könnten sich im Laufe dieser langen Zeit verstärken, ebenso wie die Stasis-Standortwechsel-Desorientierung (im Folgenden SSD). Kryo’Techniker und Med’Bots werden zur Verfügung stehen, um dir nach deiner einzigartigen Reise behilflich zu sein. Glückwunsch. Du bist dazu auserwählt, Geschichte zu schreiben.

Handbuch der Holymyth-Kolonisten, Seite 23, gesponsert von der Lacuna Athenaeum Corporation

(Er-)wachen, Substantiv oder Verb

Etymologie: althochdeutsch wahhēn, vgl. angelsächsisch wacan, »geboren werden«, möglicher Zusammenhang mit isländisch vök, »eine Öffnung im Eis«

Definition:

wach werden, nicht schlafen, munter werdensich regen, auflebenauf jemanden aufpassen, achten, auch auf einen Toten (»Totenwache«)

Als Andromeda wach wurde, ertrank sie.

Man hatte sie gewarnt, dass es passieren könnte – dass ihre Lunge brennen und ihre Augen stechen und sie um ihren ersten Atemzug kämpfen würde. Aber da musst du durch, hatte man ihr erklärt. Sonst kollabiert deine Lunge, und dann müssen wir dich ins Koma versetzen und hoffen, dass alles gut geht.

Okay, vielleicht hatten sie es nicht genau so gesagt.

Sie holte Luft, wie man es ihr eingeschärft hatte. Ihre Brust brannte. Ihre Augen stachen. Sie kämpfte. Wasser flutete in ihre Lunge, und der bittere Geschmack von Spucke füllte ihren Mund. Irgendwas stimmte nicht. Irgendwas, das sie sich nicht erklären konnte.

Ihre Hand schoss nach vorn, tastete nach Hilfe, traf auf etwas Festes. Das war es, was falsch war. Fünfundzwanzig Zentimeter dickes, mit Diamantenstaub geädertes Metallglas. Verbunden mit Scharnieren aus einer Tantal-Wolfram-Legierung. Eine Glasabdeckung, die beim Erwachen eigentlich geöffnet sein sollte. Aber so war es nicht. Die Glasabdeckung war zu, schloss sie in kaltes Metall und schmelzendes Kryo’Schutzmittel ein.

Ihr Gehirn feuerte hektische Berechnungen ab, forschte nach fehlenden Informationen, prüfte Variablen, suchte die Lösung für X. Sie war doch gerade erst in Tiefschlaf versetzt worden, und jetzt ertrank sie plötzlich. Nein. Es kam ihr nur so vor, als wäre sie erst vor Kurzem in Schlaf versetzt worden. Tatsächlich hatte es vor hundert Jahren stattgefunden. Und nun war sie erwacht und (o Gott!) nackt, aber ihre Kammer war noch immer verschlossen.

Irgendwas war schiefgelaufen, so viel stand fest.

Man hatte sie auf diese Möglichkeit vorbereitet – verfrühtes Aufwachen, vorzeitiger Abbruch, defekte Scharniere –, aber es ist schwer, sich an Notfallpläne zu erinnern, wenn man sich gerade mitten in der Notfallsituation befindet.

Irgendwo gab es einen Knopf …

Oder einen Schalter?

Ihr war schwindelig, ihre Hände gehorchten ihr nicht, und ihr Gehirn war im Shutdown. Die Synapsen sprühten Funken und sandten nur eine einzige Nachricht:

Luft Luft Luft Luft

Sie schlug erneut gegen die Scheibe. Nicht mal der kleinste Riss war zu sehen. Das Glas war dafür gemacht, Jahrhunderte zu überdauern, bei einer Schwerkraft gleich null einem um das Tausendfache erhöhten atmosphärischen Druck standzuhalten, und dies sowohl bei zweitausend Grad Kelvin als auch bei null Grad Kelvin. Aber sie machte weiter, auch wenn langsam die Wucht nachließ und jeder Schlag immer schwächer und leiser wurde.

Sie trommelte so lange mit den Fäusten gegen das Glas, bis ihre Kräfte sie verließen. Ihre Arme sanken schlaff herab. Kurz bevor sich ihre Augen wieder schlossen, sah sie ein Gesicht über sich. Keines, das sie kannte. Da war kein helles Licht. Kein für ihre Augen sichtbares Leben. Keine Luft. Nur Wasser und Ertrinken und Sterben und Wasser.

Dann … nichts.

Als sie zum zweiten Mal erwachte, hustete sie Schleim. Das war schon ein Fortschritt.

Ihre Kehle war rau. Der Schmerz in ihrer Brust reichte bis in den letzten Winkel. Sie wollte nicht atmen. Es tat zu weh. Doch es ging nicht anders, sie musste Luft holen.

Aber erst nachdem sie das Wasser aus ihrer Lunge gehustet hatte.

Zuerst verspürte sie nur Schmerz. Dann hörte sie Rufe. Gemurmel. Wispern. Silben, die sich nicht zu Wörtern fügten. Starke Arme hielten sie, eine raue Hand tätschelte ihren Rücken. Das war kein Kryo’Tech – jede Berührung war ihnen untersagt. Aber ihre Mom war es ebenso wenig – Tätscheln und Hätscheln war nicht ihr Ding.

Das Wasser war verschwunden, aber das stechende Gefühl war geblieben, und auch der Hustenreiz. Sie schnappte nach Luft, sog sie ein, krampfhaft und stockend, durch die Kehle bis in die Lunge. Die Luft würde sie am Leben halten, also wagte sie den nächsten Atemzug.

Und noch einen.

Sie zitterte. Kleine Eisflöckchen fielen von ihr ab.

So. Kalt.

Sie überlegte, ob sie die Augen öffnen sollte, entschied sich jedoch dagegen. Viel zu anstrengend. Also atmete sie weiter, schlief erneut ein, und dann – zum ersten Mal seit hundert Jahren – träumte sie.

Werde ich träumen?, fragte sie.

Nein, du wirst tief und fest schlafen. Wie ein heruntergefahrener Computer.

Werde ich merken, wie die Zeit vergeht?

Wenn sie dich wecken, wird es dir vorkommen, als wären nur Sekunden vergangen.

Wann werden sie mich wecken?

Sobald du den neuen Planeten erreicht hast.

Also bist du die letzte Person auf der Erde, mit der ich spreche.

Sei nicht so morbid.

Als Andra ein drittes Mal erwachte, hörte sie das leise Surren eines Ventilators. Ein Luftstoß traf ihre rechte Wange und Schulter, vertrieb für einen kurzen Moment die drückende Hitze. Letzte Reste des zähen Kryo’Schutzmittels klebten noch auf ihrer Haut. Schaudernd schlug sie die Augen auf.

Sie war wach. Andra richtete sich auf und kam in eine halb sitzende Position. Dies war ein neuer Planet. Hundert Jahre waren vergangen. Sie musste sich auf die Suche nach ihrer Familie machen. Sie musste ihrer Mom sagen, wie leid es ihr tat. Sie befand sich …

… in dem schmuddeligsten Raum, den man sich vorstellen konnte.

Der Boden starrte vor Dreck, und die Wände waren verkrustet mit etwas, das hoffentlich nur eine Schmutzschicht war. Andra kam sich vor wie in einer Höhle. Ein dünner Lichtstrahl fiel durch ein hohes, schmales Fenster herein, das weder eine Glasscheibe noch einen Holo’Bildschirm hatte, und heiße Luft wirbelte eine Sandwolke ins Innere.

Außer dem Bett, auf dem sie saß, gab es in dem Zimmer nur noch einen Metalltisch mit einem Ventilator, der offenbar von kinetischer Energie angetrieben wurde. Als er ruckelnd zum Stehen kam, wurde es nicht nur still, sondern auch sehr stickig.

Dies war kein Ort, an dem man medizinische Tests und Untersuchungen durchführte, und auch keine Reinigungsbäder oder Reanimationstherapien. Andra hatte sich nicht die Mühe gemacht, das Handbuch durchzulesen, aber ihre Mutter hatte so lange davon geredet, bis Andra den Ablauf der Reanimationsprozedur auswendig aufsagen konnte: Unmittelbar nach der Ankunft auf dem neuen Planeten würden Roboter die leitenden LAC-Wissenschaftler wecken – zum Beispiel Andras Mutter – sowie eine Art Rumpfcrew, die sich aus Kryo’Techs zusammensetzte. Die Kolonisten würden erst geweckt werden, nachdem die Mech’Bots Krankenstationen errichtet, alles organisiert und für hygienische Bedingungen gesorgt hatten. Nach dem Aufwachen standen Seh-, Sprech- und Muskeltests auf dem Programm sowie erste physiotherapeutische Maßnahmen, ein schönes warmes Bad und schließlich ein Wiedersehen mit der Familie.

All das sollte, und das war der springende Punkt, in einer makellos sterilen Umgebung stattfinden.

Die harte Matratze ächzte unter ihrem Gewicht, und die Quiltdecke, die obenauf lag, fühlte sich unter ihren Fingern rau an und voller Sand. Ohne den Ventilator wäre die Hitze unerträglich gewesen, schon jetzt fühlte sich Andra, als hätte sie in Schweiß und Kryo’Schutzmittel gebadet.

