Die Leute, die sie vorübergehen sahen - Scott Bradfield - E-Book

Die Leute, die sie vorübergehen sahen E-Book

Scott Bradfield

3,9

Beschreibung

Die Dreijährige Sal Jensen wird entführt. Doch das Leben bei ihrem neuen Daddy ist erst der Beginn einer seltsamen, atmosphärisch dichten Reise. Selbstständig beginnt Sal, auf der Suche nach einem Zuhause, von Haushalt zu Haushalt zu wandern und begegnet dabei den absonderlichsten Individuen: dem wortkargen Waschsalon Besitzer, der abgehalfterten Vermieterin, einem altjungen Mann ... Unsentimental und philosophisch heiter kommentiert Sal diese narzisstische Erwachsenenwelt. Scott Bradfield ist mit seinem neuen Roman ein großer Wurf gelungen. Die Entführung Sals ist keine Opfergeschichte, sondern ein sezierender, weiser, oft auch humoristischer Blick auf die amerikanische Gesellschaft. Mitreißend bis zur letzten Seite!

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Seitenzahl: 237

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Scott Bradfield

Die Leute, die sievorübergehen sahen

Roman

Aus dem amerikanischen Englischübersetzt von Manfred Allié

Residenz Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografischeDaten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

www.residenzverlag.at

© 2013 Residenz Verlagim Niederösterreichischen PressehausDruck- und Verlagsgesellschaft mbHSt. Pölten – Salzburg – Wien

© 2010 by Scott Bradfield

Die Originalausgabe „The people who watched her pass by“ erschien 2010 bei „Two Dollar Radio“

Alle Urheber- und Leistungsschutzrechte vorbehalten. Keine unerlaubte Vervielfältigung!

ISBN ePub:978-3-7017-4329-2

ISBN Printausgabe:978-3-7017-1603-6

Für Ji

Inhalt

Kurzer Abschied

Wie sie gerettet wurde

Das Buch der Leute

Die Liebe von Daddy

Auf und davon

Der Triumph der Himmel

Die lange Straße

Kurzer Abschied

Eines späten Abends, als sie drei Jahre alt war, wurde Salome Jensen von dem Mann, der den Heißwasserboiler reparierte, gepackt und mit in eine kleine, fast unmöblierte Bungalowwohnung in Van Nuys genommen, wo sie von da an lebte. Sie wusste, dass es dabei nicht mit rechten Dingen zuging, dass es zu plötzlich für einen normalen Urlaub war und dass der Mann, den sie Daddy nennen sollte, nicht ihr richtiger Daddy war. Doch von dem Augenblick an, als er sie hinten in seinem warmen, knoblauchduftenden VW-Bus absetzte, wusste sie, dass sie vor allem geschützt und bewahrt war, wovor bisher ihre Eltern sie geschützt und bewahrt hatten. Sie weinte nicht, sie wehrte sich nicht, sie wusste, dass alles sich, wie Mommy immer gern sagte, »zum Besten wenden« würde. Und schließlich nahm sie das Leben mit ihm sogar als eine Art Zuhause an.

»Ich behaupte nicht, dass ich je deine echte Mommy und deinen echten Daddy ersetzen kann«, sagte der Mann an jenem Abend zu ihr, als sie halb eingedöst hinten in seinem Wagen saß. »Und ich weiß, es gibt vielerlei Gründe dafür, dass deine leiblichen Eltern dir als wichtige Personen in deinem Leben in Erinnerung bleiben werden; das ist auch richtig so. Aber zugleich mag ich dich sehr auf meine ganz eigene Art, und das ist nicht die kranke und perverse Art, von der man im Skandalfernsehen und in Revolverblättern hört. Ich mag dich, weil du ein vollkommenes, wunderschönes kleines Kind bist, das unsere armselige Welt mit frischen, unvoreingenommenen Augen betrachtet. Und allein diese Unvoreingenommenheit ist es, was uns vor der endgültigen Öko-Katastrophe und Selbstauslöschung bewahren kann.«

Vor dem Abend, ab dem sie ihn Daddy nannte, hatte sie nie gewusst, wie er hieß. Er war einfach nur der Mann gewesen, der den Boiler reparierte. Und dann war er plötzlich um vieles mehr.

