Die Liebe der Baumeisterin - Heidi Rehn - E-Book

Die Liebe der Baumeisterin E-Book

Heidi Rehn

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Beschreibung

Preußen, 1544: Unter Herzog Albrecht erlebt das Land eine große Blütezeit. Alles scheint möglich. So will auch die junge Dora ihr Talent leben und als Baumeisterin in die Fußstapfen des weniger begabten Vaters treten. Der aber verheiratet sie aus Geldnot mit dem fast dreißig Jahre älteren Urban. Wider Erwarten wird die Ehe glücklich, und Urban ermutigt Dora sogar, als Baumeisterin zu arbeiten. Ausgerechnet den jungen Nürnberger Baukünstler Veit aber stellt er ihr als Unterstützung zur Seite. Bald schon hegen die beiden verbotene Gefühle füreinander. Als Urban bei einem schrecklichen Unfall stirbt, gerät Veit sofort unter Verdacht, seine Hand im Spiel gehabt zu haben. Zwei Jahre später deckt Dora die wahren Hintergründe von Urbans Tod auf und begibt sich auf eine gefährliche Reise nach Krakau, um den Geliebten vor dem Galgen zu retten... Gewinnerin des HOMER-Literaturpreises 2014!

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Seitenzahl: 976

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Heidi Rehn

Die Liebe der Baumeisterin

Roman

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

WidmungMottoKartePrologKönigsbergErster Teil (1)Königsberg1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. KapitelErster Teil (2)Königsberg9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. KapitelErster Teil (3)Königsberg17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. KapitelZweiter Teil (1)Königsberg und Krakau1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. KapitelZweiter Teil (2)Königsberg und Krakau8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. KapitelZweiter Teil (3)Königsberg und Krakau15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. KapitelDritter TeilKrakau/Königsberg1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. KapitelEpilogKönigsbergAnhangNachbemerkungDie Ära Herzog AlbrechtsEnge Beziehungen zu Krakau und NürnbergDie Baukunst im SpätmittelalterFigurenÜbersetzung aus dem PolnischenGlossar
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Für Ingeborg

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»Tradition ist nicht das Halten der Asche,

sondern das Weitergeben der Flamme.«

 

Thomas Morus (1478–1535)

 

 

 

 

»In dir muss brennen, was du in anderen entzünden willst.«

 

Augustinus (354–430)

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Prolog

Königsberg

Ende März 1542

Mit einem lauten Poltern wurde die Tür zur Werkstatt aufgestoßen. Erschrocken fuhr Dora zusammen, wagte kaum, von den Entwürfen auf dem Tisch aufzusehen. Wenn der Vater dort unter dem Türstock stand, würde es gleich ein gewaltiges Donnerwetter setzen. War ihr der Aufenthalt in der Werkstatt streng verboten, so war es ihr erst recht strengstens untersagt, an den Bauplänen zu arbeiten. Ihre Finger zitterten, als sie vorsichtig den Reißstift zur Seite legte, das aufgeschlagene Buch über den Entwurf zog und zur Tür spähte. Jörg! Sobald sie den vier Jahre älteren Bruder im Türstock erkannte, atmete sie auf. »Was willst du?«

Er sparte sich die Antwort, zu sehr war er noch mit Luftholen beschäftigt. Die steile Treppe in den zweiten Stock des Hauses musste er regelrecht hinaufgeflogen sein, so glutrot leuchtete sein Gesicht. Breitbeinig stand er da, den Daumen der linken Hand locker in der Gürtelschlaufe eingehakt, die Schultern leicht nach vorn gebeugt. Das tropfnasse Barett auf dem Kopf verriet ebenso wie die vor Regen triefende Schaube, dass er lange draußen unterwegs gewesen war. Unter dem schwarzen Revers des Überwurfs blitzte der beige Faltrock hervor, ebenso schimmerten die Strumpfhosen an den Waden heller als die Kniehose darüber. Das Leder der Kuhmaulschuhe war durchweicht. Auf den Holzdielen bildeten sich dunkle Lachen. Seit Stunden prasselte der Regen gegen die Fenster, ein kräftiger Wind fegte durch die Gassen. Nicht eben das Wetter, um sich außerhalb der schützenden vier Wände aufzuhalten. Einem Kunstdiener wie Jörg aber blieb nichts anderes übrig, als auch an einem solchen Tag brav auf der Baustelle zu sein.

Fahrig fuhren Doras Finger den bestickten Rand ihres Gollers entlang, glitten über den flachen Busen zum Gürtel hinunter, um das daran befestigte Besteckkästchen sowie die Schlüssel und das Nadeldöschen zu sortieren. Leise klirrten die Ketten gegeneinander. Eigentlich war es höchste Zeit, Renata in der Küche beim Kochen zur Hand zu gehen. Längst hatte es von der Uhr am nahen Dom zehn geschlagen. Andererseits schien der Bruder etwas Dringendes auf dem Herzen zu haben, sonst hätte er kaum die Baustelle verlassen, noch dazu wahrscheinlich ohne das Wissen des Vaters. Das zumindest meinte sie aus seinem gehetzten Gesichtsausdruck abzulesen.

»Komm rein, wenn du mit mir reden willst.« Sie machte keinen Hehl aus ihrem Unmut über die Störung. »Wieso bist du nicht auf der Baustelle? Gab es etwa schon wieder Streit zwischen Vater und dir?«

»Keine Sorge«, wiegelte er ab und schloss vorsichtig die Tür. In wenigen Schritten stand er bei ihr, nahm schwungvoll das Barett vom hellbraunen Haar. Wild spritzten die Regentropfen durch die Luft. Der pelzverbrämte Kragen seiner Schaube glitzerte feucht, an den Enden perlten dicke Wassertropfen.

Eilig versuchte Dora das aufgeschlagene Buch vor der Nässe in Sicherheit zu bringen. Dabei fielen die getrockneten Reste einer Schafgarbendolde heraus. Vor Scham glühten ihre Wangen. Wieder zitterten ihr die Finger, als sie versuchte das bröselig gewordene Kraut zwischen die Seiten zurückzuschieben. Zu spät! Jörg hatte sowohl das Buch wie auch die Schafgarbenreste entdeckt. Seine vollen Lippen verzogen sich zu einem wissenden Grinsen. Für einen Moment verloren seine rehbraunen Augen darüber sogar den traurigen Schimmer, der ihnen eigen war und dem vollen, bartlosen Gesicht einen Anstrich von Schwermut zu verleihen pflegte.

»Schafgarbe, schöner Schafgarbentraum, hilf mir, meinen Liebsten zu schau’n«, spöttelte er. »Da hat dir unsere verrückte Renata letztens einen schönen Brauch ans Herz gelegt. Bestimmt hast du das Schicksal schon auf die Probe gestellt. Sag schon, wer ist der Glückliche?«

»Lenk nicht ab und verrate endlich, warum du mitten am Tag so kopflos in die Werkstatt gerannt kommst. Das tust du wohl kaum mit Vaters Einverständnis, sonst wärst du nicht derart abgehetzt. Also hat es doch wieder Krach gegeben.« Verzweifelt schüttelte sie den Kopf, legte ihm die Hand auf den Arm. »Mit deinem Weglaufen machst du das alles immer nur noch schlimmer.«

»Schlimmer als jetzt geht es doch schon gar nicht mehr«, erwiderte er heiser. Sein Antlitz verfinsterte sich von neuem, bis er sich wieder gefasst hatte und weitaus bestimmter erklärte: »Dir ist hoffentlich klar, dass auch du gerade gefährlich mit dem Feuer spielst. Nicht nur, dass du dich Vaters Verbot zum Trotz hier oben in der Werkstatt herumtreibst, statt dich unten in der Diele der Hausarbeit zu widmen, obendrein studierst du mal wieder heimlich das Werkmeisterbuch unseres Urahns Laurenz Selege. Dabei hat der gute Laurenz seine Lehren zur Baukunst ausschließlich für die männlichen Nachfahren verfasst. Für die weiblichen gibt es das Haushaltsbüchlein seiner Gemahlin Agnes.«

»Ich weiß schon«, winkte Dora matt ab. »Deren Braukunst sollte uns Selege-Frauen stets zum Vorbild dienen. Schließlich war ihr Bier in allen drei Städten Königsbergs hochgeschätzt. Nach ihrer Rezeptur zu brauen nährt unsere Familie bis auf den heutigen Tag, derzeit sogar weitaus besser als das Bauen. Ihr Buch aber steckt vermutlich unter deinem Kopfkissen, damit du des Nachts besser von einem erfüllten Dasein an der Sudpfanne träumen kannst.«

Nun war es an Dora, wissend zu lächeln. Jörgs heimliche Begeisterung für das Bierbrauen kannte sie nur zu gut. Er wich ihrem Blick aus, trat näher zum Tisch und tat, als betrachtete er die Entwürfe ausgiebig.

»Wie findest du den Aufriss?« Neugierig linste sie ihm über die Schulter.

