Die Liebe des Lavendelfürsten - Angelique Fleury - E-Book

Die Liebe des Lavendelfürsten E-Book

Angelique Fleury

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Beschreibung

Die Schäferin Aimee lebt ein einfaches und beschauliches Leben im mittelalterlichen Südfrankreich. Das ändert sich, als eines Tages Reiter auftauchen und sie ins Schloss ihres Lehensherrn holen. Der Comte de Berieux bittet sie, seine Frau zu retten, die in den Wehen liegt und bei der Geburt ihres Kindes zu sterben droht. Sie erfüllt seinen Wunsch, doch wenig später muss sie nicht nur feststellen, dass das Neugeborene in Gefahr ist, auch der Graf scheint sich in sie verliebt zu haben. Seine Gefühle zu erwidern ist gefährlich – darf sie seinem Verlangen nachgeben? Und wie kann sie die kleine Grafentochter schützen? Ein historischer Liebesroman vor der üppigen Kulisse südfranzösischer Lavendelfelder! ACHTUNG! Dieser Roman erschien bereits unter dem Titel "Fesseln des Herzens" unter dem Pseudonym "Allison Farrell". Allison Farrell ist das Pseudonym von Corina Bomann. Die Autorin hat ihre Rechte zurückbekommen und veröffentlicht dieses Werk unter neuem Titel und neuem Namen erneut.

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Seitenzahl: 507

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Angelique Fleury

Die Liebe des Lavendelfürsten

Impressum

Originalausgabe 2018

© 2018 Corina Bomann, Potsdam

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung der Autorin wiedergegeben und verbreitet werden.

Covergestaltung: Corina Bomann unter Verwendung eines Fotos von Khomenko Maryna (www.shutterstrock.com)

Das Buch erschien bereits unter dem Titel »Fesseln des Herzens« im Knaur-Verlag. Diese Ausgabe ist vergriffen und wird nicht mehr herausgegeben. Die Rechte gingen an die Autorin zurück.

Die Autorin

Angelique Fleury ist das Pseudonym der Bestseller-Autorin Corina Bomann. Unter diesem Namen veröffentlicht und wiederveröffentlicht sie historische Liebesromane, die vorrangig im Mittelalter spielen. Die 1974 geborene Schriftstellerin lebt in Berlin.

Der Roman

Der Graf folgte ihr, schließlich umfingen seine Arme vorsichtig ihren Körper.

»Gib acht, dass du nicht hinunterfällst«, sagte er, wobei sein Atem kurz ihren Nacken streifte.

Augenblicklich versteifte sich ihr Körper. Das ist es also, ging es ihr durch den Sinn. Er ist nicht gekommen, um mir die Schönheit der Nacht zu zeigen. Gleichzeitig durchzog sie ein Wonneschauer. Daran musste der Wein schuld sein.

»Ich glaube nicht, dass ich derart unsicher auf den Beinen bin, dass ich fallen könnte«, erwiderte sie, aber ihre Stimme klang nicht so abweisend, wie sie es eigentlich sollte.

»Das habe ich auch nicht angenommen. Aber man kann nie wissen, aus welcher Richtung der Wind kommt. Ich möchte auf keinen Fall, dass dir etwas zustößt.«

Deutlich spürte Aimee das Begehren des Mannes vor ihr und sie war vollkommen allein mit ihm. Niemand würde es wagen, hier hinaufzusteigen. Und wenn sie vor Lust aufschrien, würde man es für den Ruf von Nachtvögeln halten.

Die Schäferin Aimee lebt ein einfaches und beschauliches Leben im mittelalterlichen Südfrankreich. Das ändert sich, als eines Tages Reiter auftauchen und sie ins Schloss ihres Lehensherrn holen. Der Comte de Berieux bittet sie, seine Frau zu retten, die in den Wehen liegt und bei der Geburt ihres Kindes zu sterben droht. Sie erfüllt seinen Wunsch, doch wenig später muss sie nicht nur feststellen, dass das Neugeborene in Gefahr ist, auch der Graf scheint sich in sie verliebt zu haben. Seine Gefühle zu erwidern ist gefährlich – darf sie seinem Verlangen nachgeben? Und wie kann sie die kleine Grafentochter schützen?

Ein historischer Liebesroman vor der üppigen Kulisse südfranzösischer Lavendelfelder!

1. Kapitel

 

 

Sommer 1286

 

Wehmütig blickte Nicole de Boisy aus dem Fenster der Kutsche. Der Wind zerrte an den langen schwarzen Haarsträhnen, die unter ihrem Schleier hervorschauten und wie duftige Bänder im Wind flatterten. Ihr Gesicht war blass wie eine Lilienblüte und ihre Augen waren so dunkel wie die feuchte Erde, die auf den Äckern zwischen den Pflanzen schimmerte.

Nach Wochen des Regens, der nicht nur der Ernte der Bauern, sondern auch den Gemütern der Menschen heftig zugesetzt hatte, schien nun endlich wieder die Sonne. Ein herrlicher Duft nach Heu, Lavendel und reifen Früchten hing in der Luft. Vereinzelte Federwolken schmückten das tiefe Blau des Himmels, das mit den strahlend grünen und weizengelben Feldern wetteiferte.

Doch Nicole bemerkte die Schönheit der Natur nicht. In diesem Augenblick wünschte sie sich nur, mit den Vögeln fliegen zu können, die der donnernde Hufschlag der Pferde aus den Bäumen scheuchte. Aber das war unmöglich.

Sie befand sich auf dem Weg zu ihrem zukünftigen Gemahl, dem Comte de Berieux, einem Mann, den sie nur von einer Abbildung auf einer Holztafel kannte. Sein Reich lag etliche Meilen von ihrer Heimat entfernt. Bevor sie herkam, hatte sie kaum etwas darüber gewusst. Ihr Vater hatte ihr berichtet, dass die Grafschaft weite Felder bestellte, um kostbares Lavendelwasser zu gewinnen. Das kräftige Violett der Pflanzen sollte über Meilen zu sehen sein und der Duft sollte so berauschend sein wie eine Sommernacht.

Nicole hatte ihm nicht geglaubt. Ein gottverlassener Ort – das war das Erste, was ihr in den Sinn gekommen war, als ihr Vater sie vor einigen Wochen unterrichtet hatte, dass ihre Ehe mit dem Grafen arrangiert worden sei. Als sie erfuhr, wie alt ihr Gatte war, hatte sich wilder Zorn in ihr zusammengeballt.