»Ich brauche meinen Hasen«, sagte sie zu ihm. Sie hatte sich in eine ölverschmierte, durchlöcherte rote Decke gewickelt, die sie auf dem geriffelten Boden des Wagens gefunden hatte. Sie roch wie rostiges Wasser. »Und mein Schokoladenei.«

Er war ein sehr verschlossener, nachdenklicher Mann, keiner, der ungestüm Hoppereiter und Verstecken mit ihr spielte wie ihr alter, jetzt ausrangierter und schon halb vergessener Daddy. Wenn er auf etwas, das sie sagte, antwortete, war sie jedes Mal aufs Neue überrascht; dann war es, als ob sie etwas viel Persönlicheres teilten als einen Ort zum Sitzen oder ein Auto, das sie irgendwohin brachte.

»Es gibt vieles auf der Welt, von dem denkst du, du brauchst es«, sagte er zu ihr, und es kam von weit her, aus der Tiefe seiner felsenfesten Überzeugung. »Und vieles, das du überhaupt nicht brauchst. Wenn du den Unterschied erst einmal gelernt hast, Liebes, dann habe ich alles erreicht, was ich an dem Tag, an dem ich dein treusorgender und lebenslanger Daddy wurde, erreichen wollte.«

* * *

Er gab alles für sie her, auch das winzige Schlafzimmer auf der Rückseite der Bungalowwohnung, das er rosa und blau anstrich, mit weißen Häschenwolken an Wänden und Decke. Er verkaufte das Werkzeug, das er im Wagen hatte, und kaufte ihr von dem Geld eine flauschige, mit Häschen bedruckte Bettdecke und das passende Bettzeug dazu. Er kaufte ihr ein Plastiktelefon, eine Waschmaschine-Wäschetrockner-Kombination aus Plastik und die dazugehörige Spielzeugküche, die vor den pastellfarbenen Stuckwänden standen wie ein unvermuteter Blick in eine andere Welt. Meist rührte Sal am Morgen, wenn Daddy noch unter der Dusche war, in ihrer Küche mit einem Plastikschneebesen Mehl, Salz und Knetgummi aus hübschen runden Döschen in einer großen Glasschüssel zusammen. Die Schüssel hatten die Vormieter in einem der hohen Einbauschränke zurückgelassen, zusammen mit einer wasserfleckigen Schachtel Streichhölzer, einem bandwurmartigen gelben Flohhalsband, auf dem blonde Hundehaare klebten, und einem versteinerten Schwamm.

»Das meiste von diesem Zeug ist zu nichts zu gebrauchen«, hatte Daddy zu ihr gesagt, als er von der Spüle herunterkletterte. »Aber die Schüssel und der Schwamm hier, die sind noch völlig in Ordnung. Wir müssen ja nicht mehr Geld ausgeben als nötig.«

Nachts schlief er auf dem Sofa im Wohnzimmer, füllte eine große Blechdose, in der einst Haferflocken gewesen waren, mit Zigarettenstummeln und den Zellophanhüllen von Schokoriegeln, und morgens, wenn Salome ihn wecken kam, hing ein grauer Nebel unter der rissigen weißen Stuckdecke wie die dünnen, fliegenverdreckten Vorhänge, die an den Garagenfenstern von Salomes anderem, fernem Zuhause gehangen hatten, jenem Zuhause, an das sie am liebsten überhaupt nicht mehr dachte. Die torfartige Asche und die Zigarettenstummel kokelten manchmal noch, wenn Salome aufstand; und wenn sie die vergrabenen Glutnester nicht mit dem Gummi eines Bleistifts löschen konnte oder mit dem dicken Ende einer Plastikflasche, dann goss sie den mulmigen Bodensatz von Daddys letzter Dose V8-Gemüsesaft hinein und produzierte mit einer zusammengefalteten Zeitung oder Zeitschrift dichte Rauchwolken wie Indianer in einem alten Film, als wollte sie – irgendwo in der Tiefe ihres Unbewussten – jemandem etwas mitteilen, etwas über etwas, das schon vor langer Zeit geschehen war.

Über einen Ort vielleicht, an dem sie gewesen war. Oder einen Menschen, der ihr dort begegnet war.

* * *

Manchmal erwachte Salome am Morgen und hörte, wie Daddy im Badezimmer ein Lied vor sich hin pfiff, und die Dusche machte auf dem losen Bodenrost ein dumpf hallendes Geräusch, wie Sand, der über ein Blechdach geblasen wurde.