Aber sie war nicht mehr nackt, das war immerhin etwas.

Die Kleidungsstücke ungewohnt und unangenehm warm: eine weit geschnittene, an den Fußknöcheln anliegende Hose, dazu eine raue Tunika mit Wasserfallkragen. Alles saß etwas zu eng, wie die meisten Sachen, die ihre Mom ihr gekauft hatte, um sie zum Abnehmen zu animieren. Der flexible Stretch spannte an den Oberarmen, und ihre Haut juckte an den Handgelenken, wo sich der Schweiß unter den Ärmeln sammelte. An der groben Webart war zu erkennen, dass der Stoff handgefertigt war. Von der LAC offiziell anerkannte medizinische Schutzkleidung war das ganz sicher nicht.

Instinktiv suchte Andra gedanklich ihr Neural’Implantat, in der Hoffnung, damit ein Enviro’Con aktivieren zu können, allerdings ohne Erfolg. Damit war zu rechnen gewesen. Implantate waren dafür berüchtigt, nach einer Stasis nicht mehr zu funktionieren. Andra würde für ungewisse Zeit keinerlei Zugang zu Technologie haben. Sie hasste dieses Wort – ungewiss. Sie mochte es, wenn Dinge gewiss waren.

Sie strich sich die kurzen dunklen Haare aus dem Gesicht, und ihre Finger verfingen sich in den Strähnen, als im selben Moment die Tür aufschwang und erneut ein Windstoß hereinfegte, zusammen mit einem Mann, dessen Silhouette sich im Türrahmen abzeichnete. Ein Kryo’Techniker. Endlich.

Andra versuchte, den Schleier vor ihren Augen wegzublinzeln. Unmittelbar bevor der Kryo’Tech sie in den Tiefschlaf versetzt hatte, hatte er ihr noch eingeschärft, nach dem Aufwachen Name, Alter, Adresse und CID-Nummer zu nennen. Andromeda Yue Watts. Siebzehn. Riverside, Ohio. 32-638-27. Genau das sollte sie jetzt aufsagen, aber aus ihrem Mund kam nur ein »Hä?«.

Denn der Mann an der Tür sah nicht wie ein Tech aus.

Er war jung – kaum älter als Andra, vielleicht neunzehn, zwanzig –, und er war rau, hager, irgendwie wild. Blond. Fältchen um die Augen, kantiges Kinn, Dreitagebart. Er trug seine sandfarbene Tunika bewusst nachlässig. Die Arme vor der Brust verschränkt, lehnte er am Türrahmen und sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen fragend an.

Außerdem trug er eine lederne Rüstung.

Ein Kryo’Tech war dieser Mann garantiert nicht.

»Zeigt den Zeh, Göttin«, sagte er, und obwohl Andra seine Worte akustisch verstand, ergaben sie zusammengenommen keinen Sinn.

Er stieß sich von der Wand ab, schlenderte zu einem Metallstuhl, drehte ihn um und setzte sich rittlings darauf. Dann zwinkerte er ihr zu – erst da merkte Andra, dass sie den Fremden die ganze Zeit mit offenem Mund angestarrt hatte. Nicht etwa weil er gut aussah – obwohl er das tat –, sondern weil ein junger Mann in Lederrüstung in einer Höhle unverständliche Worte zu ihr sagte und sie sich das Aufwachen auf einem neuen Planeten ganz anders vorgestellt hatte.

»Kayo?«, fragte er. »Ihr habt ewig lange geschlafen. Seht Ihr …« Er deutete auf sein Kinn. »In der Zwischenzeit ist mir ein Bart gewachsen. Steht mir gut, echt zunder, marah?« Er drehte den Kopf, damit sie die Stoppeln in aller Pracht bewundern konnte. Als sie keine Antwort gab, tätschelte er das Bett. »Zeigt den Zeh. Wir müssen gehen. Die Sonne sinkt bald.« Seine Stimme war klangvoll, aber er sprach mit einem Akzent, den Andra noch nie gehört hatte. Es war schwierig, aus der schnellen Aneinanderreihung von Lauten den Sinn herauszufiltern. Und selbst dann hörten sie sich noch falsch an. Verschliffen und irgendwie hastig.

»Ich …« Sie sprach nicht weiter, sondern richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihre Umgebung. Schmutz, Schmutz, ein Bett, ein leerer Becher, noch mehr Schmutz. Keine Hinweise, die den genauen Aufenthaltsort verrieten. Irgendwo auf Holymyth, davon war auszugehen. So war es vorgesehen: nach Ankunft auf dem neuen Planeten Aufwachen aus der Stasis. Sie spürte die Entfernung geradezu. So wie damals, als sie im Vac’Train eingeschlafen war, dem Ferienzug, der sie zu ihrer Großmutter nach Maylarche bringen sollte, und ihr Körper beim Aufwachen sofort wusste, dass sie weit weg von zu Hause war. Dieses Gefühl – bebend, nagend, beunruhigend – war jetzt tausend, nein eine Million Mal stärker als damals.

Sie war an einem Ort eingeschlafen und am anderen Ende des Universums wieder aufgewacht.

Keine große Sache. So war es vorgesehen – endlos weit von zu Hause weg. Alles andere jedoch … die schmutzige Hütte und der Kryo’Tech, der kein Kryo’Tech war …

»Wo bin ich?«, fragte sie mit heiserer Stimme. »Was geht hier vor?« Raue Vokale, genuschelte Konsonanten.

»Ihr habt Glück, dass ich Hochgöttisch spreche.« Er trommelte mit seinen sandigen Fingern gegen die Stuhllehne. »Niemand in diesem Drecksloch kapiert Eure Sprache.« Er streckte die Hand aus. »Ich bin Zhade.« Die Art, wie er seinen Namen aussprach, war eigenartig, halb Sch, halb Tsch. »Hab fast vier Jahre nach Euch gesucht. Es gibt ein Kinderspiel, Kaninchen, Kaninchen, wo ein Kiddun sich versteckt, und die anderen müssen es suchen – Ihr wärt unschlagbar.«

Andra starrte auf seine Hand, die mit schmuddeligen Bandagen umwickelt war. Er drehte sie um und blickte auf seine Handfläche.

»So was macht Ihr doch, marah? Dieses Händeschütteln? Echt lächerliche Angewohnheit.«

Andra schluckte. Ihr Gehirn schien in kniehohem schweren Morast festzustecken, denn es brachte nur zähe Gedanken zustande. »Vier Jahre? Und wieso hast du mich gesucht?«

Als sich eine Wolke vor die Sonne schob, verdunkelte sich der Raum, aber die Luft kühlte nicht ab.

»Meine Familie. Ich muss zu meiner Familie. Ist das Holymyth? Ist während der Stasis irgendetwas passiert? Wo ist der Kryo’Tech?« Wieder suchte sie gedanklich nach ihrem Implantat, um Kontakt zu ihrer Familie aufzunehmen, aber da rührte sich nichts.

»Das …«, der Soldat runzelte die Stirn, »… sind sehr viele Wörter, die ich nicht verstehe. Ich werde Wead sagen, dass er Euch was zu essen bringen soll, aber dann müssen wir auf die Straße.«

Andra schwang sich seitwärts aus dem Bett. Ihre Beine schmerzten, allerdings nicht so sehr wie ihr Hals. Schwankend kam sie auf die Füße, fand aber das Gleichgewicht wieder. Minimale muskuläre Atrophie, hätte ihre Mutter jetzt gesagt – womöglich sagte sie es gerade in diesem Moment, während sie irgendjemanden weckte.

Vielleicht holte sie Acadia oder Oz oder Dad aus der Stasis. Vielleicht …

Andra humpelte zur Tür, ihre Muskeln spannten sich nach hundert Jahren zum ersten Mal wieder, auch wenn sie das in Andras Vorstellung schon vor ein paar Stunden getan hatten.

»Heya!«, rief Zhade. »Wo wollt Ihr hin?«

Sie stieß die Tür auf in der Hoffnung, dass …

… tja, sie wusste nicht genau, was sie eigentlich erwartet hatte, aber ganz sicher nicht das.

Sie stand auf einem Hügel in einem Dorf aus Felsenhütten. Nicht Hütten aus Stein, sondern Hütten, die in den Stein gehauen waren. Riesige Felsblöcke, mehrere Stockwerke hoch, mit herausgemeißelten Fensteröffnungen und Türen und Räumen. Dutzende dieser Strukturen verteilten sich über den Hügel. Und jenseits der Hütten, so weit das Auge reichte: Wüste.

Eigentlich hätten sie in einem subtropischen Gebiet landen sollen. Mit einer üppigen Vegetation, gemäßigten Temperaturen, moderater Luftfeuchtigkeit und Bäumen, die den Horizont verdeckten. Nicht in einer öden Felswüste. Die Landschaft stimmte nicht, alles war falsch.

