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Der Roman von 1952 erzählt die fesselnde Geschichte eines fiktiven Volksaufstands gegen eine korrupte Regierung in einer abgelegenen Provinz Japans. In einer nicht allzu fernen Zukunft ist die gesamte Welt zu einer einzigen Republik vereint. Krieg und Armut gehören der Vergangenheit an, Geld existiert nicht mehr. Lebensmittel und Materialien werden in unbegrenzten Mengen verteilt, Roboter übernehmen den Großteil der harten Arbeit, und die Menschheit lebt sorglos in dieser hochentwickelten Utopie. Doch ein neues Experiment am „Moral-System“ der Roboter bringt das fragile Gleichgewicht ins Wanken. Massenproteste brechen aus. Die Menschen, bislang durch die Zivilisation eingeschläfert, erwachen und stellen die perfekte Gesellschaft infrage. Tatsuzō Ishikawa wird von Kritikern als einer der scharfsinnigsten Chronisten der japanischen Nachkriegsgesellschaft geschätzt. In „Die letzte Republik“ seziert er die gesellschaftlichen Umwälzungen, menschlichen Leidenschaften und politischen Spannungen der Zeit. Sein eindrucksvolle Porträt einer Nation im Wandel gilt bis heute als eines der wichtigsten Werke der japanischen Literatur.
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Seitenzahl: 293
Veröffentlichungsjahr: 2025
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AUS DEM RUNDFUNKARCHIV DER NACHRICHTENAGENTUR UNITED ASIA (UA)
1 2026
2 2027
3 APRIL 2027
4 JULI 2027
5 SEPTEMBER 2027
6 NOTIZEN VON DR. PHILIPP SANO
Dr. Johannes vom medizinischen Forschungsinstitut der Staatsuniversität Buenos Aires ist unter Wissenschaftlern weltweit eine Bekanntheit. Der auf einem Auge erblindete, hinkende Mann hatte schon mit dreißig schlohweiße Haare und gilt als hoch angesehener Hormonspezialist. Vor etwa fünf bis sechs Jahren spritzte er einer toten Maus eine mysteriöse Hormonmixtur ins Herz und erweckte sie dadurch wie Lazarus wieder zum Leben. Besagter Dr. Johannes hat nun abermals ein spektakuläres Ergebnis seiner Arbeit vorgelegt, diesmal durch Anwendung des Y-Hormons an einem menschlichen Körper. Diese Neuigkeit dürfte in der gesamten Republik Aufsehen erregen und die Herrlichkeit unserer Utopie noch mehren.
Entdeckt wurde das Y-Hormon schon im Jahre 2003 von seinem Mentor, Prof. Marion, der allerdings eines Sommerabends wegen einer Fehlfunktion seines Fahrroboters von der Küstenstraße ins Meer stürzte und dabei vorzeitig ums Leben kam. Seit dem Gelingen der künstlichen Synthese des Y-Hormons im Jahr 2006 wurde es hauptsächlich bei Nutztieren wie Rindern, Schweinen und Schafen angewandt. Es verkürzte deren Trächtigkeitsdauer auf die Hälfte beziehungsweise ein Drittel und sorgte somit für eine großartige Effizienz im Nutztierbereich. Bereits nach etwa zehn Jahren wuchs die Anzahl der Kühe in Argentinien auf das Doppelte und die der Schweine auf das Zweieinhalbfache an, was der Weltrepublik Nahrungsmittel in ausgiebiger Menge bescherte.
Ende September dieses Jahres besuchte die siebzehnjährige Emilia, hübsch wie eine Rosenknospe und im frühen Stadium einer Schwangerschaft, am Spätnachmittag das Universitätsklinikum und klagte über Beschwerden. Mit Einverständnis der Patientin stach Dr. Johannes mit einer langen, dünnen Nadel in ihren Bauch und injizierte 120 Einheiten des Y-Hormons. Die Prozedur wandte er nach einem Monat zum zweiten Mal und nach zwei Monaten zum dritten Mal an. Am Morgen des dritten Dezembers gebar Emilia schließlich nach einer fünfeinhalbmonatigen Schwangerschaft einen makellosen Sohn. Ist das nicht wahrhaft ein Wunder der menschlichen Kultur, ein Wunder unserer Republik?
Von diesem Ereignis berichtete freudig der Direktor des Universitätsklinikums, der kranichschlanke Dr. Harold:
»Ich kann die Mitteilung von Dr. Johannes voll und ganz bestätigen. Denn ich selbst habe als Verantwortlicher des Klinikums die Patientin täglich untersucht. Der Mutter geht es gut im Wochenbett und das Kind verfügt über garantiert 97 % der Intelligenz und des Körpergewichts durchschnittlicher Neugeborener. Unserer Zivilisation ist es damit endlich gelungen, die Funktionen des menschlichen Körpers zu optimieren. Voraussichtlich wird die Forschung zukünftig in der Lage sein, die menschliche Schwangerschaftsdauer auf drei Monate zu verkürzen. Anders gesagt, meine Damen und Herren, die naturbedingten Beschwerden der Frauen werden auf ein Drittel reduziert und das weibliche Glücksempfinden nimmt um das Dreifache zu. Der Legende nach sprach Gott während der Vertreibung aus dem Paradies zu Eva: ›Unter Schmerzen sollst du gebären‹. Nun aber hat die Zivilisation unserer Republik sogar den Fluch Gottes überwunden.
Seht, die zivilisierte Menschheit und ihre Kultur haben endlich die Stelle Gottes eingenommen! Ehre sei der Kultur der Menschheit, Ehre sei der Republik. Seit gestern stürmen Hunderte von Damen in mein Klinikum und verlangen nach einer Injektion des Y-Hormons.«
Mit diesem Bericht stattete ich der anerkannten Autorität auf dem Gebiet der Hormonforschung im Osten unserer Republik, Dr. Philipp Sano, Mitglied des Bundesausschusses für Gesundheit und Direktor des Staatsklinikums Tokio, einen Besuch in seinem hellen, komplett mit Kunststoff ausgestatteten Labor ab. Mit mürrischer Miene äußerte er sich hierzu folgendermaßen:
(Aufgezeichnetes Interview vom 24. Dezember 2026)
»Für die medizinische Forschung handelt es sich zwar um einen wichtigen Beitrag, aber es ist nicht weiter verwunderlich, dass bei Menschen das gleiche Ergebnis zu beobachten ist, da die Eigenschaft des Y-Hormons bereits seit zwanzig Jahren bekannt ist und sich bei Nutztieren als erfolgreich erwiesen hat. Wir haben es nur bisher vom ethischen Standpunkt aus nicht gewagt, die Erkenntnisse auch in der Humanmedizin anzuwenden.