Als sie zum ersten Mal klopfte, antwortete er nicht. Also blieb sie tapfer stehen, atmete tief durch und klopfte ein zweites Mal.

»Ich muss aufs Klo«, flüsterte sie. Wahrscheinlich konnte er sie unter der Dusche nicht hören. »Wenn ich morgens aufwache«, erklärte sie ihm, »dann muss ich aufs Klo.«

Hinter dem grauen Plastik-Duschvorhang zeichnete sich Daddys Körper als dumpfer, beinahe farbloser Schatten ab, wie etwas am Grunde eines trüben Teichs.

»Was sagst du, Schatz? Ich bin gleich fertig! Mach dir schon mal was zu essen in der Küche! Ich brauche nicht mehr lange!«

Draußen vor ihrer Bungalowwohnung wucherte in den Gärten und den Rissen der Auffahrten groß und gelb das Unkraut. Wenn man nicht aufpasste, zerkratzte es einem die Innenseite der Oberschenkel, wenn man sich hinhockte, und die Beine juckten dann noch bis lange nach dem Frühstück. Frühstück bei Daddy, das hieß Tag für Tag eine große Schale mit trockenen Lucky Charms, eine Banane und ein Glas V8.

V8-Saft war das einzige Getränk aus dem Laden, das Daddy im Haus duldete. Und Salome hätte zwar gut darauf verzichten können, aber Daddy versicherte ihr immer, wie froh sie sein könne, dass sie so viel V8-Saft bekam.

»Manche Daddys«, erklärte er und hielt die rotweiße Blechdose in die Höhe wie eine geweihte Kerze in einer verlassenen Kirche, »geben ihren Kindern überhaupt nichts Ordentliches zu trinken. Da gibt es dreimal am Tag abgekochtes Leitungswasser oder eine Dose Orangenlimonade. Da gibt es nichts, was den Flüssigkeitshaushalt in Ordnung bringt und auch noch gut schmeckt. Wasser oder Limonade, mehr gibt es in den meisten Haushalten nicht. Aber ich lege Wert darauf, dass etwas Natürliches im Haus ist. Selbst wenn ich mich damit gegen alles stelle, was in diesem irrsinnigen, ultrarepressiven Land namens Amerika passiert.«

Salome widersprach nicht gern, und so trank sie ihr Glas V8 aus und sagte nichts. Sie hatte, seit sie zusammen waren, Daddy noch nie geärgert, und da wollte sie jetzt nicht damit anfangen. Womöglich war er der letzte anständige Daddy, den sie überhaupt bekam.

Und wenn es etwas gab, was Salome gelernt hatte, dann dass ein Mädchen festhalten musste, was es in dieser Welt hatte. Sonst verlor sie vielleicht alles noch einmal neu.

* * *

Es gab viele Dinge, die man bei Daddy nicht machte. Zum Beispiel gingen sie nie zur Spielgruppe. Sie gingen nicht baden oder ins Kino oder in den Musikladen im neuen Einkaufszentrum. Sie luden keine Freunde ein oder besuchten sie zu Hause. Meistens saßen sie einfach in ihrer Bungalowwohnung und versuchten sich vor der sengenden Sonne des Valley zu schützen, indem sie etwa modrige Pappkartons zwischen die glühend heißen Fensterrahmen klemmten oder Vorhänge aus Alustreifen in die Tür hängten. Nach »getaner Arbeit«, wie Daddy es nannte, legte er sich auf das kratzige Korbsofa und rauchte und starrte auf den kaputten Fernseher, einen großen Panasonic mit einem nierenförmigen Fleck auf dem Bildschirm. Sal setzte sich dann auf das dralle saubere Bett in ihrem Zimmer und starrte auf ihre Spielzeug-Kochnische, mit derselben in sich gekehrten Versonnenheit, die Daddy zu empfinden schien, wenn er ihr etwas erzählte.

»Du könntest Daddy etwas zu essen machen!«, rief Daddy von nebenan. »Ein Rührei oder Omelett vielleicht. Und jede Menge Kaffee. Bring mir einen schönen heißen Pott Kaffee und mach immer wieder neuen, bis ich sage, dass es genug ist.« Tagsüber trug Daddy ein grünes Frottee-Badetuch, an der Hüfte mit einer Sicherheitsnadel zusammengesteckt, sodass er sich immer an den weichen schwarzen Haaren auf seinem Bauch kratzen konnte.