»Das soll wohl die Front für das neue Haus von Gerichtsrat Jonas nahe bei der Schlosstreppe sein, oder?« Jörg beugte sich tiefer über die Zeichnung. »Die Dienstleute aus dem Schloss verstehen es wirklich, sich die besten Bauplätze zu sichern. Hoffentlich hat Vater Glück und Gerichtsrat Jonas erteilt ihm den Auftrag. Wir könnten das Geld gut gebrauchen.«

»Mehr als gut«, pflichtete Dora bei. »Jonas zahlt großzügig, und kraft seines Amtes ist er eng mit dem Herzog verbunden. Das könnte Vater helfen, weitere Aufträge zu erhalten. Im nördlichen Schlossflügel steht nach der Explosion im Gewölbe unter der Ratsstube im letzten Frühjahr ein großer Neubau an. Eigentlich wäre es an der Zeit, dabei Vater als Baumeister zu berücksichtigen. Immerhin war sein Großvater in den Bauhütten der Deutschordensleute beschäftigt. Allerdings hat er dabei weitaus mehr gewagt als Vater mit diesem Entwurf.«

»Dir juckt es wohl kräftig in den Fingern, den Aufriss im Sinne unseres Ahns zu ergänzen. Pass gut auf! Wenn Vater davon erfährt, fallen für dich Ostern und Weihnachten auf einen Tag.«

»Stimmt. Der Aufriss ließe sich leicht noch um die ein oder andere Kleinigkeit ergänzen. Doch auf meine Vorschläge hört Vater leider nicht.« Jörg nickte zustimmend. Das ermutigte sie. »Von dir würde er sich gewiss einen Vorschlag anhören.«

»Hm«, war zunächst alles, was der Bruder darauf erwiderte.

»Begreifst du nicht, worauf ich hinauswill? Es ist mehr als einfach. Ich entwerfe etwas zur weiteren Ausschmückung des Baus für Gerichtsrat Jonas, und du zeigst es Vater als deinen Entwurf. Er wird stolz auf dich sein. Für eine Weile wird er ganz bestimmt aufhören, an deinen Fähigkeiten zu zweifeln.«

Zu ihrer Enttäuschung schwieg Jörg weiter. Seine traurigen Augen blickten bekümmert, bis er sich einen Ruck gab und das Gesicht zu einem zaghaften Lächeln verzog. »Ist das dein Ernst?«

»Natürlich!« Sie bemühte sich um einen beiläufigen Ton, obwohl sie innerlich vor Aufregung lichterloh brannte. »Uns allen ist geholfen, wenn der Gerichtsrat Vater als Baumeister beauftragt.«

»Was schlägst du also als kleine Veränderung vor?« Aus Jörgs schüchternem Lächeln wurde ein siegesgewisses Schmunzeln. Auf einmal hatte er es eilig, in den Plan eingewiesen zu werden. Dora fühlte einen Stich in der Brust. Auch wenn ihr Ansinnen somit leichter umzusetzen war als zunächst befürchtet, schmerzte sie genau das. Zumindest der Form halber hätte er sich etwas mehr zieren und sich schließlich für ihre Uneigennützigkeit bedanken können.

Um sich von der Enttäuschung abzulenken, deutete sie mit dem Zeigefinger auf den mit brauner Tinte ausgeführten Entwurf. »Den Erker im ersten Geschoss würde ich nicht mittig über das Eingangstor setzen, sondern dort vorn an der südwestlichen Hausecke anbringen. Zum einen schenkt das Freiraum für einen Wimperg über dem Tor, der sich mit Fialen und Krabben reichlich schmücken lässt, zum anderen wird dadurch innerhalb des Hauses ein kleiner Saal gewonnen, der einen sehr schönen Ausblick zum Schloss hinüber gewährt. Darin kann Jonas der Würde seines Amtes entsprechend Gäste empfangen. Auch von außen wird der Erker für Aufsehen sorgen. Einem hochrangigen Schlossbediensteten steht es durchaus an, mit solch außergewöhnlichen Räumlichkeiten aufzuwarten.« Erwartungsvoll sah sie zu Jörg. Der rieb sich das runde Kinn, deutlich von der Anstrengung gezeichnet, den Ausführungen zu folgen. Sie zwang sich zu mehr Geduld, bevor sie nach einer Weile flehentlich hinzufügte: »Versteh doch, was diese winzige Änderung bewirken würde. Einerseits schmeichelt der prächtigere Entwurf dem Bauherrn, weil er Jonas’ herausgehobene Stellung bei Hofe innen wie außen am Wohnhaus sichtbar werden lässt. So macht man sich als Baumeister den Bauherrn wohlgesinnt. Andererseits erregt man als Baumeister mit einem derart schmucken Bau selbst großes Ansehen. Das beschert einem weitere Aufträge von Bürgern, die ebenso stattlich wohnen wollen.«

»Ich weiß nicht«, war alles, was Jörg dazu sagte.

Aufgebracht schnaubte Dora, sah ihn an, wartete. Als er ihr keinen weiteren Blick mehr schenkte, nahm sie das Werkmeisterbuch, ging zum zweiten Tisch an der Stirnseite der Werkstatt, blätterte in Laurenz Seleges Aufzeichnungen. Tränen standen ihr in den Augen. Wenn Jörg sie doch nur machen ließe! Der Oktavband steckte voller Anregungen für ein Gebäude wie das von Gerichtsrat Jonas. Gemeinsam könnten der Bruder und sie dem Vater zu neuen Aufträgen verhelfen und damit der gesamten Familie einen besseren Stand verschaffen. Zudem würde Jörg die lang ersehnte Achtung des Vaters gewinnen.

Behutsam strich sie über den Einband des Werkmeisterbuchs. Das braune Schweinsleder war reichlich abgegriffen, die Seitenränder wellten sich bereits deutlich nach oben, waren an manchen Stellen sogar eingerissen. Auf jeder einzelnen Seite, mittels jeder der unzähligen Zeichnungen, Erläuterungen und Berechnungen in dem Buch wurde klar, um welch außergewöhnlichen Schatz es sich handelte. Dora war sich gewiss: So eifersüchtig der Vater das Buch hütete, so wenig begriff er, was sich damit zu ihrer aller Vorteil anfangen ließe. Für ihn war es vor allem ein wertvolles Andenken an seinen Vater und seines Vaters Vater. Gedankenverloren fuhren ihre Fingerkuppen über das rauhe Papier. Deutlich spürte sie die Rillen des Reißstifts, mit denen der Blindriss eines Wimpergs gefertigt worden war. Fast hundert Jahre waren vergangen, seit Urahn Laurenz Selege die Zeichnung mit dunkelbrauner Tinte nachgefahren sowie die knappen, aber äußerst hilfreichen Anweisungen für das Anlegen eines Grund- und Aufrisses, die Konstruktion eines Gebäudes und die notwendige Beschaffenheit des Bauuntergrundes niedergeschrieben hatte. Dazwischen fanden sich immer wieder Abbildungen von Ordensburgen, Häusern, Stadt- und Wallanlagen, wie sie vor langer Zeit von den damaligen Kreuzherren errichtet worden waren. So viele Jahre seit dem Anfertigen der Aufzeichnungen vergangen waren, so wertvoll blieben sie bis in alle Ewigkeit. Wut erfasste Dora. Offenbar war sie die Einzige in der Familie, die sich dessen bewusst war.

»Lernst du das alte Zeug etwa auswendig?« Jörgs Stimme erklang dicht neben ihr. Auf leisen Sohlen musste er zu ihr gekommen sein. Sie hob den Kopf, sah, wie er mit ausgestrecktem Zeigefinger auf die Seiten wies. Seine Augen spiegelten Unverständnis. Dabei war der Wimperg mit seinem spitzen Giebel, den eine Kreuzblume krönte und den zwei Fialen rechts und links der Bogenansätze bekränzten, trotz dieser Schlichtheit in seiner Kunstfertigkeit mehr als beeindruckend. Ahn Laurenz benötigte nur eine Handvoll Zeilen, um die Berechnung der Größenverhältnisse von Portal, darüber zu errichtendem Wimperg, den Fialen und der Kreuzblume vorzuführen. Ohne weitere Umschweife ließe sich das als Anleitung auf das Haus des Gerichtsrats übertragen.

»Das stünde dir wohl weitaus besser an als mir. Dann würdest du vielleicht endlich begreifen, wie leicht du den Plan für Jonas’ Haus verbessern und wie sehr du damit Vater beeindrucken könntest.« Langsam richtete sie sich auf, stemmte die Hände in die schmalen Hüften und reckte das spitze Kinn trotzig nach oben. Für eine Frau war sie groß gewachsen. Jörg überragte sie nur wenig. Sein breites Kreuz, die kräftigen Arme und vor allem die großen Hände ließen trotz seiner vornehmen Kleidung keinen Zweifel daran, dass er schwere körperliche Arbeit gewohnt war. Leider verriet allerdings auch schon der erste Blick in seine rehbraunen Augen, wie wenig er mit schriftlichen Aufzeichnungen wie denen in dem Werkmeisterbuch anzufangen wusste. Dora pustete eine Strähne ihres welligen dunkelblonden Haares von der leicht nach oben gebogenen Nasenspitze. Ihre verschiedenfarbigen Augen ruhten auf Jörgs rundem Gesicht.

Der Anblick des blauen rechten und grünen linken Auges war ihm bestens vertraut. Geduldig hielt er ihm stand. »Du hast natürlich recht, Schwesterherz. Doch ebenso gut wie ich weißt du, wie wenig es nützen würde, wenn ich über Jahre Nacht für Nacht diese Aufzeichnungen studiere. Mein Kopf ist für diese Dinge einfach nicht geschaffen. Bis heute verstehe ich kaum, um was es im Bauwesen eigentlich geht, außer, dass fleißig Stein auf Stein gesetzt werden und am Ende ein Dach über allem errichtet werden muss.«

»Dafür verstehst du dich umso besser auf das Brauen des besten Bieres dies- und jenseits des Pregels.« Aufmunternd tätschelte sie ihm den Arm.