Aber sie war nicht so falsch wie die Menschen. Es waren Hunderte, alle gekleidet wie sie selbst, von Kopf bis Fuß bedeckt, trotz der Hitze. Kaum hatte die Menge sie erblickt, trat Stille ein. Und dann fielen alle wie auf ein geheimes Stichwort auf die Knie und murmelten ein einziges Wort. Immer und immer wieder. Ein Wort, das Andra kannte, aber trotzdem nicht verstand. Sie blickte über die Schulter. Zhade stand an der Tür, mit verschränkten Armen und einem schiefen Grinsen. Er zog die Augenbrauen hoch und wiederholte das Wort, das die Menschen sangen, ein einziges Mal, nachdrücklich und bedeutungsvoll, und da wusste Andra plötzlich, dass er sie meinte.

»Göttin«, sagte er.

Dann: »Wie gefällt Euch Euer anbetendes Volk?«

Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht.

Hellmouth, Substantiv

Definition:

beschreibt das, was in der Tiefe verborgen istEingang zur Hölle

Zhade beobachtete Andra und schien auf etwas zu warten. Genau wie die Menschen, die sie Göttin nannten.

Schweiß lief ihr den Rücken hinab. Sie zerrte an dem steifen Stoff ihres geliehenen Hemds und ließ dabei den Blick über die Menge gleiten. Suchte vergeblich nach einem bekannten Gesicht. Die Arche hatte eine Million Kolonisten beherbergt, und Andra kannte allenfalls ein paar Dutzend davon persönlich, aber unter all den Menschen würde doch sicherlich irgendjemand sein, den sie wiedererkannte. Ihre Freundinnen Briella und Rhin. Eine Praktikantin ihrer Mutter – zum Beispiel Rashmi. Vielleicht sogar Cruz, dachte sie errötend. Aber da war niemand. Nur fremde, ausgezehrte Gesichter, Menschen in derben, zerlumpten Kleidern, trotz der drückenden Hitze. Menschen, die immer wieder das eine Wort murmelten – Göttin – und sie anstarrten.

Andra spürte das Kitzeln der Nano’Bots auf ihrer Haut. Die mikroskopisch kleinen Bots waren auf der Erde praktisch überall zu finden gewesen – sie dienten dazu, Nachrichten von den Implantaten an die Techs zu übermitteln –, und wenn sie hier waren, dann waren auch die Kolonisten nicht weit. Die Nanos versammelten sich zu Schwärmen, und bald würden sie mit dem bloßen Auge zu sehen sein. Andra überlegte, ob es wohl daran lag, dass diese vielen Menschen mithilfe ihrer Implantate in Kontakt mit ihr treten wollten und die Nanos sich daher alle auf ein gemeinsames Ziel richteten. Die Frage war nur, warum?

In den hundert Jahren ihrer Stasis konnte alles Mögliche schiefgelaufen sein, aber selbst in ihrer kühnsten Fantasie konnte sie sich keine Verkettung derart vieler Pannen vorstellen, die das hier erklärte:

Ein Dorf in der Wüste. Um sie herum einfaches Bauernvolk. Menschen, die, wie ihr inzwischen klar wurde, gemeinsam beteten.

Sie anbeteten.

Ihre Göttin.

»Ich verstehe nicht«, krächzte sie, hatte aber das Gefühl, als würde sie schreien.

Sie überlegte noch, ob sie wieder in die Hütte rennen, die Augen zukneifen und die Finger in die Ohren stecken sollte, als sie ihn entdeckte. Es war kaum mehr als ein kurzes Aufblitzen inmitten der Menschen, aber es löste etwas in ihr aus, rief ihr etwas Vertrautes ins Gedächtnis. Etwas, das sie an zu Hause erinnerte.

Ein Roboter am Rand der versammelten Schar.

Es war ein Info’Bot. Klasse D. Sie erkannte es an seiner menschenähnlichen Gestalt und den weißen Paneelen. Vermutlich besaß er einen Kupferkern und ein Corsair-Drive, außerdem hätte sie darauf gewettet, dass er mit dem Symbol der Lacuna Athenaeum Corporation versehen war – dem Unendlichkeitszeichen aus DNA-Ketten. Fast alle Info’Bots waren LAC-Modelle. Die Firma ihrer Mutter besaß mehr oder weniger das Monopol in der Bot-Industrie. Und in der Med-Industrie. Und der Weltraum-Industrie. Und der Umweltschutz-Industrie. Und, und, und.

Eine KI wäre ihr allerdings lieber gewesen, mit ihrer gehirnähnlichen CPU und der Fähigkeit, Aufgaben zu erledigen, die weit über die Standardprogrammierungen eines Bots hinausgingen. Aber Andra stand nur dieses staubige Modell zur Verfügung, und sie hoffte, dass es sie verdammt noch mal wenigstens mit dem Netzwerk verbinden konnte.

Entschlossen eilte sie darauf zu.

Zhade rief ihr etwas hinterher, aber sie war bereits in der Menge verschwunden – ein Fehler, wie sie sehr bald erkennen musste.

Hände griffen nach ihr, zerrten an ihren Kleidern, gruben sich in ihre Haare. Überall waren Menschen und murmelten Wörter, die sie nicht verstand. Und alle waren viel zu nah. Jemand trat ihr auf den Fuß. Ein anderer riss ihr eine Haarsträhne aus. Sie würden sie zerquetschen, in Stücke reißen. Ein Arm packte sie an der Taille, sie schrie auf.

Plötzlich war Zhade da. Er stieß die Leute zur Seite und redete in einer Sprache, die sie nicht kannte. Langsam und widerstrebend wich die Menge zurück. Zhade versuchte, Andra zur Hütte zu ziehen, aber sie befreite sich aus seinem Griff.

»Ich muss zu dem Bot«, stieß sie hervor.

»Dem was?«

»Dem Bot«, antwortete Andra und deutete auf den alten Roboter.

»Hm.« Zhade sah sie forschend an, dann lotste er sie durch die Reihen und sorgte mit barschen Befehlen dafür, dass die Menge auf Armeslänge Abstand hielt.

Seine Worte gehörten keiner Sprache an, die Andra kannte – weder einem Dialekt des Englischen noch Hokkien, das ihre Großmutter ihr beigebracht hatte, und auch keiner europäischen Sprache, die sie in der Schule gelernt hatte. Die Wörter waren mal verschliffen, mal abgehackt, mit Lauten, die sie vermutlich nicht mal nachahmen konnte – dabei gelang ihr das sonst sehr gut. Es gab schroffe Konsonanten, stimmhafte Affrikaten, nasale Vokale, Mischwörter aus dem Germanischen und …

Aber eigentlich spielte es keine Rolle. Statt über die Struktur irgendeiner merkwürdigen Sprache nachzudenken, sollte sie sich lieber fragen, was zum Teufel hier vor sich ging.

Lockere Kieselsteine rutschten unter ihren Füßen weg, als sie den Hügel hinabstiegen. Zhade stützte sie, während er gleichzeitig die Leute weiter in Schach hielt. Gesichter spähten durch hohle Fenster und hinter Steinwänden hervor, und Flüstern begleitete sie auf ihrem Weg. Andras Rücken klebte vor Schweiß.

Als sie endlich den Bot erreichten und die Menge etwas zurückblieb, war sie erleichtert.

»Entschuldige«, sagte sie – die Standardbegrüßung, wenn man die Domain des Bots nicht kannte.

Er drehte sich um. Bots waren nur bedingt menschenähnlich – was vor allem an den leblosen Augen lag und an dem durchsichtigen Schädel, der den Blick auf die Drähte im Innern freigab –, aber dieses Exemplar wirkte mechanischer als andere, und seine Bewegungen waren ruckartig. Die Außenschicht war schmutzig und verkratzt – Spuren, die augenscheinlich von Krallen herrührten. Teile seines Gesichts waren weggerissen, und darunter kamen die Schaltkreise zum Vorschein, die das linke Auge und die Wange steuerten. Der Bot humpelte, als wären die Gelenke seines rechten Knies eingerostet, machte ansonsten jedoch einen funktionstüchtigen Eindruck.

Er legte den Kopf schräg. »Wie kann ich helfen?«

Wieder griff Andra gedanklich nach ihrem Implantat, jenem kleinen Stück Technik in ihrem Gehirn. Sie tat es aus Gewohnheit, denn ihr – wie auch den meisten anderen Menschen – war unmittelbar nach der Geburt das winzige Teil eingesetzt worden, und seither verlief ihr Umgang mit Technologie fast ausschließlich über das Implantat. Das war allgemein so üblich, kaum jemand beschäftigte sich noch mit den Funktionsweisen von Tech, aber Andras Mutter hatte darauf bestanden, dass sie die Grundlagen der manuellen Technologie und Codierung erlernte. Andra konnte nicht mit Gewissheit sagen, wie lange es dauern würde, bis ihr Implantat wieder voll funktionsfähig war. Da sie sich nicht auf eine neurale Verbindung verlassen konnte, fragte sie laut: »Wo bin ich?«

Der Bot setzte zu einer Antwort an, brachte jedoch keine Silbe hervor.

»Aktiviere das holografische Display«, befahl Andra. Statt Stimmen-Interface bevorzugte sie ein Holo’Display. Es war diskreter, und die Regeln im Umgang mit einem visuellen Interface waren klarer als die Algorithmen einer Konversation.