Meiner Erfahrung nach bereitet eine normale Schwangerschaft gesunden Frauen eher glückliche denn beschwerdereiche zehn Monate. Gerade weil die Zivilisation der Republik enorm fortgeschritten ist, erleben Frauen die Schwangerschaft als glücklichste Zeit in ihrem Leben – nämlich in ihrem primitiven und kreatürlichen Verlauf. Auch in einer hochkultivierten Gesellschaft sollte man solch ein urtümliches Glücksempfinden bewahren. Außerdem sind japanische Frauen immer wie die Blütenstempel der Wildgräser gewesen: Sie werden bestäubt, sobald der Wind weht, werden befeuchtet, wenn es regnet, und kaum berührt, bringen sie neue Sprösslinge hervor. Wenn das Y-Hormon angewandt werden kann, werden sie noch öfter schwanger. Eine Steuerung der Geburtenzahlen dürfte dann kaum mehr realisierbar sein. Es entsteht das gleiche Chaos wie in den Fünfziger- oder Sechzigerjahren, als sich achtzig bis hundert Millionen Menschen in Armut auf dieser kleinen Insel gedrängt haben, was zu unhaltbaren Zuständen geführt hat. Deshalb bin ich gegen eine praktische Anwendung in Japan. Das Y-Hormon ist für Schweine gedacht. Besser wäre es, die Erforschung des P-Hormons, das die Schwangerschaftsrate vermindert, voranzutreiben und mit dem Y-Hormon zu kombinieren. Das wäre eine wahrhaft humane Errungenschaft unserer glorreichen Utopie.
Übrigens gibt es ein gravierendes Problem. Vom Institut für Veterinärmedizin in Sapporo/Hokkaido hat mich ein besorgniserregender Bericht erreicht: Statistiken zeigen deutlich, dass sämtliche Rinder, Pferde und Schweine usw., die nach einer mittels des Y-Hormons reduzierten Schwangerschaft zur Welt kamen, eine auffallend kurze Lebensdauer haben. Das ist nicht weiter verwunderlich. Alle Tiere mit kurzer Trächtigkeitsdauer haben generell keine lange Lebenserwartung. Hasen und Ratten, deren Tragzeit einen Monat dauert, leben drei bis fünf Jahre. Pferde und Rinder sind zehn Monate trächtig und leben daher entsprechend länger. Wird die Trächtigkeitsdauer mithilfe des Y-Hormons verkürzt, betrifft das auch die Lebenserwartung. Das ist ein wundersames Naturgesetz. Selbst die höchste Kultur der Menschheit kann auf dieses Mysterium keinen Einfluss nehmen. Es würden sich große Probleme ergeben, wenn die Entdeckung von Dr. Johannes die durchschnittliche Lebenserwartung von uns Menschen verkürzen würde. Bei Rindern und Schweinen ist das Y-Hormon risikolos, denn sie werden meistens vor dem natürlichen Tod geschlachtet und zu Schinken oder Speck verarbeitet. Aber wenn das Menschenleben mit durchschnittlich dreißig Jahren enden würde, wäre das der Untergang unserer Republik. Wir könnten dann unsere Hochkultur nicht mehr aufrechterhalten. Ich denke, es ist unsere Aufgabe als Mediziner, dem Zentralkongress der RU* ein Anwendungsverbot des Y-Hormons nahezulegen.«
Unsere Sendung vorgestern Abend über eine Behandlung mit dem Y-Hormon durch Dr. Johannes hat weltweit Aufmerksamkeit erregt. Ununterbrochen bekommen wir Anfragen über unser kabelloses Telefon. Wissenschaftler aus aller Welt – aus Kapstadt, Athen, Kuba, Saigon und Kopenhagen – treffen einer nach dem anderen per Flugzeug ein. Um sie zu empfangen, eilt der halbblinde Dr. Johannes, das lahme Bein hinter sich her schleifend, völlig verschwitzt unter seinem weißen Schopf geschäftig hin und her. Für morgen, 10:00 Uhr, plant er eine mehrstündige Präsentation, insbesondere für die ausländischen Wissenschaftler unter den Gästen. Außerdem wird sich Sekretär Pierre vom Zentralkongress, der ebenfalls angereist ist, dafür einsetzen, dass beim nächsten Kongress im Frühjahr eine Förderung für Dr. Johannes’ Forschung sowie die Gründung eines Sonderausschusses für eine Y-Hormonkampagne beantragt werden.
Auch Dr. med. Patricia von der Universität Kapstadt, eine Koryphäe auf dem Feld der Geburtshilfe, ist gestern Abend mit dem Flugzeug eingetroffen. Zusammen mit ihrer Freundin Sophia, einem neunzehnjährigen Mischlingsmädchen, hat sie am Morgen mit Loloa* versetzten Mate-Tee getrunken. Unserem Reporter gegenüber zeigte sich die blonde Schönheit ganz aufgelöst:
(Aufzeichnung)
»Eine sensationelle Entdeckung. Wirklich großartig, nicht wahr? In der hochentwickelten menschlichen Kultur, die unsere Utopie hervorgebracht hat, ist es allein die weibliche Physiologie, die unverändert auf einer primitiven Stufe verharrt. Der weibliche Körper ist kulturell auf der Strecke geblieben, er ist also immer noch der gleiche wie schon zu Zeiten von Kleopatra oder Yang Guifei, er hat sich eigentlich seit zwanzigtausend Jahren nicht verändert. Durch die Leistung von Dr. Johannes ist endlich ein Lichtstreif am Horizont sichtbar. Zumindest wird die mit Beschwerden verbundene Dauer der Schwangerschaft halbiert. Diese großartige Entdeckung wird in den nächsten sechs Monaten bestimmt vielen Frauen auf der ganzen Welt eine frohe Botschaft sein. Der weiblichen Physiologie wird somit ein kulturelles Denkmal gesetzt. Es ist fantastisch! Die Leistung von Dr. Johannes wird Frauen in aller Welt ewig im Gedächtnis bleiben. Ich für meinen Fall bin ja nicht darauf angewiesen, aber …«
* RU: Republic Union. Abkürzung für die Föderative Weltrepublik
* Loloa: Arznei, die eine Aversion gegen Männergeruch auslöst. (Lesbische) Frauen lösen dieses weiß-kristalline Pulver in Getränken auf, damit sie sich nicht in Männer verlieben. Eine Art kontraproduktives Hormon.