»Was unser Vater aber leider gar nicht hören mag.« Schwungvoll pfefferte er das Barett in die entgegengesetzte Ecke der Werkstatt. »Für ihn ist es undenkbar, dass er mir das Brauen als Aufgabe zugestehen würde, auch wenn es für uns derzeit die einzige Möglichkeit ist, sicher Geld zu verdienen. Matas und Szymon vom Tragheim sind zwei hervorragende Brauknechte. Gern würden die fest für uns arbeiten. Was könnte ich mit ihnen gemeinsam aus dem Braurecht auf unserem Haus machen! Aber Vater schenkt mir nicht einen Augenblick, meine Pläne zu erläutern. Stets haben sich nur die Frauen unserer Familie um das Brauen gekümmert, und so soll es seiner Meinung nach bis in alle Ewigkeit bleiben.«

»So, wie sich immer nur die Männer mit dem Bauwesen beschäftigen dürfen«, ergänzte Dora und beobachtete, wie er sich auch der nassen, stoffreichen Schaube entledigte und sie umständlich zusammenlegte. Suchend sah er sich nach einer Möglichkeit um, sie abzulegen. Sie deutete auf einen Schemel vor dem deckenhohen, offenen Regal an der der langen Fensterfront gegenüberliegenden Längswand. »Doch genug des Lamentierens, Bruderherz! Du bist nicht durch den Regen nach Hause gerannt, um mit mir die ewige Klage über das männliche und weibliche Erbe unserer Familie anzustimmen. Was brennt dir wirklich auf der Seele, dass du dafür riskierst, Vaters Zorn auf dich zu ziehen? Früher oder später wird er dein Fehlen auf der Baustelle bemerken, und dann bricht ein Donnerwetter los.«

»Eigentlich ist es keine große Sache«, begann er zögerlich, schaute zu Boden, kratzte mit den breiten Kuhmaulschuhen über die Holzdielen, um hastiger hinzuzufügen: »Zumindest nicht für dich, die du trotz deines Geschlechts und deiner Jugend besser mit den Geheimnissen der Baukunst vertraut bist als so manch gestandener Werkmeister. Das heißt, nein, gerade für dich wäre es eine große Sache, weil du bestimmt Feuer und Flamme wärst, wenn es dich beträfe.«

»Du sprichst in Rätseln. Um was geht es genau?«

Ihren forschenden Blick konnte Jörg nicht lange ertragen, wandte sich ab, um ins Weite der über die gesamte Hausbreite verlaufenden Werkstatt festzustellen: »Vater will mich in die Fremde schicken.«

»Was?«

»Schon nächste Woche soll ich aufbrechen.«

»Wohin genau? Und warum so eilig?« Dora legte den Oktavband zurück auf den Tisch. Unbändiger Neid erfasste sie. Jörg hatte recht, für sie wäre das eine große Sache, einmal herauszukommen aus den drei Städten Königsbergs, einmal mit eigenen Augen etwas von der weiten Welt zu sehen, vor allem von den prächtigen Bauwerken, von denen Ahn Laurenz in seinem Buch schrieb. Dicht stellte sie sich vor den Bruder und zwang ihn, sie anzuschauen.

In seinen Augen flackerte die altbekannte Unsicherheit, um seine blutleeren Lippen zuckte es verräterisch. Die ohnehin schon sehr helle Gesichtshaut schimmerte im dämmrigen Licht des Regentages weiß. Kein Zweifel, er fürchtete sich vor dem, was sie als größtes Glück empfinden würde. Bitterkeit befiel sie. Warum durfte sie nicht an seiner Stelle gehen?

»Der Herzog schickt seinen neuen Baumeister Christoff Römer zu Studien zur Marienburg und auf andere ehemalige Ordensburgen«, fuhr Jörg fort. »Vor allem die kunstvollen Gewölbe soll er studieren. Eine Gruppe junger Kunstdiener wird ihn auf einem Teil der Reise begleiten und dann die Weichsel aufwärts nach Süden reisen. Letztlich sollen sie für mindestens ein Jahr bei verschiedenen Baumeistern in Nürnberg Aufnahme finden, um dort ihr Wissen zu vervollkommnen. Frag mich bitte nicht, wie Vater es geschafft hat, aber es ist ihm gelungen, dass Römer ausgerechnet mich als einen der Kunstdiener mit auf die Reise nimmt.«

»Du? Mit all den anderen Kunstdienern um Meister Römer allein in der Fremde unterwegs? Großer Gott!« Dora biss sich auf die Lippen. Für eine Weile studierte sie die Spitzen ihrer Schlappen an den Füßen. Die aus Filz gefertigten Hausschuhe fransten an den Rändern aus, insbesondere vorn an der Kappe war der Stoff bereits reichlich fadenscheinig. Jede Bewegung ihrer Zehen schimmerte durch. Angestrengt überlegte sie, tippte mit dem Zeigefinger gegen die Lippen, als ließen sich auf diese Weise die Gedanken beschleunigen. »Es wird nicht zu schaffen sein«, erklärte sie schließlich, »selbst wenn wir fortan Tag und Nacht daran sitzen, dich besser in der Baukunst zu unterweisen. Nie und nimmer werden Römer und seine Kunstdiener dir abnehmen, du stündest kurz davor, ein echter Meister zu sein. Schon nach kurzer Zeit werden sie dir auf die Schliche kommen, wie wenig du gewohnt bist, dir aus eigenen Stücken Gedanken über das Bauwesen zu machen. Selbst die Anfertigung des einfachsten Risses gelingt dir kaum, vom Berechnen der Größenverhältnisse ganz zu schweigen, und an eigene Entwürfe ist erst recht nicht zu denken.«

»Eben hast du noch vorgeschlagen, dass wir Vater den von dir erweiterten Entwurf für Gerichtsrat Jonas als den meinen vorlegen. Ebenso gut können wir den Plan hernehmen, um auch Meister Römer und die anderen von meinem Können zu überzeugen.«

»Aber das reicht nicht! Nur zu gern mag Vater dir das abnehmen, weil er glauben will, dass du dazu fähig bist. Bei Römer und seinen Leuten sieht das anders aus. Mag sein, dass sie den Entwurf zunächst als den deinen akzeptieren. Doch vergiss nicht, über Wochen wirst du mit Meister Römer reisen, dich ein ganzes Jahr lang mit den klügsten Kunstdienern des Herzogtums in Nürnberg aufhalten. Ausgerechnet Nürnberg! Von dort kommen derzeit die besten Baumeister. Binnen kürzester Zeit werden sie herausfinden, wie dünn deine Kenntnisse sind. Anders als Vater werden sie sich eben nicht davon täuschen lassen, etwas in dir sehen zu wollen, was du nicht bist.«

Vor Entrüstung konnte sie kaum Luft holen, so heftig pochte ihr das Herz. Viel zu spät erst wurde sie gewahr, wie blass Jörg über ihren Worten geworden war.

»Ich habe es gewusst. Du lässt mich im Stich.«

»Wie soll ich dir beistehen? Vater wird mich wohl kaum mit auf die Reise schicken.«

»Ganz bestimmt nicht!«, dröhnte eine dunkle Stimme von der Tür her. Entsetzt wandten sie sich um. Wieder stand der Türflügel weit offen. Breitbeinig wie vorhin Jörg hatte sich dort nun der Vater aufgebaut. Seine Reglosigkeit wie seine Bemerkung ließen darauf schließen, dass er ihrer Unterhaltung schon seit längerem gelauscht hatte. Dora fühlte sich unbehaglich, Jörg wurde noch blasser. Vor Wut war Wenzel Seleges Antlitz dunkelrot angelaufen. Der eckige Bart um Kinn und Wangen bebte, selbst die riesige Nase schien vom zornigen Zittern erfasst. Die braunen Augen zu schmalen Schlitzen verengt, schaute er sie beide durchdringend an. Es kümmerte ihn wenig, dass sein mächtiger Körper in einer völlig durchnässten Schaube steckte und sein kantiger Schädel barhäuptig war, das spärliche Haar in sämtliche Richtungen davon abstand.

»Soll ich Euch trockene Kleidung holen, Vater?« Dora rang sich ein scheues Lächeln ab. »Ihr seid nass bis auf die Knochen.«

»Was treibt ihr hier?« Er schenkte ihr keinerlei Beachtung, sah allein Jörg an.

»Also, Ihr müsst wissen, wir, also, Dora und ich haben, wahrscheinlich versteht Ihr das jetzt …«, stammelte der Zwanzigjährige.

Wenzel Selege fuhr ihm ungeduldig über den Mund: »Genug! Schweig still!«

Wütend warf er die Tür hinter sich zu. Der laute Knall hallte im ganzen Haus wider. Zielsicher steuerte er auf den langen Arbeitstisch vor der Fensterfront zu und schob sich die Rolle mit dem Aufriss des Hauses von Gerichtsrat Jonas zurecht. Das Rascheln des Papiers erschien Dora unendlich laut. Bei all dem Lärm, den der Vater verursachte, wunderte sie sich, wie Jörg und sie sein Auftauchen völlig hatten überhören können. Sie äugte zu Jörg. Starr blickte der mit nach vorn gesackten Schultern auf den Vater, die hellen Augenbrauen hochgezogen, Gesicht und Lippen blutleer.

»Habt ihr euch etwa an meinem Entwurf zu schaffen gemacht?« Anklagend tippte Wenzel auf das Papier. Seine bernsteinfarbenen Augen funkelten böse. »Wieso seid ihr beide überhaupt um diese Zeit in der Werkstatt?« Sein Blick fiel auf Dora. Sein Gesicht verfärbte sich noch dunkler, blau und dick traten die Adern an den Schläfen hervor. »Du warst an dem Plan! Du hast etwas daran verändert. Er liegt nicht mehr so, wie ich ihn hingelegt habe.« Patsch! Die Maulschelle traf Dora auf der linken Wange. Es brannte fürchterlich. Sie schluckte die Tränen hinunter und hielt sich trotzig aufrecht. Das erzürnte den Vater noch mehr. »Habe ich dir nicht ausdrücklich verboten, in meiner Werkstatt etwas anzufassen? Du hast hier oben gar nichts zu suchen. Dein Platz ist unten in der Küche. Kümmere dich um das Bierbrauen, sieh Renata auf die Finger. Mehr kommt dir als Weib nicht zu.«

»Doch!«

»Halt dein Maul!« Wieder hob er die Hand und wollte zuschlagen.