Das Knistern des Stimmen-Interface verstummte. Der Bot drehte seine Hand um. Auf der Handfläche erschien eine holografische Karte. Die Daten waren fehlerhaft und ergaben keinen Sinn, denn Andra sah nichts als Wüste und noch mehr Wüste. Eine Sandböe wehte über das Holo’Display hinweg, und die Pixel zerstoben.

Eine transparente Holo’Tastatur erschien, sodass Andra ihre nächste Frage tippen konnte.

Bin ich auf Holymyth?

Ein Wort flackerte über das Display: Unbekannt.

Das war unmöglich. Oder zumindest höchst unwahrscheinlich. Der Bot sollte eigentlich genau wissen, wo er sich befand. GPS gehörte zur Grundausstattung eines jeden Bots, und selbst wenn LAC die Satelliten noch nicht losgeschickt hatte, müsste der Bot zumindest mit dem mobilen Netzwerk des Raumschiffs verbunden sein. Das Kribbeln auf Andras Haut bewies ihr, dass Nano’Bots durch die Luft schwirrten, die normalerweise ihre jeweilige Standortbestimmung untereinander austauschten. Der Bot müsste also mithilfe der Nanos eine genaue Ortung durchführen können.

Wie lauten die Koordinaten dieses Planeten?, tippte sie.

Langsam, beinahe träge veränderte sich das Bild auf dem Display.

0–0–0

Andra fuhr sich mit der Hand durch ihr dunkles Haar, und ihre Finger verfingen sich in den Knoten. Kein Wunder, dass dieser Bot nicht richtig funktionierte. Er hatte eindeutig schon bessere Zeiten erlebt.

Gab es eine Bruchlandung?

Der Bildschirm wurde für einen Moment dunkel. Tut mir leid. Ich verstehe die Frage nicht.

Bot-Modelle dieser Art konnten nur sehr spezifische Fragestellungen verarbeiten. Andra wischte sich einen Schweißtropfen fort, ehe sie wieder tippte. Hat die Arche eine Bruchlandung erlitten?

Nein.

»Wo ist sie?«, fragte Andra, und das Holo’Display lieferte die Antwort.

Im geosynchronen Orbit.

Sie holte tief Luft. Okay. Wenn das Schiff den Planeten umkreiste, war sie auf Holymyth, und alle anderen Kolonisten auch.

Die Arche war groß. Groß genug, dass eine Million Menschen darin Platz fanden. Aufgrund dieser Größe hatte man das Schiff nicht auf dem Planeten bauen können. Es hätte zu viel Antriebskraft gebraucht, um die Atmosphäre zu durchbrechen, daher hatte eine Crew von Astro’Konstrukteuren es direkt im Weltraum gebaut. Nachdem die Kolonisten in die Stasis versetzt worden waren, hatten Bots sie auf die Arche gebracht und dann – weil das Schiff auch für eine Landung viel zu groß war – die gleichen Shuttles verwendet, um die Siedler nach der Ankunft auf dem Planeten Holymyth abzusetzen. Die Kolonisten waren während der ganzen Reise in der Stasis verblieben, weshalb Andra das Innere des Schiffs, das sie quer durch die Galaxie transportierte, nie zu Gesicht bekommen hatte. Aber immerhin befand es sich noch im Orbit über ihr.

»Wo sind die Kolonisten der Arche?«, fragte Andra.

Das Holo’Display blinkte, die Handfläche des Bots reflektierte das gleißende Sonnenlicht, und Andra hörte das katschunk, katschunk eines überhitzten Prozessors. Sie konnte nur hoffen, dass die Dateien nicht genauso fehlerhaft waren wie das Display.

»Wo sind alle? Schlafen sie noch?«

»Schläft wer noch?«, fragte Zhade hinter ihr, und da begriff Andra, dass sie ihre Überlegungen laut ausgesprochen hatte. »Meint Ihr die anderen Göttinnen? Ihr seid die letzte.«

Die letzte? Die letzte was?

Sie wandte sich zu Zhade um und sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an. Er war Soldat, das verrieten seine Haltung und sein kalkulierender Blick. Und natürlich seine Rüstung. Er bemühte sich, betont lässig und locker zu wirken, aber in Wirklichkeit schätzte er permanent die Situation ein und dachte über Alternativpläne nach. Aber warum sah er überhaupt die Notwendigkeit für Alternativpläne?

»Wo sind wir hier?«, fragte sie langsam. »Wie nennt ihr diesen Ort?«

Er zuckte die Schultern und ließ den Blick über das Dorf schweifen. Die wartende Menge beobachtete die beiden gebannt. »Die Ödländer nennen ihn Hellmouth – Höllenschlund.« Er deutete auf die Umgebung, wie um zu sagen: Kannst du es ihnen verdenken?

Andra zupfte an den engen Ärmeln herum, weil die Sandkörner ihre Haut aufscheuerten. »Tja, das ist höchst seltsam.«

»Scuze?« Er lachte in sich hinein. »Wir haben keine Zeit für Quatsch. Jetzt seid Ihr ja wach, und wir können überlegen, wie Ihr …«

»Du hast mich geweckt«, unterbrach ihn Andra. Sie versuchte zu ignorieren, dass eine x-beliebige Person – und nicht ein Kryo’Tech oder ein Arzt – sie nackt aus ihrem Tank geholt und angezogen hatte. Darauf würde sie später noch zu sprechen kommen.

Zhade verzog entnervt das Gesicht und fuhr sich mit der Hand durch die blonden Haare. »Certe. Ich habe Euch vier Jahre lang gesucht, aber ich hatte keine Lust, dieses Grab den ganzen Weg nach Eerensed zu schleppen. Habt Ihr mal versucht, das Ding zu heben?«

»Du hast mich gesucht?«

Er nickte.

»Vier Jahre lang?«

Er nickte erneut.

Gerade als Andra dachte, sie hätte alle Puzzleteile zusammengesetzt, fielen sie ihr sprichwörtlich aus den Händen. Vielleicht … vielleicht war ihr Tank bei der Ankunft auf dem Planeten verloren gegangen, und man hatte Suchtrupps ausgesandt. Aber wie hatte er überhaupt verloren gehen können? Und warum war sie ausgerechnet hier gestrandet – in einem äußerst abgelegenen Teil von Holymyth? Sie versuchte, ihre Panik zu verdrängen.

Der Soldat verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich habe Euch gesucht, seit sie mich davongejagt haben. Ihr, meine widerspenstige kleine Göttin, seid mein Passierschein zurück in die Stadt.«

»Zhade«, meldete sich eine fremde Stimme ernst zu Wort.

Hinter ihm stand ein Mann, der genauso angezogen war wie Zhade – nachlässig und zerzaust, sandige Kleidung unter einer ledernen Rüstung. Sein Gesichtsausdruck war jedoch freundlicher. Er hatte einen warmen dunklen Hautton, ungebärdige kastanienbraune Locken, die ihm in die tiefbraunen Augen fielen, Grübchen unter einem spärlichen Bart.

Er stand abseits der Menge, als würde er nicht dazugehören, und verbeugte sich jetzt vor Andra. »Göttin.«

Langsam entwickelte sie Hass auf dieses Wort.

»Was Zhade zu sagen versucht«, erklärte der Mann und richtete sich auf, »ist, dass Euer Volk Euch braucht. Eerensed wird sterben. Ohne eine Göttin, die den göttlichen Dom aufrechterhält, sind alle dem Tod geweiht. Wir wurden … ausgesandt, um Euch zu finden.« Seine Art zu sprechen war förmlich und steif, und man hörte ihm an, dass er sich schwer damit tat.

»Ich verstehe … rein gar nichts«, sagte sie.

Zhade legte seine Hand auf die Schulter des Mannes und schob ihn sanft zurück. »Scuze, Wead. Bedräng sie nicht. Du überwältigst sie ja.« An Andra gewandt, sagte er: »Soze, wir müssen bald aufbrechen. Vier Jahre, Göttin. Die Zeit läuft uns davon.«

Es ergab keinen Sinn.

Vier Jahre.

Sie war vier Jahre vermisst gewesen.

Bei dem Gedanken an ihre Familie und ihre Freunde, die sich in diesen Jahren ein neues Leben eingerichtet hatten, während sie noch in der Stasis verharrte, sackte Andras Magen nach unten. Oz würde inzwischen dreizehn sein. Er war ein Teenager, während sie immer noch dieselbe geblieben war.

Sie wandte sich wieder an den Bot. »Wo sind die Kolonisten aus der Arche?«

Der Bot surrte, katschunk, dann wurden seine pupillenlosen Augen matt, und das Brummen ging in ein jammervolles Knirschen über.

»Verdammt«, murmelte Andra. »Hast du etwas Langes, Spitzes?«, fragte sie Zhade.

Einen Augenblick sah er sie verwirrt an, dann griff er nach einem Gegenstand – einen Dolch? –, der in einer Scheide an seiner Hüfte steckte. Im letzten Moment schien er es sich jedoch anders zu überlegen, denn er wandte sich an seinen Freund. »Wead? Hast du einen Stecken?«

Sein Freund blinzelte überrascht. »Neg. In einem Dorf der Ödländer schärfe ich garantiert keinen Stecken.«

Eine Dorfbewohnerin, ungefähr im Alter von Andras Mutter, mit strähnigen Haaren und papierweißer Haut, stieß einen aufgeregten Schrei aus und eilte in die nächstgelegene Steinhütte. Gleich darauf kam sie zurück, verbeugte sich vor Andra und bot ihr auf der ausgestreckten Handfläche einen Metallnagel dar.