Zum 50. Neujahrstag seit der Gründung der Republik herrscht in der Stadt Rom seit dem Morgen helle Aufregung. Auf dem Hügel, wo einst der Petersdom und der Vatikanpalast standen, die jedoch im IV. Weltkrieg der Atombombe zum Opfer fielen, steht nun der neu gebaute, prachtvolle Hauptsitz der RU aus schneeweißem Marmor. Hunderte von Nationalflaggen flattern um ihn herum, Tausende von Blumengestecken bedecken den Vorplatz, über den beschwingte Musik schallt.
Die Menschen, die sich in Massen auf dem Areal tummeln, tragen ausnahmslos modische Kleidung. Ihre Gesichter wirken sorglos und zufrieden, Liebespaare schlendern Arm in Arm. Alle haben ein glattes Antlitz, denn sie leben in einer glückverheißenden Republik, in einer Utopie ohne Kummer, Krieg und Armut, wo alle Wünsche wahr werden. Hier findet man keinerlei verdrossene Mienen wie bei Beethoven oder melancholische Züge wie bei André Gide. Ausnahmslos heitere Gesichter wie die von Kindern. Das heißt, Individualität ist in diesem erfüllten Leben überflüssig und somit abgeschafft worden. Alle haben sich zu ebenbürtigen, unterschiedslosen Menschen entwickelt, mit identischem Gemüt, erfüllt von der gleichen Freude. Individualität wurde vom 19. Jahrhundert bis Anfang des 20. Jahrhunderts völlig überschätzt. Jegliche Art von Kriegen ist durch sie verschuldet worden. Sie hat sich als Irrtum erwiesen.
Individualität gehört den Armseligen. Überquellende Garderoben mit haufenweise Kleidung, der Kühlschrank vollgepackt mit Schinken, Käse und Orangen, mit Autopilot ausgestattete Fahrzeuge und Hubschrauber an jeder Ecke, sogar in Parks, die uns Tag und Nacht überall kostenlos transportieren. Sämtliche Vermögen sind gerecht gleichmäßig verteilt, man arbeitet drei Stunden pro Tag und es besteht kein Grund, andere zu hassen oder gehasst zu werden. Glück ist paritätisch, Individualität obsolet. Das Leben ist so einfach – man hat Sex, mit wem immer man will, konsumiert Mahlzeiten mit wem immer man will. Eben diese primitive Einfachheit ist das Wesen der Utopie.
Natürlich stößt man auch hier auf verschiedene Probleme, wenn man pingelig danach Ausschau hält. Roboter weisen hin und wieder Defekte auf, an Liebeskummer leidende Frauen nehmen sich das Leben. Letztes Jahr gab es eine Cholera-Epidemie und die Zahl der Mordfälle stieg auf fünfzig. Dies muss uns aber nicht weiter bekümmern. Es sind doch bloß Accessoires, die dem friedvollen Alltag etwas Abwechslung schenken.
Die heutigen Veranstaltungen waren bunt und vielfältig. Stellen Sie sich vor, die gesamte Metropole Rom war ein rauschendes Fest! Wir möchten hier nur über die Hauptattraktionen berichten:
Um 10:00 Uhr hielt der indische Abgesandte Dr. Ezra Rosamond, Vorsitzender des Oberausschusses der Republik, die Neujahrsansprache von der Terrasse des RU-Hauptsitzes vor 30.000 Menschen, die den Platz bevölkerten. Seine Rede hören Sie im Anschluss.
Es war ein malerischer Anblick, wie sich die dreizehn Oberausschussmitglieder in scharlachroten Roben in einer Reihe auf der Terrasse postiert hatten.
Zum Ende der Ansprache hallte der Jubel der Bürger über dem Tiber wider und ein blütenweißer Hubschrauber flog über dem Platz ein. Als sich die Tür öffnete, erschien dort keine geringere als Flora Victoria, die gefeierte Diva der Republik, angehimmelt von aller Welt, nach der sich in den letzten vier Jahren 3.300 Männer und 2.600 Frauen so verzehrt haben, dass sie sich ihretwegen das Leben nahmen. Die engelsgleiche, wohl gar Kleopatra übertreffende Schönheit schwebte an einem orangefarbenen Fallschirm mit einem Schwan im Arm und wehender hellblauer Schleppe herab, während sie Löwenzahnblüten verstreute und ›Die Herrlichkeit der Republik‹ sang.
Dieses Spektakel wurde bereits im Fernsehen weltweit übertragen. Weitere Berichte dazu können wir uns deshalb sparen.
Eine andere Attraktion war die Veranstaltung im Kolosseum, dem aus der römischen Ruine restaurierten Amphitheater. Tausende Zuschauer fanden sich ein, ein jeder nach seinem Pläsier – männliche Paare, weibliche Paare oder Mann und Frau –, Hand in Hand spazierten sie herein und nahmen gesittet unter blauem Himmel rundherum Platz. Das heutige Programm bestand aus sieben Vorstellungen. Zuerst gab es einen spanischen Stierkampf, gefolgt von einem Kampf zwischen einem japanischen Bären und einem malaiischen Tiger. In der dritten Darbietung traf ein afrikanischer Gorilla auf einen Leoparden aus Südamerika. In den folgenden drei Nummern traten zwei Roboter mit Kampffunktionen gegeneinander an. Das Finale bestand noch einmal aus einem Stierkampf.
Um unsere friedvolle Utopie zu erhalten, ist es notwendig, sich derart grausame Kämpfe anzuschauen, um den primitiven Kampfinstinkt, der in jedem Menschen lauert, zu befriedigen. Frauen wie Männer jeden Alters amüsierten sich wie toll unter tosendem Applaus über die blutenden, leidenden Bestien.