Achtunddreißig Lenze! Das waren mehr als doppelt so viele, wie sie selbst zählte.

Trotz allem blieb ihr nichts anderes übrig, als sich dem Beschluss ihres Vaters zu fügen. Mit ihren achtzehn Jahren war sie beinahe eine alte Jungfer, außerdem konnte sie als letzte Tochter des Comte de Boisy froh darüber sein, nicht ins Kloster geschickt zu werden, wie es anderen jungen Frauen in ihrer Situation erging.

Seufzend lehnte sie sich auf dem harten Sitz zurück, den selbst die flauschigen Felle und dick mit Daunen gestopften Kissen, die sie mitgenommen hatte, nicht bequemer machten. Die Wege durch die Grafschaft Berieux waren völlig zerfahren. Nicole wusste nicht, ob ihr in diesem Augenblick mehr das Gesäß von der Kutsche oder ihre Seele vor Heimweh schmerzte.

»Ist Euch nicht wohl, Madame?«, fragte Celeste, ihre Kammerfrau, die ihr bereits seit Kindertagen diente.

Das Mädchen war kaum älter als sie, hatte rotbraunes Haar und Sommersprossen auf dem gesamten Gesicht. Ständig hatte sie ein Auge auf ihre Schutzbefohlene und bemerkte selbst kleinste Veränderungen in ihrem Gemüt. Wahrscheinlich, weil sie von allen am häufigsten Nicoles Launen ausgesetzt war.

Als die Grafentochter von der bevorstehenden Hochzeit erfahren hatte, hatte sie einen Tobsuchtsanfall bekommen und mehrere Gegenstände nach ihr geworfen. Die Narbe, die eine der Haarbürsten an Celestes Stirn hinterlassen hatte, war noch immer zu sehen. Dennoch versuchte sie, es ihrer Herrin in allen Dingen so recht wie möglich zu machen.

»Wie soll mir wohl sein?«, fuhr Nicole sie an. »Immerhin verliere ich heute meine Freiheit!«

Celeste, die spürte, dass ein neuerlicher Wutanfall heraufzog, senkte schnell den Blick. »Vielleicht ist Euer Gemahl ja doch ein guter Mann«, wisperte sie.

Nicole hob die feingeschwungenen Brauen. »Gewiss ist er das. So gut, dass ich mich langweilen werde!«

»Er hatte bereits zwei Gemahlinnen«, wandte Manon ein, die der Grafentochter als Zofe diente. »Jedenfalls hat Pierre das behauptet. Er wird also wissen, was Frauen Vergnügen bereitet.«

Pierre war der Kurier des Grafen. Dementsprechend weit kam er im Land herum und schnappte hier dieses und dort jenes auf. Was er berichtete, stimmte meist.

»Vergnügen!«, stieß Nicole spöttisch aus. »Die beiden armen Weiber sind gestorben! Wahrscheinlich um der Langeweile auf der Burg zu entgehen.«

»Ich glaube eher, dass sie im Kindbett ihr Leben verloren«, wandte Celeste ein, doch als sie bemerkte, dass sich die Miene ihrer Herrin verfinsterte, fügte sie schnell hinzu: »Das wird Euch nicht passieren, schließlich kommt Ihr aus einem guten Haus, Madame. Ihr werdet dem Comte sicher viele kräftige Nachkommen schenken.«

Nicole presste trotzig die Lippen zusammen. Unter einer Ehe hatte sie sich etwas anderes vorgestellt.

Vor Monaten hatte sie einmal heimlich beobachtet, wie es eine der Mägde mit einem Stalljungen getan hatte. Er hatte sich schnell und kräftig zwischen ihren Schenkeln bewegt und die Laute, die er ausgestoßen hatte, hatten dermaßen tierisch geklungen, dass es Nicole zugleich entsetzt und auf irritierende Weise erregt hatte.

Wie würde es beim Comte de Berieux sein? Wie lange würde er brauchen, um sie zu schwängern?

Vielleicht stirbt er ja noch in der Hochzeitsnacht, dachte Nicole lästerlich. So etwas war durchaus schon mal vorgekommen.

Der Wagen rumpelte weiter. Es schien fast, als rüttelte er nicht nur ihre Knochen, sondern auch ihre Gedanken durcheinander. Dass sie sich der Burg näherten, bekam Nicole daher zunächst nicht mit. Erst als die ersten Häuser auftauchten, erwachte sie aus ihrer Nachdenklichkeit.

Auf der Straße kreuzten Hunde und Schweine ihren Weg. Letztere stürmten quiekend davon, als die eisenbeschlagenen Räder dicht an ihnen vorüberratterten.

Es dauerte nicht lange, bis sie auf neugierige Zuschauer trafen, die sich am Straßenrand versammelt hatten, um die Braut ihres Herrn zu begrüßen. Lumpen mischten sich hier mit feinen Gewändern, Schweißgeruch und Mistgestank hingen wie eine Wolke über den Massen. Hier und da ertönten Hochrufe, doch die meisten Menschen betrachteten die Kutschen wie fremde Fabelwesen oder reckten die Hälse, um einen Blick auf ihre zukünftige Herrin zu werfen.

Nicole hielt sich angewidert ihr mit Rosenwasser getränktes Taschentuch vor die Nase, um den Gestank zu lindern, der in die Kutsche drang.

Warum habe ich nicht wie Beatrice nach Paris heiraten können?, fragte sie sich. Oder wie Isabelle nach Marseille?

In den Städten roch es zwar auch nicht besser, aber dort gab es Feste und Vergnügungen, wohingegen sie sich hier in dieser gewiss zugigen Burg langweilen würde. Warum schickt mich mein Vater bloß in die Provence? Hier gibt es sicher nur unkultivierte Bauern und zugige Burgen. Der Geruch des Lavendels wird bestimmt vom Gestank der Misthaufen übertüncht. Ein strahlendes Leben wie bei Hofe kann ich hier nicht erwarten.

Während sie ihre aufkommende Wut zu verdrängen versuchte, betrachtete sie die Häuser. Der Anblick überraschte sie. Viele von ihnen waren massiv gebaut, mit hellen Lehmwänden und roten Schindeln. Große Stallungen erhoben sich hinter den Wohngebäuden. Einige Höfe wirkten, als könnten sie sich ebenso gut in der Nähe einer reichen Stadt befinden.