Zögernd nahm Andra den Nagel an sich. »Ähm, danke.«

Die Frau strahlte. Andra drehte sich zu dem defekten Bot um. Er war reglos und still, aber wenn er wirklich tot gewesen wäre, hätten seine Nanos sich selbst freigesetzt, um woanders unterzukommen. Vermutlich reichte ein simples Reset. Sie drehte den Bot um, tastete seinen Nacken nach einem Port ab und rammte den Nagel hinein.

Alle um sie herum schnappten entsetzt nach Luft.

»Was macht Ihr da?«, rief Zhade. Er klang aufgebracht, vielleicht sogar verängstigt.

Andra trieb die Nagelspitze noch tiefer in die Öffnung. »Das ist ein Reset-Port. Da drin ist ein Cluster von Nano’Bots, die als Steuerzentrale des Zirkulationssystems fungieren. Sie zu piksen ist, als würde man ihnen einen Adrenalinstoß versetzen.«

Andra wartete auf das Klicken. Idealerweise benutzte man hierfür eine Reset-Nadel, damit neben dem Reboot gleichzeitig ein Download der neuesten Updates stattfand. Aber zur Not reichte auch jeder andere spitze Gegenstand, um zumindest einen Neustart in die Wege zu leiten. Nach einer Weile hörte man ein Klicken, der Bot erwachte surrend zum Leben, und seine dunklen Augen leuchteten gelb-weiß auf. Ein aufgeregtes Raunen ging durch die Reihen. Andra gab der Frau den Nagel, die sie zuerst mit weit aufgerissenen Augen anstarrte und dann voller Entsetzen vor ihr zurückwich.

»Wo sind die Kolonisten der Arche?«, fragte Andra den Bot erneut.

Er summte, gab jedoch keine Antwort. Das Holo’Display in seiner Handfläche leuchtete zwar, aber auf dem Bildschirm war nichts zu lesen. Andra begriff, dass sie konkreter werden musste.

»Wo ist Isla Watts?«

Das Display blinkte, bevor die Antwort kam.

Tot.

»Was?«

Auf dem Bildschirm wurde nur dieses eine Wort angezeigt. Mit einem Mal fühlte sich die feuchte Luft eisig an.

»Weitere Details«, stieß Andra hervor.

Die Kolonisten des auch als Arche bekannten Generationenschiffs Arcanum sind tot. Isla Watts ist tot.

»Auric Lim?« Dad.

Tot.

»Oz Watts?« Ihr kleiner Bruder.

Tot.

»Acadia Watts. Cruz Alvarez. Briella Jackson. Rhin Valentino.«

Tot. Tot. Tot. Tot.

Sie waren … Andra ertrug den Gedanken nicht. Das alles ergab keinen Sinn. War es möglich, dass alle … und nur sie allein war …

Schwindel erfasste sie. Sie hatte die anderen doch gerade erst noch gesehen. Nur Minuten bevor sie in Tiefschlaf versetzt worden war, hatte Andra sich im Wartezimmer von ihnen verabschiedet. Ihr Dad hatte gemurmelt, wie stolz er auf sie sei, und hatte ihr den Kopf getätschelt, als wäre sie immer noch ein kleines Kind oder einer seiner Bichon-Hunde. Acadia, ihre ältere Schwester, hatte keinen zweiten Blick für sie übrig gehabt; sie war vollauf damit beschäftigt gewesen, ihren Instruktor anzupingen, um nur ja sicherzugehen, dass ihre Noten interplanetarisch weitergegeben werden würden. (Wurden sie.) Oz hatte sie mit Tränen in den Augen umarmt. Mom hatte ihr ein knappes Lächeln geschenkt, immer noch verärgert über den letzten Streit. Wir sehen uns in Holymyth, hatte sie gesagt. Dann: Du wirst es bereuen, dass du dir die Haare nicht abrasiert hast.

Bei der Erinnerung daran wäre Andra beinahe in die Knie gegangen, wenn nicht eine Hand sie am Ellbogen gepackt hätte.

Zhade räusperte sich. »Göttin?«

»Nenn mich nicht so!«, fuhr sie ihn an und befreite sich aus seinem Griff. »Ich bin keine Göttin!«

Wut kochte in ihr hoch; die Intensität dieses Gefühls überwältigte sie. Die Erkenntnis kam in kleinen Portionen, verschaffte sich Platz in ihrem Kopf, brach sich Bahn, brodelte immer stärker, wie Wasser kurz vor dem Siedepunkt. Sie war allein. Es hatte einen Unfall gegeben. Sie hatte viel zu lange geschlafen. Niemand würde herbeieilen und ihr helfen. Die anderen Kolonisten waren weg. Ihre Mutter würde nie kommen, um ihre Vitalfunktionen zu testen. Alle Menschen, die sie kannte, waren tot.

Andra hätte nicht sagen können, woher sie das alles wusste, aber irgendwie fühlte es sich sehr real an. Nein, nicht real. Sondern wahr.

Sie ballte die Hände und schrie. Das Geräusch entstand tief in ihr, kämpfte sich durch die Kehle nach oben, bahnte sich einen Weg ins Freie und ließ sich vom Wind in die Wüste tragen.

Die Dorfbewohner duckten sich erschrocken, und Andra musste tief Luft holen, als sie ihre Angst sah. Ihre Augen brannten von den Sandkörnern, und sie wischte sich die Tränen weg.

»Tut mir leid«, murmelte sie.

Noch nie hatte sich jemand vor ihr geduckt. Sie war nicht gerade furchteinflößend. Sie war rundlich, hatte Grübchen und zu viele Zähne. Aber diese Leute starrten sie an, als könnte sie allein mit der Kraft eines Gedankens jeden auslöschen.

»Kayo, jetzt ist es kristall, dass Ihr eine Göttin seid«, sagte Zhade. Er ging zu dem Bot und legte einen Arm um ihn. »Ihr habt gerade ein Gespräch mit einem Engel geführt. Wäre Eure Unsterblichkeit nicht schon Beweis genug, hat dies die letzten Zweifel ausgeräumt. Nur Göttinnen und Mags können mit Engeln reden.«

Wo auch immer sie gelandet war, hier waren Bots Engel, Andra eine Göttin, und ihre Familie war tot.

»Ihr sprecht mit Engeln. Ihr steigt aus dem Grab. Gebt es zu. Ihr seid eine Göttin.«

Andra knirschte mit den Zähnen. Sie hatte inzwischen begriffen, dass für ihn Begriffe wie Grab oder Göttin nicht die gleiche Bedeutung hatten wie für sie, aber jetzt war ihre Familie tot, und dieser Planet hieß Hellmouth und …

Sie erstarrte.

Hellmouth.

Holymyth. Hellmouth.

Womöglich waren diese Leute gar nicht so fatalistisch wie gedacht. Sie sprachen nicht Andras Sprache, aber vielleicht kam ihr das auch nur so vor, weil ihre Sprache sich verändert hatte. Wörter waren lebendige Wesen. Sie wandelten sich, passten sich an, entwickelten sich. Wuchsen und schrumpften. Blühten bei Bedarf auf und verwelkten, wenn sie nicht mehr gebraucht wurden. Wie lange es wohl gedauert hatte, bis aus der Sprache ihrer eigenen Zeit dieses Kauderwelsch geworden war?

»Welches Jahr haben wir?«, fragte sie.

Zhade kniff seine dunklen Augen zusammen. »Non kapo. Das Jahr, das auf das letzte Jahr gefolgt ist. Das Jahr, auf das ein nächstes folgen wird, wenn es denn sein soll.«

»Damit kann ich nichts anfangen.« Andra wandte sich an den Bot. »Welches Jahr haben wir?«

Der Bot ächzte, das Interface stotterte, dann raste ein Feuerwerk aus Datenbytes über den Schirm, gefolgt von einer gemurmelten Kalkulation, bis er schließlich das Ergebnis präsentierte. Auf seinem Handflächenbildschirm erschien eine Jahreszahl.

3102.

»Nein«, stieß Andra hervor. »Den gregorianischen Kalender. Welches Jahr?«

Sie wartete. Das Display lieferte die neue Antwort, doch die Zahl blieb dieselbe.

»Was ist eigentlich los mit dir, du dummes Blechding? Ich habe nach dem Datum gefragt.« Sie versetzte dem Info’Bot einen Stoß. Er gab ein hohles, blechernes Geräusch von sich. Die Mechanik im Innern surrte, als der Bot die Beleidigungen zu begreifen versuchte, Lämpchen blinkten hektisch an den Drähten unter seinem durchsichtigen Schädel.

Verzeih, wenn ich dich verärgert habe.

Aber wir haben das Jahr 3102.

Der Bot war ramponiert und klapprig, nur einen Lidschlag von seinem mechanischen Tod entfernt, und die Prozessorgeschwindigkeit war langsamer als die der alten Data’Pads in Andras Schulbibliothek – aber wenn es etwas gab, das ein Bot akkurat wiedergeben konnte, dann war es das Datum.