Die Kämpfe zwischen den Robotern fanden jedoch keinen besonderen Anklang. Bewaffnet mit römischen Langschwertern und Schildern droschen sie heftig aufeinander ein. Äußerlich gab es keinen sichtbaren Unterschied zu Menschen. Die Haut aus elastischem Vinyl, das Haar aus braunem Nylon, Leopardenfell als Lendenschurz, rote Lippen und strahlende Augen. Der Gesichtsausdruck zeigte jedoch keinerlei Kampfgeist, sie litten nicht, auch wenn sie schwer zugerichtet waren. Wenn der kritische Punkt getroffen wurde und die Vakuumröhre im Inneren zerplatzte, fiel das Opfer zwar mit verkrampften Gliedern zu Boden, aber es floss kein Tropfen Blut, sondern lediglich Maschinenöl, das schwarze Lachen auf der Erde hinterließ. Die Zuschauer stampften ungehalten mit den Füßen, pfiffen und schrien: Blut! Blut!
Später kam es plötzlich zu einem außergewöhnlichen Aufruhr. Angelockt vom Geschrei der stampfenden achttausendköpfigen Zuschauermasse, verließen etwa siebzig bis achtzig Fahrroboter in dunkelbraunen Uniformen und passenden Krawatten ihre öffentlichen Taxis, die indessen außerhalb des Kolosseums parkten. Sie waren mit Gegenständen bewaffnet, um damit aufeinander einzuprügeln. Etliche Frauen flüchteten, während die Männer jubelnd Beifall spendeten. Angegriffene Roboter wurden funktionsuntüchtig, Federn sprangen seitlich heraus, Funken sprühten aus dem Nacken. Nach einer Weile eilten Sicherheitskräfte herbei. Sie deckten die Roboter mit Netzen ab, verluden sie in Fahrzeuge und transportierten sie zur Reparaturwerkstatt in der kampanischen Ebene, etwas südlich der Via Appia.
Man hielt den Vorfall zwar unter schallendem Gelächter für erledigt, jedoch sollte man es durchaus ernst nehmen, wenn der menschliche Kampfinstinkt auf Roboter übergreift. Unser Reporter begab sich unverzüglich zum Roboter-Verwaltungsrat, um ihm den gesamten Vorgang zu schildern, und forderte eine Erklärung von Direktor Anselm. Dieser war nicht sonderlich überrascht und äußert sich dazu in fließendem Griechisch:
(Aufzeichnung)
»Soeben habe auch ich den Bericht erhalten. Es tut mir leid, dass sich ein solches Chaos abgespielt hat. Unsere Ermittlungen haben ergeben, dass die tobenden Roboter alle vor zwei Jahren importiert wurden. Der Herstellungsort war Madrid, Spanien. Roboter, die aus Italien, der Schweiz, den USA oder Japan stammen, haben sich nicht daran beteiligt, obwohl sie sich auf demselben Platz aufhielten. Eine Untersuchung durch Demontage ist noch erforderlich, um detailliertere Aussagen machen zu können. Jedenfalls haben die spanischen Roboter empfindliche Resonanzböden, schwache Kondensatoren und reagieren sensibel auf plötzliche elektrische Entladung. Daher gehen sie leider schnell kaputt. Ich habe schon mehrmals dem Ausschuss vorgeschlagen, Robotern ein Moralsystem einzubauen. Es ist aber nicht so leicht, eine Zulassung dafür zubekommen. Präzise programmierte Roboter besitzen die Fähigkeit zur Imitation. Deshalb besteht die Gefahr außergewöhnlicher Vorfälle, wenn sie menschliche Untugenden nachzuahmen versuchen. Ich glaube, für das Gedeihen der Republik ist es unabdingbar, Roboter gründlich zu modifizieren und sie zusätzlich mit einem Moralsystem auszustatten, um derartige Vorfälle zu vermeidenn.«
Dr. Ezra Rosamond stammt aus Indien und ist ein renommierter Gelehrter, der im Fachbereich Neuere Geschichte promoviert hat. Vor zwei Jahren wurde er in den Republik-Oberausschuss gewählt, voriges Jahr zu dessen Vorsitzendem.
In letzter Zeit leidet er unter niedrigem Blutdruck. Trotz dieser Unpässlichkeit stand er heute früh auf dem Balkon des RU-Hauptsitzes, von wo seine Neujahrsansprache weltweit übertragen wurde:
(Aufzeichnung)
»Werte Anwesende, liebe Bürgerinnen und Bürger der gesamten Republik. Heute feiern wir unser 50. Neujahrsfest. Wir begehen die Feierlichkeiten in Rom – einer Stadt, die von einer zweitausendjährigen, tragischen Menschheitsgeschichte geprägt ist. Ich bin zutiefst ergriffen.
Vergleichen Sie nur einmal das antike Rom mit unserer Republik. Das alte Rom war eine Stadt der Sklaven. Heute dienen uns stattdessen perfekte Roboter. Nach alter christlicher Überlieferung formte Gott Adam aus Erde. Wir schaffen Roboter aus Aluminium, Stahl und Kunststoff. Gottes Weisheit haben wir nun uns zu eigen gemacht. Das antike Rom war eine Stadt des Kampfes, der Macht und der Intrigen. Heute ist Rom eine Metropole des Friedens und des Vergnügens.
Seit 1990 existieren hier keine Religionen und kein Theismus mehr. Dennoch, meine Damen und Herren, ist das von Jesus verheißene Himmelreich hier Wirklichkeit geworden. Unsere Republik ist nichts anderes als das Paradies auf Erden.
Die tägliche Arbeitszeit beträgt drei Stunden. Jeder hat eine Anstellung, die ihm gefällt. Ein Arbeitsplatzwechsel ist auf Wunsch jederzeit möglich. Die allgemeine gesundheitliche Versorgung wird von staatlichen Krankenhäusern gewährleistet, das Vermögen aller vom Staat verwaltet. Man kann sich nach Gutdünken an Sport und Musik erfreuen. Roboter übernehmen unbeliebte und gefährliche Arbeiten. Meine Damen und Herren, Ihre Kinder erhalten bis zum zweiundzwanzigsten Lebensjahr alle unterschiedslos die gleiche Ausbildung in den Schulen der Republik. Jegliches akademische und künstlerische Betätigungsfeld steht ihnen offen. Mögen Friede und Kultur ewig währen!