Immerhin hatte der Brautwerber, was das anging, nicht geflunkert. Ein leiser Gedanke schlich sich in ihre Verstimmung. Was, wenn mir dieser Flecken Erde allein gehörte? Hier ließe sich sicher das eine oder andere Goldstück mehr herauspressen. Der Graf hielt die Zügel ganz offensichtlich zu locker. Kaum ein Dorf in der Grafschaft ihres Vaters verfügte über solch einen Wohlstand!

Vielleicht wendet sich ja doch noch alles zu meinem Vorteil, dachte Nicole und malte sich aus, wie sie sich von den erhöhten Einnahmen Pelze und schöne Gewänder kaufte.

Schließlich erreichten sie das Gotteshaus, das sich in der Nähe der Burg befand. Der Turm, den ein paar Tauben umflatterten, ragte hoch und trutzig in den Himmel. Das Krächzen der Raben war das einzig störende Geräusch, das vom Gottesacker herüberwehte.

»Da sind sie!«, flüsterte Celeste und deutete zum Kirchenportal, wo sich bereits eine Gruppe von Menschen versammelt hatte.

Pferde mit bunten Überwürfen säumten den Weg, Blumenschmuck fand sich sowohl im Haar der Damen als auch am Wegesrand, wo zahlreiche Girlanden den Gästen den Weg wiesen. Unter den anwesenden Herren, in der Mitte seiner Gefolgsleute, stand der Bräutigam.

Nicole kniff die Augen zusammen, während sie ihn maß.

Er war hochgewachsen und muskulös, sein langes schwarzes Haar hatte er zu einem Zopf zusammengebunden. Sein Kinn war glatt rasiert und sein Körper steckte in einem eleganten Hochzeitsgewand, an das ein Myrtenzweig gebunden war.

Im Hintergrund hörte sie ihre Zofen und auch die Kammerfrau schwärmerisch raunen.

»Ihr könnt Euch glücklich schätzen. Trotz seines Alters ist Euer Gemahl wirklich ein Bild von einem Mann«, flüsterte Celeste ihr zu. »Und der Maler hat ihn weder schöner noch jünger gemacht.«

Sie selbst empfand dagegen nichts bei seinem Anblick. Vielmehr richteten sich ihre Gedanken auf die Annehmlichkeiten, die sie sich leisten würde – als Entschädigung für diese Vermählung. Und darauf, dass der Burgherr sie vielleicht nicht lange plagte und frühzeitig starb. Das zauberte immerhin ein Lächeln auf ihr Gesicht.

 

*

 

»Sie kommen!«

Der Ruf des Jungen, der auf den Kirchturm geklettert war, um Ausschau nach der Brautkutsche zu halten, hallte über den Kirchenvorplatz, während er sich die Kappe vom Kopf riss und winkte.

Sogleich richteten sich die Augen aller Anwesenden auf die Fuhrwerke, die träge den Weg hinaufgerumpelt kamen. Die stattlichen Pferde zogen ihre Last mühelos auf den Kirchvorplatz. Hufschlag donnerte über das Pflaster, hallte von den Kirchmauern wider und übertönte das vielstimmige Gewisper, das zuvor noch auf dem Platz geherrscht hatte.

»Nun wird es ernst, Seigneur«, erlaubte sich Henri Masson, der neben dem Grafen stand, flüsternd zu bemerken.

Sein Herr, Armand de Berieux, lächelte still in sich hinein. Vorfreude erfüllte ihn und ließ sein Herz schneller schlagen. Allerdings sah man ihm selten an, was er wirklich fühlte, weshalb leicht der Eindruck entstand, dass er kühl sei.

Das war nicht immer so gewesen. Als er im Jahre 1270 an der Seite des König Ludwigs IX. aufgebrochen war, um das Heilige Land zu befreien, war er ein ungestümer Bursche gewesen, ein Wildfang, den sein Vater kaum bändigen konnte.

Der Kreuzzug, dessen Bilder ihn zuweilen noch bis in den Schlaf verfolgten, hatte dem König den Tod gebracht. Armand, der mit zahllosen anderen in die Hände der Mamelucken gefallen war, hatten die erlebten Grausamkeiten unter den Gefolgsleuten des Königs verändert. Als er schließlich nach Frankreich zurückkehrte, war sein aufbrausendes Temperament abgekühlt. Er übernahm die Grafschaft seines Vaters in der Provence, einem Landstrich mit violetten Lavendelfeldern, und regierte sie seither mit sanfter und gerechter Hand.

»Keine Sorge, Henri, dem Alter, in dem man wie ein unreifer Bursche zittert, bin ich entwachsen«, gab er besonnen zurück. »Warte nur, bis es bei dir so weit ist, dann werde ich derjenige sein, der spottet.«

Der große blonde Krieger, der seit einigen Jahren in seinen Diensten stand und sich als fähiger Hauptmann erwiesen hatte, lachte auf. »Die Frau, die mich zähmt, muss erst noch geboren werden.«

»Sag das nicht, Henri. Ich bin sicher, dass es sie bereits irgendwo gibt«, hielt Armand dagegen. »Das Schicksal muss dich nur noch zu ihr führen.«

Masson schüttelte den Kopf. »Mit Verlaub, Seigneur, aber daran will ich nicht so recht glauben. Die Mädchen aus dem Dorf sind nett und bezaubernd für eine schöne Stunde im Heu, aber keine von ihnen hat genug Kraft, um mich zu halten. Und so wird es bleiben.«

Inzwischen hatten die Kutscher die Pferde zum Stehen gebracht. Mehrere Pagen sprangen ab, um den Insassen die Türen zu öffnen.

Für einen kurzen Moment tauchte ein verschleiertes Gesicht hinter dem Fenster auf. Die blassen Konturen waren nicht genau zu erkennen, doch Armand de Berieux wusste sofort, dass sie seiner zukünftigen Gemahlin gehörten.

Er hoffte inständig, dass der Maler seine Braut nicht allzu sehr geschönt hatte, wie es zuweilen passierte. Erst vor kurzem hatte ein benachbarter Graf einem Bildnismaler dreißig Peitschenhiebe verpassen lassen, weil das Mädchen, das sein Sohn heiraten sollte, auf dem Bild wesentlich schöner war als in Wirklichkeit.

Doch selbst wenn es ihm ebenso erging wie besagtem Grafen: Was konnte er jetzt noch ausrichten? Mehr als dreißig Winter hatte er bereits hinter sich. Das Alter schlich sich wie ein Dieb von hinten an ihn heran und stahl ihm die Zeit. Er brauchte einen Erben für seine Grafschaft! Träume von Liebe waren mittlerweile so tief in seinem Herzen verschlossen, dass er selbst nicht mehr daran glaubte.