Sie war auf Holymyth, die Kolonisten waren tot, und man schrieb das Jahr 3102.

Sie hatte nicht vier Jahre zu lange geschlafen.

Sondern tausend.

Zugehörigkeit, Substantiv

Etymologie: mittelhochdeutsch zuogehœrde, »Teil eines Ganzen bildend«

Definition:

dazugehören, Anteil an etwas habenVerbundenheit zu einer Gruppe oder Gesellschaft

Andra konnte gut mit Zahlen umgehen, aber Wörter liebte sie. Eins plus eins würde immer zwei ergeben, jetzt und in alle Ewigkeit, bis zum Ende aller Zeiten, und die Wurzel aus 1764 würde stets 42 sein, und ja, Andra wusste das, ohne lange nachzudenken. Wörter hingegen waren amorph und vieldeutig und launisch und aus diesem Grund unendlich viel interessanter als Zahlen. Wörter waren lebendig. Zahlen waren Werkzeuge.

343 568 Tage, seit sie in die Stasis versetzt worden war.

987 432 Kolonisten, die seit Jahrhunderten tot waren.

8,2 Trillionen Meilen zwischen hier und der Erde.

Zahlen konnten nicht ansatzweise die Realität wiedergeben.

Die Wüste war viel zu groß. Die Menschenmenge viel zu nahe. Andra brach der kalte Schweiß aus, und überall klebte Sand auf ihrer bloßen Haut.

»Ich muss hier weg«, keuchte sie.

»Certe«, sagte Zhade. »Es gibt allerdings nicht viele Orte, an die wir gehen können …« Er sah sich um, als wartete er darauf, dass sich wie aus dem Nichts eine Lösung anbot.

Andra zwängte sich an ihm vorbei. Ihr Herz raste, Schwärze drohte ihren Blick zu verdunkeln. Trotz des wahnwitzigen Wirrwarrs in ihren Gedanken arbeitete ihr Verstand hoch konzentriert, sezierte und analysierte ihre neue Situation mit schonungsloser Klarheit. Sie stapfte durch den Sand eines Wüstenplaneten, umgeben von Menschen, die sie für eine Göttin hielten, ein Jahrtausend nachdem ihre Familie ohne sie gelebt hatte und ohne sie gestorben war.

»Wartet!«, rief Zhade, aber sie achtete nicht auf ihn. Sie hatte nur ein Ziel vor Augen: weit weg von der glotzenden Menge und dem Fremden, der sie aus dem Schlaf geholt hatte. Weit weg von dem Bot, der ihr eröffnet hatte, dass ihre Familie tot war – seit tausend Jahren – und sie jetzt ganz allein auf dieser Welt war.

Auf halbem Weg zurück zur Hütte sah sie aus dem Augenwinkel etwas, das sie innehalten ließ. Auf einem Hügel, hoch über dem Dorf, stand Andras Kryo’Tank.

Es war kein Hügel, sondern eine Düne, und Andra musste ihre ganze Kraft aufbringen, um sie zu erklimmen. In der spätabendlichen Sonne hatte der Sand eine tieforange Farbe, und der wolkenlose Himmel erstreckte sich endlos weit. Sie fiel neben ihrem leeren Kryo’Tank auf die Knie. Um ihn herum hatte sich eine Pfütze aus den Resten des Schutzmittels gebildet, und die Schläuche des lebenserhaltenden Systems quollen in einem wirren Haufen wie Eingeweide aus einer komplexen Maschine hervor, von der lediglich die kümmerlichen Hauptbestandteile übrig geblieben waren. Andra zog sich hoch und nahm den Tank in Augenschein, fuhr mit den Fingern über das jetzt nicht mehr kalte, sondern warme Gehäuse.

Sie berührte es beinahe ehrfurchtsvoll. Es hatte sie fast tausend Jahre lang beherbergt. Das war fünfzig Mal länger als der längste je mit einem Menschen durchgeführte Probelauf. Zehn Mal länger als die Stasis ihrer Familie. Länger als ihre Familie nun schon tot war.

In der Ferne kreischten Kinder, jagten johlend einem Tier hinterher, das aussah wie eine Kreuzung aus Fuchs und Hund. Nachfahren der ersten Siedler spielten mit einem Weltraumwüstenfuchs/-hund und lebten in einer Gesellschaft, die sie als Göttin verehrte.

Sie wischte sich den Schweiß aus den Augen und überlegte, was wohl passiert war, aber für ein klares Bild fehlten ihr zu viele Puzzleteile. Die Lacuna Athenaeum Corporation hatte einen Plan zur Besiedlung ferner Planeten entwickelt. Genauer gesagt Dr. Alberta Griffin, Gründerin von LAC und anerkanntes Technikgenie. Sie hatte das gesamte Programm initiiert, angefangen bei der Kryonik, den Shuttles und Generationenschiffen bis hin zu den Fragen der Bewohnbarmachung unbekannter Welten, nicht zu vergessen Bots und KIs, die den gesamten Prozess überwachen würden. Sie war all das, was Andra nicht war: groß, schlank, blond, einschüchternd, zielstrebig. Andras Mom hatte sie ungefähr ein Dutzend Mal mit Dr. Griffin in Kontakt gebracht, und die hatte sich beeindruckt gezeigt von Andras Talent in den MINT-Fächern. Weit weniger beeindruckt hatte sie Andras Desinteresse an diesen Disziplinen.

Wörter. Das war es, womit sich Andra beschäftigen wollte. Wörter.

Schweißtropfen rannen über ihren Rücken, Hitze schnürte ihr die Luft ab, und jeder Atemzug blieb ihr in der Kehle stecken, direkt über dem Brustbein.

Sie war mutterseelenallein – niemand war da, der ihr sagte, was sie tun sollte, oder ihr zumindest erklärte, was hier vor sich ging. Sie würde sich nie mehr darauf verlassen können, dass ihre Mom sich um alles kümmerte oder Acadia sie herumkommandierte. Denn sie sind tot, dachte sie. Das konnte man nicht reparieren. Andra konnte lediglich versuchen, es zu verstehen. Und es gab nur einen Weg, Antworten zu finden.

Sie beugte sich über den Data’Screen am oberen Ende des Tanks. Er hatte sie die vergangenen tausend Jahre am Leben erhalten, es war also davon auszugehen, dass alle Dateien noch intakt waren. Sie unterdrückte den Drang, ihr nutzlos gewordenes Neural’Implantat zu Hilfe nehmen zu wollen, und klappte stattdessen die Abdeckplatte hoch, die das Display schützte. Blinkend erwachte es zum Leben. Das Logo der Lacuna Athenaeum Corporation, das Unendlichkeitssymbol mit der Doppelhelix, lief über den Bildschirm. Andra tippte auf die Tasten, bis das Holo’Display erschien. Im Bereich der Kryonik wurde immer alles aufgezeichnet. In der Stasis war ein Mensch im Grunde tot und komplett auf die Kryo’Techs angewiesen – allein der Gedanke war so furchteinflößend, dass man Gesetze erlassen hatte, die Kryonikunternehmen verpflichteten, den Verlauf einer Stasis genauestens zu dokumentieren. Daher würde es detaillierte Aufzeichnungen darüber geben, was in den letzten tausend Jahren mit dem Kryo’Tank geschehen war.

Was mit Andra in den letzten tausend Jahren geschehen war.

Der entsprechende Dateiordner war schnell gefunden. Andra scrollte durch die Zeitstempel, rief den Oktober 2161 auf – doch genau da endeten die Aufzeichnungen. Es gab keine Daten, die über den Monat, in dem sie in die Stasis versetzt worden war, hinausgingen. Es war noch nicht mal der nötige Platz dafür vorgesehen. Es war, als hätte es Andra nie gegeben.

Das Kreischen der spielenden Kinder verstummte, wurde abgelöst von einem Dröhnen in ihrem Ohr. Andra starrte so lange auf den leeren Ordner, bis der Bildschirm dunkel wurde und erneut das holografische LAC-Logo zu sehen war.

Nicht dass irgendetwas davon eine Rolle spielte – die fehlenden Dateien, der kaputte Tank. All das änderte nichts daran, dass sie zu lange geschlafen hatte, in der Wüste eines Zukunftsplaneten ausgesetzt worden war und dass ihre Familie tot war. Hatten sie noch ein langes glückliches Leben ohne sie gelebt? Hatte Acadia fünf Diplome erworben und die Welt regiert? War Oz ein Drohnenpilot geworden?

Andra musste mehrmals tief durchatmen, um ihre Fassung zurückzugewinnen. Das alles hätte nicht passieren dürfen. Sie hätte in jedem Fall mit den anderen zusammen aufwachen müssen. Und dass es in ihrem Kryo’Tank keinerlei Aufzeichnungen gab, war im Grunde ein Ding der Unmöglichkeit. Im System waren Redundanzen eingebaut, mit wechselseitigen Kontrollen, Sicherheitschecks und vorgeschriebene Verfahrensweisen für jedes nur erdenkliche Problem.