»Nicht, Vater, bitte!« Schützend warf sich Jörg vor sie. »Ich kann Euch alles erklären. Letzten Montag habt Ihr mir den Plan gezeigt. Dabei habt Ihr Eure Sorge geäußert, dass Gerichtsrat Jonas noch immer nicht entschieden hat, ob er Euch mit dem Bau beauftragen soll. Das hat mich zum Grübeln gebracht. Seit Tagen sitze ich jede freie Minute über dem Entwurf. Verzeiht meine Kühnheit, aber vielleicht fehlt dem verehrten Jonas noch etwas? Es mag nur eine Kleinigkeit sein. Bitte schenkt mir kurz Gehör. Vielleicht kann Euch mein Einfall helfen, um Jonas zu überzeugen.«

»Was sagst du da?« Verdutzt schaute Wenzel zwischen seinen beiden ältesten Kindern hin und her. Der Ärger auf seinem Gesicht schwand langsam. Jörg reckte sich, Dora duckte sich hinter seinem Rücken fort. Bald spiegelte Wenzels Miene einen Anflug von Stolz wider. »Wusste ich es doch, mein Sohn. Eigentlich habe ich fest damit gerechnet, dass dir etwas einfällt. Lass hören!«

Er zog ihn näher zum Tisch und wies auf den Entwurf. Erstaunt verfolgte Dora das Geschehen. Sollte sie sich freuen oder vor Wut platzen? Schon beugten sich die beiden einträchtig über den Aufriss. Auf Zehenspitzen schlich sie sich zu ihnen und lauschte.

»Über dem Eingangstor wäre ein Wimperg geschickt«, begann Jörg. Fast im gleichen Wortlaut wie sie vorhin ihm erläuterte er nun dem Vater, wie sich der schlicht gehaltene Entwurf zu einem eindrucksvollen Gebäude umgestalten ließ, das dem Rang und Ansehen seines Bauherrn gerecht wurde. Geduldig hörte Wenzel zu. Dora wunderte sich immer mehr. Hatte sie sich doch in ihrem Bruder getäuscht? Tatsächlich hatte er begriffen, worauf es bei dem Bau für den Gerichtsrat ankam. Bald erfasste sie Eifersucht. Wie selbstverständlich Jörg ihre Gedanken als die seinen ausgab! Er schien völlig vergessen zu haben, wie der Entwurf zustande gekommen war. Je mehr sie der Begeisterung des Vaters gewahr wurde, je mehr verdrängte der aufkeimende Stolz auf das eigene Können allerdings wieder ihren Unmut. Ihr Plan war hervorragend. Es ging allein um die Sache, und die war sehr gut. Es war nicht wichtig, wer sie ins Rollen gebracht hatte. Am Ende zogen sie alle ihren Vorteil daraus, wenn Jonas Baumeister Wenzel Selege mit dem Bau seines neuen Hauses beauftragte.

»Ausgezeichnet, mein Sohn«, lobte der Vater, kaum dass Jörg geendet hatte, und klopfte ihm wohlwollend auf die Schulter. »Wahrscheinlich hätte ich dir schon eher freie Hand lassen sollen. Ich war einfach blind. Der Funke von unserem Ahn Laurenz ist längst auf dich übergesprungen, und ich merke das erst jetzt. Aber noch ist es nicht zu spät. Gleich nachher wirst du die Änderungen am Aufriss vornehmen. Dann werde ich morgen damit bei Jonas vorsprechen. Gewiss ist es nur eine Frage von Tagen, bis er uns den Auftrag erteilt.« Sein Zorn war verraucht. Zufrieden wandte er sich um, schaute mit einem siegesgewissen Lächeln in seiner Werkstatt umher, winkte Jörg schließlich an seine Seite. »Der Herzog schickt nächste Woche seinen neuen Baumeister Christoff Römer mitsamt einigen Kunstdienern in die Fremde«, fuhr er fort. »Mir ist es gelungen, dich in diese Gruppe aufnehmen zu lassen. Das ist eine ungeheure Ehre. Du bist noch jung und hast dir noch keinen Ruf erworben. Solltest du den hohen Ansprüchen der Herren nicht genügen, fällt das auf mich als deinen Vater und Lehrmeister zurück. Deshalb hatte ich zunächst schon überlegt, dich vielleicht erst später …«

»O Vater, nur zu gern«, warf Jörg ein. Deutlich war zu hören, wie eine zarte Hoffnung in ihm aufkeimte. »Nur zu gern verzichte ich und bleibe hier bei Euch in der Werkstatt. Es gibt noch so viel zu lernen und an meiner Kunst zu feilen. Ihr sagt es selbst oft genug: Nie ist man wirklich Meister seiner Kunst.«

»Nein, nein«, wehrte Wenzel ab, »da bringst du einen Ausspruch meines ehrwürdigen Großvaters Laurenz Selege durcheinander. Doch lassen wir das. Solche Bescheidenheit ist bei dir jetzt fehl am Platz. Deine Änderungen an Jonas’ Entwurf bestätigen mir, wie gut es war, für deine Teilnahme an der Reise zu kämpfen. Baumeister Römer wird von deinem Können höchst beeindruckt sein.«

»Aber ich kann Euch doch schlecht so lange Zeit allein lassen«, versuchte der Bruder es abermals. »Dora muss sich um das Brauen und den Haushalt kümmern, und Lienhart ist mit seinen acht Jahren noch viel zu klein, um Euch zur Hand zu gehen. Wie wollt Ihr den Bau von Jonas und weitere Aufträge …«

»Das werde ich wohl schaffen.« Entgegen seiner sonstigen Art blieb Wenzel trotz des vorlauten Zweifels an seinem Können ruhig. »Unsere drängendsten Sorgen sind bald Vergangenheit. Für deine Schwester wird sich in nächster Zeit nämlich ebenfalls Entscheidendes ändern, aus dem wir alle unseren Vorteil ziehen werden.«

Nun winkte er auch Dora zu sich und legte beiden Kindern die Arme um die Schultern. Er roch nach Schweiß und saurem Atem. Dora hielt die Luft an. Sie meinte das Trippeln der Siebenschläfer auf dem Dachboden zu hören, so angestrengt harrte sie dem, was der Vater mitzuteilen hatte.

»Eigentlich wollte ich es euch erst am Sonntag nach der Messe verkünden, aber jetzt ist wohl ein weitaus besserer Moment. Kammerrat Urban Stöckel hat um Doras Hand angehalten.«

»Was?« Entsetzt riss Dora sich los.

»Sie ist erst vor wenigen Wochen sechzehn geworden!«, warf Jörg ein und befreite sich ebenfalls aus der Umarmung.

»Damit ist sie genau im richtigen Alter.« Auf Wenzel Seleges Stirn gruben sich nun doch wieder Unmutsfalten ein. »Wir können froh sein, sie so gut unter die Haube zu bringen. Denk nur an ihre verschiedenfarbigen Augen und was manche ihr deswegen nachsagen.«

»Vater, wie könnt Ihr nur!«, empörte sich Dora, Jörg aber gebot ihr mit einer überraschend entschlossenen Handbewegung zu schweigen.

»Seit Mutters Tod führt Dora Euren Haushalt, kümmert sich um Lienhart und braut unser Bier. Wie soll das alles ohne sie weitergehen?«

»Kammerrat Stöckel ist ein wohlhabender Mann. Er kann abschätzen, was Doras Weggang für uns bedeutet. Selbstverständlich wird er dafür sorgen, dass wir keinen Nachteil davon haben. Noch dazu ist er in einem Alter, in dem er kaum länger warten kann, endlich eine Familie zu gründen.«

»Sonst ist er ein Greis und wird eher für den Großvater als für den Vater seiner Kinder gehalten«, platzte Dora dazwischen.

»Der ehrwürdige Urban Stöckel ist gerade so alt wie ich.«

»Dann gebt Ihr mir also keinen Ehemann, sondern einen zweiten Vater an die Hand! Hoffentlich ist er wenigstens etwas mitfühlender als Ihr.«

Wütend raffte sie ihren Rock und stürmte aus der Werkstatt. Kurz vor der Treppe aber stockte sie, machte noch einmal kehrt und lief zurück. Blindlings stürzte sie in der Werkstatt an den Tisch vor der Stirnseite. Mit einem Griff hatte sie, was sie suchte – Laurenz Seleges Werkmeisterbuch. Kurz äugte sie hinein, sah die getrocknete Schafgarbe zwischen den Seiten, klappte den abgegriffenen Lederband wieder zu und drückte ihn im Hinausrennen fest gegen die Brust.