Aber vielleicht belehrte ihn seine junge Braut ja eines Besseren?

Armand zog seinen dunklen Überwurf zurecht, zupfte die Ärmel seines Hemdes ein wenig hervor und strich über seine Handschuhe. Wenn er schon nicht mit Jugend auftrumpfen konnte, wollte er immerhin mit einem gepflegten Äußeren Eindruck auf seine künftige Gemahlin machen.

 

*

 

Nicole war heilfroh, als die Kutsche hielt und das Schaukeln ein Ende hatte. Keinen Moment länger hätte sie es in dem engen Kutschenschlag ausgehalten!

Ganze drei Wochen waren sie unterwegs gewesen. Hin und wieder hatten sie ein Lager aufgeschlagen oder an Gasthöfen Rast gemacht, doch die meiste Zeit waren sie dazu verdammt, in der rumpelnden Kutsche auszuharren.

Nicole war sicher, dass die Schaukelei Spuren auf ihrem Leib hinterlassen hatte. Gewiss war ihr Hinterteil grün und blau! Und nicht nur ihr Hintern und ihr Rücken schmerzten, ihr Nacken fühlte sich ebenfalls taub an und ihre Schläfen spannten.

Eigentlich wäre es Brauch gewesen, die Braut erst auf der Burg zu empfangen und ihr einige Tage Zeit bis zur Vermählung zu geben. Doch es war vereinbart, dass die Vermählung unmittelbar nach ihrem Eintreffen vollzogen werden sollte – so als fürchtete der Graf eine weitere Verzögerung.

Nicole war daher genötigt gewesen, ihr Hochzeitsgewand unter freiem Himmel anzulegen. Das war ganz gewiss nicht der richtige Ort dafür, auch wenn ihre Zofen sie durch große Laken vor den Blicken der mitreisenden Soldaten und Pagen geschützt hatten. Außerdem hatte sie ihre Frisur nur notdürftig herrichten können.

Nachdem sie eine Weile darüber gezürnt hatte, hatte sie aber auch etwas Gutes darin erkannt.

Vielleicht überlegt es sich der Graf noch einmal, hatte sie lästerlich gedacht. Aber wenn sie ehrlich war, wollte sie das gar nicht mehr. Der Gedanke an die Reichtümer ihres Gemahls hatte sich in ihr festgebissen wie ein Wolfshund. Sie war wild entschlossen, als zukünftige Gräfin mehr Reichtum anzuhäufen, als ihre Schwestern besaßen. Auch wenn das bedeutete, dass sie fortan das Lager mit Armand de Berieux teilen musste.

Als die Tür geöffnet wurde und die Pagen Aufstellung nahmen, um den Damen aus der Kutsche zu helfen, blickte Nicole erneut zu der Hochzeitsgesellschaft hinüber. Ihren zukünftigen Gemahl konnte sie nun noch besser erkennen, was allerdings nicht dazu führte, dass sie ihn sympathischer fand.

Wie eine Krähe sieht er aus, dachte sie angewidert. Die Haare tiefschwarz wie ihr Gefieder.

Als sie den Blick jedoch weiterschweifen ließ, bohrte sich plötzlich der Anblick eines anderen Mannes in ihr Auge.

Er trug über seinem Waffenrock einen feinen dunkelroten Mantel, sein blondes Haar war im Nacken zusammengebunden und seine linke Hand ruhte auf dem Schwertgriff, bereit, die Klinge jederzeit zu ziehen. Wachsam wie ein Raubvogel spähte er in die Runde.

Sein Anblick schickte eine warme Welle des Begehrens durch Nicoles Körper. Noch nie zuvor war ihr das bei einem Mann passiert. Der Blonde, gewiss der Leibwächter des Grafen, verfügte über eine beinahe animalische Schönheit – und war ein gutes Stück jünger als sein Herr.

Dann berührte Celeste sanft den Arm ihrer Herrin und riss sie aus ihrer Faszination fort. Beinahe hätte Nicole sie wütend angefahren, doch da sagte die Kammerfrau: »Madame, kommt, Euer Vater wartet bereits.«

Tatsächlich stand Renaud Comte de Boisy schon parat, um seine Tochter vor den Altar zu fuhren.

Nicole seufzte unwillig und ging auf ihn zu.

»Bist du bereit, mein Kind?«, fragte er streng, worauf Nicole nickte. Der Vater reichte ihr seinen Arm und gemeinsam wandten sie sich dem Kirchenportal zu.

Armand war inzwischen an den Altar getreten und erwartete dort seine Braut, während einige Soldaten im Gang neben den Kirchenbänken Aufstellung bezogen hatten. Offenbar waren viele Edle aus der Umgebung der Einladung des Grafen gefolgt, denn überall bemerkte Nicole teure Stoffe und Geschmeide.

Neugierige Blicke trafen sie von allen Seiten und die Braut straffte die Schultern. Auch wenn sie sich auf dem Feld hatte umziehen müssen, ihr Kleid war aus feinstem reinweißen Leinen gefertigt und an den Ärmeln, dem Saum und dem Ausschnitt mit goldenen Borten verziert. Der Schleier war aus Seide gearbeitet, die ihr Großvater von einem Kreuzzug ins Heilige Land mitgebracht hatte. Er gab nur das Nötigste ihres Gesichts preis. Ihren Kopf zierte ein Myrtenkranz, den kostbare Perlenstränge zusammenhielten.

Während sie über den steinernen Boden der Kirche schritt, dachte Nicole an ihre Schwestern. Zur Hochzeit hatten sie nicht anreisen können, der Weg aus Paris und Marseille war viel zu weit. Darüber war sie allerdings nicht traurig, denn gewiss hätten die beiden sie für ihren Bräutigam und ihre neue Heimat verspottet.

Aber ich werde es euch zeigen, dachte Nicole. Während ihr noch immer unter der Knute eures Gatten steht, werde ich bereits allein herrschen und reicher sein als ihr alle zusammen.

Vor dem Altar angekommen, betrachtete sie ihren zukünftigen Gemahl zum ersten Mal von nahem. Sein rabenschwarzes Haar war mit silbrigen Fäden durchzogen, die Augen waren dunkel. Von weitem mochte er ein wenig eisig wirken, doch Nicole erkannte sogleich, dass sie, wenn sie es nur richtig anstellte, leichtes Spiel mit ihm haben würde.

Vielleicht war diese Hochzeit doch kein Fehler, ging es ihr durch den Sinn, während sie ein Lächeln aufsetzte.