Die vier Weltkriege, die unsere Vorfahren durchgemacht haben, sollten wir nicht nur als törichte Barbarei betrachten. Der Vierte Weltkrieg, der zwei Drittel der Gesamtbevölkerung hinweggerafft hat, war wohl vergleichbar mit der Sintflut zu Noahs Zeiten, von der das Alte Testament berichtet. Gleich dem Frieden nach der Flut ergab sich für uns die Utopie nach dem Großen Krieg.
Der jugendliche Enthusiasmus damals, den ich als Zwölfjähriger erlebte, trifft mich bis heute immer noch mitten ins Herz. Am Ende des Großen Kriegs waren die meisten Städte weltweit zerstört, Fabriken ausgebombt. Es gab keine Waffen, keine Nahrungsmittel. Selbst die Armeen waren in alle Winde zerstreut. Die Zivilbevölkerung irrte auf der verbrannten Erde umher. Ich war auch eines der Opfer, die an der Küste von Kalkutta herumgeisterten.
Plötzlich vernahm ich eine Stimme, wie eine Offenbarung des Himmels: »Lasst uns Frieden schließen, lasst uns den Krieg beenden!«
Die Stimme verbreitete sich blitzschnell über die ganze Welt. Gegner reichten Verbündeten die Hand, die Verbündeten legten den Arm um die Schultern von Feinden. Man fiel sich gegenseitig in die Arme und weinte bitterlich. Das war der einzige heilige Moment in der ewig währenden Menschheitsgeschichte. Es wurde die Friedenskonferenz in Genf abgehalten, wo der Zwist bedingungslos beendet und der Grundstein der Föderativen Weltrepublik gelegt wurde.
In diesem Sinne, liebe Bürgerinnen und Bürger, möchte ich die sechs Prinzipien unserer Lebensgrundsätze erneut bekräftigen, um die Geschichte unserer glorreichen Republik nach der blutigen Ära der Menschheit zu verewigen und somit der Neujahrszeremonie eine tiefere Bedeutung zu geben:
Artikel 1: Die Republik achtet alle Mehrheiten.
Im großen Maßstab von Staaten wie im kleineren Rahmen von Individuen wird jeglicher Sachverhalt mit Mehrheitsbeschluss entschieden. Die Mehrheit steht für das Gute. Ungehorsam gegen die Mehrheit verursacht Konflikte. Zugunsten der Rechte der Massen werden individuelle Rechte nicht anerkannt. Den Willen der Massen betrachten wir als gut, die Forderungen von Einzelnen billigen wir hingegen nicht, denn unsere ideale Republik braucht keine Revolution.
Artikel 2: Die Republik respektiert Gleichberechtigung.
Jeder Konflikt entsteht aus Diskriminierung – wie die Russische Revolution, die Französische Revolution sowie der amerikanische Bürgerkrieg gezeigt haben. In unserer Republik herrscht keiner über den anderen, es gibt es keine Diskriminierung, weder zwischen den Menschen noch zwischen Nationen. Jedes Individuum genießt dieselben Rechte – in Bezug auf Wohlstand, Glück und Arbeit –, es verfügt über die gleichen Anschauungen und die gleichen Hoffnungen.
Artikel 3: Die Republik befürwortet die Geburtenkontrolle.
Mit den begrenzten Reichtümern der Erde muss zwangsläufig auch die Anzahl der Menschen begrenzt sein, um ein glückliches Dasein führen zu können. Der Pazifikkrieg entstand aus dem Bevölkerungsproblem und der Dritte Weltkrieg wurde durch die Knappheit von Erdöl ausgelöst. Wir müssen unser Verlangen nach Nachwuchs beschränken, um das vereinbarte Bevölkerungslimit jedes unserer Länder einzuhalten.
Artikel 4: Die Republik schätzt Wissen.
Alle Bürgerinnen und Bürger sollen bis zu ihrem zweiundzwanzigsten Lebensjahr ausreichende Schulbildung erhalten. Für die präzise Handhabung der Roboter müssen die erforderlichen technischen Kenntnisse erworben werden. Außerdem müssen alle Bürger die aktuellen Nachrichten und Bekanntmachungen verfolgen, die täglich von 12:00 Uhr bis 13:00 Uhr von der republikanischen Sendeanstalt ausgestrahlt werden. Dadurch wächst die Majorität, analog zu Artikel 1, und die Gleichberechtigung vervollkommnet sich, wie in Artikel 2 festgelegt. Sämtliche Konflikte entstehen aus Missverständnissen. Mangel an Wissen erzeugt Zweifel. Fortgeschrittenes Wissen ist der Grundstein für den Frieden in der Republik.
Artikel 5: Die Republik schätzt Musik.
Die emotionale Kraft der Kunst stiftet Frieden in den Herzen der Menschen und die Begeisterung für schöne Musik vereinigt sie. Niederträchtige werden zu ehrlichen Seelen, Wütende werden sanftmütig. Wenn Frieden in den Herzen der Einzelnen herrscht, wird die Welt von selbst friedlich.
Artikel 6: Die Republik schätzt Sport.
Körperliche Bewegung vertreibt innere Depression, simplifiziert Geist und Charakter und formt eine heitere und folgsame Persönlichkeit. Die von der Republik geforderten Eigenschaften – einfach und fügsam, fleißig und fair, friedlich und fröhlich – werden durch Sport kultiviert und bilden die Grundlage einer glücklichen Gemeinschaft.
Abschließend, meine lieben Damen und Herren, bete ich darum, dass Friede und Glück für Sie, Ihre Lieben und Ihre Nachfahren ewig währen mögen.«
Meteorologen sind sich einig, dass Sonnenflecken die Ursache für die Klimaabkühlung auf der nördlichen Halbkugel seien. Die Anthropologin Maria erklärt jedoch mittels Statistiken der letzten eintausend Jahre, dass wir uns in der Anfangsphase der fünften Eiszeit befinden. Als Journalist vermag ich nicht zu beurteilen, wer von ihnen recht hat. Allerdings konnte ich mir selbst ein Bild von den Gegebenheiten machen: Die La-Pérouse-Straße, die die Nordspitze von Hokkaidō vom südlichen Teil der russischen Insel Sachalin trennt, ist aufgrund von Eis komplett unpassierbar. Ich startete gestern um 13:00 Uhr mit einem Propeller-Schlitten vom Kap Sōya mit dem Ziel Ōdomari, wo wir nach einer Fahrt übers Eis im Schneesturm mit 100 km/h kurz vor Sonnenuntergang im Hafen eintrafen.
