Die letzten Tage des Vatikan - Jacques Neirynck - E-Book

Die letzten Tage des Vatikan E-Book

Jacques Neirynck

0,0
4,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Im Zweifel gegen den Vatikan Theo de Fully ist mit Leib und Seele Physiker. Mit seiner einzigartigen Methode soll er die Echtheit des Turiner Grabtuchs bestimmen. Doch das Ergebnis sorgt für Hektik und Verstörung. Um seine These zu belegen, macht Theo sich auf, das Heilige Grab zu suchen. Als er ein Skelett findet, auf das die Umrisse des Grabtuchs zutreffen, ist die Aufregung groß. Ist Jesus gar nicht auferstanden? Doch de Fully ahnt, dass er noch weiter forschen muss ... Eine mitreißende Geschichte um eine der rätselhaftesten Reliquien der katholischen Kirche: das Grabtuch von Turin.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 504

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



rowohlt repertoire macht Bücher wieder zugänglich, die bislang vergriffen waren.

 

Freuen Sie sich auf besondere Entdeckungen und das Wiedersehen mit Lieblingsbüchern. Rechtschreibung und Redaktionsstand dieses E-Books entsprechen einer früher lieferbaren Ausgabe.

 

Alle rowohlt repertoire Titel finden Sie auf www.rowohlt.de/repertoire

Jacques Neirynck

Die letzten Tage des Vatikan

Aus dem Französischen von Ingrid Altrichter

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Im Zweifel gegen den Vatikan

 

Theo de Fully ist mit Leib und Seele Physiker. Mit seiner einzigartigen Methode soll er die Echtheit des Turiner Grabtuchs bestimmen. Doch das Ergebnis sorgt für Hektik und Verstörung. Um seine These zu belegen, macht Theo sich auf, das Heilige Grab zu suchen. Als er ein Skelett findet, auf das die Umrisse des Grabtuchs zutreffen, ist die Aufregung groß. Ist Jesus gar nicht auferstanden? Doch de Fully ahnt, dass er noch weiter forschen muss ...

 

Eine mitreißende Geschichte um eine der rätselhaftesten Reliquien der katholischen Kirche: das Grabtuch von Turin.

Über Jacques Neirynck

Jacques Neirynck, Professor an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne, veröffentlichte zahlreiche wissenschaftliche Werke sowie Essays und Romane.

Inhaltsübersicht

Klarheit ist genug, ...VorbemerkungErster Teil: Das unzeitige Grabtuch1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. KapitelZweiter Teil: Eine Gruft für zwei8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. KapitelEpilog: Ein Schweizer Papst15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel

Klarheit ist genug, um die Auserwählten zu erleuchten, und Dunkelheit ist genug, um sie zu demütigen. Dunkelheit ist genug, um die Verworfenen zu blenden, und Klarheit ist genug, um sie zu verdammen und unentschuldbar zu machen.

 

Blaise Pascal

Vorbemerkung

Das vorliegende Buch verbindet zwei literarische Genres: die Geschichtsschreibung und die Fiktion. Auf der Grundlage tatsächlicher, mit größtmöglicher Genauigkeit dargestellter Ereignisse versucht der Autor, die nähere Zukunft zu ergründen. Manche Begebenheiten sind authentisch, andere sind frei erfunden. Um Verwirrungen auszuschließen, tragen die historischen Persönlichkeiten ihren wahren Namen: Die ihnen zugeschriebenen Taten und Worte spiegeln die Wirklichkeit wider. Alle anderen Protagonisten sind fiktive Figuren. Eventuelle Übereinstimmungen in Namen oder Funktionen mit lebenden Personen sind rein zufällig.

Erster Teil Das unzeitige Grabtuch

1

Im gleichmäßigen Tempo eines Metronoms schritt Theo durch die Via della Scrofa, ohne sich von den vielfältigen Verlockungen einer römischen Straße ablenken zu lassen. Ihm blieben nur noch zwei Minuten bis zu seiner Verabredung, bei der er es ebensowenig ertrüge, zu spät zu kommen, wie zu früh dort einzutreffen. Er führte über die Zeit, die er sich selbst gönnte und anderen zubilligte, gewissenhaft Buch und lebte nach einem strengen Terminplan, um sich jegliches Warten zu ersparen. Da andere diese Grundregel der Höflichkeit jedoch mißachteten, mußte Theo sich dennoch bisweilen gedulden, litt aber nicht allzu sehr darunter, denn sein wenigstens in diesem Punkt reines Gewissen gestattete ihm, die Sorglosigkeit der anderen zu tadeln, die er gern als Zeitfresser brandmarkte. Im Grunde kämpfte er mit seiner übertriebenen Pünktlichkeit vor allem gegen geheime Befürchtungen an. Er zimmerte nämlich durch einen erbarmungslosen Umgang mit der Zeit, über die er sehr gut Bescheid wußte, an seiner Ewigkeit, von der er nichts wußte.

Kaum zehn Sekunden später als geplant betrat er das Restaurant. Der Oberkellner begrüßte ihn mit jener unvergleichlichen Mischung aus Ehrerbietung und Herablassung, mit der nur ein Römer einen Gast empfängt, und geleitete ihn an den Tisch neben der offenstehenden Terrassentür, den Theo noch kurz vor dem Weggehen von seinem Hotelzimmer aus telefonisch bestellt hatte. Da er die letzten hundert Meter schneller ausgeschritten war, ließ er sich ein wenig atemlos auf einen Stuhl sinken. Selbstverständlich waren weder Colombe noch Emmanuel bereits da; das Gegenteil wäre für ihn überraschend und sogar kränkend gewesen. Unwillkürlich rieb er sich zufrieden die Hände.

Die Stoppuhr in seiner Jacke zeigte an, wieviel Zeit verstrichen war, seit er das Hotel verlassen hatte. Theo klappte seinen Taschencomputer auf und gab ein, wie lange er vom Hotel Raphael bis zum Restaurant Alfredo alla Scrofa gebraucht hatte: zwölf Minuten, wobei er die Sekunden außer acht ließ. Auf diese Weise fütterte er seinen elektronischen Terminkalender mit regelmäßig korrigierten Daten über alle Wege, die er häufig zurücklegte. Jeden Abend, wenn er kurz vor dem Zubettgehen den Ablauf des nächsten Tages plante, zog er ihn zu Rate. Bei komplizierteren Strecken ergänzte er die Angaben zum erforderlichen Zeitaufwand durch Hinweise auf die optimale Route. So speicherte ein Siliziumchip alle Informationen über Zeit und Raum, die Theo wichtig waren, auf etwa einem Quadratmillimeter, ein ausgeklügelter Mikrokosmos inmitten einer Welt voller Unordnung.

Theo ließ seinen Blick durch das Restaurant schweifen. Es hatte sich nicht verändert, alles war wie immer: an den Wänden die mit Widmungen versehenen Fotos der Stars der fünfziger Jahre, das zeitlose Mobiliar, die Ventilatoren an der Decke, die beigefarbenen Wandleuchten aus mundgeblasenem Glas, eine unverändert beibehaltene Speisekarte, die gleichen Kellner. Ein beruhigendes Refugium innerhalb der Anarchie Roms, ein sicherer Hort in bewegten Zeiten. Allerdings hatte das Alfredo alla Scrofa einst bessere Tage gesehen, als es für die Berühmtheiten aus aller Welt noch ein Muß war, hier einzukehren. In Rom nahmen die Zusammenkünfte der Geschwister de Fully rituell in diesem Restaurant ihren Anfang, weil es zu den hehren Stätten ihrer Studienjahre gehörte. Damals kam es mitunter vor, daß sie neben Marcello Mastroianni, Elizabeth Taylor oder Robert Kennedy saßen und sich das Air wichtiger Persönlichkeiten gaben, noch ehe sie es wirklich wurden. Für den Preis eines Tellers fettuccine war das geschenkt.

Theo entnahm seiner Brieftasche zwei doppelt gefaltete Blätter, faltete sie auseinander und strich sie mit pedantischer Sorgfalt glatt. Er ließ sich viel Zeit, um den Bericht noch einmal zu lesen, denn er war von seiner trockenen und wirkungsvollen Wissenschaftsprosa in deutscher Sprache sehr angetan. Sobald sein Bruder, Emmanuel, ihn zu Gesicht bekam, dürfte er zumindest erstaunt sein, selbst wenn er es nicht zeigen würde. Sicher sagte er in diesem salbungsvollen, seine Unwissenheit äußerst unzulänglich kaschierenden Ton des Geistlichen: Sub specie aeternitatis … und machte dabei eine zunehmend vage Handbewegung, mit der er – so unscharf wie ein Weichzeichner – den Übergang der Zeit in die Ewigkeit nachahmte. Aber was wußte Emmanuel schon von der Zeit? Durch die oberflächliche Lektüre einiger populärwissenschaftlicher Werke benebelt, ließ er sich zuweilen auf gefährliche Erklärungen über die Relativität ein, wobei er ungeniert die Zeit nach Newton mit der nach Einstein ebenso verwechselte wie den wahren Sonnentag mit dem Sterntag und damit besorgniserregende Einblicke in die mangelnden physikalischen Kenntnisse eines Theologen gewährte, der es sich hatte angelegen sein lassen, in seiner Doktorarbeit in Fribourg Die Vorstellung der Ewigkeit bei Duns Scotus zu erörtern.

Er, Theo, wußte hingegen, was er von der Zeit zu halten hatte, von diesem Parameter der Physik, den er in Neuchâtel gemessen hatte, als er während der sechziger Jahre die besten Zeitwächter des Planeten entwickelte, die Cäsiumatomstrahluhren, deren Ungenauigkeit nur eine Sekunde in drei Millionen Jahren beträgt. Damit konnte er die Verzögerung der Erdrotation erfassen, die im Verlauf von hunderttausend Jahren die Dauer eines Tages um zwei Sekunden verlängert. Er hatte auch die Auswirkung der Relativität auf die Ortszeit nachgewiesen, indem er an Bord zweier Flugzeuge, die in entgegengesetzter Richtung die Erde umrundeten, zwei Uhren verstaut und dann triumphierend die dabei eingetretene Zeitverschiebung festgestellt hatte. So waren Einsteins Erkenntnisse durch seinen Schweiß bestätigt worden.