»Ich grüße Euch, Madame«, sagte der Graf förmlich und verneigte sich vor ihr. »Willkommen in Berieux.«

Nicole machte einen artigen Knicks.

»Gebt gut auf meine Tochter acht, Seigneur, und bedenkt, sie ist von edlem normannischen Blute.«

Mit diesen Worten gab der Comte de Boisy seine Tochter Armand an die Hand. Umhüllt von Weihrauch knieten die Brautleute auf den Stufen vor dem Altar nieder.

Der Priester, ein beleibter Mann mit rotem Gesicht, graublondem Haar und Augen begann die Zeremonie mit den üblichen Formeln und Gebeten. Die Grafentochter hörte jedoch gar nicht richtig hin, denn die Gedanken wirbelten durch ihren Verstand wie Blätter, die der Wind von den Ästen eines Baumes gerissen hatte.

Würde ihr Gatte häufig Reisen unternehmen und sie zurücklassen? Bestand vielleicht sogar die Möglichkeit, dass er zu einem neuerlichen Feldzug aufbrach? Hatte er Feinde?

Als der Priester schließlich mit der Segnung des Paares begann, schlug sie ergeben die Augen nieder und hoffte im Stillen auf eine glückliche Fügung.

Direkt an die kirchliche Trauung schloss sich das Hochzeitsfest an, zu dem viele Edle der Umgebung geladen waren. Der Graf hatte Musikanten kommen und selbst für seine Bediensteten ein Schwein auf einen Spieß stecken und ein Fass Wein anstechen lassen.

Die Tafeln in der Festhalle bogen sich unter Gebratenem und Schüsseln voller süßer und würziger Grütze. Ergänzt wurden die Speisen von frischen Feldfrüchten, die es zu dieser Jahreszeit im Übermaß gab.

Trotz des Überflusses blickte Nicole ein wenig griesgrämig auf die Speisen, denn sie hatte nicht den geringsten Hunger.

Ein Fest für Bauern ist das, ging es ihr durch den Sinn. Die Edlen hier sind nichts weiter als das. Das grobe Auflachen eines der Gäste und das Juchzen der Magd, der er in den Hintern gekniffen hatte, schienen ihre Vorbehalte zu bestätigen.

Nicole seufzte auf und führte ihren Becher zum Mund. Der Wein schmeckte ein wenig fad, aber auch das würde sich ändern, wenn sie erst einmal das Sagen auf der Burg hatte.

Ihr Gemahl schien jedenfalls zufrieden zu sein. Immer wieder prostete er den Gästen zu und riss sich Stücke von dem Spanferkel ab, das vor ihnen auf dem Tisch stand.

Viele Worte hatten sie bislang nicht miteinander gewechselt. Ein paar Höflichkeiten und Komplimente hatten sie ausgetauscht, ansonsten blieb alles streng förmlich.

Recht so, dachte Nicole. Ich habe nicht vor, ihn näher kennenzulernen. Alles, was ich will, ist das Gold in seinen Schatzkammern.

Als sie zur Seite blickte, fiel ihr erneut der blonde Begleiter ihres Gemahls auf. Er saß nicht mit an der Tafel, war allerdings ständig in der Nähe.

Momentan verharrte er neben der weit offen stehenden Pforte, die in den Festsaal führte. Obwohl er sich lediglich mit einem anderen Soldaten unterhielt, strahlte seine Haltung Kraft und Selbstsicherheit aus. Er verkörperte all das, was Nicole sich von einem Mann wünschte. Vielleicht schaffe ich es, ihn eines Tages für mich zu gewinnen, dachte sie, während sie erneut einen Schluck von dem Wein nahm.

Ein Geräusch neben ihr riss sie aus ihrer Betrachtung fort. Armand erhob sich von seinem Platz.

Will er etwa jetzt schon ins Schlafgemach?, fragte Nicole sich und wappnete sich innerlich gegen das, was da auf sie zukommen würde.

Der Graf beugte sich zu seiner frisch angetrauten Gemahlin und sagte dann zu ihrer großen Überraschung: »Entschuldigt mich für einen Moment, meine Liebe, ich möchte mir ein wenig die Beine vertreten.« Ohne eine weitere Erklärung abzugeben, verließ er die Feierhalle.

Der Blonde wollte sich ihm anschließen, doch er bedeutete ihm mit einer Handbewegung, dass er zurückbleiben solle.

Die Gästeschar war darüber verwundert, aber der Graf hatte den Musikanten zuvor aufgetragen, weiter aufzuspielen. Niemand wagte zu fragen, wohin der Hausherr wollte.

 

*

 

Armand de Berieuxs Ziel war der nahe gelegene Bergfried, den er immer dann bestieg, wenn er mit seinen Gedanken allein sein wollte.

Das hatte er bereits so gehalten, als er von den Schlachtfeldern des Heiligen Landes heimgekehrt war. All die Grauen, das ihm immer wieder in den Sinn kam, waren für ihn auf der Turmspitze leichter zu ertragen. Es schien, als stünde er hier über allen Dingen – auch über seinen Erinnerungen.

Er ging an den Wachposten vorbei, die sofort Haltung annahmen, auch wenn ihnen der Wein, den man ihnen zugeteilt hatte, sichtlich zu Kopfe gestiegen war.

Die Fackeln flackerten vom Luftzug, den Armands Gewand verursachte, und malten bizarre Schatten an die Wände, doch er achtete nicht darauf. Hastig ergriff er eine der Fackeln und durchquerte den Durchgang zum Turm. Seine Schritte hallten die Wände hinauf, als er die Stufen der steinernen Wendeltreppe erklomm. Die Stufen waren völlig ausgetreten von Generationen von Männern, die hier schon hinaufgestiegen waren.

Mit zunehmender Höhe wurde es zugiger und schließlich schob Armand die Fackel in einen der Halter. Der Wind ließ die Flamme heftig flackern, schaffte es auf dieser Höhe aber nicht, sie zu löschen. Den Rest des Weges legte der Graf zu Fuß zurück. Kurz darauf erreichte er die obere Plattform des Turmes.

Der Wind, der hier an seinem Haar zerrte, trug bereits einen leichten Hauch von Herbst mit sich, aber noch waren die Nächte lau und vom betörenden Duft des Lavendels erfüllt. Unzählige Sterne funkelten am Himmel wie Edelsteine auf dem Mantel eines Königs. Der Gesang der Zikaden lag wie ein sehnsuchtsvolles Flüstern in der Luft. Es war eine Schönheit, wie Sänger sie in ihren Liedern kundtaten und wie sie Liebende zu glühenden Schwüren inspirierte.