Ein Omelett, dachte Sal. Rührei. Sie betrachtete den hübschen Plastikbackofen und die Plastikschränke. Sie blickte durch das schmutzige Fenster hinaus auf vertrocknetes Unkraut im Garten und die ausgesetzten Wracks von beunruhigend lautlosen Kühl-Gefrier-Kombinationen. In Daddys Haus zierten rosa Häschen die Wände. Und ein großer grüner, dicht gefiederter Papagei war auf das Kopfende ihres Bettes gemalt. Drei Tage lang hatte Daddy versucht, sie dazu zu bringen, dass sie das Kopfende Polly nannte, aber für Sal war und blieb es das Grüne Ding.

»Ich habe keine Eier und keine Butter«, sagte sie leise. »Ich habe nur Mehl und Salz.«

»Du könntest Kuchen backen!«, rief Daddy. Je leiser Sal sprach, desto lauter wurde Daddy. »Du könntest Brot und Plätzchen backen.«

Es war schwer, Daddy etwas zu erklären. Er wusste, wie man Sachen mit den Händen machte, wie man zum Beispiel Holzteile zusammennagelte oder ein Bild aufhängte, aber er konnte sich nicht vorstellen, wie andere es taten; sein Organismus funktionierte nicht so.

»Ich bräuchte einen richtigen Ofen, wenn ich Brot backen wollte«, sagte sie, so leise, dass sie sich selbst kaum hören konnte. Wenn man mit Daddy redete, musste man sehen, dass man sich durch die Hintertür verdrückte, sonst konnte es einem passieren, dass er einen stundenlang beschäftigt hielt und man überhaupt keine Zeit für eigene Gedanken mehr hatte. »In einem Plastikofen kann man kein Brot backen, Daddy. Das ganze Ding würde wegschmelzen.«

* * *

Jeden Abend saß er bei ihr auf der Bettkante, bis er dachte, sie sei eingeschlafen, streichelte die aufgedruckten Hasen am Fußende ihrer Bettdecke und erzählte ihr Geschichten, Bruchstücke aus seinem seltsamen und verworrenen Leben, bevor er Daddy geworden war.

»Als ich klein war«, erzählte er, »da hatte ich überhaupt keinen Sinn für Zeit und Ort. Ich zog von einer Militärbasis zur nächsten, von einer Schule zur nächsten, von einer Bande mit miesen Jungs, die nicht mit mir spielen wollten, zur nächsten Bande mit miesen Jungs, die auch nicht mit mir spielen wollten. Immer wieder verlor ich alles, und so bekam ich einen ganz eigenen Begriff davon, was im Leben zählt; und wie zu erwarten, zählen nicht die materiellen Dinge. Es geht nicht darum, was für ein Auto jemand fährt oder ob er den neuesten coolen Film gesehen hat. Wahres Glück und Erfüllung – das ist eher ein Ort, den wir immer in uns tragen, ganz gleich wo wir auf einer blödsinnigen Landkarte gerade sind. Mein Daddy war, wie man so sagt, ein harter Mann, Sal. Geschlagen hat er mich nie, aber ich habe auch nicht viel Zuneigung gespürt. Manchmal musste ich die Veranda mit der Zahnbürste schrubben; ein andermal musste ich auf der Veranda schlafen, in Unterhosen und ohne Decke, damit ich begriff, was Härte heißt. Nun bin ich vielleicht nicht mit der Art einverstanden, wie mein Daddy mir diese Dinge beibrachte, Sal – und ich verspreche dir, ich werde niemals die Art von Daddy sein, die dich die Veranda mit einer Zahnbürste schrubben lässt –, aber mit dem, was er mir beibrachte, bin ich durchaus einverstanden, und die wichtigste Lektion war die folgende: Wenn du die sinnlosen Rituale dieser Welt ertragen willst, musst du dich abhärten gegen das Materielle. Höre auf das in dir, was nicht von äußeren Umständen abhängt, Sal, und du wirst ein vollkommenes Leben haben. Eins, in dem du dir selbst immer treu bleibst.«