Außerdem hatte er die subtile Technik der Dendrochronologie verfeinert, die auf dem Auszählen der Jahresringe von Bäumen beruht. Er hatte die Ringfolge eines in jüngster Zeit gefällten Baumes mit den Ringfolgen älterer Bäume verbunden und daraus einen Kalender heißer und kühler Sommer aufgestellt, die an den jeweils schmalen oder breiten Jahresringen abzulesen waren. So hatte er, gewissermaßen von Baum zu Baum, fünfzig Jahrhunderte zurückverfolgt. Damit ließ sich beweisen, daß ein neolithisches Dorf am Neuenburger See mindestens einhundertdreiundzwanzig Jahre lang bewohnt gewesen sein mußte, da die fünfhunderteinundzwanzig Pfähle, auf denen die Häuser sich während der Überschwemmungen aus dem Wasser erhoben, zwischen dem Winter 2795/94 und dem Winter 2673/72 vor unserer Zeitrechnung gefällt worden waren.

Danach hatte Theo die traditionelle Radiokarbonmethode zur Altersbestimmung prähistorischer Funde durch ein ausgefeiltes Verfahren ersetzt, bei dem er die Massenspektroskopie anwandte, die es gestattete, tatsächlich Atom für Atom zu zählen. Auf diese Weise hatte er das Alter von Bohrkernen aus dem Grönlandeis mit erstaunlicher Präzision – bis auf hunderttausend Jahre genau – bestimmen können. Diese Meßtechnik hatte ihn berühmt gemacht und würde ihm früher oder später einen Nobelpreis für Physik einbringen. Mit unerschütterlicher Gelassenheit wartete er auf diese Auszeichnung, die er selbst für wohlverdient hielt.

Schon dreimal hatte er sich also darangewagt, es mit der Zeit aufzunehmen, und dreimal war er der Herausforderung gewachsen gewesen. Nun schwante ihm, daß ihm eine noch viel größere Herausforderung bevorstand: die Erforschung der Ewigkeit, die nicht etwa die bis ins Unendliche verlängerte Zeit war, sondern ihr Gegenteil, die absolute Zeitlosigkeit. Aber wie sollte er eine nicht existierende Größe messen? Allmählich begann er, eine Vorstellung davon zu entwickeln.

Er sah auf die Uhr. Jetzt wartete er bereits seit einer Viertelstunde. Das reichte, um seinem Bruder und seiner Schwester Unpünktlichkeit vorwerfen zu können. Länger brauchten sie ihn nun nicht mehr hinzuhalten. Sie vergeudeten wahrlich seine Zeit. Ihn packte die Ungeduld. Er mußte sich bewegen. Deshalb schritt er die Galerie der Fotos ab, auf denen er Burt Lancaster, Gary Cooper und Clark Gable erkannte, obwohl sie auf den Bildern noch sehr jung waren. Es gab auch ein Farbfoto neueren Datums von Michail Gorbatschow. Theo suchte den Waschraum auf und ließ sich Wasser über die feuchten Hände laufen. Dann kehrte er an seinen Platz zurück. Er verwünschte sich, weil er nichts zu lesen mitgenommen hatte, nicht einmal eine Zeitung. Also begann er zu seufzen und maß die Häufigkeit und Dauer seiner Seufzer. Er langweilte sich wirklich. Die Zeit zog sich. Erst in diesem Moment merkte er, wie heiß und drückend es war. Das schon seit einem Tag drohende Gewitter war noch immer nicht ausgebrochen. Es fielen zwar einige Regentropfen, die auf dem Boden mit dem Straßenstaub verklumpten, doch die Luft war nach wie vor verpestet, eine widerwärtige Mischung aus Abgasen, üblen Gerüchen und menschlichen Ausdünstungen.

Durch die vom Herbstwind bewegte Gardine blickte Theo nach draußen. Da hielt ein Taxi am Rande des Gehwegs. Colombe stieg aus und beugte sich zum Fahrer, nicht etwa, um ihn zu bezahlen, sondern um ihn zu küssen.

 

Nach einem wahren Hindernisrennen war Colombe gegen zehn Uhr vormittags in Fiumicino gelandet. Die Maschine, die sie von San Francisco nach New York hätte bringen sollen, war nie gestartet. Im letzten Augenblick hatte man sie auf einen anderen Flug umgebucht, doch ihr Gepäck war zurückgeblieben, weshalb sie Ärger mit der Sicherheitskontrolle am Kennedy-Airport bekommen hatte. Vor Aufregung hatte sie dann nicht schlafen können, und bei der Ankunft in Rom mußte sie erfahren, daß Gepäckträger und Taxifahrer streikten. Ohne Frage, die Welt der Technik ließ sich noch immer auf keinen gemeinsamen Nenner bringen: Ingenieure waren imstande, Flugzeuge zu bauen, die mühelos den Atlantik überquerten, doch niemand schaffte es, den Transfer von Fiumicino nach Rom zu organisieren.

In der feuchten, stickigen Luft verschlug es ihr sofort den Atem, und die bedrückende Architektur des Flughafens erweckte Vorstellungen von den persönlichen Qualen des Baumeisters, der wahrscheinlich unter der unheilbaren Neurasthenie der Südländer gelitten hatte. Wieder einmal hatte Colombe den Eindruck, wie im Traum in ein Bild De Chiricos hineinversetzt zu werden. Sie fühlte sich unbehaglich: Würde Paolo dasein?

Diese Augenblicke der Spannung hätte sie gern durchgestanden, ohne sich um Gepäckscheine kümmern zu müssen, aber die von Verwaltungsproblemen heimgesuchte Welt, in der sie lebte, bot ihr kaum die Gelegenheit, Tragödien oder Komödien auszukosten. Nach zwei nervenaufreibenden Stunden konnte sie endlich ihr Gepäck in Empfang nehmen und strebte, von Besorgnis erfüllt, der Zollkontrolle zu: Ob auf der anderen Seite jemand auf sie wartete? Paolo war so zerstreut und unbesonnen. Wie sollte man nur Menschen lieben, die selbst unfähig waren, andere zu lieben? Falls er sie nicht abholte, mußte sie wohl zornig werden. Und falls sie zornig wurde, tat Paolo so, als wollte er sie verlassen. Also würde sie klein beigeben und er dank eines Fehlers, den er begangen hatte, noch größere Überlegenheit gewinnen. Bei ihm galt nur eine Spielregel: Wer mogelt, gewinnt immer.

Colombe entschied sich für den Durchgang mit der Aufschrift «Nichts anzumelden». Genau unter dem Schild wurde ihr plötzlich klar, daß sie Paolo nicht liebte, ihn nie geliebt hatte und sich die Angst, ihn zu verlieren, nur einredete, um sich eine Zuneigung vorzugaukeln, die sie nicht empfand. Paolo war nichts weiter als ein Körper, nach dem sie gierte. Einen erhabeneren Grund für ihre Nervosität gab es nicht. Nein, sie hatte wahrhaft nichts zu melden.

Doch er stand tatsächlich da: gelassen, sonnengebräunt, mit geistesabwesendem Blick, in dem, sobald er sie entdeckte, übertriebene Freude aufleuchtete, wie die schlechten Schauspieler von Cinecittà sie in historischen Filmen mimten. Die aufreizendste seiner Tücken bestand darin, daß er sein stets affektiertes Gehabe überzog, um es besser zu verschleiern. Wo, in welcher tieferen Schicht seines Unterbewußtseins mochte sein wahres Wesen liegen, sofern es das überhaupt gab? Es kamen nur unergründliche Gefühle zum Vorschein, die andere verdeckten und die er noch wirkungsvoller tarnte, indem er vorgab, sie zu heucheln. Er glich einer Zwiebel: Sobald Colombe eine Lügenhaut abgezogen hatte, wurde sie der nächsten ansichtig, die eine weitere umhüllte.

«Mein Prinz», sagte Colombe.

Und er erwiderte schlagfertig:

«Meine Schäferin.»

Bis auf einen unvermeidlichen Kuß, mehr aufgedrückt als eindringend, war das der einzige Gefühlsausbruch. Obwohl sie gezwungenermaßen sechs Monate getrennt gewesen waren, verwoben sich Colombes Zurückhaltung und Paolos Nonchalance nur zu einer lockeren Bindung, gleich den lose verkreuzten Kett- und Schußfäden jener modernen Wandbehänge, wie sie von eiligen Künstlern hingeschludert werden. Nachdem sie so lange sechstausend Kilometer voneinander entfernt gelebt hatten, brachte Colombe nicht den Mut auf, größere Aufmerksamkeit zu heischen. Paolo stand da, er würde sich bald gierig auf sie stürzen. Was konnte sie mehr verlangen?

Der Flughafen quoll über von einer zähen Menschenmasse, die nach einem beliebigen Transportmittel Ausschau hielt, um in die Stadt zu gelangen. Paolo bahnte einen Weg für Colombe, und ihr folgte ein Gepäckträger, den er gebieterisch herangewinkt hatte. Draußen wartete eine endlose Schlange begehrlich vor einem Taxi ohne Fahrer, vor einem einzigen Taxi, das «Besetzt» signalisierte, obwohl es leer war. Paolo schloß die Tür auf und rutschte ans Steuer, als wäre das die natürlichste Sache der Welt, wobei er es Colombe überließ, dem Gepäckträger eine Dollarnote zu geben.