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Erster Teil (1)

Königsberg

Frühjahr 1544

1

Der Tag begann verheißungsvoll. Mit einem seligen Lächeln auf den Lippen schlug Dora die Augen auf. Ein wundervoller Traum hatte ihr die Nacht versüßt. Erfüllt von der Erinnerung, streckte sie den Arm zur Seite, tastete über die Laken. »Liebster, stellt Euch vor, was mir träumte.«

Ihre Hand glitt ins Leere. Sie erschrak, setzte sich kerzengerade auf. Es war helllichter Tag! Weit waren die dicken roten Samtvorhänge an der Bettstatt zurückgezogen und gaben den Blick frei auf das großzügige Schlafgemach. Ein kühler Lufthauch zog unter den Ritzen zur Tür herein und ließ sie frösteln. Rasch raffte sie das Federbett bis zum Kinn und sah sich um. Die bunten Teppiche an den holzgetäfelten Wänden strahlten mit ihren Geschichten aus dem Alten Testament die vertraute Behaglichkeit aus. Auch der dunkle, reichgeschnitzte Schrank an der gegenüberliegenden Wandseite, den Urban einst von einer Reise aus Flandern mitgebracht hatte, wirkte heimelig. Dennoch schien Dora an diesem Morgen etwas entscheidend anders als sonst. Es musste an dem Traum liegen, der ihr Gemüt so sonderbar berührt hatte. Über den schwarz-weiß gefliesten Boden schaute sie weiter zum Fenster an der gegenüberliegenden Längswand. Die Vorhänge waren dort ebenfalls schon zurückgezogen. Stück für Stück setzte sich hinter den gitterartigen Bleirutenfenstern der tiefblaue Märzhimmel zusammen. Er verhieß einen sonnigen Frühlingstag.

Aus der benachbarten Küche drang Gepolter herüber, riss Dora aus der friedlichen Morgenstimmung. Ein irdener Krug klirrte zu Boden und zerbrach. Sofort ertönte Mathildas keifende Stimme. Urbans Base schimpfte der Ungeschicklichkeit wegen mit Elßlin. Das vierzehnjährige Bauernmädchen aus einer kleinen Lischke südlich des Haberbergs tat sich auch vier Wochen nach ihrer Ankunft schwer, mit den Gepflogenheiten eines städtischen Haushalts vertraut zu werden. Mathildas zornigen Worten folgte das Klatschen einer deftigen Maulschelle. Elßlin wimmerte. Um ihr Klagen zu übertönen, klapperte Mathilda energisch mit den Töpfen. Das klang nicht nach einem guten Anfang für die neue Woche. Dabei war der Montag ohnehin ein schwieriger Tag. Höchste Zeit, die Bettstatt zu verlassen und draußen nach dem Rechten zu sehen.

Immer noch fröstelnd, rieb sich Dora die Arme. In der Schlafstube gab es keinen Ofen. Das Bett war an die Wand zur Küche gerückt, durch die der Kamin verlief und somit das Schlafgemach mitheizte. Im Sommer bedeutete das oft schon in den frühen Morgenstunden ein Zuviel an Wärme. An einem kalten Märzmorgen wie diesem aber strahlte viel zu wenig Wärme in die Stube aus. Dora hoffte, die Sonne vor dem Fenster täuschte nicht allzu sehr und es hatte dennoch keinen Frost mehr gegeben. Am Tag der vierzig Märtyrer entschied sich das Wetter der nächsten vierzig Tage. Noch einmal schmiegte sie den Rücken gegen die Wand, wärmte sich an dem Gemäuer auf. Nach einiger Zeit streckte sie den ersten Fuß unter der Decke hervor, bewegte die Zehen, kreiste mit dem ganzen Fuß. Vorsichtig ließ sie den zweiten Fuß folgen. Das Nachtgewand aus Leinen bedeckte die Beine nur bis knapp zu den Knöcheln. Die Kälte kroch an den Oberschenkeln herauf. Schnell zog sie die Beine eng vor die Brust und schmiegte sich von neuem an die warme Kaminwand.

In der Küche war es wieder ruhig geworden. Dafür drangen plötzlich aufgebrachte Männerstimmen aus der gegenüberliegenden Wohnstube herüber. Eine davon gehörte ihrem Gemahl, die zweite kannte sie nicht. Offenbar stritten die Männer heftig. Als sie gerade versuchte Genaueres zu verstehen, ebbten sie so schnell, wie sie eben laut geworden waren, wieder ab. Dora wurde unruhig. Draußen auf dem Mühlenberg ging es ebenfalls umtriebig zu. Fuhrwerke knarrten mit ihren eisenbeschlagenen Rädern über das holprige Pflaster. Unter lautem Fluchen und Peitschenknallen trieben die Fuhrleute ihre Zugochsen an. Ziel war das herzogliche Schloss, dessen Einfahrt am Ende des Mühlenbergs Urbans Haus schräg gegenüberlag. Je länger Dora dem Treiben lauschte, je mehr wunderte sie sich, wie sie bei dem Lärm so lang hatte schlafen können. Verwundert wühlte sie die Leinentücher auf der zweiten Betthälfte durch. Längst schon hatten sie die Wärme von Urbans Leib verloren. Lediglich die Kuhle, die er mit seinem Gewicht der Matratze eingedrückt hatte, zeichnete sich noch deutlich darauf ab.

Klammheimlich musste er sich im ersten Morgengrauen erhoben und davongestohlen haben, um sie weiter ihren Träumen zu überlassen. Nicht zum ersten Mal in ihrer fast zweijährigen Ehe beschämte sie die liebevolle Rücksichtnahme des Gemahls. Sie beschloss, das Versäumnis rasch wieder wettzumachen und Mathilda vorzuschlagen, für den Abend außer der Reihe Urbans Leibgericht vorzubereiten. Die für das Wildbret nötigen Zutaten wollte sie gleich nach dem Morgenimbiss mit Elßlin auf dem Markt besorgen.

Wohlgemut schwang sie die Beine über die Bettkante, suchte mit den nackten Zehen nach den Schlappen und schlüpfte hinein. Noch im Aufrichten zog sie das Nachtgewand über den Kopf. Sobald ihr schmächtiger Leib bar allen Stoffes war, erfasste sie ein regelrechtes Zittern. Das Wasser in der bereitgestellten Schüssel war eisig. Wenige Spritzer ins Gesicht mussten genügen. Ohnehin stand morgen wieder ein ausgiebiges Bad an. Auf der reichgeschnitzten Truhe am Fußende des Bettes lag ihre Kleidung bereit. Zuerst streifte sie das frische Leinenhemd über, verschnürte es mit geübten Handgriffen vorn am Hals. Dem folgte das Kleid aus dickem rotem Tuch und schließlich der farblich abgestimmte Goller aus Samt. Sorgfältig strich sie ihn über den Schultern glatt. Besteck- und Nadeldose klirrten gegeneinander, als sie sich den ledernen Gürtel um die Hüften band. Kurz stutzte sie, tastete nach dem Schlüsselbund. Wahrscheinlich hatte sie ihn am Vorabend in ihrer Werkstatt im zweiten Obergeschoss liegenlassen. Gleich nach dem Auslöffeln der Suppe musste sie ihn holen, bevor Base Mathilda das bemerkte und über ihre Nachlässigkeit missbilligend die Stirn runzelte.

Sie stellte sich vor den Spiegel und kämmte das wellige dunkelblonde Haar. Längst störten sie ihre verschiedenfarbigen Augen kaum mehr. Anders als der Vater ihr einst eingeredet hatte, sagte ihr deretwegen niemand etwas Böses nach. Urban schätzte den besonderen Blick, den sie damit auf die Welt richtete. Die Augen standen etwas weiter auseinander als üblich, was die Eigenart noch stärker hervorhob. In wenigen Handgriffen flocht sie die Haare zu einem Zopf und steckte sie auf dem Kopf fest, bevor sie die Bundhaube aufsetzte und mit drei Klammern fixierte. Prüfend betrachtete sie ihr Antlitz, fuhr mit angefeuchteter Fingerspitze die fein geschwungenen Augenbrauen nach und kniff sich in die Wangen, um ihnen zu etwas mehr Röte zu verhelfen. Die Lippen brachte sie mit Spucke zum Glänzen. Schwungvoll tippte sie mit dem Finger gegen die leicht nach oben gebogene Nasenspitze. Fehlten nur die Sommersprossen wie bei ihrem jüngeren Bruder Lienhart.

Schon wollte sie nach draußen hasten, da verharrte sie noch einmal vor dem Fenster, das zum nahen Schlossteich hinter der nördlichen Stadtmauer zeigte. In einem Gebüsch nah vor dem Fenster reckte ein Rotschwanz sein weiß bestirntes Köpfchen in die Lüfte und trällerte ein erstes Frühlingslied. Seine gelbroten Brustfedern schimmerten, der lange Schwanz zitterte. Freudig gesellte sich ein hellbraun gefiedertes Weibchen hinzu, stimmte in seinen Gesang mit ein. Das traute Miteinander der Vögel weckte in Dora die Erinnerung an ihren Traum. Ein Unbekannter war ihr darin erschienen. Je länger sie an ihn dachte, je mehr war ihr, als hätte sie die Begegnung mit ihm tatsächlich erlebt, hätte ebenso einträchtig wie das Rotschwanzpärchen mit ihm zusammengesessen und unbefangen mit ihm gescherzt. Bei der Vorstellung, ihn nah bei sich zu haben, seinen Duft zu riechen, seine zufälligen Berührungen zu spüren, stieg brennendes Verlangen in ihr auf.

War sie von Sinnen? Jäh fuhr ihr ein Stich durch die Brust. Wie hatte sie vorhin auch nur im Entferntesten daran denken können, Urban von diesem Traum zu erzählen? Ihre Wangen begannen zu glühen. Ihren Gemahl würde es schmerzen zu erfahren, dass seine um fast dreißig Jahre jüngere Frau von einem fast ebenso viele Jahre jüngeren Fremden träumte.

Wieder trat ihr das nächtliche Bild vor Augen. Wie der Mann sie ansah, lächelte, ihr die Hände entgegenstreckte. Das Verlangen nach ihm wuchs ins Unermessliche. Am liebsten wollte sie sich auf der Stelle in seine Arme stürzen, das Gesicht an seiner Brust verbergen. Als fremd erschien er ihr nicht. Im Gegenteil. In seinem Gebaren lag etwas zutiefst Vertrautes. Vielleicht war es Urban in jungen Jahren?