Die Bewegungen, mit denen er das Bett streichelte, waren gleichmäßig, lang und stets darauf bedacht, Sal nicht zu berühren. Wenn seine Finger an ihr Knie oder ihren großen Zeh stießen, und sei es auch nur für einen winzigen Augenblick, zuckte er zurück, als hätte er einen elektrischen Schlag erhalten. Mit jeder Handbewegung schien er sich ein wenig tiefer in seinen eigenen Körper zurückzuziehen, als gleite er auf der spiegelglatten Oberfläche eines fernen Sees davon, in der Schweiz vielleicht oder in Brasilien. Sal fragte sich jedes Mal, wohin er wohl ging, wenn er so davondriftete; sie hoffte, dass er sie vielleicht das nächste Mal mitnehmen würde. Es wäre schrecklich, wenn er sie in diesem viel zu großen Bett ganz allein zurückließe.

* * *

Jeden Morgen, wenn Daddy sich im Badezimmer wusch, kletterte Salome in das kühle, abgeschiedene Innere seines weißen VW-Busses und untersuchte die Waren, die er am Abend zuvor mitgebracht hatte. Manche Daddys arbeiteten im Büro, manche waren Bauarbeiter, aber Salomes Daddy lud spätabends Sachen ein und aus und brachte sie hierher in die Auffahrt, wo nur Salome sie berühren konnte. Schwarze ölverschmierte Autobatterien, aus denen eine strähniggelbe Flüssigkeit sickerte. Blech- oder Sperrholzstücke, zusammengefaltete Pappkartons, zerbrochene Styroporverpackungen. Reklameaufsteller von großen Frauen in kurzen Röcken, die Bier- oder Limonadendosen in die Höhe hielten; schwere Maschinenteile mit klebrigen Oberflächen, an denen Dinge sich drehten. Spulen, Anker, Schalter, Stecker und Steckdosen. Diese Dinge ließen sich miteinander verbinden, man konnte sie dazu bringen, dass sie gemeinsam etwas taten. Dieses hier, das sorgt dafür, dass das hier sich öffnet, überlegte Sal. Das Teil hier sorgt dafür, dass dieses sich schließt. An manchen Morgen steckte sie die schweren, rostigen Teile so zusammen, dass sie wie etwas aussahen, das tief auf dem Meeresgrund lebte. Ein Geschöpf mit Schrauben als Augen, Stromkabeln als Tentakeln und einem großen schiefen Maul mit runden Nietenzähnen. Das ist ja eine Überraschung, dich hier unten zu sehen, schien das Geschöpf zu sagen und Sal zuzunicken, als sie es von dem toten Meeresboden auf hob. Ein hübsches kleines Mädchen in einem frischen rosa Kleid.

Es war kühl hier in der Tiefe, dachte Sal. Die Welt drehte sich bedächtig im Kreise, und keiner arbeitete allzu schwer. Vielleicht weil der Planet ein gewisses Maß an Schwung entwickelte. Hier unten konnte man stundenlang für sich allein sein und merkte überhaupt nicht, wie die Zeit verging. Genau der richtige Ort für einen Mann wie Daddy.

Manchmal hörte Sal allerdings noch eine weitere Stimme unten am Meeresgrund, zwischen den zerbeulten Elektrogeräten, den umherliegenden Schwungscheiben, den zerbröselnden Isomatten. Diese Stimme flitzte und huschte in jede Richtung, wie ein nervöser Schwarm von mikroskopisch kleinen Fischen.

»Ist so etwas ein Spielzeug für dich, kleines Mädchen? Das ist fürchterlich schmutzig. Solltest du nicht eigentlich in der Schule sein oder vor dem Fernseher sitzen? Wo hast du diese hässlichen Sachen überhaupt her? Weiß dein Daddy, dass du hier draußen bist? Warum legst du die Sachen nicht weg und spielst mit etwas Anständigem, mit Puppen oder Plastik-Teetassen?«

Sal spürte es immer, wenn die Vermieterin in der Nähe war. Scharfe kleine Funken der Bewegung stoben von ihr aus, als sei sie umgeben von einer Wolke aus statischer Elektrizität.