Als sie neben ihm Platz genommen und er unter den Flüchen der anderen Anwärter auf diese Fahrt den Motor angelassen hatte, bequemte er sich zu einer Erklärung:

«Meine Teure, Sie sitzen in dem einzigen Taxi, das nicht streikt. Prinz Paolo Pacelli ist Taxifahrer geworden, um seine Liebste abzuholen. Das kommt mir allerdings sehr entgegen. Mein Vater hat mir nämlich vor drei Monaten den Lebensunterhalt gestrichen. Deshalb bin ich auf der Suche nach jedweder Arbeit, die nicht übermäßig anstrengend, aber dafür sehr einträglich ist. Außerdem neigt man in meiner Familie zum Streikbrecher.»

Eine Blechlawine wälzte sich im Schrittempo über den Grande Raccordo, den Autobahnring rund um Rom. Paolo mied ihn lieber und hielt direkt auf die Basilika San Paolo fuori le mura zu. Als sie an ihr vorüberfuhren, dachte Colombe voller Mitgefühl an den Apostel Paulus. Um wenigstens langem Leiden zu entgehen, hatte er sich auf sein römisches Bürgerrecht berufen und es vorgezogen, hier enthauptet anstatt gekreuzigt zu werden. Soweit es ihr möglich war, weigerte sich auch Colombe, alle Kreuze zu tragen, die man ihr aufzubürden versuchte, und erflehte den Schutz des Apostels der Heiden. Sie glaubte felsenfest, daß es der größte Beweis der Liebe sei, sein Leben für andere hinzugeben, doch ohne unangebrachtes Zurschaustellen und ohne vermeidbare Qualen. Nur wer nie den Todeskampf eines Menschen miterlebt hat, mochte behaupten, im Leiden liege Erlösung. Colombes Arbeit in San Francisco bestand indes genau darin, Sterbende zu begleiten.

Auf dem Weg über die Foren erreichte Paolo das Stadtzentrum. Colombe merkte, daß es inzwischen zu spät war, ihren Koffer noch im Hotel abzustellen. Theo wartete sicher schon seit mindestens einer halben Stunde. Deshalb bat sie Paolo, sie direkt zum Alfredo zu fahren, danach ihr Gepäck ins Hotel zu bringen, sich dort in Geduld zu fassen und – vor allem – auf sie zu warten.

 

Theos Empfang fiel unfreundlich aus:

«Jetzt küßt du schon Taxifahrer!»

«Ich küsse, wen ich will, wo und wann ich will!»

Als liege ihr immerhin daran, sich zu entschuldigen, fügte sie eine weitere unpassende Bemerkung hinzu:

«Im übrigen war das kein Taxifahrer.»

Doch das stimmte ihren Bruder nicht heiterer. Er umarmte sie so steif, wie ihr Vater sie seit ihren Mädchenjahren stets umarmt und damit zum Ausdruck gebracht hatte, daß es sich um ein Zugeständnis an weibliche Sentimentalität handelte. Colombe setzte sich, dann schwiegen beide. Einmal versuchte sie, das Eis zu brechen, indem sie ihn besorgt auf eine dunkel verfärbte Warze an seiner Schläfe ansprach. Nachdem sie ihm vergebens empfohlen hatte, sie entfernen zu lassen, wurde ihr bewußt, daß sie ihren Beruf als Ärztin mißbrauchte, um ihren Bruder zu bevormunden. Sie hätte Paolo nicht vor seinen Augen küssen dürfen, denn es war vollkommen klar, daß er mit stummem Vorwurf darauf reagieren würde. Also hielt Colombe den Mund und wartete auf Emmanuel. In der Familie de Fully übte man sich von jeher gern in der Kunst, einander in Schweigen zu ertragen, das um so beredter wurde, je länger es dauerte.

Emmanuel hatte sich noch mehr verspätet als Colombe, doch aus weitaus triftigeren Gründen. Sein ganzer Vormittag war ein ständiges Hin und Her zwischen dem Büro des Kardinals Weiss und dem Petersplatz gewesen. Solange er lebte, würde Emmanuel sich an diesen Donnerstag, den 6. Oktober 1988, erinnern. An diesem Morgen verlor er die Illusionen, die er sich noch über die Kurienkongregation für die Glaubenslehre bewahrt hatte. Am Nachmittag sollte er meinen, noch viel mehr zu verlieren.

Die von Bernini geschaffenen Kolonnaden des Petersplatzes öffnen sich weit zur Via della Conciliazione hin, deren Name und Ursprung von dem Wunsch zeugen, den Menschen eine Art Bresche in die abgeschlossene Welt der Kirche zu schlagen. Dennoch kennzeichnet eine Reihe hellerer Pflastersteine die Grenze zwischen der Republik Italien und der Vatikanstadt. Auf der italienischen Seite dieser Linie erduldete eine Gruppe von sechs dunkelgewandeten Männern aus der Schweiz mit stoischer Ruhe die sengende, nur von den Schwaden städtischer Luftverschmutzung verschleierte Sonne. Sie schwitzten, rührten sich aber keinen Zollbreit von der Stelle, als Emmanuel ihnen vorschlug, unter den Kolonnaden Schutz zu suchen. Es waren zwei Bischöfe, die vier Vertreter des Synodalrats der reformierten Kirchen – zwei Pastoren und zwei Laien – begleiteten. Alle sechs erweckten einen in ihrer Hartnäckigkeit versteinerten Eindruck.

Schon morgens um neun hatte Emmanuel auf einem Gehsteig vor dem Palazzo del Sant’ Uffizio eine kleine Schar Journalisten ausgemacht, die auf diese Schweizer Delegation lauerten. Also hütete er sich wohlweislich, über die Piazza del Sant’ Uffizio zu gehen. Fünfmal pendelte er zwischen dem Kardinal und der Delegation hin und her, wobei er durch die Bibliothek des Vatikan schlich, die sowohl einen Ausgang zum Petersplatz als auch einen zu einem Innenhof besitzt. Beim dritten Mal richtete er einige Worte an die zwei Wachsoldaten der Schweizergarde, die anscheinend stutzig geworden waren. Er kannte sie gut, denn er war Kaplan der Garde. Es gab nämlich in Rom keinen zweiten Prälaten, der sich so gut wie er auf die Feinheiten des oberwallisischen Dialekts verstand, den er während seiner zwei Amtsjahre als Vikar in Brig erlernt hatte.

Emmanuel legte nicht gerade Wert darauf, daß sein Kommen und Gehen in der kleinen Welt der Kurie Spekulationen auslöste. Er kam sich lächerlich und zugleich schäbig vor. Die ökumenische Delegation erhob lebhafte Vorwürfe, und Joseph Kardinal Weiss verschanzte sich hinter seinem Starrsinn. Drei Monate zuvor hatte er vage zugesagt, den Besuch dieser Delegation zu akzeptieren, und Emmanuel hatte es auf sich genommen, während der Vorbereitungen für die Reise diese Zusage in ihrem Kern zu bestätigen. Aber heute hatte der Kardinal sich anders besonnen. Hatte er vielleicht nie die Absicht gehabt, diese Delegation zu empfangen? Hatte er Emmanuel etwa nur in dem Glauben gelassen, um einen Zwischenfall zu provozieren, mit dem eine katholische Kirche der Schweiz, die zu sehr in Versuchung geraten war, mit den Reformierten zu flirten, wieder zur Vernunft gebracht werden sollte? Nie würde es Emmanuel gelingen, das Wesen dieses undurchschaubaren Mannes zu enträtseln, der seine Unbeugsamkeit mit einem ständigen Lächeln verbrämte.

Als die Fische anscheinend richtig angebissen hatten, gab er ihnen den Rest. Er hatte ihnen bereits eine Unterredung mit einem Theologen in den Räumen der Glaubenskongregation angeboten, dann mit einer Kommission von Theologen, danach mit dem Untersekretär und schließlich mit dem Sekretär, aber keinesfalls mit ihm selbst. Da Gespräche mit den Reformierten in die Zuständigkeit des Sekretariats für die Einheit der Christen fielen, brauchte diese ökumenische Delegation aus der Schweiz doch nur Kardinal Willebrands zu treffen, falls ihnen soviel daran lag, ihrer Liste der bereits aufgesuchten Eminenzen einen Kardinal hinzuzufügen. Er, Kardinal Weiss, hatte keine Zeit für sie. Das ließ er Emmanuel wissen, während er auf seinem Schreibtisch demonstrativ Druckfahnen der Zeitschrift Communio ausgebreitet hatte, die er in aller Ruhe mit einem roten Stift korrigierte. Es ging darum, daß Emmanuel diese Einstellung begriff und sie, schon allein durch die eigene Verlegenheit, seinen Gesprächspartnern übermittelte.

Als er zum fünftenmal bei ihnen erschien, beschloß die Schweizer Delegation einmütig, aufzugeben und bei der Rückkehr in ihr Heimatland keinen Hehl aus dem zu machen, was sich hier zugetragen hatte. Emmanuel, körperlich und seelisch am Ende und unter seiner schwarzen Soutane mit dem violetten Zingulum wie in Schweiß gebadet, war dem Weinen nahe. Einem der Schweizer Bischöfe standen tatsächlich Tränen in den Augen. Wo blieb bei alledem die Nächstenliebe? Es war nicht einmal höflich. Aber der Kardinal ließ oft durchblicken, daß die Nächstenliebe es erfordere, auf alle äußerlichen Formen der Zuvorkommenheit zu verzichten. Er umgab sich nur allzu gern mit Unnahbarkeit und nannte das Frieden stiften.