Nur für dieses nicht. Was auch immer es war.

Sie war in die Stasis gegangen, durch den Weltraum gereist, in Holymyth angekommen und dann … was? Irgendetwas war passiert.

Die Sonne stand bereits tief am Horizont, und die Schatten wurden länger, aber es war immer noch heiß. Hinter ihr waren schlurfende Schritte zu hören. Zhades Freund, der Mann mit den freundlichen Augen, erklomm die Dünenanhöhe. Als er bei Andra angekommen war, setzte er sich, zog die Knie an und stützte seine Arme darauf. Andra beschloss, ihn nicht zu beachten, bis er von selbst wieder verschwand, aber er harrte schweigend aus und beobachtete das Spiel der Kinder.

»Ich wollte nie herkommen«, sagte sie und war selbst überrascht, dass dieses Eingeständnis über ihre Lippen kam, noch dazu einem Fremden gegenüber. »Mom und ich hatten einen heftigen Streit, und ich war versucht, mitten in der ganzen Prozedur auszusteigen. Sie hätte mich schließlich kaum daran hindern können. Bis jemand von ihnen es gemerkt hätte, wäre ich längst tot gewesen. Aber stattdessen …«

Andra brach ab, kämpfte gegen die Tränen an.

Sie hatte unzählige Male mit ihrer Mutter darüber diskutiert, ob sie sich den Siedlern anschließen sollten. Für Isla gab es keine Alternative. Selbstverständlich würden sie nach Holymyth gehen. Das Projekt war schließlich ihr Lebenswerk. Aber nicht das von Andra.

Sie war sich nicht sicher, was ihr eigenes Lebenswerk sein würde, aber sie fühlte sich an die Erde gebunden. Als sie das ihrer Mutter erklären wollte, hatte die nur mit den Augen gerollt. Andras Platz war da, wo Isla ihn ihr zuwies. Sie waren eine Familie und würden zusammenbleiben. Andra konnte sich des Gedankens nicht erwehren, dass die eiserne Entschlossenheit ihrer Mutter weniger einer mütterlichen Zuneigung entsprang als vielmehr dem Wunsch, alles kontrollieren zu wollen.

Jetzt war Andra hier auf diesem Planeten, gegen ihren Willen, allein und ohne zu wissen, was geschehen war und wie es weitergehen sollte.

Sie grub ihre Absätze in den Sand. »Stattdessen sind sie ohne mich fort«, beendete sie ihren Satz.

Der Mann neben ihr blickte einen Moment verwirrt, dann nickte er mitfühlend. »Sorries, Göttin.«

Sie zuckte zusammen. »Bitte, nenn mich nicht so. Ich heiße Andromeda. Oder Andra. Alle nennen mich Andra.«

»Andra«, wiederholte er, hatte allerdings Schwierigkeiten mit der Häufung von Konsonanten, und auch die Vokale klangen aus seinem Mund irgendwie anders. »Es ist mir eine Ehre. Ich bin Lew-Eadin. Oder kurz Wead.«

Andra kräuselte die Nase. »Okay, ich werde dich einfach Lew nennen.«

Er lachte, und sie fragte sich, warum. »Lew. Certe, Göttin.« Er schüttelte den Kopf. »Sorries. Andra.«

Am Fuß der Düne schrie eines der Kinder so laut, dass es alle anderen übertönte. Es sprudelte eine Aneinanderreihung von Wörtern hervor, die Andra noch nicht gehört hatte. Mittlerweile erkannte sie allerdings bestimmte Muster in den Lautäußerungen und identifizierte einzelne Silben aus dem Mischmasch lang gezogener Vokale und verschluckter Konsonanten. Es juckte sie in den Fingern, sie aufzuschreiben und zu systematisieren.

Der Soldat lachte über etwas, das eines der Kinder gesagt hatte.

Mit einem Nicken deutete Andra in ihre Richtung. »Wieso sprichst du nicht wie sie?«

»Das tue ich«, sagte er und fuhr sich mit der Hand durch die braunen Locken. »Aber wenn ich mit einer Göttin rede, spreche ich Hochgöttisch. Das habe ich von der Ersten gelernt. Zhade ebenso. Fast alle Bewohner von Eerensed beherrschen es, aber davon könnt Ihr Euch selbst überzeugen, wenn Ihr mit uns kommt.«

Die Kinder hetzten unermüdlich hinter dem Fuchs/Hund her, ihre schmutzigen Gesichter leuchteten vor Aufregung.

»Mitkommen?«, murmelte Andra. Es war keine Frage, nur eine völlig absurde Idee – allein mit Fremden an einen Ort zu gehen, den sie nicht kannte. Aber so absurd die Idee auch war, musste Andra sich doch im selben Moment eingestehen, dass sie kaum eine andere Wahl hatte.

Lew-Eadin schwieg für einen Moment. »Jes, kommt mit. Ihr könnt uns retten.«

Sie schnaubte. »Ich bin keine Göttin.«

»Das behauptet Ihr«, erwiderte Lew-Eadin lächelnd und sah sie von der Seite an. »Aber bei allem Respekt, es fällt mir schwer, das zu glauben.«

Andra zuckte mit den Schultern und riss ein dürres braunes Grasbüschel aus dem sandigen Boden. »Wie du meinst.«

Lew-Eadin blinzelte, offenbar wusste er nichts mit dieser Bemerkung anzufangen, aber er beließ es dabei. Hinter ihnen bewegte sich etwas, und als sich Andra umdrehte, sah sie, dass Zhade den Hügel heraufkam. Er hatte seine Kapuze ins Gesicht gezogen und die Verbände an seinen Händen durch fingerlose Handschuhe ersetzt. Zhade nahm Platz, zwängte sich zwischen sie und Lew-Eadin und trat dabei eine kleine Sandlawine los. Andras Augen fingen an zu brennen.

»Wead, flüsterst du unserer Göttin Sandflöhe ins Ohr?«, fragte Zhade und stieß gleich darauf einen lauten Ruf aus, als ein Kind sich auf den Fuchs/Hund stürzte, ihn jedoch verfehlte, weil das Tier zwischen seinen Armen hindurchrutschte. Dann wandte er sich an Lew. »Sie hatte eineinhalb Tage, mehr nicht. Gönn ihr etwas Ruhe.«

Andra konnte sich gerade noch zurückhalten, nicht die Augen zu verdrehen. Mittlerweile war sie mit Zhades Sprachmuster vertraut, und einiges von dem, was er sagte, ergab sogar Sinn. Aber wenn hier jemand »Sandflöhe flüsterte«, dann er. Sie hatte den Verdacht, dass er nicht ehrlich war oder zumindest nicht die ganze Wahrheit preisgab.

»Du hast mich geweckt«, sagte sie. Diesmal war es eindeutig ein Vorwurf. Er hatte nicht das Recht dazu gehabt. Und vielleicht war sie immer noch ein bisschen sauer, weil er sie nackt gesehen hatte. Die Wölbung ihres Bauchs, ihre kurvige Hüfte. Und das verhasste Geburtsmal – eine Sternenexplosion, kleine, zarte Tupfen, wie bei einem pointilistischen Gemälde, direkt unter ihrem linken Schlüsselbein.

»Jes«, sagte Zhade nachdenklich, dann biss er sich auf die Lippe. »Wir haben das bereits geklärt. Ich bin Zhade, das ist Lew-Eadin. Ihr seid die Dritte Göttin, die uns alle erretten, den Löchern Einhalt gebieten und die Wälder und Meere wiederherstellen wird – die meiner Meinung nach nie existiert haben. Nichts als Sternschnuppen und Fische. Wichtig ist nur, dass ich mit Eurer Hilfe nach Eerensed zurückkehren kann.«

Sie kniff die Augen zusammen. Dass jemand wie er sie wecken konnte, war nicht vorgesehen. Das konnten nur Kryo’Techs, die eine jahrelange Ausbildung absolviert hatten. »Du kennst dich mit manueller Technologie aus.«

Er beugte sich zu ihr. »Non kapo, aber es klingt gut, marah?«

»Woher wusstest du, wie du mich wecken musstest?«

»Ich bin ein Mag, Göttin.« Er grinste. »Der beste weit und breit.«

»Wo hast du gelernt, wie man meinen Tank öffnet?«

Er zuckte die Schultern, seine Miene war ausdruckslos. »Von einem anderen Mag. In Eerensed. Wo ich früher gelebt habe. Wohin ich Euch bringen werde, nun, da ich Euch gefunden habe, Göttin.«

Sie kratzte sich den Sand vom Nacken. »Ich heiße Andra, und ich bin – wie ich dir bereits gesagt habe – keine Göttin.« Sie legte den Kopf schief und sah ihn forschend an. Er wirkte arrogant und lächerlich, aber seine braunen Augen waren klar, ohne jede Spur von Wahnsinn. »Du kannst nicht ernsthaft glauben, dass ich eine bin.«

Zhade nahm einen flachen Stein, drehte ihn zwischen den Fingern und stützte sich dabei mit der anderen Hand ab. »Ich weiß nur dies: Ihr wart sehr lange im Grab, weshalb keiner sich an Euch erinnern kann. Und Ihr könntet es mit den Zauberkräften des besten Mag aufnehmen.« Seine blonden Haare fielen ihm in die Stirn, als er sich verschwörerisch zu ihr beugte. »Und der bin ich, du Wüstenskink.« Er lehnte sich wieder zurück. »Ihr sprecht Hochgöttisch, und das fehlerlos. Und ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie Ihr zum Leben erwacht seid. Wenn Ihr keine Göttin seid, was seid Ihr dann?«

Einfach Andra. Ein Teenager aus dem zweiundzwanzigsten Jahrhundert und eine Allroundniete. »Ich komme … aus der Vergangenheit«, sagte Andra und zuckte bei ihren eignen Worten zusammen. Selbst in ihren Ohren hörte sich das wie ein Märchen an.