Die rechte Stimmung für eine Hochzeitsnacht.

Trotzdem überkamen ihn leichte Zweifel.

Seine vorherigen Ehen hatten alle damit geendet, dass seine Frauen gestorben waren. Marianne, die erste, die er aus glühender Liebe heraus gefreit hatte, war der Pest anheimgefallen, während sie schwanger war. Alanis, die es geschafft hatte, ihn über den Schmerz seines Verlustes hinwegzutrösten, starb während der Geburt seines ersten Sohnes – und das Kind mit ihr.

Damals war es ihm so vorgekommen, als laste ein Fluch auf seinem Namen. Ein Fluch, den er von den Mamelucken mitgebracht hatte. Im Heer des Königs hatte man sich erzählt, dass dieses Volk über mächtige Zauberer gebot – seltsame Derwische, die Ungläubigen die schlimmsten Leiden und das größte Unglück anhexen konnten.

Über einen solchen Zauberer hatte auch der Sultan verfügt, der ihn und seine Männer gefangen genommen hatte. Armand war sicher, dass dieser nicht nur ihre Niederlage heraufbeschworen hatte. Der orientalische Herrscher musste ihn, als er seine Flucht bemerkte, auch zur Kinderlosigkeit verflucht haben. Es hatte lange gedauert, bis ihm aufgegangen war, dass sein Unglück daran liegen könnte.

Nach dem Tod seiner zweiten Frau hatte er zunächst nichts von einer weiteren Heirat hören wollen. Aber nach und nach musste er einsehen, dass er noch zu jung war, um allein vor seinem Kamin zu sitzen. Seine Lenden strotzten vor Kraft, mit starken Händen führte er sein Schwert, dass es seinen Gegnern angst und bange wurde. Auch sein Geist war messerscharf wie eh und je – alles Gaben, die zu schade waren, um sie zu verschwenden.

Also hatte er einen Heiratswerber losgeschickt, um nach passenden jungen Damen zu suchen. Die Liste derjenigen, die bereit waren, einen Witwer seines Alters zum Manne zu nehmen, war nicht besonders lang. Die meisten von ihnen waren nicht schön genug, weshalb ihre Väter sie schon vorsorglich ins Kloster geschickt hatten. Es wäre ihm zutiefst zuwider gewesen, einen Erben mit einer von ihnen zu zeugen. An Nicole de Boisy, der Tochter des in Évreux ansässigen Grafen, hatte er dagegen auf Anhieb Gefallen gefunden.

Obgleich sie jung und von ausgesuchter Schönheit war, drohte ihr der Gang ins Kloster. Die Mitgift war überaus bescheiden, aber das war für Armand nebensächlich gewesen. Ein Erbe und ein treues Weib waren wesentlich mehr wert als eine Truhe voller Gold. Natürlich würde sich Nicole an ihn gewöhnen müssen, doch vielleicht würde sie eines Tages das Band der Liebe mit ihm verbinden.

»Ist alles in Ordnung, Seigneur?«

Henri Massons Stimme holte ihn in die Gegenwart zurück. Armand hatte nicht mitbekommen, dass er sich ihm wieder genähert hatte.

Der Mond war inzwischen um den Burgturm herumgewandert und zauberte ein Glitzern auf den Graben, der die Burg wie ein Halsband aus Wasser umschloss.

Armand wandte sich langsam um. »Ja, keine Sorge, Henri. Ich wollte nur ein wenig nachdenken.«

»Worüber, wenn ich fragen darf?« Als einziges Mitglied der gräflichen Leibwache war es Henri gestattet, Fragen wie diese zu stellen.

»Über mein Leben. Und mein Glück, ein so junges Weib an die Hand zu bekommen.«

»Eure Gemahlin ist wahrlich eine Schönheit.«

»Ja, und ich frage mich, ob ich nicht zu alt für sie bin.«

»Das seid Ihr gewiss nicht, Seigneur. Ich glaube, dass Euer Weib Euch neue Kraft verleihen wird.« Masson zwinkerte ihm anzüglich zu.

Armands Fröhlichkeit kehrte zurück. »Wenn du schon darauf anspielst, dann sollte ich mich wohl jetzt besser mit ihr zurückziehen.«

Damit wandte er sich um, schlug seinem Freund auf die Schulter und ging, von ihm begleitet, wieder nach unten.

Nachdem er die Festgesellschaft beendet hatte, führten die Kammerfrauen und Mädchen Nicole in das eheliche Gemach. Die Männer blieben noch ein Weilchen zurück und begannen nun mit derberen Gesprächen, die ausschließlich von Frauen und deren Angewohnheiten beim Beischlaf handelten.

Armand lauschte den Unterhaltungen lächelnd und geduldig, während in seinem Herzen und seinen Lenden die Ungeduld tobte. Es würde noch eine Weile dauern, bis seine Gemahlin bereit für ihn war, aber dann würde er nach so langer Zeit endlich wieder lustvolle Momente auskosten können.

Schließlich erschien das Mädchen, das Nicole zu ihrer ersten Kammerfrau auserkoren hatte. Celeste war ihr Name, so viel hatte der Graf immerhin mitbekommen. Sie war ein kräftig gebautes Frauenzimmer, das unerschrocken dreinblickte. Damit hielt sie wohl selbst den ärgsten Witzbold davon ab, ihr an den Hintern zu grapschen.

»Seigneur, Eure Gemahlin ist bereit.«

Die Männer quittierten ihre Worte mit einem lauten Johlen. Sogleich begannen sie, dem frischgebackenen Ehemann Ratschläge zu erteilen.

Armand nickte Celeste zu, die sich daraufhin wieder auf den Weg machte. Der Graf schloss sich ihr an, lediglich begleitet von Henri Masson.

In den Gängen war leises Wispern zu vernehmen und neben der Tür des Schlafgemachs standen die Mädchen aufgereiht. Es war klar, dass sie versuchen wollten, einen Blick durch das Schlüsselloch zu erhaschen, doch Celeste setzte dem Treiben sogleich ein Ende.

»Was steht ihr hier rum und gafft Löcher in die Luft? Marsch, marsch, setzt euch in Bewegung, die Eheleute sollen ungestört sein!«

Sie klatschte in die Hände und scheuchte die Mädchen wie eine Schar Hühner davon. Dann knickste sie vor dem Grafen und zog sich ebenfalls zurück.