Emmanuel verließ den Petersplatz und verabscheute wieder einmal diese pompöse Kulisse, die mit dem Geld erbaut worden war, das die im sechzehnten Jahrhundert in ganz Europa verkauften Ablässe eingebracht hatten, bis ein deutscher Mönch namens Luther diesen unlauteren Handel anprangerte und damit die Reformation lostrat. Noch nie hatte das Unterfangen eines Menschen derart gründlich das unterhöhlt, was es zu festigen versuchte: die Hegemonie Roms über alle Christen. In ähnlicher Weise traf das auch auf die Kirche Jesu zu, deren sichtbarste Siege sich in Niederlagen verwandelten, weil ihre einzigen wahren Siege in ihren offenkundigen Niederlagen bestanden. Wie sollte Emmanuel es je schaffen, heiteren Sinns für einen so unberechenbaren Herrn zu arbeiten? Er schrieb Gott gern eine Eigenschaft zu, die von allen Theologen verkannt wurde: eine Art schwarzen Humor, Gefallen am Paradoxen, was ihn seltsam menschlich, vertraut und zugänglich machte.

Ohne sich die Muße zu gönnen, seine durcheinandergeratenen Gedanken zu entwirren, eilte Emmanuel zu seiner Verabredung. Weil er nicht in der Soutane herumlaufen wollte, machte er einen Umweg über die Piazza del Risorgimento. Dort hatte er eine winzige möblierte Wohnung in einem Bürgerhaus mit prächtiger Treppe und hohen Decken aus dem vorigen Jahrhundert gemietet. Man könnte meinen, damals hätten die Leute den Großteil ihrer Zeit im Treppenhaus zugebracht und an die Decke gestarrt, um einander nicht in die Augen sehen zu müssen. Da diese Unterkunft wenig Komfort bot und laut war, überstieg die Miete nur unwesentlich Emmanuels bescheidene Einnahmen, die er durch zu hohe Spenden noch schmälerte. Wie alle, die sich ihrer Armut schämten, wohnte er über seine Verhältnisse, kleidete sich ihnen gemäß und ernährte sich schlecht.

Hastig zog er sich um, ohne sich Zeit zum Duschen zu nehmen. Wie Colombe fürchtete auch er Theos Ungeduld. Selbst heute, mit beinahe fünfzig Jahren, lebte er noch im Schatten dieses unnachsichtigen älteren Bruders, dessen Unerbittlichkeit die Strenge der väterlichen Erziehung noch übertraf. Ein Wiedersehen mit Theo war stets eine Wiederbegegnung mit dem Vater.

Nachdem Emmanuel vergebens auf ein Taxi gewartet hatte, erfuhr er schließlich von einem Passanten, daß sie streikten. Er verwünschte sich, weil er sich nie die Zeit nahm, die Nachrichten zu hören. So bestieg er nach erneutem, unerträglichem Warten einen Bus, der ihn binnen weniger Minuten in die Via della Scrofa brachte. Als er sich dem Restaurant näherte, konnte er bereits durch die Gardine die angespannten Gesichter seines Bruders und seiner Schwester erkennen. Sie hatten sich wohl, wie üblich, gestritten. Jede Zusammenkunft der Geschwister de Fully begann mit einem stummen Begleichen alter Rechnungen.

 

Theo empfing Emmanuel mit den Worten, die zwischen den beiden Brüdern schon zum Ritual gehörten:

«Guten Tag, du Sachwalter des Ungewissen.»

Und Emmanuel antwortete gemäß ihrer brüderlichen Tradition:

«Sei mir gegrüßt, du Haarspalter.»

Dann umarmte er Colombe. Ihr fiel auf, daß die Brüder einander nicht einmal die Hand gereicht hatten. Alle Männer der Familie legten diesen Widerwillen gegen körperliche Berührung mit ihresgleichen an den Tag. Die Jungen wuchsen wie unter einer unsichtbaren Käseglocke heran, die sie isolierte und ihnen gestattete, ihre großen Ziele zu verfolgen oder ihre kleinen Marotten zu pflegen, ohne durch die körperliche Wärme anderer abgelenkt zu werden. Sie gestanden höchstens den Frauen der Familie den Anschein zärtlicher Gesten zu. Womöglich versuchten sie auch nur, Zuneigung zu mimen.

Nach dieser Einleitung, die Colombe durchaus erwartet hatte, wunderte sie sich allerdings über den Dialog, der sich entspann.

«Es ist dreizehnhundertzwei, plus oder minus vierundzwanzig Jahre», sagte Theo.

«Ich hoffe, du machst keine Scherze», antwortete Emmanuel.

Darauf schwiegen die beiden Brüder wieder. Theo lächelte, doch Emmanuel wirkte noch erregter als bei seiner Ankunft.

«Vielleicht könntet ihr mir eure rätselhaften Äußerungen erklären», bat Colombe.

Der herbeieilende Oberkellner unterbrach Theo, der zu einem seiner üblichen Vorträge ansetzte. Der Auftakt zu ihrem Essen duldete keinen Aufschub, denn es handelte sich um fettuccine al triplo burro maestose, um breite Nudeln, die erst bei Tisch auf das köstlichste mit Butter, Sahne und Parmesan vermengt wurden. Wie gut das gelang, hing allein von der Geschicklichkeit des Oberkellners ab, dem diese Prozedur vorbehalten war. Seine eindrucksvollen Gebärden machten das schlichte Vermischen von Nudeln, Butter und Käse zu einem opernreifen Auftritt, und er zelebrierte es in einer Schüssel aus weißem Porzellan auf eine Weise, daß man erwartete, er werde im nächsten Augenblick eine Belcanto-Arie anstimmen. Als er fertig war, bekamen Theo und Colombe einen Teller fettuccine, während die Schüssel, den Gepflogenheiten des Hauses entsprechend, Emmanuel vorgesetzt wurde, da er die Bestellung aufgegeben hatte.

«Essen wir erst einmal», erklärte er feierlich.

Die fettuccine maestose bestachen durch ihre Einfachheit: Mehl, Eier, Käse, Butter. In der Schweiz hätte man die gleichen Zutaten hastig zu klebrigen Käsenudeln zusammengemanscht, zu einem étouffe-chrétien, einem «Christenersticker», wie man in frankophonen Regionen ein Gericht zu nennen pflegt, das nur den Magen füllt, ohne die Sinne anzuregen, und mit dem der Koch zum Ausdruck bringt, daß er seine Gäste verachtet oder gar haßt. Hier erlangten diese bescheidenen Zutaten dank sorgfältiger und liebevoller Zubereitung untadelige Konsistenz und vollendeten Geschmack. Die Düfte von Milch, Weizen und Eiern verschmolzen zu einer pastoralen Symphonie, die nach frischem Heu, Hühnerhof und Stall roch. Von einem kleinen Berg aus Nudeln in allen Nuancen von makellosem Weiß blickten den Geschwistern de Fully Jahrtausende bäuerlicher Tradition entgegen.

Die de Fullys trieben einen Kult mit dem Essen, jedoch unter der strikten Voraussetzung, daß es sorgsam zubereitet wurde. Alfredo alla Scrofa war eine gute Adresse für Teigwaren. Colombe zügelte ihre Neugierde und gab sich ganz und gar dem köstlichen Mahl hin. Während sie ihre fettuccine verzehrte, die auf der Zunge zergingen und die man eigentlich gar nicht zu kauen brauchte, schweiften ihre Gedanken in die Vergangenheit zurück. Sie entsann sich ihrer Kindheit in Fully, in dem Haus am Ufer der Rhône, und auch der Nudeln, die den Kindern abends aufgetischt wurden. Von Zeit zu Zeit schlürfte sie einen Schluck des Cerveteri rosso, den Theo autoritär bestellt hatte. Es war ein schlichter, redlicher Wein, aber sehr leicht, wie junge Leute ihn bevorzugen. Nachdem jeder andächtig seinen Teller geleert hatte, erschien der Oberkellner, um weitere Bestellungen aufzunehmen. Colombe enthielt sich, da sie ständig auf ihre Linie bedacht war, indes die beiden Brüder übereinkamen, eine bistecca alla fiorentina, ein auf Florentiner Art gegrilltes T-Bone-Steak, zu teilen. Die Zubereitung ließ Theo zehn Minuten Zeit für seine Erklärung.

«Der Vatikan hat mein Laboratorium beauftragt, mit der Radiokarbonmethode das Alter des Turiner Grabtuchs zu bestimmen, in das der Leichnam Jesu gehüllt gewesen sein soll, eine Reliquie, die seit über vierhundert Jahren im Dom San Giovanni Battista in Turin aufbewahrt wird. Das ermittelte Datum hätte im ersten Jahrhundert liegen müssen, doch das Stoffstück stammt aus dem vierzehnten Jahrhundert. Genauer gesagt, das ist die Zeit, die sich aus der Messung ableiten läßt.»

«Na und?» warf Colombe ein. «Es gibt so viele falsche Reliquien, daß das niemanden überrascht. Seit man in den letzten Jahren damit begonnen hat, die da und dort pietätvoll gehüteten Gebeine der Heiligen zu analysieren, hat man ja schon herausgefunden, daß es sich bei manchen nicht einmal um menschliche Knochen handelt. Jahrhundertelang haben sich die Leute ehrfürchtig vor Kalbs- oder Schweinerippen verneigt. Das amüsiert mich ungemein. Der Reliquienkult ist wirklich eine der schlimmsten mittelalterlichen Verirrungen, nichts als das blanke Fortleben heidnischer Bräuche. Die Kirchen haben einander die Reliquien streitig gemacht, manchmal sogar mit dem Schwert, weil sie Opfergaben einbrachten. Für mich ist das ein Kommerz der übelsten Sorte, ein unlauteres Geschäft. Du hast also Aufklärungsarbeit geleistet, mein lieber Theo, und ich verstehe nicht, warum Emmanuel so ein Gesicht zieht. Liegt dir ernsthaft etwas an Reliquien?»