»Und meine Brille, kleines Mädchen? Hast du meine Brille irgendwo gesehen? Ich sehe bestens ohne meine Brille, aber ich brauche sie zum Zeitunglesen. Was ist das eigentlich für eine Arbeit, die dein Daddy macht? Möchtest du mir etwas von deinem Daddy erzählen, oder möchtest du mir lieber helfen, meine Brille zu suchen? Danach könnten wir zu mir ins Haus gehen und dir die schmutzigen Hände waschen. Wenn du mein kleines Mädchen wärest, ich würde nie zulassen, dass du so schmutzig wirst. Ich würde dich am Morgen gründlich schrubben, und dann müsstest du den ganzen Tag über sauber bleiben.«

Sie hieß Mrs. Anderson und trug einen dicken wattierten blauen Morgenrock, eine Schmetterlingsbrille und einen ausgebleichten, abgeschabten Button mit der Aufschrift »Olympia ’84!«.

Immer wenn sie an das schmutzige, ölverschmierte Fenster des Busses kam, legte sie den Kopf schief und glotzte mit starzerfressenen Augen wie ein Fisch im Glas herein.

Mrs. Andersons Fragen waren nicht leicht zu beantworten. Aber das traf, wie Salome allmählich aufging, auf die meisten Fragen zu.

»Das weiß ich nicht«, sagte Salome einfach, stets bemüht, ihre Antworten klar, korrekt und so inhaltslos wie möglich zu halten. Sie hatte herausgefunden, dass sich die schwarzen Gummipolypen, die auf Zündkerzen steckten, an ihren Armen und Handgelenken befestigen ließen. Die Saugnäpfe hinterließen rote Flecken auf der Haut, wie Masern. »Ich glaube, Daddy ist selbstständig. Er erzählt mir nie, was er macht. Und Ihre Brille habe ich nicht gesehen. Aber ich verspreche Ihnen, wenn ich sie sehe, dann sage ich Ihnen Bescheid.«

Mrs. Anderson war der einzige Mensch, den Sal je gesehen hatte, der genauso viel rauchte wie Daddy – lange dünne Zigaretten, das Papier mit Blümchen und Kringeln bedruckt.

»Leg das weg!«, kommandierte Mrs. Anderson zwischen zwei Zügen. »Da kannst du einen elektrischen Schlag bekommen. Und wo ist dein Daddy jetzt, kleines Mädchen? Schläft er gern lang? Jeder halbwegs anständige Mann, den ich gekannt habe, hat gern lang geschlafen, das ist, als ob man mit den Toten lebt. Ist dein Daddy verheiratet? Ist er mit jemandem liiert? Vielleicht sollte ich mal vorbeischauen. Der Boiler in Bungalow 7 macht immer wieder Ärger. Wahrscheinlich sollte ich vorbeikommen und nach dem Boiler sehen, und bei der Gelegenheit kann ich auch nach meiner Brille suchen.«

Salome blieb, wo sie war, hinten im Laderaum des Wagens. Sie würde nirgendwohin gehen, es sei denn, Daddy brachte sie dorthin.

»Das weiß ich nicht«, sagte sie, ein wenig überrascht von ihrer eigenen Antwort. »Ich glaube nicht, dass er verheiratet ist. Aber ich bin nicht ganz sicher.«

Eine Frau wie Mrs. Anderson ließ sich nicht verblüffen. Sie wusste immer ganz genau, was sie sagen wollte.

»Du brauchst einen festen Lebenspartner, wenn du über die vierzig hinaus bist, kleines Mädchen. Aber bis dahin vergnüg dich mit so vielen Jungs, wie du nur haben kannst. Ich selbst, ich habe meinen Hauptpartner an die Drogen verloren; er war ein armseliger Kerl, der keinen Sinn für das rechte Maß hatte. Hat dein Daddy Sinn für das rechte Maß, kleines Mädchen? Oder ist er dir immer eher wie ein maßloser Charakter vorgekommen?«

Salome tat, als ob sie nachdächte. Sie wollte nicht zu früh gehen. Eine Frau wie Mrs. Anderson würde jemandem wie Sal überallhin folgen, bis sie bekommen hatte, was sie wollte. Wie der Hund, der beim Essen die ganze Zeit um den Tisch herumstreicht.

»Das weiß ich nicht«, sagte Sal und steckte sich noch mehr schwarze Gummipolypen an die Arme. »Das hängt wahrscheinlich davon ab, was man mit dem rechten Maß meint.«

* * *

An diesem Abend schlug der Regen in prallen Schwaden an die Türen und Fenster von Bungalow 7, ließ hinter dem Haus graue Wirbel aus Muscheln und Kieseln aufspritzen und wälzte sich durch den Garten wie große schwarze Bowlingkugeln.