»Ich wünsche Euch eine gute Nacht, Seigneur«, sagte Henri förmlich.

Der Graf wandte sich daraufhin lächelnd um. »Mehr nicht?«, fragte er. »Bin ich dir so wenig wert, dass du mir nicht einmal gute Verrichtung wünschst?«

Masson feixte breit. »Ich weiß, dass Ihr Euer Bestes geben werdet, Seigneur.« Damit verneigte er sich und wandte sich um.

Armand blickte seinem Hauptmann noch einen Moment lang nach, dann stieß er die Tür zu seinem Schlafgemach auf.

Nicole saß kerzengerade in dem hohen Himmelbett, das Haar fiel ihr offen über die Schultern, die von einem zarten weißen Nachthemd verhüllt waren.

Ihre Kammerfrau und ihre Zofen hatten sich zurückgezogen. Nach einer Weile vernahm sie Schritte vor der Tür.

Nun ist es also so weit, dachte sie und versuchte, ihre Nervosität niederzuringen. Gleich bezahle ich den Preis für meinen bevorstehenden Reichtum. Wenn ich den Grafen in dieser Nacht zufriedenstelle, wird er mir vielleicht jeden Wunsch erfüllen.

Wenig später erschien Armand im Türgeviert. Der Blick, mit dem er sie bedachte, verriet aufkeimendes Begehren und Lüsternheit.

Nicoles Herz schlug ihr bis zum Hals. Wird er vorsichtig sein oder mich wie ein wildes Tier nehmen?, fragte sie sich ängstlich.

Als er sich neben sie auf das Bett setzte, zuckte sie zusammen.

»Was ist dir, meine Liebe?«, wollte Armand wissen, als er ihre Regung bemerkte. Er ließ den Blick über ihr Gesicht und ihre Brüste schweifen, die sich unter ihrem Hemd abzeichneten.

»Nichts«, entgegnete Nicole schüchtern. »Ich bin nur voller Erwartung.«

»Dann hoffe ich, dass ich sie erfüllen kann.«

Mit diesen Worten setzte er sich zu seiner Gemahlin aufs Bett und streckte die Hand nach ihrem Gesicht aus. Ihre Wangen glühten wie vom Fieber befallen. Sie erschauderte unwillkürlich.

»Du sorgst dich um die Schmerzen, nicht wahr?«, raunte er, während er seinen Puls hart in seinem Hals, seinen Schläfen und auch in den Lenden spürte. Sein Glied wuchs sehnsuchtsvoll in seinem Hosenbeutel. »Ich werde vorsichtig mit dir umgehen. Immerhin sollst du die Mutter meiner Kinder werden.«

Sie schlug die Augen unter der Bedeutung seiner Worte nieder und versuchte, sich das Bild des blonden Soldaten ins Gedächtnis zu rufen. Überraschenderweise ließen sich die Berührungen des Grafen damit leichter ertragen.

Nachdem Armand sie noch eine Weile gemustert hatte, begann er, seine Kleider abzulegen. Er knöpfte sein dunkelblaues Wams auf, entledigte sich seines blütenweißen Hemdes und seiner ebenfalls blauen Beinkleider.

Nicole errötete, war aber nicht imstande, den Blick abzuwenden. Ihr Gemahl war hochgewachsen, sein Körper straff und muskulös. Sein Gemächt erschien ihr allerdings riesig. Es schien mit jeder verstreichenden Sekunde sogar noch größer zu werden.

Wollte er damit etwa in sie dringen?

Die unvermittelt auf Nicoles Wangen tretende Röte ließ Armand vor Begierde erzittern.

Mit entschlossenem Griff schob er die Bettdecke beiseite. Einen Augenblick lang betrachtete er ihren Körper, der sich unter dem zarten Stoff des Hemdes abzeichnete. Die schlanken Beine, den flachen Bauch, die kleinen, festen Brüste. Dann zog er ihr das Hemd vom Körper, kniete sich neben sie auf das Bett und spreizte mit beiden Händen ihre Beine.

»Keine Sorge, meine Schöne, es wird dir Vergnügen bereiten«, raunte er, als er über sie glitt. »Beim ersten Mal verspürt jede Frau Schmerzen, aber danach wirst du nur noch Wonne empfinden.«

Zärtlich küsste er ihre Lippen, bis sie den Mund öffnete und seiner Zunge Einlass gewährte.

Nicole stieß ein leises Stöhnen aus. Das war für Armand das Zeichen, dass sie bereit war, ihn in sich zu empfangen.

Er streichelte sie, während sein Mund von ihren Lippen herab zu ihrem Hals und dann zu den zarten Knospen ihres Busens glitt. Seine Hände wanderten kundig zwischen ihre Schenkel, fanden den geheimen Ort und streichelten ihn sanft. Gegen ihren Willen wurde Nicole von einem heftigen Lustschauer übermannt. Ihre Glieder fühlten sich schwach und willenlos an. All ihre Kraft und ihr Gefühl schienen sich an dieser Stelle ihres Körpers zu konzentrieren. Ihr Leib öffnete sich in einer Weise, wie sie es nie zuvor erlebt hatte. Armand führte das allein auf seine Verführungskünste zurück und selbst wenn sie gekonnt hätte, hätte Nicole ihn nicht darauf aufmerksam gemacht.

Der Graf schob ihre Schenkel noch ein Stück weiter auseinander, dann drang er in sie ein.

Der ziehende Schmerz zwischen ihren Beinen ließ das Bild des blonden Soldaten jäh verschwinden. Nicole schrie auf und Tränen stiegen ihr in die Augen.

Armand hielt einen Moment lang inne. Sein Gesicht schwebte dicht über ihrem, doch er machte keine Anstalten, sie zu küssen. Er wartete darauf, dass sie die Augen öffnete und ihn ansah.

Als Nicole das tat, küsste er ihre Stirn. Eine Woge des Glücks erfasste ihn. Diese Frau hier war seine Frau und er war wirklich ihr erster Mann. Konnte er sich mehr wünschen?

Als er der Meinung war, dass sie den Schmerz verkraftet hatte, begann er, sich in ihr zu bewegen. Seine Stöße führte er vorsichtig aus, denn er wollte ihr nicht noch mehr Schmerzen bereiten und ihr die Freude an der ehelichen Lust verleiden. Immerhin war es möglich, dass sein Same in dieser Nacht noch nicht aufging. Wie ihm eine frühere Hebamme erklärt hatte, konnte die Frau nur an manchen Tagen empfangen. Welche das waren, wussten nur die Frauen selbst.