«Nein», entgegnete Emmanuel. «Ich lege keinen besonderen Wert auf Reliquien. Ich wäre sogar bereit, sie alle in Museen zu stecken. Ein Gegenstand, der einem Heiligen gehört hat, kann von historischem Interesse sein, hat aber keinerlei religiöse Bedeutung, er besitzt weder übernatürliche Kraft, noch heilt seine Berührung Krankheiten. Das gilt für alle Reliquien außer – vielleicht – für das Turiner Grabtuch. Wäre es authentisch, dann wäre es der einzige materielle Beweis dafür, daß Jesus auf Erden geweilt hat. Mir scheint es plausibel, daß die Urkirche sein Grabtuch wie eine Kostbarkeit gehütet hat, weil es die einzige verfügbare Reliquie war, zumal seine Kleider ja an die Soldaten verteilt worden sind. Selbst wenn die Wissenschaft recht hat, so entzaubert sie doch einmal mehr eine Welt, die ohnehin schon allzu enttäuschend ist. Schade!»

Die Kellner stellten jedem der zwei Brüder einen Teller hin, auf dem ein schmales mit in Butter und Knoblauch geschwenktem Blattspinat garniertes Rippenstück lag. Die beiden aßen schweigend, und auch Colombe nahm das Gespräch nicht wieder auf. Keiner empfand das Bedürfnis zu reden, denn jeder überlegte, was die anderen wohl dachten.

Der Inhaber des Restaurants schritt durch sein halbleeres Lokal und kaute dabei an den Fingernägeln. Er trug einen grauen Anzug und eine blaue Krawatte mit roten Streifen. Ständig die an der Wand hängenden Fotos vor Augen, hatte er sich den Stil eines mittelmäßigen amerikanischen Schauspielers der fünfziger Jahre zu eigen gemacht.

Colombe nippte ab und zu an ihrem Wein und knabberte an einem Grissino, als ob ihr dieses Spatzenfutter beim Nachdenken helfen könnte.

«Bist du dir deiner Messungen wenigstens sicher?» fragte sie schließlich ihren Bruder.

Der Ausdruck empörten Erstaunens auf Theos Gesicht reizte Emmanuel, der lustlos in seinem Essen stocherte, beinahe zum Lachen.

«Hör zu», wandte sich Theo in dem ihm eigenen Tonfall des älteren Bruders hoheitsvoll an Colombe, ohne sich weiter um Emmanuel zu kümmern, der, wie er selbst eingestand, technischen Erklärungen nicht zu folgen vermochte. «Hör zu, du bist Ärztin und wie alle Ärzte daran gewöhnt, nicht nach strengen Regeln zu arbeiten, deshalb ist deine Frage verständlich, aber ich werde dafür bezahlt, daß ich präzise bin, das ist meine Daseinsberechtigung. Ich habe ein Stückchen Stoff erhalten, das fünfzig Milligramm wog. Das habe ich in zwei Teile zerschnitten und die eine Hälfte aufgehoben, um sie mir nach Abschluß der ersten Meßserie vorzunehmen. Die andere Hälfte habe ich in drei Proben aufgeteilt. Die erste blieb völlig unbehandelt, während die zweite in verdünnter Salzsäure, dann in verdünnter Natronlauge und schließlich erneut in Säure eingeweicht wurde. Die dritte Probe wurde dem gleichen Verfahren unterzogen, allerdings mit erwärmten und höher konzentrierten Reagenzien. Sobald mir die Datierungen dieser ersten drei Proben vorlagen, habe ich die zweite Hälfte des Stoffes in zwei Teile zerschnitten und erneut zu messen begonnen, nachdem ich die beiden Gewebeproben vorher wieder eingeweicht hatte. Ich verfüge also insgesamt über fünf Meßergebnisse, deren mittlerer Wert ein Alter von sechshundertsechsundachtzig Jahren ergibt, mit einer Toleranz von vierundzwanzig Jahren. Die fünf Meßwerte stimmen überein. An der Zuverlässigkeit meiner Methode besteht kein Zweifel.»

«Ich nehme an, du hast deine Methode und deine Anlage anhand anderer Proben, deren Alter du kanntest, überprüft.»

«Selbstverständlich. Mir standen noch drei andere Proben zur Verfügung: ein Gewebe aus einem nubischen Grab, das den Inschriften zufolge aus dem zwölften Jahrhundert datiert, dann eins, das von einer Mumie aus der Zeit Christi stammt, und ein drittes von einem Chorrock aus dem dreizehnten Jahrhundert, der in der Basilika von Saint-Maximin aufbewahrt wird. Die Meßergebnisse dieser drei Proben entsprachen genau dem ihnen zugeschriebenen Alter. Meine Methode ist absolut zuverlässig. Weißt du eigentlich, daß mir das Laboratorium Oeschger in Bern Proben aufbereitet, die Bohrkernen aus dem Eis der Antarktis entnommen sind, und daß mir ein halbes Milligramm Kohlenstoff genügt, um arbeiten zu können? Genaugenommen zähle ich buchstäblich die einzelnen Atome, wobei ich auf der einen Seite den Kohlenstoff 14 und auf der anderen den Kohlenstoff 12 anordne. Das Verhältnis zwischen beiden Sorten zeigt mir das Alter des Materials an, da man sowohl ihr ursprüngliches Verhältnis zueinander als auch die Zeitspanne kennt, innerhalb deren sich Kohlenstoff 14 in Kohlenstoff 12 verwandelt.»

«Bist du sicher, daß das Personal des Laboratoriums nicht das herausgefunden hat, was es herausfinden wollte oder wovon es wußte, daß es das herausfinden sollte?»

«Das ist unmöglich, denn die Proben waren mit einem Code versehen, den allein ich kannte, und ich habe die Messungen nicht selbst vorgenommen. Es sind alle Vorsichtsmaßnahmen getroffen worden. Was glaubst du denn?»

«Ich will dich nicht ärgern, Theo, ich möchte nur, daß du es für Emmanuel erklärst. Noch eine Frage: Woher bist du dir sicher, daß das Gewebe nicht schon in Turin ausgetauscht worden ist? Man hätte dir doch absichtlich ein Gewebe aus dem vierzehnten Jahrhundert schicken und behaupten können, es stamme vom Grabtuch.»

«Ausgeschlossen. Ich habe im Januar mitgeholfen, das Procedere festzulegen, nach dem am 21. April verfahren wurde. Die Probe ist unter der Aufsicht einer Kommission entnommen worden, die sich aus Vertretern verschiedener Laboratorien zusammensetzte und die Kardinal Ballestrero, der Erzbischof von Turin, geleitet hat. Der ganze Vorgang wurde fotografiert und gefilmt. Die Proben wurden in Aluminiumfolie eingewickelt und dann in Behälter aus rostfreiem Stahl gelegt, die man versiegelte. Von den anwesenden Personen hatte keiner ein Interesse daran, einen Betrug zu begehen. In Zürich habe ich selbst die Siegel gelöst.»

«Und wenn der Stoff in deinem Laboratorium in Zürich ausgetauscht wurde? Zum Beispiel von jemandem, der das Geheimnis deines Stahlbehälters kannte?»

«Gute Frage», räumte Theo ein. «In allen Laboratorien gibt es überaus beflissene, ehrgeizige oder auch gehässige Assistenten, die zu schummeln versuchen, wobei diejenigen mit den besten Absichten noch die gefährlichsten sind. Deshalb haben zwei weitere Laboratorien, eins an der Universität von Arizona und das andere in Oxford, ähnliche Messungen vorgenommen.»

«Und ihre Ergebnisse?» fragte Colombe.

«Darüber weiß ich nichts, und ich wollte auch nichts wissen, solange meine Messungen nicht abgeschlossen waren», antwortete Theo. «Alle beteiligten Personen unterliegen der beruflichen Schweigepflicht. Bisher ist nichts oder nur sehr wenig durchgesickert. Die Medien ahnen nicht einmal etwas von diesen Messungen. Das war eine Conditio sine qua non von Ballestrero. Wir hatten vereinbart, daß jedes der drei Laboratorien seine Ergebnisse an die Abteilung für Analyse und Auswertung des Britischen Museums schickt, wo man sie miteinander vergleichen und einen Durchschnittswert errechnen kann. Dadurch wäre jeder grobe Fehler, jeder Betrug in einem der Laboratorien sofort aufgedeckt worden. In Rom soll das endgültige Ergebnis dem Staatssekretariat zugestellt werden, das inzwischen sicher schon über die Resultate verfügt. Aller Wahrscheinlichkeit nach decken sich die Meßwerte der drei Laboratorien. Aber ganz privat kann ich euch verraten, daß mir etwas durch den Kopf spukt, was die Glaubenskongregation vielleicht interessiert. Hier ist mein Bericht, den Emmanuel an Kardinal Weiss weiterleiten wird.»

Colombe, die neben Emmanuel saß, legte ihm einen Arm um die Schultern.

«Schau mal, du mußt schließlich glauben, was Theo sagt. Das Ergebnis ist doch nicht so schlimm. Die Kirche hat schon ganz anderes erlebt. Die einzige Reliquie, an der dir etwas lag, ist unecht, wie alle anderen auch. Na und?»

Noch ehe Emmanuel darauf antworten konnte, schaltete sich Theo wieder ein:

«Ich habe aus gutem Grund nicht behauptet, die Reliquie sei unecht, ich habe lediglich gesagt, die Meßwerte ließen darauf schließen, daß es sich um einen Gegenstand aus dem vierzehnten Jahrhundert handelt. Ich bin mir der Qualität meiner Messungen gewiß und davon überzeugt, daß die Meßwerte aus Oxford und Arizona meine Ergebnisse bestätigen werden. Trotzdem glaube ich, daß die Reliquie authentisch ist. Aber das erkläre ich euch später, denn es ist schon drei Uhr durch, die Sache ist sehr vielschichtig, und wir haben alle Dringenderes zu tun. Emmanuel muß um vier Uhr wieder im Vatikan sein, ich habe vor, die Villa Giulia zu besichtigen, die ich noch nicht kenne, und Colombe muß den Nachtschlaf nachholen, der ihr fehlt.»