»Wenn eine Frau wie Mrs. Anderson erst einmal Wind von einem Mann wie mir bekommen hat«, sagte Daddy bei einem Abendessen aus Rühreiern und Fischstäbchen, »dann lässt sie nicht locker, bis sie jeden Krümel seines Wesens mit dem Staubsauger aufgesaugt und jeden Tropfen seines Bluts aufgewischt hat. Sobald er die Augen aufschlägt, wird sie da sein, ihm auf die Stirne starren durch diese dicke Lesebrille, die sie dauernd verliert. ›Was ist das für ein kleiner schwarzer Fleck da?‹, wird sie fragen und ihn mit einem grauen, knorrigen Finger in die Stirn pieksen. ›Ist das eine Warze? Sind Sie deswegen beim Arzt gewesen? Nehmen Sie eine Haarspülung für diese Borsten? Haben Sie je von Feuchtigkeitscreme gehört?‹ Jede kleinste Kleinigkeit, die es über einen zu wissen gibt, wird sie in- und auswendig kennen wollen. Wie viele Jobs man gehabt hat, wo man die merkwürdige Narbe am Ellenbogen herhat. Sozialversicherungsnummer, Autokennzeichen, für wen man in der letzten Wahl gestimmt hat. Für Frauen wie die sind das Leckerbissen. Ich habe in meinem Leben eine Menge Mädels wie Mrs. Anderson gekannt, Schatz, und die halten es einfach nicht allein mit sich aus. Deshalb verbringen sie jede wache Minute mit der Suche nach starken, charakterfesten Männern wie mir und denken, sie können uns ihre Fußfesseln anlegen. Für Frauen wie die sind wir keine Individuen, Schatz. Wir sind für die nur Lieferanten von Fett und Profit. Wir sind nur auf der Welt, um ihnen ihre Türangeln zu richten oder die Rechnungen zu bezahlen. Und ob wir selbst damit glücklich sind, das kümmert die nicht. Wir sind nur ihr verlängerter Arm. Gerade gut genug, die Sachen zu tun, die sie nicht selbst tun können.«

Salome konnte mit den Fingerspitzen spüren, wie der Sturm in den dünnen Holzlatten des Tisches vibrierte; als befände sie sich in einer Séance mit dem Wetter. Sie aß ihre Fischstäbchen gern mit Ketchup, aber Ketchup war in Daddys Haus nicht erlaubt. Er fand, dass Ketchup, genau wie viele andere Sachen, die man in Supermärkten kaufen konnte, einem nur die Freude an einem schönen, kühlen Glas V8 verdarb.

»Das ist, als ob wir versuchen, uns in einer Welt zurechtzufinden, die uns nicht will«, sagte Daddy und betrachtete die Fetzen von Alufolie, die vor dem Fenster flatterten. »Wir versuchen zusammenzubleiben, aber die Welt reißt uns auseinander. Manchmal frage ich mich, Liebes, warum sich in so einer verrückten Welt überhaupt jemand die Mühe macht, ein guter Daddy zu sein; seine Tochter, so gut er kann, aufzuziehen. Auf lange Sicht ist nichts von Dauer, nicht einmal die Kindheit. Wenn man es sich richtig überlegt, sind Kinder wahrscheinlich die unzuverlässigsten Geschöpfe, die es gibt.«

* * *

In der Nacht lag Sal wach und horchte, wie das Wasser draußen über die Straßen lief, wie es in unsteten kleinen Strömungen und Gegenströmungen zusammenschwappte auf der Suche nach einer Stelle, wo es noch nicht gewesen war. Aber die Welt war zu nass für Wasser; es gab keinen Ort mehr, wohin es noch fließen konnte. Autos pflügten sich durch die Straßen, die Lichtkegel der Scheinwerfer streiften die Fenster; und etwas Unbestimmtes, erst halb Gestaltgewordenes suchte sich langsam einen Weg durch die Nacht.