Der Gedanke gefiel ihr, ließ das Prickeln in ihrer Brust stärker werden. Wie oft verstand er es, trotz seiner weißen Haare und des ernsten Gesichts Verlangen in ihr zu wecken. Die letzte Nacht fiel ihr ein, die zärtlichen Umarmungen, mit denen er sie gehalten, die sanften Berührungen, mit denen er sie gestreichelt, das behutsame Begehren, mit dem er sie Kälte und Dunkelheit der Märznacht hatte vergessen lassen. Entrückt strichen ihre Fingerkuppen über die nackte Haut ihres Halses, glitten zum Ansatz der flachen Brüste hinunter, um im nächsten Moment abrupt innezuhalten. Das Wecken des Verlangens war das eine, das Stillen der Leidenschaft das andere. Plötzlich fühlte sie sich um etwas Wesentliches betrogen. Nicht zum ersten Mal in ihrer zweijährigen Ehe hatte sie die Nacht mit Urban zunächst als sehr verheißungsvoll, zuletzt aber doch als sehr unbefriedigend erlebt. Ihr Gemahl war viel zu vorsichtig, stets darauf bedacht, ihr nicht zu viel zuzumuten. Bittere Enttäuschung machte sich in ihr breit. Er hatte ihr einfach zu viel an Leben voraus. Wie gern hätte sie ihn in jungen Jahren gekannt. Gewiss hatte es ihn einst ebenso ungestüm wie sie danach verlangt, sich im nächtlichen Ehelager die geheimsten Lüste zu befriedigen. Wie eben der Mann aus ihrem Traum. Sie atmete auf. Das Begehren nach ihm war tatsächlich das Begehren nach Urban in jungen Jahren. Deshalb wollte sie ihn leibhaftig vor sich haben, ihn überall berühren und leidenschaftlich küssen, ganz wie es ihr behagte. Gleich in der nächsten Nacht würde sie Urban das deutlich machen.

Entschlossen wandte sie sich um, trat zur Tür. Die Hand bereits auf der Klinke, hielt sie abermals inne. Wieder schwollen die aufgebrachten Männerstimmen in der Stube gegenüber an. Etwas knallte laut, dann kehrte von neuem Stille ein. Nie zuvor hatte sich Urban derart mit einem Gast aufgeführt.

Auf einmal war ihr, als blickten ihr die grünbraunen Augen des Fremden aus dem Traum einladend entgegen. Die hohe Stirn leicht gerunzelt, die Kerbe am Kinn scharf gezeichnet, wirkte sein Gesicht sehr interessant. Dunkles, kurzgeschnittenes Haar umrahmte den breiten, kantigen Kopf. Seine Figur war stattlich, prächtig, aber nicht zu auffällig in dunkle, teure Stoffe gekleidet. Weit breitete er die Arme aus, die Handflächen nach oben gerichtet, als wollte er sie abermals ermuntern, sich ihm entgegenzuwerfen, um dem seltsamen Streit in der Wohnstube zu entfliehen. Etwas aber hielt sie zurück. Eiskalt lief es ihr plötzlich den Rücken hinab – Urbans Augen waren blau!

Erschüttert schlug sie die Hand vor den Mund. Sie musste einer Täuschung aufgesessen sein. Was kümmerte sie sich überhaupt um die Augenfarbe eines Traumgespinstes? Abkühlung für ihr erhitztes Gemüt suchend, presste sie die Stirn gegen die weißgetünchte Kalkwand neben dem Türpfosten.

Ein dumpfes Glucksen entstieg ihrem Innersten, brach sich in einem albernen Lachen Bahn. Natürlich war sie selbst schuld an der Verwirrung. Warum glaubte sie immer noch an diesen törichten Zauber? In wenigen Schritten stand sie neben dem breiten Ehebett und hob das Kissen hoch. Genau so, wie sie sie vor dem Einschlafen hingelegt hatte, lag die Schafgarbe noch da. Behutsam nahm sie sie mit beiden Händen auf und presste sie gegen das Gesicht. Das war die Pflanze für alle am Theobaldtag Geborenen, so wie sie. Als die getrocknete Dolde ihre Wange berührte, stieg ihr die Erinnerung an den krautigen, leicht bitteren, aber dennoch sehr angenehmen Geruch in die Nase, den die unzähligen kleinen Blüten im Sommer verströmten. Den ganzen Winter über hatte der Stengel zwischen den Seiten des Werkmeisterbuches ihres Ahns gelegen, dabei nicht nur an Geruch, sondern auch an Farbe eingebüßt. Von dem frischen Grün des Sommers war nur ein schaler Abglanz übrig. Die Nacht unter dem Kopfkissen hatte den Stiel, die gefiederten Blätter und die weißen Dolden endgültig zerdrückt.

Renata, die Magd im Haus ihres Vaters, die ihr die viel zu früh verstorbene Mutter ersetzte, hatte ihr vor vielen Jahren eine getrocknete Dolde geschenkt und ihr von dem Brauch erzählt, mittels Schafgarbe die wahre Liebe zu finden. Wer einen Stengel davon vom Grab eines Jünglings pflücke und sich unter das Kopfkissen lege, träume des Nachts von seinem Liebsten. Lange Zeit hatte Dora nicht gewagt, die Probe zu machen. Letzte Nacht aber hatte sie es trotz zweier überraschend glücklicher Jahre an Urbans Seite wissen wollen, ob sie mit dem richtigen Mann verheiratet war. Vor Scham über die eigene Unvernunft röteten sich ihre Wangen abermals.

Was aber war schon dabei? Sie hatte einfach wissen wollen, ob es wirklich Liebe war, die sie an den ehrwürdigen Kammerrat band, oder ob es sich nur um die Macht der Gewohnheit handelte, die sie gelehrt hatte, den Mann, der vom Alter her ihr Vater sein konnte, als den Richtigen zu empfinden. Womöglich wartete draußen in der Welt noch ein anderer, ihr vom Alter weitaus näher stehender Mann auf sie. Vergangene Nacht, als Urban mit seinen kundigen Berührungen wieder einmal erst die größte Leidenschaft in ihr entfacht, kurz vor dem Ziel aber zu ihrer Enttäuschung mit einem tiefen Seufzen von ihr abgelassen und sie mit ihrer ungestillten Lust allein gelassen hatte, war der alte Zweifel in ihr wieder hochgekocht. Nie kamen Urban und sie einander nah genug, um ganz in ihrer Liebe zu versinken. Was oder vielmehr wer stand zwischen ihnen? Um das herauszufinden, war sie heimlich aus dem Bett geschlüpft, nach oben in die Werkstatt geschlichen, um die getrocknete Schafgarbe aus dem Buch zu nehmen und sie kurz darauf unter ihr Kissen zu legen. Zur Verstärkung hatte sie eindringlich noch die Verse »Gute Nacht, schöne Schafgarbe,/Dreimal Gut’ Nacht für dich,/Ich hoffe, noch vor dem Morgengraun/Werd ich meinen Liebsten schau’n« leise aufgesagt.

Wieder hob sie den zerdrückten Pflanzenstengel an die Nase, schnupperte daran. Entschlossen trat sie zum Fenster, öffnete es und schleuderte die Schafgarbenreste schwungvoll hinaus. Das Rotschwanzpärchen begleitete ihr Tun mit einem freudigen Gesang. Verschämt schneuzte sie sich die Nase in die langen Enden ihrer Ärmel, strich sich das Haar unter die Haube und zupfte den Umhang zurecht. Hocherhobenen Hauptes verließ sie das Schlafgemach und ging in die gegenüberliegende Wohnstube, um ihren Pflichten als Frau des Hauses nachzukommen und den fremden Gast bei ihrem Gemahl willkommen zu heißen.

2

Sobald Dora die Tür öffnete, verstummten Urban und sein hochgewachsener, in fahles veilchenblaues Tuch gekleideter Besuch auf einen Schlag. Wie von Sinnen starrte sie der Unbekannte für einen kurzen Moment an, dabei spiegelten seine Augen blankes Entsetzen wider. Schnell aber gewann er seine Fassung zurück und nickte ihr grüßend zu. Ehe sie ihn standesgemäß willkommen heißen konnte, setzte er das Barett auf das kinnlange kupferbraune Haar und stürmte hinaus. Erstaunt sah Dora ihm nach. Gerade als sie sich bei Urban erkundigen wollte, wer der unfreundliche, ihr gegenüber auffallend wortkarge Besucher gewesen war, kam ihr Gemahl mit einem betont freudigen Lächeln um die leicht nach unten gezogenen Mundwinkel auf sie zu. »Gott zum Gruße, mein Augenstern.« Die Arme weit ausgestreckt, machte er Anstalten, sie herzlich zu umarmen.

Dora stutzte. Für einen Augenblick verwischten sich Traum und Wirklichkeit, schob sich die nächtliche Traumgestalt an Urbans Stelle. Je näher er ihr jedoch kam, je mehr verblasste die Erinnerung. Die Gesichtszüge wurden hagerer, die Bewegungen überlegter. Kein Zweifel, vor ihr stand ein fast fünfzigjähriger weißhaariger Mann und nicht der Mittzwanziger von letzter Nacht. Ihr seit zwei Jahren angetrauter Gemahl Urban Stöckel, einstmals stolzer Herr des Deutschen Ordens, seit bald zwanzig Jahren herzoglicher Kammerrat, betonte mit jeder einzelnen Regung seine strenge Selbstbeherrschung. Schwerer denn je fiel es Dora, sich auszumalen, dass er als Fünfundzwanzigjähriger jemals leidenschaftlich aufgetreten wäre.