Nachdem er auf diese Weise über ihre Zeit verfügt hatte, trank er den Espresso, der ihm den Nachtisch ersetzte, klappte seinen elektronischen Terminkalender auf, um einzutragen, wann die Mahlzeit beendet war, und verlangte die Rechnung. Der Kellner, der schon vor Ungeduld verging, hatte sie bereits vorbereitet. Theo überprüfte sie mit seinem Taschencomputer, entdeckte einen Fehler zugunsten des Kellners, ließ ihn korrigieren und gab dem Mann zur Strafe kein Trinkgeld. Dann schaltete er seine Stoppuhr ein. In Gedanken war er bereits im etruskischen Museum der Villa Giulia.

An der Türschwelle besann er sich indes noch einmal und schwang sich zu der Erklärung auf, daß scrofa «Sau» bedeute und die Straße ihren Namen wahrscheinlich einem Wirtshaus aus dem Jahr 1445 verdanke, das eine Sau auf seinem Aushängeschild hatte, ohne daß man jedoch mit absoluter Sicherheit behaupten könnte, dieses Wirtshaus habe genau an der Stelle gestanden, an der sich nun das Alfredo befand. Aber vielleicht hatten sie gerade in einem der ältesten Restaurants der Welt gespeist. Colombe und Emmanuel heuchelten höfliches Interesse an dieser Information, der sie gleichwohl nichts abgewinnen konnten, und dann ging jeder seiner Wege: Theo, um seine Gelehrsamkeit zu mehren, Emmanuel, um still zu leiden, und Colombe, um sich der Liebe zu widmen.

2

Colombe stand am Fenster und verhüllte mit dem Vorhang, einem herrlichen Seidendamast in Gelb und Silber, ihre Blöße, um keinen Anstoß zu erregen, während sie beobachtete, was sich vier Stockwerke tiefer auf dem Largo Febo abspielte. Die Bewohner des Viertels wurden von den unablässig wiederholten vier Tönen der Mehrklanghupe eines Sportwagens belästigt, der vergebens versuchte, sich mit geballter Motorkraft und wütendem Reifenknirschen zwischen einem anderen Auto und einem wider alle Vorschriften geparkten Kleinlaster durchzuzwängen. Von dem Lieferwagen wurden wohl Möbel für den Antiquitätenhändler gegenüber dem Hotel Raphael abgeladen. Die Auseinandersetzung zwischen den beiden Fahrern und dem Antiquar schwoll an, der Portier des Hotels versuchte zu beschwichtigen, und etliche Gaffer strömten zusammen, um sich das Spektakel nicht entgehen zu lassen. Jeder spielte eifrig seine Rolle, so daß sogar Colombe Lust verspürte, hinunterzulaufen und sich an dem Tohuwabohu zu beteiligen. Darüber vergaß sie Paolo, der in Slip und Unterhemd in der geheiligten Positur des Südländers auf dem Bett lag, geistesabwesend rauchte und an die Zimmerdecke starrte, da ihm seine Würde gebot, keinerlei Eile zu bekunden. Dennoch brachte er sich letzten Endes Colombes Aufmerksamkeit in Erinnerung.

«Meine Teuerste, bist du dir darüber im klaren, daß ich ziemlich sicher Kardinal oder sogar Papst gewesen wäre, wenn wir in der Renaissance gelebt hätten? Schließlich bin ich der Urgroßneffe Eugenio Pacellis. Damals wäre ich wahrscheinlich sein Urenkel gewesen.»

«Pius XII. war kein Renaissancepapst», bemerkte Colombe, die sich immer noch aus dem Fenster beugte. «Im Vatikan ist man inzwischen seriöser geworden. Gewiß nicht mehr ganz so intelligent. Das geht für gewöhnlich Hand in Hand.»

«Schade, meine Liebe, schade! Wie alle Kardinäle hätte ich Pfründen besessen, nie gearbeitet, in einer Villa auf dem Pincio gewohnt und dich in so großem Stil empfangen, wie du es verdientest.»

«Ich wüßte einen Palast zwar zu schätzen, aber ich kann mich auch mit einer Herberge begnügen.»

«Und dann», fuhr Paolo, von diesem Zugeständnis ermutigt, fort, «hätten die Richter der Rota nach meiner Pfeife getanzt und bereitwillig deine Ehe annulliert.»

Wie gewöhnlich wurde er kindisch und vulgär. Ohne ihn anzusehen, wandte Colombe ein:

«Da du Kardinal gewesen wärst, hätte ich dich sowieso nicht heiraten können, also hätte das nichts genützt.»

«Doch, doch, meine Teuerste, ein Kardinal nahm sich lieber eine unverheiratete Frau als Mätresse. Schließlich brauchte er der Unzucht nicht noch den Ehebruch hinzuzufügen. Auch bei den Sünden gibt es Abstufungen, und man muß seine Sünden immer mit seinem Beichtvater besprechen. Ich hätte dir auch ein vortrefflicher Beichtvater sein können.»

«Ich beichte nicht, um mit Gott zu feilschen oder eine Absolution zu erzwingen.»

«Irrtum, Liebes! Ich wette, du hast einen Psychiater, wie alle Amerikanerinnen. Der ist sehr teuer, viel teurer als ein Beichtvater. Und dabei weniger effektiv. Du mußt ständig dasselbe erzählen, auf einer Couch liegen und stundenlang in deinem Gedächtnis wühlen. Schließlich mußt du dir selbst Absolution erteilen, weil es sonst niemanden gibt, der sie dir erteilen könnte. Das wird am Ende so kompliziert, daß dir nichts anderes übrigbleibt, als ein untadeliges Leben zu führen. Und weil es keiner schafft, vollkommen zu sein, verläßt der Patient eines Psychiaters so eine Sprechstunde noch verstörter, als er sie aufgesucht hat. Das erinnert mich an Coca-Cola.»

«Erst einmal bin ich keine Amerikanerin, sondern Schweizerin. Und was hat Coca-Cola damit zu tun?» fragte Colombe so belustigt, daß sie sich zu Paolo umwandte.

«Coca-Cola ist ein industriell hergestelltes Getränk. Na, und die Industrie muß in Massen produzieren. Würde Coca-Cola tatsächlich den Durst löschen, wäre der Markt schnell gesättigt. Also, was tun?»

«Ich trinke kein Coca-Cola.»

«Gut, sehr gut! Denn wenn du damit anfängst, hörst du nicht mehr auf. Das Geheimnis von Coca-Cola besteht nämlich darin, daß es eine bestimmte Säure enthält, die … Ach, ich komme jetzt nicht auf ihren Namen …»

«Phosphorsäure», ergänzte Colombe freundlich.

«Du sagst es, meine Teuerste. Es lag mir auf der Zunge. Diese Säure macht durstig. Je mehr du trinkst, desto mehr Durst kriegst du, und um so mehr willst du trinken. Das ist wie mit dem Psychiater: Er kann dich nicht heilen, er kann sich nur immer unentbehrlicher machen.»

Colombe wandte sich endgültig vom Fenster ab und lachte schallend.

«Ich bin selbst Psychiaterin, Paolo, aber ich behalte meine Patienten nie lange.»

Paolo hatte wenigstens Sinn für Humor. Er lachte ebenfalls und stellte dabei makellose Zähne zur Schau.

«Entschuldige, meine Liebe, ich dachte, du seist Ärztin.»

«Ja, ich bin Ärztin für Psychiatrie. Mein Fachgebiet ist es, Sterbende zu betreuen und ihnen beizustehen. Deshalb behalte ich meine Patienten nie lange. Und im Moment brauche ich auch keinen Psychiater, den ersetzt du mir.»

Sie zögerte absichtlich den Augenblick der körperlichen Liebe hinaus. Um vier Uhr nachmittags in Rom, nach einem guten Essen, über die roten Ziegeldächer zu blicken und dabei auf die Liebe zu warten hieß, den Gipfel sinnlichen Glücks zu erreichen, eines zu kurzen Glücks. Die Lust war stets enttäuschender als die Vorfreude darauf.

Sie erhoffte sich nicht, eine echte Beziehung zu Paolo aufzubauen. Er war nur ein Luxus, den sie sich zweimal im Jahr während einer Reise oder in den Ferien gönnte. Im Krankenhaus von Berkeley hatte sie weder die Zeit, noch stand ihr der Sinn danach, sich einen Liebhaber zu nehmen. Man kann nicht einem Menschen beim Sterben beistehen und kurz danach einem Mann in die Arme sinken. Folglich lebte Colombe wie eine Nonne, die aus Gründen der Biohygiene in regelmäßigen Abständen ihre Schwesternhaube abnahm. Paolo stellte ein Mittel zum Zweck dar, mit dem sie sich von jeglichem Verlangen reinigte, ein läuterndes Wasser, um den Unflat ungestillter Begierden fortzuspülen, gewissermaßen ein großes Stück Seife, das sie in die Arme schloß. Dabei hatte sie keine sehr klare Vorstellung von dem, was sie für ihn bedeutete, denn sie trafen sich erst zum dritten Mal.

Sie wußte nicht viel über ihn. Er glich einem Studenten, der sich unentwegt auf Examen vorbereitete, die er nie bestand, einem Anwärter auf ein diplomatisches Amt, der für immer in Rom ausharren mußte, weil er seinen Mitbewerbern unterlag. Ein Sohn aus gutem Hause, den sein Vater regelmäßig verfluchte und dem er den Unterhalt strich. Er war wie einer, der an der Börse spekulierte oder wettete und seine Einsätze verlor, wie ein Journalist, dessen Artikel nie angenommen wurden, wie ein Mensch, der vielerlei Dinge anpackte, mit denen er auf der Stelle Schiffbruch erlitt, wie ein Verkäufer von Luxuslimousinen, die andere wahrscheinlich gestohlen hatten, ein nonchalanter Frauenheld, der hinter edlen Röcken her war. Er hatte einen Körper wie Michelangelos David, einen markanten Kopf wie sein berühmter Urgroßonkel, einen leicht dekadenten Charme, und seine Liebespraktiken hatten große Ähnlichkeit mit einer wirksamen, seelenlosen Gymnastik. Außerdem war er fünfzehn Jahre jünger als Colombe und sicher ihr letzter Liebhaber. Er würde eine schöne Erinnerung abgeben. Falls es denn eine Sünde war, dann war es eine Sünde ohne Folgen, oberflächlich, luftig, unwägbar, flüchtig, eine Seifenblase, die im Wind gaukelte und in den Farben des Regenbogens schillerte, ehe sie zerplatzte und entschwand.