Selbst unserer hochzivilisierten Republik gelingt es offenbar nicht, der Unerbittlichkeit des klimatischen Phänomens zu trotzen. In Toyohara, Maoka und Ōdomari liegt der Verkehr brach, worunter auch der Lebensmitteltransport leidet. Ohne die nötigen Hilfsmaßnahmen kann dies desaströse Ausmaße annehmen. Roboter sind dort draußen generell unbrauchbar, da sie in extremer Kälte an mehreren Stellen ihres Korpus einfrieren, was zu Fehlfunktionen der elektronischen Schaltkreise und Gelenke führt. Somit können sie Be- und Entladen, Verpackung und Transport gar nicht mehr bewältigen, was die Einwohner zu Protesten veranlasst. Manche plädieren schon dafür, Roboter komplett abzuschaffen und stattdessen wieder das Bevölkerungswachstum anzukurbeln, und finden damit zunehmend Gehör.
In Anbetracht der Krise kam der Leitende Ingenieur vom Robot-Control-Zentrum, George Hamada, vor einigen Tagen aus Tokio angereist, um die Lage zu sondieren. Ich besuchte ihn im Hotel Toyohara. Der gutaussehende, große und schlanke Gentleman Anfang dreißig, dessen Vater Engländer ist, war im Londoner Stil gekleidet. Wie er, mit der Pfeife im Mund, das Feuer im Kamin schürte und uns bernsteinfarbenen Whisky einschenkte, wirkte er auf mich very British. Er beschrieb die Lage ohne Umschweife:
»Die Roboter in Sachalin werden in kanadischen Fabriken gefertigt und ihr Kälteschutz-System ist eigentlich ausreichend. Sobald sie allerdings in der Nacht pausieren, kühlen sie vollständig aus und frieren leicht ein. Würden sie jedoch nachts weiterarbeiten, dann könnte die durch die Mechanik erzeugte Wärme dem abhelfen. Sollten sie aber doch einmal eingefroren sein, dann platziert man sie, in ein Schaffell verpackt, in der Nähe eines Ofens, bis sie wieder auftauen und einsatzfähig sind. Ich plane, einige Modelle der in den Ural-Werken hergestellten Roboter, die in Sibirien arbeiten, nach Kanada zu senden, um strukturelle Verbesserungen vornehmen zu lassen. Als Sofortmaßnahme müssen derzeit Benutzer nachts Roboter überwachen, damit sie problemlos weiterarbeiten. Es lässt sich nicht vermeiden, dass einige Menschen dabei erfrieren, Maschinen sind jedoch auch sonst grausam gegen Menschen.
Aber hören Sie, dafür kann ich mit einer hochinteressanten Neuigkeit aufwarten.«
Er nahm einen Schluck Whisky und erzählte weiter, sein ansehnliches Gesicht leicht gerötet.
»Gestern früh habe ich mich fünfzig Kilometer von Toyohara entfernt in die westlichen Berge begeben, um den Zustand der Roboter zu untersuchen, die für die Forstarbeit in den Wäldern zuständig sind. Als ich nach der halbtägigen Wanderung in einer Werkstatt im Tal Rast machte, wo ich mich mit einer Mahlzeit, einem Sandwich, Wein und gegrilltem Rentiernacken, stärkte, hörte ich einen seltsamen Gesang, nur vernehmbar, wenn das Rauschen des eisigen Winds in den Wipfeln kurz nachließ. Es war ganz gewiss eine Frauenstimme, aber kein mir bekanntes Lied. Selbstvergessen hielt ich den Becher in der Hand und lauschte gebannt. Dabei hatte ich das Gefühl, als würde mich die Leidenschaft meiner fernen Vorfahren, die vor tausend Jahren gelebt haben, aus der Tiefe meines Herzens heimsuchen. Wie das Geheul einer Kreatur, die in kalter Mitternacht ihre Höhle verlässt, um mit aufgestelltem Nackenhaar Klagelaute – vor Kummer oder vor Wut? – von sich zu geben. Ein wildes, herzzerreißendes Geschrei, das keiner menschlichen Kehle zu entspringen schien. Es waren vielmehr animalische Laute, durchdrungen von Gram und Leidenschaft.
Verwundert stellte ich den Becher ab und fragte den alten Werkstattbesitzer nach der Stimme. Es hätte mir eingeleuchtet, wenn er ein Wesen wie Rentier, Fuchs oder Marder genannt hätte, das von seinem Weibchen getrennt Klagelaute ausstieß. Aber der Alte erzählte doch tatsächlich augenzwinkernd:
›Sie müssen wissen, meine verstorbene Frau war eine verschrobene Russin aus Nikolajewsk. Sie konnte jedoch sehr gut Klavier spielen und singen, sodass sie in der Nachbarschaft einen guten Ruf besaß. Nach der Geburt unserer Tochter Anna kränkelte sie und war nur noch ein Schatten ihrer selbst, bis sie drei Jahre später starb. Anna ist noch verrückter als ihre Mutter, singt komische Lieder und schläft unter dem Stroh im Kuhstall, wie das Vieh …‹
Er hatte noch nicht geendet, als die Schiebetür aufging und die Besitzerin der Stimme, Anna Kamiya, eintrat. Ihre Erscheinung versetzte mich in Erstaunen. Sie trug einen Anzug, Kaftan und Hose, aus dem Pelz eines Sachalin-Hundes und dazu rote, bestickte Russenstiefel. Überrascht vom fremden Gast vollführte sie einen Luftsprung und landete in einer perfekten Tanzhaltung. Ihr Haar war zerzaust, die Hände schmutzig. Sie hatte einen russisch hellen Teint und braune Augen, luzide wie die einer Katze. Man konnte sie nicht unbedingt als hübsch bezeichnen. Sie besaß eher eine wilde oder natürliche Schönheit, jugendlich-vital und vor Energie strotzend, wie ein junges Rentierkalb.