»Wer war dieser Mann, und was wollte er von Euch? Es hörte sich an, als hättet Ihr heftig miteinander gestritten«, erkundigte sie sich. Der Besucher interessierte sie zwar eigentlich kaum, bot aber eine gute Möglichkeit, ihre Verwirrung zu überspielen. Unauffällig glitt ihr Blick über Urbans Gestalt. Viel eher interessierte sie nach wie vor, ob das Traumgespinst von letzter Nacht nicht vielleicht doch die fast drei Jahrzehnte jüngere Version ihres Gemahls darstellen konnte. Dagegen sprach allerdings schon die Größe. Urban überragte sie um kaum eine Handbreit, um dem Mann im Traum in die Augen sehen zu können, hatte sie den Kopf heben müssen. Zu früh gebeugt hatte Urban das Leben jedoch keinesfalls. Trotz seines Alters und der ermüdenden Schreibstubentätigkeit im Schloss besaß er noch immer eine tadellos aufrechte Haltung. Genauso wenig hatten die Jahre seiner stattlichen Statur geschadet. Auf dem kantigen Gesicht zeigten sich erst wenige Falten, die lange Nase teilte es in zwei gleiche Hälften. Die Lippen waren gerade, das Kinn leicht spitz geformt, was den Hals umso länger erscheinen ließ. Dora meinte sich an eine Kerbe am Kinn des Traumgespinstes zu erinnern, ebenso schien ihr dessen Gesicht eckiger, die Nase kürzer, dafür breiter und die Stirn höher gewesen zu sein. Das aber waren nur flüchtige Eindrücke. Die offenkundige Übereinstimmung in Kleidung und Gebaren der beiden Männer machte sie rasch mehr als wett. Wie üblich steckte Urbans schlanker Leib in einem Faltrock aus dunklem, glänzendem Atlas, der an den Rändern mit helleren Streifen sowie an Revers und Kragen mit Stickereien aus Goldfäden abgesetzt war. Die Kniehose war vom gleichen Stoff, in den Falten und am Bund zusätzlich mit schwarzem Samt verziert. Goldknöpfe setzten glänzende Akzente, ebenso die breiten Kuhmaulschuhe an den großen Füßen. Jeden Abend hatte die Magd das in breiten Längsstreifen gearbeitete Leder auf Hochglanz zu polieren.

Urbans blassblaue Augen huschten einen Moment unruhig umher, sein Lächeln wirkte gequält. Dann aber rang er sich zu einem Schmunzeln durch. »Das war der neue Hausvogt bei Hofe. Gewiss wird er sich Euch bei Gelegenheit noch gebührend vorstellen, bislang aber fehlt ihm dazu die Zeit. Das sollte Euch jedoch nicht weiter kümmern, mein Augenstern. Ich war vorhin bereits in der Rentkammer. Am Nachmittag werde ich zum Oberteich reiten, um die Bauarbeiten an der Mühle zu besichtigen. Seit Schnee und Eis getaut sind, geht es mit der neuen Scheune in großen Schritten voran. Das prächtige Wetter am heutigen Märtyrertag verheißt auch für die nächsten Wochen nichts anderes. Höchste Zeit, den fleißigen Zimmerern einmal wieder auf die Finger zu schauen, damit sie auch das Richtige tun. Und Ihr, mein Augenstern? Habt Ihr wohl geruht? Selige Träume müssen Euch erfreut haben, wie mir Euer schönes Antlitz verriet. Deshalb wollte ich Euren Schlaf nicht stören und habe mich im Morgengrauen leise davongestohlen.«

»Zu gütig von Euch.« Dora spürte von neuem Röte in ihr Gesicht schießen.

»Ist Euch nicht wohl?« Behutsam legte Urban ihr seine große, erstaunlich fleischige Hand an die Wange, neigte sich nah zu ihr vor. Eine Strähne seines dichten, sorgfältig auf Kinnlänge gestutzten Haarschopfs streifte ihr Kinn. Der zarte Veilchenduft seiner Seife wehte ihr entgegen.

»Nein, nein, es ist nur die Ofenhitze, die mir zu Kopf steigt. Elßlin hat wohl zu kräftig eingeheizt.«

Wie zur Bestätigung knisterte das Feuerholz im mannshohen Kachelofen. Die Luft in der Stube war staubtrocken.

»Nehmt Platz, mein Augenstern, und trinkt einen Schluck Bier. Das wird Euch guttun.«

Er führte sie zu einem Stuhl, der über Eck zu seinem eigenen am Kopfende der Tafel stand, und blieb neben ihr stehen. Seine Fürsorglichkeit war rührend, nährte zugleich jedoch ihr schlechtes Gewissen. Um Urban nicht ansehen zu müssen, betrachtete sie prüfend den Tisch. Wie üblich war die Tafel für drei gedeckt. Mathilda, Urbans Base dritten Grades, pflegte die Mahlzeiten mit ihnen gemeinsam einzunehmen. Dora verkniff sich, nach ihrem Verbleib zu fragen. Ihre Anwesenheit hätte sie nur weiter verwirrt. Gewiss sah Mathilda ihr das schlechte Gewissen bereits an der Nasenspitze an.

Zwischen Bechern und Tellern stand eine dampfende Schüssel mit Suppe bereit, daneben fanden sich weitere zum Teil schon auf-, zum Teil noch zugedeckte Schüsseln mit Lachs und Neunauge, Salzfisch und Gemüse sowie Platten mit reichlich Brot und Käse. Zu Hause befolgte Urban die gleiche Essensfolge wie auf dem Schloss. Montags, mittwochs und freitags waren das vor allem Fischgerichte. Lediglich auf den Wein verzichtete er, wenn er nicht mit seinesgleichen in der Rentkammer speiste. In seinem eigenen Heim bevorzugte er das Bier aus dem Haus seines Schwähers, dessen Brauen nach wie vor Dora zu beaufsichtigen hatte.

»Oh, Ihr seid endlich wach?« Nahezu geräuschlos tauchte Mathilda neben ihr auf und stellte eine Schüssel mit eingelegten Heringen auf den Tisch. Geschäftig rückte sie an der Platte mit Brot, schob den Käse beiseite und zupfte am Tischtuch. Dann erst sah sie Dora mit einem süßlichen Lächeln auf dem ebenmäßigen Gesicht an. »Ich habe mir schon große Sorgen gemacht, ob Ihr unpässlich seid, meine Liebe. Bei einer jungen Frau wie Euch sollte man stets damit rechnen.«

Während ihrer letzten Worte drehte sie sich halb zu Urban um. Der Vetter schenkte ihrer Bemerkung keinerlei Beachtung, was Mathilda wiederum einen leisen Seufzer entlockte. Dora ahnte, was hinter der hohen Stirn der Base vorging, und behielt sie genau im Blick.

Wie stets war Mathilda trotz ihrer Tätigkeit in der Küche aufs sorgfältigste gekleidet. Jede Falte an dem dunkelblauen Goller und dem ebenfalls dunkelblauen Rock saß, wie sie sollte. Die weiße Schürze legte sich fleckenlos darüber. Das sanfte Klirren ihres eigenen Schlüsselbundes an Mathildas Gürtel machte Dora stutzig. Mathilda musste ihr Erstaunen sofort gespürt haben und löste den Schlüsselbund sogleich, um ihn ihr zu reichen. »Fast hätte ich vergessen, Euch die Schlüssel zurückzugeben. Es schien mir ratsam, sie an mich zu nehmen, um Eurem Gemahl pünktlich das Essen zu richten. Ihr schlieft so fest und friedlich, dass ich gar nicht erst wagte, Euch zu stören. Das Kochen sollte mir schließlich auch ohne Euch gelingen. Die Schlüssel lagen übrigens auf der Truhe unten in der Diele.«

Dora meinte ein triumphierendes Flackern in Mathildas grünen Augen zu erspähen. Ehe sie sich dessen vergewissern konnte, war es bereits wieder erloschen. Dennoch verweilte ihr Blick auf dem glatten Gesicht mit den hohen Wangenknochen und der schlanken, langen Nase. Die mittlerweile zweiunddreißig Lebensjahre waren Mathilda kaum anzumerken. Exakt bis zum Haaransatz bedeckte die weiße Bundhaube ihr wohlgeformtes Haupt. Die bogenförmig gezupften Augenbrauen verrieten ein wenig von dem Blond, das der Haarschopf darunter besitzen musste. Den Rücken kerzengerade aufgerichtet, machte die Base Anstalten, sich auf ihren angestammten Platz an Urbans rechter Seite, Dora gegenüber, hinzusetzen.

»Habt Dank für Euer umsichtiges Verhalten«, brach Urban das Schweigen. »Wie immer wissen wir Eure Mühe um unser Wohl sehr zu schätzen. Darf ich Euch bitten, mir für den Nachmittag Schaube und Barett zu richten? Gleich nachher breche ich zu einem Ritt an die Mühlen hinter dem Schlossteich auf.«

»Wie Ihr wünscht«, erwiderte Mathilda und erhob sich wieder von ihrem Stuhl. Am leichten Kräuseln der Stirn erkannte Dora, wie sehr ihr Urbans Bitte missfiel. Wohlweislich verzichtete sie jedoch darauf, sich das anmerken zu lassen, und verließ die Stube.

»Wann seid Ihr heute Abend zurück?«, fragte Dora, sobald sich die Tür wieder geschlossen hatte.