Colombe zögerte den Augenblick noch immer hinaus. Ihre Begierde wuchs, bis sie ihr wie Angst oder Schluchzen als großer Kloß im Hals saß, ein Knoten, den Paolo in wenigen Minuten lösen würde. Nach der Liebe würde sie sich von sechs Monaten Enthaltsamkeit und einigen Dutzend Todeskämpfen befreit fühlen, die sie durchgestanden hatte wie Entbindungen. Sie hatte nie Kinder gewollt, denn sie wußte zu gut, wie manches Leben endete. Wenn es darauf hinauslief, konnte sie es ebensogut gleich bleibenlassen und mit Anstand, Redlichkeit und klarem Kopf ihre Fortpflanzung vereiteln. Es reichte doch, ihren Hormonhaushalt auf die natürlichste Weise zu regulieren. Colombe versuchte sich einzureden, daß der Begierde zu zollen sei, was ihr zustand, wie dem Appetit, nicht mehr und nicht weniger. Wichtig sei nur, so sagte sie sich, weder die Fähigkeit, Tränen zu vergießen, noch die Freude am Lachen zu verlieren. «Wenn ich weinen möchte, denke ich an mein Sexualleben. Und wenn ich lachen möchte, denke ich auch an mein Sexualleben. Es gibt nichts, was ebenso ergötzlich, ebenso traurig und dabei ebenso komisch wäre.»

 

«Beglückwünschen Sie Professor de Fully zu seinem hervorragenden Deutsch. Für einen französischsprachigen Schweizer schreibt er es wirklich sehr gut. Er hat wohl, wie Sie, einen Teil seiner Studien in Einsiedeln absolviert.»

Das war der einzige spontane Kommentar des Kardinals zu Theos Bericht gewesen, den Emmanuel ihm, kaum daß er in den Vatikan zurückgekehrt war, überbracht hatte. Er hatte es als seine Pflicht angesehen, alles andere liegen- und stehenzulassen. Die Korrekturfahnen des Communio warteten als akkurat aufgeschichteter Papierstapel auf einer Ecke des Schreibtisches darauf, abgeholt zu werden. Inzwischen war es sechs Uhr, die Schatten wurden allmählich länger, und die abendliche Kühle linderte die drückende Hitze des Tages. Emmanuel meinte, es sei an ihm, die Debatte zu eröffnen.

«Was werden wir der Presse erzählen?»

«Gar nichts. Das interessiert wirklich niemanden. Das Britische Museum wird die Meldung in einer wissenschaftlichen Zeitschrift veröffentlichen, die ohnehin keiner liest, und damit ist die Sache erledigt. Im übrigen müssen noch die Ergebnisse der beiden anderen Laboratorien abgewartet werden, aber ich kann mir schon denken, wie das Gesamtresultat ausgefallen ist, das dem Kardinalstaatssekretär bereits vorliegen dürfte. Ich persönlich werde weder in die eine Falle tappen, die Ergebnisse auf spektakuläre Weise zu veröffentlichen, noch in die andere, sie zu verschleiern oder gar zu leugnen und trotz allem die Authentizität der Reliquie zu verkünden. Ich hätte mich gefreut, wenn sie echt gewesen wäre, bin aber nicht unglücklich darüber, daß sie es nicht ist.»

Emmanuel konnte seine Enttäuschung so schlecht verhehlen, daß Kardinal Weiss beinahe darüber lachen mußte und das Gesicht immerhin zu einem Lächeln verzog. Zum Zeichen äußerster Verbundenheit nannte er ihn sogar bei seinem Vornamen.

«Mein lieber Emmanuel, ich verstehe wirklich nicht, warum Ihnen diese Angelegenheit solchen Kummer bereitet. Sie haben einen anstrengenden Tag hinter sich. Mir ist nicht entgangen und ich habe es auch zu schätzen gewußt, wie sehr Sie sich heute morgen darum bemüht haben, daß ich diese sogenannte ökumenische Delegation aus der Schweiz empfange, die sich mit mir natürlich über Themen unterhalten wollte, die ich nicht zu erörtern wünsche: Eheschließungen zwischen Protestanten und Katholiken, Abendmahlsgemeinschaften, mein Verhalten gegenüber dem Theologen Hans Küng oder die Ernennung von Monsignore Haas zum Bischof von Chur, die im übrigen nicht in meine Zuständigkeit, sondern in die der Bischofskongregation fällt. Ich wäre mir wie eine Klagemauer vorgekommen, ein Angeklagter in einem Prozeß ohne Richter. Daran habe ich kein Interesse. Die katholische Kirche der Schweiz ist ziemlich krank, genauso wie die der Niederlande oder der Vereinigten Staaten.»

Ganz plötzlich war der gewinnende Tonfall des Kardinals in nur mühsam beherrschte Erregung umgeschlagen, der eben noch intellektuelle, besonnene Diskurs ins Stocken geraten. Die letzten Worte hatte er mit zusammengebissenen Zähnen gesprochen, als wollte er ihnen dadurch größeren Nachdruck verleihen oder als spürte er selbst, wie abgeschmackt sie waren.

«Kommen wir, wenn’s Ihnen recht ist, auf diesen Bericht meines Bruders zurück», sagte Emmanuel seufzend. «Wie es aussieht, ist die Reliquie nicht echt.»

«Das Turiner Grabtuch hat nichts mit dem Glauben zu tun, Monsignore de Fully. Es zählt nicht zu unseren vordringlichen Anliegen. Wir bedürfen keiner materiellen Beweise, um an die Auferstehung Christi zu glauben, sondern tun es aus freier Überzeugung.»

«Trotzdem hätte es uns bei unserer Aufgabe helfen können, wenn es authentisch gewesen wäre», brachte Emmanuel kläglich vor. «Bei der uns bevorstehenden Aufgabe, die moderne Welt zu bekehren, wäre ein Zeichen schon willkommen gewesen. Jesus hat denen, die ihm folgten, doch ein Zeichen gesetzt. Warum sollte er nicht auch heute eins setzen, bei der Notlage, in der sich seine Kirche befindet? Meinem Bruder zufolge führen seine Messungen übrigens nicht zwangsläufig zu dem Schluß, daß die Reliquie unecht sei, aber er kam nicht mehr dazu, sich darüber auszulassen.»

Der Kardinal warf ihm unter seinen buschigen Augenbrauen einen durchdringenden Blick zu.

«Falls er tatsächlich etwas zu sagen hat, soll er herkommen. Ich werde ihn empfangen. Die Entscheidung überlasse ich Ihnen. Aber erliegen Sie bitte nicht Ihrer üblichen Sentimentalität. Ich habe keine Zeit zu vergeuden und möchte diese Kongregation keiner unnötigen Kontroverse aussetzen.»

 

«Zugegeben», begann Theo, «die Datierung des Gewebes nach der Kohlenstoff-14-Methode spricht dafür, daß das Linnen vom Anfang des vierzehnten Jahrhunderts stammt. Aber das ist die einzige sachliche Bewertung, die auf einen mittelalterlichen Ursprung des Grabtuchs schließen läßt. Alle anderen Elemente – und ich sage ausdrücklich: alle – deuten auf Authentizität hin. Wenn Kardinal Ballestrero und der Vatikan diesen Messungen so bereitwillig zugestimmt haben, dann doch wohl deshalb, weil sie sich des Ergebnisses so gut wie sicher waren. Sie hatten damit die einzigartige Chance, die Echtheit des Grabtuchs zu belegen und gewissermaßen den historischen Nachweis für die Auferstehung Jesu zu erbringen.»

Die Geschwister speisten zu dritt auf einer Terrasse der Piazza Navona. Das Mastrostefano zählte zwar nicht gerade zu ihren Lieblingsrestaurants, denn es diente vor allem dazu, Touristenmassen abzufüttern und zu tränken, doch gegen die Küche war nichts einzuwenden, der Blick auf den Brunnen von Bernini rechtfertigte ein gastronomisches Opfer, und die quadratischen, weiß bespannten Sonnenschirme sowie die rosa Tischdecken verliehen der Terrasse etwas Jugendliches. Am Ende dieses heißen Tages verspürten die drei kaum Appetit. Sie hatten sich zu diesem Essen im Familienkreis nur zusammengefunden, weil sie auf Theos Erklärungen neugierig waren. Um sich nicht in einer reizlosen Speisekarte zu verlieren, hatten alle drei gebackene Tintenfische und dazu weißen eisgekühlten Frascati bestellt.

Vor ihnen ragte die dunkle Fassade der Kirche Sant’Agnese in Agone auf. Theo hatte sich nicht verkneifen können, darauf hinzuweisen, daß sie genau an der Stelle des römischen Bordells errichtet worden war, in dem man die heilige Agnes im Jahre 304 ihrer Kleider beraubt hatte, worauf ihre Haare augenblicks wuchsen, um sie züchtig zu bedecken. Jedesmal wenn sie auf der Terrasse des Mastrostefano saßen, erzählte Theo dieselbe Geschichte. Wie in einer Ehe beruht auch unter Geschwistern das gute Einvernehmen auf einer gewissen Toleranz beim Anhören sattsam bekannter Phrasen.