Vielleicht eine Eule, dachte sie. Ein Wolf, ein Alligator oder ein Fuchs. Oder es war ein anderer Daddy in einem anderen Lieferwagen, mit anderen Vorstellungen davon, was man essen und was man anziehen sollte. Vielleicht war da draußen nicht genug Platz für all die Daddys, die durch die Gegend irrten und nach Stellen suchten, an denen sie noch nicht gewesen waren, nach Kindern, die sie noch nicht kannten. Vielleicht waren Daddys gar nicht so viel anders als Wasser. Immer unterwegs zu neuen Orten, in immer neuen Formen, die sie wieder verloren, wie Uhren, die in verborgenen Höhlen unsichtbar tropften. Wenn sie zu lange an einem Ort blieben oder dieselbe Form behielten, würden die Mächte, die sie verfolgten, sie finden. Dann würden sie verschlungen und zu etwas ganz anderem verwandelt werden, als sie eigentlich sein sollten.

»Kleines Mädchen? Hallo? Alles in Ordnung da drin bei dir? Lässt du mich rein? Ich habe gehört, wie dein Daddy weggefahren ist, und ich dachte, vielleicht fürchtest du dich. Möchtest du mitkommen und bei Mrs. Anderson bleiben, bis dein Daddy zurück ist? Funktionieren die Elektroanschlüsse noch? Sind die Abflüsse in Ordnung? Läuft das Wasser? Habt ihr überhaupt ein Telefon? Wie kann denn jemand in so einem Haus leben ohne Telefon? Lass dir eins gesagt sein, kleines Mädchen, ich verstehe die Männer einfach nicht. Die haben keine Ahnung davon, wie man ein kleines Mädchen großzieht.«

In dem Moment traf der gewaltige, gestaltlose Sturm, wie ein himmlisches Ausrufezeichen, das Dach mit einer mächtigen baumgedämpften Faust, dass die Vorhänge sich bauschten und die Fußböden knarrten. Selbst die Aluminiumfetzen an den Fenstern klirrten leise, und irgendwo im Verborgenen zischte etwas. Ein Wasserkessel oder ein Rohr.

»Kleines Mädchen! Ich schließe mir jetzt mit meinem eigenen Schlüssel auf! Steht Wasser auf dem Fußboden? Das letzte Mal, als es so wild geregnet hat, war der ganze Boden überschwemmt! Nicht dass du denkst, ich bin neugierig, kleines Mädchen! Ich muss mich nur vergewissern, dass meine neuen Fußböden nicht unter Wasser stehen!«

Wenn man lange genug wartete, dann kam es und holte einen. Es würde keinen Gedanken an die Häschen verschwenden oder die Bettdecken oder die Spielzeugküche oder an sonst irgendetwas von all dem, was man aufgebaut hatte, damit dieser unbeständige Raum beständiger wirkte.

Es würde einfach die Arme um einen schlingen und einen an sich drücken. Es würde einem all die Geheimnisse offenbaren, die man eigentlich nicht wissen durfte.

* * *

»Die Männer laufen vor der Liebe davon, das ist ihre Natur«, sagte Mrs. Anderson am nächsten Morgen zu Sal. Sie saßen in einer freundlichen blauen Frühstücksecke und aßen Eier, Speck und Hüttenkäse. An den Wänden hingen kleine Plastikfiguren von Jesus, wie er am Kreuze starb, Schmetterlinge unter Glas und verblasste Fotografien von hässlichen Kindern, die finster in die Kamera starrten. »Wenn sie die Liebe kommen sehen, machen sie sich davon, das ist bei ihnen ein angeborener Instinkt. Ein Mann, das ist im Grunde ein einsamer Wolf, kleines Mädchen, der in seinem großen weißen VW-Bus durch die Steppe streift, und wenn es irgendwo brenzlig wird, dann läuft er wie der Teufel.« Mrs. Anderson hatte eine große blaue Plastikblase auf dem Kopf, unter der sich die Lockenwickler abzeichneten. Sie rauchte lange Zigaretten und drückte sie mit energischen kleinen Bewegungen in ihrem halb aufgegessenen Spiegelei aus, als zerquetsche sie damit jeden Mann, den sie je gekannt hatte; einen Irrtum nach dem anderen.

»Glaub mir, kleines Mädchen. In den letzten zwölf Jahren haben sich bei mir fünf Männer davongemacht, und die waren so verschieden, das hätten fünf verschiedene Tierarten sein können. Aber in einem Punkt, da waren sie alle gleich, und das war ihre Angst vor der Liebe, davor, Verpflichtungen einzugehen, vor ehelicher Harmonie. Solange ich sie nicht liebte, da ging die Post ab, da sind wir prima miteinander ausgekommen. Ja, solange ich sie nicht