»Ich hoffe, nicht zu spät, damit wir beide noch etwas vom Abend haben.« Urban zwinkerte ihr zu, füllte ihr eigenhändig den Becher mit Bier und reichte ihn ihr. »Ihr seht verwirrt aus, mein Augenstern. Hängt das mit Eurem Traum zusammen? Erzählt mir davon. Vielleicht verschafft Euch das Erleichterung.« Langsam ging er zu seinem Stuhl, schob ihn umständlich zurecht, bevor er sich niederließ und nach ihrer linken Hand griff. Sanft, aber bestimmt drückte er sie. Sie schürzte die Lippen. »Verzeiht, wie töricht von mir. Es geziemt sich nicht, jemanden nach seinen Träumen zu fragen. Ein Gemahl sollte sich hüten, in die Geheimnisse seiner Gattin einzudringen. Was wäre die Liebe ohne ihre kleinen Geheimnisse, insbesondere bei einer so zauberhaften jungen Gemahlin wie Euch?«

Mit einem wissenden Schmunzeln um die Lippen zog er seine Hand zurück. Dora nutzte die Gelegenheit, nach dem Brot zu greifen und sich ein Stück davon abzubrechen.

»Gewiss geht Ihr gleich nach oben in Eure Werkstatt und setzt Eure Arbeit an dem neuen Aufriss fort.« Urban verfiel in belanglosen Plauderton, brach sich ebenfalls ein Stück Brot, schnitt ein Stück von dem würzigen Käse ab und schob sich beides abwechselnd in den Mund. Genüsslich kauend fuhr er fort: »Um die Mittagsstunde habt Ihr an Eurem Tisch bestes Licht.«

»Das hat noch Zeit«, erwiderte Dora und aß ebenfalls von dem Brot.

»Aber nein!« Urban legte Brot und Käse beiseite. »Arbeitet unbedingt an den Zeichnungen weiter. Euer Entwurf für unser neues Haus muss rasch fertig werden. Deshalb habe ich Euch doch die Werkstatt eingerichtet. Wenn der Herzog Wort hält und mir das Grundstück in der Junkergasse noch dieses Frühjahr zuteilt, beginnen wir sofort mit dem Bau. In wenigen Monaten schon werden wir das Anwesen beziehen. Das wird ein prächtiges Haus! Jeder wird ihm ansehen, welche Stellung ich bei Hofe bekleide. Ach, wie freue ich mich darauf.«

Mit jedem Wort war seine Stimme lauter geworden. Sein sonst so ernstes Gesicht bekam einen schwärmerischen Ausdruck, die blassblauen Augen leuchteten. Kaum hielt es ihn ruhig auf seinem Stuhl. Dora stutzte. Zu welchen Gefühlswallungen er fähig war, wenn er einmal seine Besonnenheit vergaß! Seltsam nur, dass es anlässlich des Bauvorhabens in der Junkergasse geschah und nicht bei ihrem Anblick zu später Stunde im ehelichen Schlafgemach. Dabei wartete er seit Jahren auf die Zuteilung des Grundstücks, während er das nächtliche Zusammensein mit ihr erst seit zwei Jahren genoss.

»Noch ist nichts begonnen, geschweige denn überhaupt entschieden«, versuchte sie seinem Übermut Einhalt zu gebieten.

»Warum so verhalten, mein Augenstern? Das klingt fast, als ängstigte Euch auf einmal die Vorstellung, Euren Entwurf in die Tat umgesetzt zu sehen. Seid nicht so bescheiden. Er ist großartig! Niemand in allen drei Städten Königsbergs wird ein vergleichbares Haus besitzen. Es beweist meinen hohen Rang bei Hofe und meine herausragende Stellung in der Stadt. Zugleich aber stößt es nicht durch übertriebenen Schmuck ab. Allein, wie es Euch gelungen ist, die Fassade durch einfache, aber eindrucksvolle Fensterreihen zu gestalten, ist beachtlich. Ganz zu schweigen von dem prächtigen Wimperg über dem Eingang. Auch die Anlage eines Erkers als Erweiterung des Saales im ersten Geschoss ist ein trefflicher Einfall, ebenso der wundervolle Stufengiebel mit den Steinfiguren. Ganz zu schweigen von dem Eindruck, den man gleich beim Betreten der Diele haben wird. Die Gewölbe werden vielversprechend sein. Fast könnte man meinen, Ihr hättet die Marienburg gesehen und Euch an deren Vorbild gehalten. Eure Leistung erfüllt mich mit großem Stolz. Von Anfang an habe ich an Euer Können geglaubt. Eure Begabung verdient höchste Anerkennung. Dafür werde ich sorgen, mein Augenstern, verlasst Euch darauf.« Ergriffen hielt er inne. Nach einer Weile beugte er sich zu ihr hinunter und hauchte ihr einen Kuss aufs Haupt. Mahnend hob er zugleich den Zeigefinger. »Meine Tätigkeit als herzoglicher Kammerrat zeigt mir die Arbeit der besten Baumeister im Land. Wer, wenn nicht ich, kann die Spreu vom Weizen trennen?«

»Ich bin keine richtige Baumeisterin.« Dora wusste nicht so recht, was sie sagen sollte. Die Leidenschaft, mit der er ihre Fähigkeiten pries, schmeichelte ihr. Wieder schob sich ihr das Traumbild vor Augen. Ein jüngerer Urban hatte gewiss noch zu anderen Gelegenheiten seine Begeisterungsfähigkeit bewiesen.

»Das hat Euch Euer Vater eingeredet, nicht wahr?« Behutsam fasste Urban unter ihr Kinn, zwang sie, zu ihm aufzusehen. »Euer Vater scheint mir allerdings kaum der Richtige, Euch und Eure Fähigkeiten richtig einzuschätzen. Ich habe selten jemanden getroffen, dem es derart schwerfällt, seinen Kindern ihre besonderen Gaben zuzugestehen. Das hat uns die Sache mit dem Haus für Gerichtsrat Jonas vor zwei Jahren bestens gezeigt. Euer Bruder hatte einen sehr eindrucksvollen Entwurf vorgelegt. Den hätte Euer Vater einfach nur umsetzen müssen. Doch nicht einmal das ist ihm gelungen. Immer wieder meinte er es doch besser zu können als sein Sohn und hat es am Ende ganz verpfuscht. Falls es ihm zuwider war, nach fremden Vorgaben zu arbeiten, weil ein Baumeister am liebsten seine eigenen Vorstellungen umsetzt, hätte er Euch den Bau überlassen sollen. Ihr hättet es mit Leichtigkeit zu Jonas’ Zufriedenheit fertiggebracht, so gut hat Euch Euer Bruder in das Vorhaben eingeweiht. Fast hätte man meinen können, der Entwurf stammte von Euch. Mühelos konntet Ihr die Feinheiten daran erklären.«

Dora erblasste. Wusste er etwa über die wahre Entstehung des Entwurfs Bescheid? Zum Glück übersah Urban ihre Bestürzung und ereiferte sich weiter über Wenzel. »Undenkbar, Euren Vater danach noch für Bauvorhaben am Schloss auch nur in Erwägung zu ziehen. Doch was halte ich mich lange mit ihm auf? Schon allein sein Rat, ich solle Euren verschiedenfarbigen Augen keine besondere Bedeutung beimessen, erklärt sein völliges Unverständnis. Als wäre mir je in den Sinn gekommen, diese Eigenheit als böses Zeichen zu deuten! Gerade Eure ungewöhnlichen Augen sind ein Hinweis, was Gott, der Allmächtige, mit Euch im Sinn hat – Euch auszuzeichnen vor allen anderen mit einer ganz besonderen Gabe. Wer solche Augen hat, mein Augenstern, der besitzt einen Blick auf die Welt, wie ihn kein Zweiter hat. Um das zu erkennen, muss man in seiner Einschätzung für andere jedoch stets offen bleiben und in der frohen Erwartung leben, eines Tages den besonderen Sinn hinter ihren Eigenarten zu verstehen. Euer Vater aber hat all die Jahre versäumt, sich Eurer Begabung bewusst zu werden und sie zu fördern. Und warum? Nur weil er Euch nach dem Tod Eurer Mutter für den Haushalt gebraucht hat. Dabei liegt es auf der Hand, woher Eure ungewöhnlichen Fähigkeiten stammen. Euer Ahn Laurenz Selege ist einer der wenigen Baumeister auf den Ordensburgen, dessen Schaffen bis auf den heutigen Tag namentlich überliefert ist. Das haben wir auch seinen vortrefflichen Aufzeichnungen zu verdanken. Wenigstens hat mir Euer Vater das Werkmeisterbuch überlassen. Mit dessen Hilfe werdet Ihr Eure Kunst weiter verfeinern.«

»Dafür hättet Ihr ihm aber nicht die ungeheure Summe von fünfzig Mark zahlen dürfen.« Dora nutzte die Empörung, sich aus seiner Hand zu befreien und auf etwas mehr Abstand zu gehen. »Das ist nahezu der Jahreslohn eines Schreibers aus der Rentkammer.«

»Ihr wisst, wie dringend Euer Vater das Geld braucht. Verstünde er sich besser auf die Baukunst, täte er sich leichter, es auf dem üblichen Weg zu verdienen.« Leise seufzte Urban, richtete sich wieder zu seiner vollen Größe auf und verschränkte die Hände hinter dem Rücken. »Glaubt mir, mein Augenstern, nichts auf der Welt ist mir je zu teuer für Euch! Da ich weiß, wie viel Euch das Buch bedeutet, bin ich jederzeit wieder bereit, eine so hohe Summe dafür zu zahlen. Wenn es sein muss, würde ich dafür alles hergeben, was ich besitze. Euch glücklich zu sehen gilt mein ganzes Trachten.«

Sein Ton wurde weich, seine Gesichtszüge entspannten sich. Umständlich kniete er vor ihr nieder, nahm ihre Hand in die seine und überdeckte sie mit Küssen.