Eine Sache möchte ich noch anmerken. Unsere Republik ist wirklich in einem makellosen Zustand, ohne jegliche Mängel in der Zivilisation. Aber der Mensch bleibt nun mal Mensch, im Grunde gehört er immer noch der Tierwelt an. Das kultivierte Leben hat mich inzwischen etwas ermüdet. Als ich Annas Gesang hörte, erwachte in meinem Inneren das Gemüt meiner Vorfahren, ihre Emotionen und ihre Leidenschaft. In mir entstand Sehnsucht nach Wildheit, die in der Zivilisation in mir erloschen war.
Das hat mich auf folgende Idee gebracht: Ich bin sicher nicht der Einzige, der unter dieser Lethargie leidet. Wie wäre es also, Annas Gesang im Fernsehen zu übertragen? Das spricht vielleicht auch andere Gemüter an. Ich überredete den Alten und brachte Anna hierher mit. In den nächsten Tagen werden wir nach Tokio fliegen, um den Fernsehauftritt mit ihr in die Wege zu leiten.«
»Sie sind verliebt in Anna, was?«, fragte ich ihn frech heraus.
»Heute Morgen beim Frühstück im Hotel hat sie Loloa getrunken«, sagte er lediglich und lächelte.
Flora Victoria, die göttlichste der Göttlichen, der nicht nur die Republik, sondern die ganze Welt zu Füßen liegt, singt seit dem 3. Januar unausgesetzt jeden Tag im Opernhaus. Von Liebeskummer und ihrem betörenden Gesang überwältigt, versammelten sich in der kalten Nacht des 5. Januars drei Herren unter dem Sternenhimmel in den Ruinen der Caracalla-Therme und begingen Selbstmord durch Gift. Die unheilvolle Serie setzte sich fort: Am 6. Januar folgten sechs Menschen ihrem Beispiel, am 7. Januar fünf, und am 8. Januar neun. Die traurige Zahl der Opfer beläuft sich inzwischen auf insgesamt dreiundzwanzig – unter ihnen auch fünf Studentinnen, die sich am 7. Januar gegen 22:00 Uhr auf der Piazza del Popolo das Leben nahmen.
Mit diesen Nachrichten konfrontierte ich die Diva im Opernhaus. Flora Victoria lachte glockenhell auf.
»Leg Blumenkränze in meinem Namen auf die Gräber«, wies sie ihren Agenten an und betrat ungerührt die Bühne.
Gestern, am 10. Januar, gegen 8:00 Uhr früh beging das schöne Mischlingsmädchen Sophia (19) im Zimmer 5 auf der 5. Etage im Hotel Anden Selbstmord, indem sie sich eine tödliche Dosis Drogen injizierte. Sie war die Geliebte von Dr. med. Patricia und mit ihr aus Kapstadt angereist, wo Dr. Johannes kürzlich die Forschungsergebnisse zum Y-Hormon präsentiert hat. Die Ärztin hatte daraufhin Loloa abgesetzt und ein Techtelmechtel mit Dr. Johannes begonnen, mit dem sie sich seit Neujahr in seinem Ferienhaus in einem Vorort der Stadt aufhält. Demnach dürfte die Ursache des Suizids die Beendigung ihrer lesbischen Beziehung sein.
Ich suchte Dr. Patricia dort auf und berichtete ihr von der Tragödie. Sie zog ihre schönen Augenbrauen hoch und sagte: »Ehrlich gesagt, ging unsere Beziehung sowieso den Bach runter. Sophia hat gewiss genug Glück erfahren, deshalb stimmt mich die Nachricht über ihren Tod nicht wirklich traurig. Ich werde ihr Veilchen bringen, die hat sie immer geliebt. Dr. Johannes und ich müssen uns jetzt sputen, da wir für zehn Tage nach Los Angeles fliegen, um dort unsere Flitterwochen zu verbringen.«
Indessen klingelte das Videophone. Als Frau Doktor den Anruf entgegennahm, erschien das zornige Gesicht eines korpulenten Mädchens auf dem Plexiglas-Monitor und ratterte sofort los:
»Sind Sie Frau Dr. Patricia? Meinen Namen werde ich nicht nennen. Wir sind alle sehr aufgebracht wegen des Selbstmords von Sophia. Es ist empörend und skandalös, eine so schöne und gütige Person wie sie zu betrügen und einfach Loloa abzusetzen, um sich in einen Kerl zu verlieben – die reinste Barbarei, wie im 19. Jahrhundert! Was wäre das für eine Farce, wenn Sie in fünfeinhalb Monaten ein Kind von Dr. Johannes zur Welt bringen. Auch für Dr. Johannes’ Benehmen haben wir keinerlei Verständnis. Ich und meine fünfundachtzig Mitstreiterinnen fordern, dass Sie beide sofort nach Kapstadt zurückkehren.«
Mit einem Klick verschwand das Mädchen vom Bildschirm. Frau Doktor fasste sich an die Stirn und gab sich bekümmert, sagte dann aber: »Vor diesem aufgebrachten Mob, der mich attackiert, habe ich nicht die geringste Angst. Ich habe nämlich eine wichtige Neuigkeit in petto. Schon bald werde ich darüber einen Artikel veröffentlichen.«
Seit zwei Jahren nimmt die Zahl der Suizide in Polen zu, oft ohne erkennbare Gründe. Nun wird das Phänomen endlich als ein ernstes Problem diskutiert. 3.022 waren es im vorletzten Jahr, davon wurden 1.300 von Frauen verübt. Letztes Jahr stieg die Zahl der Fälle auf 4.605 an (2.068 betrug der weibliche Anteil). Am 19. November trafen sich vier Männer in einer Bar im Paderewski-Park, betranken sich und schluckten die tödlichen Medikamente. Niemand konnte das Motiv ihres kollektiven Selbstmords ermitteln.
Da diese Fälle sich häufen, haben Sicherheits- und Polizeibehörde Ende vorigen Jahres einen Ausschuss gebildet, um die Angelegenheit vielschichtig zu erörtern.