Scheinwerfer strahlten das Kirchenportal an, hinter dem sich irgendeine fragwürdige private Zeremonie vollzog, von der zwei Carabinieri in Galauniform die Gaffer abhielten. Ein Feuerschlucker spie Flammen zum Himmel empor, ohne großes Aufsehen zu erregen. Hier schien alles möglich zu sein, in dieser magischen Atmosphäre, die die Römer, diese ewigen Gaukler, die sie im Laufe der Jahrhunderte geworden sind, mit einigen Lampions zu schaffen verstehen.

«Falls das Grabtuch tatsächlich aus der Zeit um 1300 stammt, bliebe immer noch aufzuklären, wie es damals hergestellt wurde, und das wäre keine leichte Aufgabe. Fangen wir einmal mit dem Stoff selbst an. Ein Spezialist aus Gent, Gilbert Raes, hat ihn analysiert. Das Gewebe weist eine Fischgrat-Köperbindung auf, die zur Zeit Jesu in Palästina gebräuchlich war. Diese Webart war im mittelalterlichen Europa unbekannt. Es handelt sich um Leinen, aber es finden sich auch Spuren von Baumwolle. Zur fraglichen Zeit wurde jedoch in Europa noch keine Baumwolle verwendet, während sie im Vorderen Orient bereits sechs Jahrhunderte vor Christus gängig war.»

«Das Grabtuch kommt also aus dem Vorderen Orient», schloß Emmanuel.

«Du hast mich verstanden», fuhr Theo fort. «Das ist der erste Punkt, und er ist nicht zu unterschätzen. Obendrein sind keinerlei Spuren von Wolle vorhanden, obwohl die meisten Webstühle gleichermaßen zum Weben von Leinen wie von Wolle benutzt wurden. Es gibt nur eine bekannte Ausnahme: die Webstühle der Juden, da das mosaische Gesetz es verbietet, tierische und pflanzliche Fasern zu mischen. Das Grabtuch ist demzufolge wahrscheinlich von einem Juden gewebt worden. Das ist der zweite Punkt. Aber es gibt etwas, was noch erstaunlicher ist. Normalerweise wird Leinen gebleicht, weil es sonst braun bleibt. Vor dem achten Jahrhundert unserer Zeitrechnung war es jedoch nicht möglich, Leinenfäden schon vor dem Weben zu bleichen, weil das ihre Widerstandsfähigkeit verminderte und sie rissen. Deshalb wurde das fertige Stoffstück gebleicht, wobei die Stellen, an denen Kett- und Schußfäden einander berührten, braun blieben. Genau das ist auch bei dem Leichentuch der Fall. Daraus ergibt sich, daß es entweder aus einer Zeit vor dem achten Jahrhundert stammt oder daß es sich um eine sehr geschickte Fälschung handelt. Das ist ein dritter Punkt.»

«Um das Jahr 1300 herum gab es noch nicht viele geschickte Fälscher», bemerkte Emmanuel.

«Schließlich kommt noch etwas hinzu, was mit allem anderen nichts zu tun hat: 1973 hat Max Frei …»

«Der Leiter des wissenschaftlichen Labors der Polizei von Zürich?» unterbrach ihn Colombe.

«Genau der», bestätigte Theo. «Er hat eine Analyse des Blütenstaubs vorgenommen, der sich im Grabtuch festgesetzt hat. Dabei hat er an die fünfzig Pollen identifiziert, von denen die meisten aus dem Vorderen Orient stammen. Für ihn gab es nicht einmal den Schatten eines Zweifels, daß sich das Grabtuch in Palästina und in der Türkei befunden hatte.»

«Für ihn ‹gab› es keinen Zweifel», hakte Colombe nach. «Weshalb benutzt du das Imperfekt? Hat er seine Meinung geändert?»

«Nein, aber er ist inzwischen gestorben. Folglich kennt er jetzt die Wahrheit», antwortete Theo mit einem Anflug von Neid.

Für Theo stellte die Ewigkeit jenen Ort dar, an dem alle wissenschaftlichen Rätsel gelöst würden. Wenn er an seinen eigenen Tod dachte, überwog ein Gefühl der Neugierde. Flugs würden sich zwei oder drei Paradoxa aufklären, über denen die besten Physiker ihr Leben lang gebrütet hatten. Die Sache mit dem Grabtuch schien ihm von ebensolcher Natur zu sein, nur durch den besonderen Umstand erschwert, daß sein Geheimnis nicht irgendein zweitrangiges Phänomen betrifft, in dem Gott sich kundtut, wie etwa die Neutrinos oder die schwarzen Löcher, sondern seinen eigenen Aufenthalt auf Erden. Deshalb vermutete Theo, daß dieses Rätsel um so unergründlicher sein würde, daß es aber um so spannender wäre, zu seinem Kern vorzudringen. Er machte sich gern Albert Einsteins Meinung zu eigen, dessen Lieblingsspruch gelautet hatte: «Raffiniert ist der Herrgott, aber boshaft ist er nicht.» Gott offenbart sich in einem rätselhaften, seltsamerweise jedoch durchschaubaren Universum, vorausgesetzt, der Forscher geht mit Bedacht und Demut vor.

«Wenn ich deine Worte richtig zusammenfasse», sagte Emmanuel, «dann ist dieses Grabtuch, wie alt es auch sein mag, in einer im ersten Jahrhundert in Palästina angewandten Technik gewebt worden. Und obendrein hat es sich eine Zeitlang im Vorderen Orient befunden.»

«Ja», antwortete Theo, «das ist genau die Schlußfolgerung, die sich allein aus der Untersuchung des Stoffes ziehen läßt. Aber die Spuren, die der Leichnam auf dem Gewebe hinterlassen hat, sind noch auffälliger. Abgesehen vom Gesicht sind sie aus der Nähe betrachtet unklar. Tritt man jedoch ein Stück zurück, kann man zwei Abdrücke erkennen: den Leichnam von vorn gesehen und von hinten. Sie stammen von einem Körper, der auf dem Tuch gelegen hat, das danach umgeschlagen wurde, um ihn zu bedecken, weshalb sich sowohl seine Vorderseite als auch seine Rückseite gelblich abzeichnen. Es sind auch einige rotbraune Flecken vorhanden, deren Analyse ergeben hat, daß es sich dabei eindeutig um Blut der Blutgruppe AB und nicht um Farbe handelt.»

«Warum gibt es überhaupt einen Abdruck?» fragte Colombe.

«Lange hat man gemeint, diese Flecken rührten von einer chemischen Reaktion zwischen dem Körperschweiß und der Aloe her, die zum Einbalsamieren benutzt wurde, doch es ist nie gelungen, einen solchen Abdruck in einem Laboratorium zu reproduzieren. Die Verfärbung ist allerdings absolut oberflächlich, nur die äußerste Faserschicht des Leinenfadens weist einen gelben, stets gleichen Farbton auf. Die Schattierungen ergeben sich daraus, wie viele Fasern verfärbt und wie viele weiß geblieben sind. Man könnte meinen, der Stoff sei großer Hitze ausgesetzt gewesen, die ihn an den Stellen, an denen er den Leichnam berührte, versengt habe, als hätte der Leichnam eine hohe Temperatur erlangt.»

Für eine Weile trat zwischen den Geschwistern Schweigen ein. Colombe und Emmanuel hatten vor langer Zeit gelernt, Theo ernst zu nehmen. Bei der Ausübung seines Berufs war er die Unerbittlichkeit in Person, duldete weder Nachlässigkeit noch Schummelei. Sein Leben hätte keinen Sinn gehabt, wenn er anfinge, ihnen Märchen zu erzählen.

Sie schwiegen länger als erwartet. Der Tisch war inzwischen abgeräumt worden, und es gab eigentlich keinen Grund mehr, noch hier zu sitzen, es sei denn, um das Gespräch fortzuführen. Aber keiner wagte, das Schweigen zu brechen. Die Piazza Navona mutete wie ein riesiges Wohnzimmer an, in dem überall Tische standen. Spaziergänger flanierten in dieser typisch menschlichen Gangart, die keinerlei Lebensnotwendigkeit entsprach und auch keinen besonderen Zweck verfolgte, außer den eher theoretischen, sich seiner Bewegungsfähigkeit zu vergewissern. Man hörte das Wasser des Brunnens emporschießen und wieder herunterfallen. Ein Windstoß hatte die verpesteten Dunstschwaden weggeweht, trotz der Beleuchtung des Platzes waren die hellsten Sterne zu sehen, und ein dicker, rötlichgelber Mond segelte gleich einer Montgolfiere über den Himmel. Wie immer in Italien mutete alles wie eine Theaterkulisse an.

Colombe versuchte, wieder ein wenig klarer zu denken.

«Als Anwalt des Teufels würde ich sagen, diesen Abdruck hätte man mit einer leicht erhitzten Bronzestatue zustande bringen können.»

«Das ist keine schlechte Idee», gab Theo zu. «Aber diese sehr hypothetische Statue hätte eine Menge Details aufweisen müssen, die im vierzehnten Jahrhundert niemand so dargestellt hätte. Das bekannteste ist, daß die Nägel in die Handgelenke und nicht in die Hände eingeschlagen waren. Die gesamte christliche Ikonographie jener Epoche stellt den gekreuzigten Jesus mit Nägeln in den Handflächen dar. Anatomisch gesehen ist das barer Unsinn, denn die Handfläche würde unter dem Gewicht des Körpers schnell ausreißen. Die christlichen Künstler haben alle diesen Fehler gemacht, weil seit dem vierten Jahrhundert niemand mehr durch Kreuzigung hingerichtet wurde. Das hatte Kaiser Konstantin verboten. Deshalb konnten sie dieses von den Römern angewandte Verfahren nicht kennen und wußten nicht, daß der Nagel ins Handgelenk eingeschlagen wurde, was die Gewähr für eine solide Befestigung bot.»

«Ja, in die Gelenksfuge zwischen Kahnbein, Mondbein und Speiche», erklärte Colombe, um zu demonstrieren, daß sie auf dem Gebiet Theo überlegen war.