Zhade lachte bellend. »Ich auch. Vorhin war ich dort, jetzt bin ich hier.«

»Das meine ich nicht.«

»Kapo.«

Er sah sie einen Augenblick prüfend an.

Andra starrte zurück und zupfte an dem engen Material des geliehenen Hemds, das sich über ihrem Bauch nach oben geschoben hatte. »Ich bin keine Göttin«, murmelte sie.

Zhade machte eine abschätzige Geste. »Zum Glück ist es nicht wichtig, was Ihr seid. Es reicht, wenn die Leute Euch für eine Göttin halten. Der Guv wird mich reinlassen, wenn ich Euch bei mir habe.«

»Ich bin also ein Druckmittel?«

»Certe neg.« Er hielt inne. »Was ist ein Druckmittel?«

»Du benutzt mich, um zu kriegen, was du willst.«

»Oh, dann jes. Du bist definitiv ein Druckmittel.«

Andra erhob sich und wischte sich den Sand von der Hose. »Ich werde garantiert nicht mit dir nach Ear-and-Sand gehen«, sagte sie mit leisem Selbstzweifel. Welche anderen Möglichkeiten hatte sie denn? Hierbleiben? An diesem Ort, wo sie weder die Sprache verstand noch wusste, wie sie überleben sollte?

»Eerensed«, korrigierte Zhade sie. »Ich habe Euch wiederauferstehen lassen. Ihr schuldet mir was.«

»Sie ist gerade erst aufgewacht, Sir.« Lew-Eadin klang gelangweilt, fast geistesabwesend, als wäre er es gewohnt, mit Zhade zu diskutieren. Sein Akzent trat stärker hervor, wenn er nicht gestelzt, sondern natürlich sprach. »Sie braucht Zeit, um sich zurechtzufinden.«

»Pff.« Zhade reckte das Kinn.

»Ich kenne dich nicht«, sagte Andra. »Du könntest wer weiß wer sein. Dass du damit prahlst, aus deiner Heimatstadt verbannt worden zu sein, spricht nicht gerade für dich.«

Zhade wirkte brüskiert. Er wollte etwas einwenden, aber Andra schnitt ihm das Wort ab.

»Ich schulde dir gar nichts. Danke fürs Wecken, aber ich habe dich nicht darum gebeten, und offen gesagt …« Sie holte tief Luft. »… wäre ich in meinem Tank vermutlich besser dran. Ich bin keine Göttin und auch kein Mag oder was sonst noch. Und ich kann auch niemanden retten. Ich bin ein ganz normales Mädchen in«, sie lachte und stieß mit dem Fuß leicht gegen den Kryo’Tank, »… einer lächerlichen Situation. Ich will nichts weiter als herausfinden, was mit meiner Familie passiert ist und wie ich wieder nach Hause …« Ihre Stimme brach. Sie schluckte und dachte an zu Hause. An die Erde.

Die Erde: die blau-grüne Kugel im Weltall, dritter Planet von Sol. Aber auch: der Duft von Frühlingsregen und das Knistern von Herbstlaub. Der Park, in dem sie und Oz mit ihren Drohnen Wettrennen veranstaltet hatten. Ihr Lieblings-Sushi-Restaurant. Das Gefühl, von einem kalten Wasserstrahl getroffen zu werden, wenn das Temp’Con der Dusche wieder einmal streikte. Die Wand aus Präbüchern in ihrem Zimmer. Warme Socken.

Eintausend Jahre. Dies alles gab es längst nicht mehr, oder es war bis zur Unkenntlichkeit verändert. Sie hatte kein Zuhause mehr, in das sie zurückkehren konnte. Heiße Tränen stiegen ihr in die Augen. Zhade bemerkte es nicht, und Lew tat nur so.

»Ich kann nicht mit dir gehen«, murmelte sie. Eine einzelne Träne löste sich, und Andra wischte sie rasch fort.

Zhade blinzelte gegen den Wüstenwind an, dann nickte er ernst. »Certe, certe.« Ächzend erhob er sich und wischte sich den Staub von der Hose. »Ich hatte gehofft … aber Sternschnuppen und Fische, marah? Bestimme dein Schicksal.«

Vom Fuß des Hügels drang ein schriller Schrei zu ihnen herauf. Eines der Kinder hatte den Fuchs/Hund mit einem Messer aufgespießt. Das Tier wimmerte, und das Kind – ein etwa sechsjähriges Mädchen – drehte das Messer, bis das Tier keinen Laut mehr von sich gab. Andra schnappte nach Luft und schlug die Hand vor den Mund, um einen Schrei zu unterdrücken. Die anderen Kinder quengelten und riefen etwas, das sie nicht verstand.

»Heute wird es bei dieser Familie Fleisch zum Abendessen geben.« Zhade sah Andra nicht an. Stattdessen beobachtete er das Mädchen, wie es das tote Tier durch die Wüste schleifte. »In Eerensed müsste es sich keine Sorgen ums Essen machen. Wir haben voller als voll Fleisch. Die Engel kochen für uns. Und die göttliche Kuppel schützt uns vor den Löchern.«

Zhade wandte sich zum Gehen, aber ein Begriff seines seltsamen Dialekts spukte plötzlich in Andras Kopf herum.

»Eine, ähm, göttliche Kuppel? Gab es die schon immer?«

Auf diesem merkwürdigen Planeten, wo Bots Engel waren und ein Mädchen in Stasis eine Göttin, konnte es sich bei einem göttlichen Dom nur um eine Bio’Kuppel handeln. Und die Stadt, von der Zhade gesprochen hatte, steckte nicht etwa randvoll mit Magie oder wohlwollenden Geschenken großzügiger Götter, sondern mit Technologie.

Zhade schüttelte den Kopf, aber der Anflug eines Lächelns huschte über seine Lippen, und Andra hatte mit einem Mal das Gefühl, in eine Falle getappt zu sein. »Neg. Die Erste hat ihn erschaffen.«

»Die erste was?«, wollte Andra wissen.

»Die Erste Göttin«, sagte er schlicht. »Dachtet Ihr etwa, Ihr seid die einzige?«

Andra stockte der Atem, ihr Herzschlag setzte aus. Andere Göttinnen? Bedeutete das, es gab noch weitere Siedler, die nicht zusammen mit den anderen Kolonisten aufgewacht waren? Leute aus ihrer eigenen Zeit? Von der Erde? Fragen über Fragen schwirrten ihr im Kopf herum, und sie platzte mit der erstbesten heraus. »Wie viele?«

Zhade zuckte die Schultern, wenn auch alles andere als beiläufig. »Wir gehen von drei aus. Die Erste war die Göttin von Licht und Weisheit«, zitierte er. »Die Zweite brachte Chaos und Leid. Die Dritte –«

»Die anderen beiden waren so wie ich?«

»Ungeduldig?«

»Eingefroren. In einem Tank.«

Zhades Mundwinkel zuckte. »Certe. Unsterblich und unveränderlich und mächtig.«

Vielleicht war Andra nicht die einzige Siedlerin, die nicht rechtzeitig aus ihrem Tank geholt worden war. Sie wollte sich keine falschen Hoffnungen machen, aber vielleicht waren die anderen Göttinnen Frauen, die sie kannte. Wer auch immer die Erste war, sie hatte eine voll funktionstüchtige Bio’Kuppel erschaffen. Man musste ein Genie sein, um das zu können. Andra fiel kaum mehr als ein halbes Dutzend Leute ein, die das nötige Wissen hierfür gehabt hätten. Und eine davon war ihre Mutter.

Aber der Bot hatte behauptet, Andras Mutter sei tot. Vielleicht hatte er sich geirrt oder Daten falsch interpretiert. Bots waren schließlich nicht allwissend; sie konnten nur die Informationen wiedergeben, die in ihr System eingespeist worden waren. Anders als die KIs konnten Bots nicht selbstständig Rückschlüsse ziehen. Jemand hatte Zhade ausgeschickt, um Andra zu suchen, und wer, wenn nicht ihre Mutter, könnte das getan haben? Die Hoffnung war verführerisch – dass es da noch jemanden aus ihrer Familie gab –, aber Andra versuchte, den Gedanken gar nicht erst zuzulassen.

»Ich komme mit«, erklärte sie und beobachtete, wie Zhades Lächeln immer breiter wurde.

Irgendetwas an dem Lächeln war verkehrt. Zu viele Zähne.

»Aber nur, wenn du mir unterwegs alles erzählst, was du über die Göttinnen weißt.«