Selbstverständlich gilt es, die individuelle Freiheit zu respektieren, aber dennoch ist man mit der Identifizierung und Beerdigung der Suizidopfer überfordert. Daher wurden Verordnungen erlassen, die an die Moral der Betroffenen appellieren sollen. Ab Februar treten die neuen Vorschriften als Notgesetz in Kraft:
– Jeder Suizidwillige möge sich spätestens vierundzwanzig Stunden vor seiner Tat beim Bürgeramt mit den erforderlichen Unterlagen melden, um sich die Erlaubnis einzuholen sowie das zugelassene Medikament, das er anschließend an einem festgelegten Ort einnimmt.
– Der Antrag darf nur von der betroffenen Person eingereicht werden.
– Die Genehmigung ist fünfzehn Tage gültig.
– Vor dem Suizid muss ein Formular ausgefüllt werden, das den Ort, das Datum und die Uhrzeit der Tat angibt; dieses wird in einen Postkasten geworfen, bevor die Tat umgesetzt wird.
– Sachbearbeiter nehmen frühestens drei Stunden nach der angegebenen Zeit ihre Arbeit auf und führen die vorgeschriebenen Maßnahmen durch.
– Wer sich nicht an diese Anordnungen hält, wird ohne weitere Umschweife chemisch verarbeitet und als Dünger für Getreide verwendet, ähnlich wie bei der Entsorgung von Haustieren.
Auf die Bekanntgabe dieser Regelungen angesprochen, äußerte sich der Kulturratsdirektor Georg in einem Interview wie folgt:
»Das Inkrafttreten dieser Regelungen zeigt den hohen Entwicklungsstand unserer Zivilisation. Die Freiheit zur Selbsttötung muss geachtet werden, aber Ordnung und Zusammenhalt sind ebenso unerlässlich. Es zeugt von einer respektablen Moral, sich diesen Vorschriften zu unterwerfen. Allein Zivilisierte verhalten sich ordnungsgemäß. Diese Gesetzgebung ist ein historischer Meilenstein. Wir dürfen stolz darauf sein.«
Am Petit Lac, im Schatten der Weiden, steht ein schneeweißes Haus mit wundervoller Aussicht. Hier lebt der junge französisch-vietnamesische Poet Georges Long, einer der bedeutendsten futuristischen Dichter der Republik. Das schlichte Ambiente des Hauses mit einem hübschen Jungen und einem Roboter in Uniform mutet fast etwas weltfremd an.
Gestern Abend lud er mich, den Reporter, auf eine Barke im Mondschein ein, und wir tranken gemeinsam alten chinesischen Branntwein. Kaum hatte ich die Frage gestellt, warum sich heutzutage sowohl im Orient als auch im Okzident die Selbstmorde häufen, klopfte er an die Bootskante und deklamierte mit klangvoller Stimme ein improvisiertes Gedicht, das an den großen Lyriker Li Bai erinnerte:
Zweifle nicht am Herzen des Selbstmörders.
Das höchste Leben führt zum höchsten Tod.
Wie delikat und fein, wie dezent und doch vollkommen, eigenständig zugleich,
So wandelt er im Himmel und auf Erden, wird Geschichte.
Ohne Hoffart und Prahlerei löscht er sich aus.
Verwandelt sich in Äther und Anmut. Welch Poesie!
Die Blüten fallen zur rechten Zeit, und ebenso die reife Frucht.
Das ist die wahre Bestimmung des Universums.
Bewundernd preisen sollte man das Herz des Selbstmörders.
Er hat sich des staubigen Daseins entledigt und Ewigkeit erlangt.
(Georges Long)
(Artikel von Dr. med. Philipp Sano, Mitglied des Bundesausschusses für Gesundheit, Direktor des Staatsklinikums Tokio)
»Die Suizidstatistik der Republik zeigt in den letzten drei Jahren eine Verdreifachung mit exponentiellem Anstieg. Kurioserweise hat man in Polen einen Vorschriftenkatalog für Suizidgefährdete eingeführt und brüstet sich nun mit einer höchst kultivierten Gesetzgebung. Jetzt hat Herr Long, dieser Pseudodichter aus Vietnam, als Appetithäppchen auch noch einen Lobgesang auf den Suizid beigesteuert. Was für eine gnadenlose Fehleinschätzung!
Aus medizinischer Sicht ist Suizid eigentlich eine Form von Geistesgestörtheit – eine hysterische Lösung: sein Leben wegzuwerfen, weil man das eigene Unglück nicht mehr ertragen kann. Das eigene Haus anzünden, um Läuse zu vertreiben. Das ist das Verhalten von Narren, nicht von zivilisierten Menschen.
Die heutigen Selbstmörder erleiden oftmals gar kein reales Unglück. Weder sind sie arbeitslos, noch müssen sie körperliche Schmerzen erdulden, sondern sie nehmen Drogen und Medikamente zum Spaß und treten leichtfertig die ewige Reise an, als wäre es ein kleiner Ausflug. Obwohl sie sich grundlegend von den Suizidanten des 20. Jahrhunderts unterscheiden, muss man ihnen medizinisch eine Art Geisteskrankheit bescheinigen.
Menschen, die in einer hochentwickelten Kulturgesellschaft leben und einen hohen Lebensstandard genießen, müssen keine schweren oder gefährlichen Arbeiten verrichten – das überlassen sie den Robotern. Sie haben keine Widerstandskraft entwickelt und sind blass und schwächlich wie Sojasprossen, leiden unter Vitaminmangel. Nach Meinung des Dichters Georges Long sind ihre Nerven äußerst empfindlich – wohl wahr, denn sie vertragen weder Alkohol noch den Reiz der Gesänge weiblicher Stimmen.
Da die Zivilisation inzwischen überall Einzug gehalten hat und weltweit Lieder von Frauen aus Fernsehgeräten und Radios erschallen, können sie den angenehmen Seiten des Lebens, den Genüssen, kaum entkommen. Ihre Nerven werden immer gereizter, bis sie erschöpft zusammenbrechen. Daher sehen sie den Tod als einzigen Ausweg, um die ersehnte Ruhe zu finden. Sie hören Flora Victoria singen oder trinken Kaffee und Alkohol – und deshalb nehmen sie sich das Leben. Sie sind in der Tat die Verlierer der Zivilisation.