Nicole drehte den Kopf zur Seite und biss sich auf die Lippen. Die Stelle, an der sie zuvor noch höchste Lust empfunden hatte, brannte höllisch.

Dennoch sagte sie kein Wort und ließ seine Bewegungen ebenso wie seine Küsse stumm über sich ergehen. Die Stöße währten scheinbar endlos und sein Stöhnen dröhnte ihr wie Sturmgetöse ins Ohr, bis es schließlich in einem lauten Schrei gipfelte. Nicole spürte, wie sein Samen sich in sie ergoss. Sie selbst hatte zwischendurch gemeint, dass die Lust zu ihr zurückkehren würde und damit auch das Bild des Soldaten. Doch das war ein Trugschluss gewesen.

Als der Graf von ihr herunterglitt, glühte sein Gesicht wie die Abendsonne. Das gierige Funkeln in seinen Augen war einem satten Ausdruck der Zufriedenheit gewichen.

Er küsste sie noch einmal, legte sich dann wortlos neben sie und es dauerte nicht lange, bis er einschlief. Nicole dagegen lag noch lange Zeit wach. Die Schmerzen wichen allmählich einem Brennen und bald stieg eine heftige Wut in ihr auf. Das hier soll ich allen Ernstes wieder und wieder erdulden? Was haben diese dummen Gänse bloß immer geredet?

Der Körper ihres Gemahls hatte ihr keine Erfüllung gebracht, wie es die Mägde geschildert hatten, wenn sie heimlich miteinander über ihre Treffen tuschelten. Aber vielleicht würde er von ihr ablassen, wenn sie nur schnell genug schwanger wurde.

Als sie sicher war, dass der Graf schlief, zog Nicole die Beine unter der Decke an und verharrte eine Weile so. Celeste hatte ihr dazu geraten, damit der Same ihres Mannes nicht gleich wieder aus ihr herausfloss. Wenn es ihm gelang, sich in ihr festzusetzen, würde Armand sie gewiss in Ruhe lassen.

 

*

 

Henri Masson lag in dieser Nacht ebenfalls lange wach und starrte an die Decke seines kleinen Quartiers. Es befand sich etwas abseits der Schlafhalle, in der seine Männer nächtigten. Viel mehr als eine steinerne Hütte war es nicht, doch sie genügte dem Hauptmann, denn er hatte hier alles, was er brauchte: Tisch, Bett, eine Esse und Platz, um sein Schwert aufzuhängen. Das Einzige, was ihm fehlte, war ein Weib. Bisher hatte er diesen Mangel nicht so sehr gespürt, denn der Dienst an der Seite seines Herrn hatte ihm höchstens mal Zeit gelassen, kurzzeitig Trost in den Armen einer Magd oder einer Hure zu finden.

Aber nun war alles anders.

Er spürte, wie der Wein zusammen mit seinem Blut durch die Adern rauschte. Mit einem Mal war es ihm, dass ihn das Stroh in dem Sack, auf dem er lag, stärker als sonst stach.

Vielleicht war der Wein daran schuld, dass Henri das Bild der jungen Gräfin nicht verdrängen konnte. Sie war wunderschön und ihr Blick hatte ihn sofort angerührt. Was für Augen sie doch besaß! Unter den Frauen, die seinem Herrn dienten, gab es durchaus etliche hübsche, aber keine konnte dem Vergleich mit seiner neuen Herrin standhalten. Wie sollte er je so eine Braut finden? Ein Weib, das seine Lust stillen würde?

Der Gedanke trieb Henri von seinem Lager hoch und ließ ihn ans Fenster seiner Hütte treten. Von hier aus konnte er das Fenster der Gemächer seines Herrn erkennen. Ein einsamer Lichtschein drang noch immer in die Nacht. Wahrscheinlich lehrte der Graf sein Weib gerade die Geheimnisse der Lust, nahm sich ihren schönen Körper und liebte sie, bis sie glaubte, den Verstand zu verlieren.

Aber je länger er darüber nachdachte, desto mehr zweifelte er daran, dass diese Frau ihren Verstand und auch ihr Herz in dieser Nacht verlieren könnte.

Nicole hatte nicht so gewirkt, als würde sie ihrem Gemahl sonderlich viel Sympathie entgegenbringen. Der Wachmann hatte es bald bemerkt, denn so oft er konnte, hatte er in den Festsaal geblickt und ihre Gestalt gesucht. Beide hatten wie Fremde gewirkt und ob sich das jemals änderte – nun, darauf wollte Henri lieber nicht wetten. Er hatte nicht erlebt, wie Graf zu seiner ersten Frau war. Die zweite hatte er dagegen mitbekommen und er hatte auch Armands Verzweiflung erlebt, als Gott sie zu sich geholt hatte. Nie hätte er geglaubt, dass es je wieder eine Herrin in der Grafschaft geben würde. Dass es nun doch der Fall war, musste an der Furcht seines Herrn liegen, niemandem seinen Besitz vermachen zu können, wenn er starb. Ahnte er vielleicht, dass Gott ihn bald schon zu sich holen würde?

Nein, das war unwahrscheinlich. Immerhin stand er in der Blüte seiner Jahre und war noch weit davon entfernt, ein seniler Greis zu werden.

Allerdings hatte sich in den vergangenen Monaten der Konflikt zwischen ihm und dem Comte de Pessaud verschärft. Daher war es durchaus möglich, dass ein Bolzen oder ein Schwertstreich seinem Leben ein Ende bereitete. Umso wichtiger war es für ihn, dass der Same heute oder vielleicht in den kommenden Nächten auf fruchtbaren Boden fiel.

Doch auch wenn dieser Gedanke lästerlich war und keinesfalls von der Loyalität zeugte, die Henri gegenüber seinem Herrn empfand, so konnte er ihn nicht zurückhalten. Er wäre jetzt nur zu gern an der Stelle des Grafen und hätte diese Frau die ganze Nacht über gevögelt. Da dies nicht sein durfte, klemmte er sich die raue Decke zwischen die Schenkel und versuchte auf diese Weise, der Enge in seinem Hosenbeutel beizukommen.

 

2. Kapitel

 

 

Frühling 1287

 

An einem Frühlingsmorgen, neun Monate nachdem Celeste unter Jubelgeschrei das mit Jungfrauenblut getränkte Laken aus dem Fenster gehalten hatte, schreckte Nicole schweißüberströmt aus dem Schlaf.

Das morgendliche Dämmerlicht fiel wie ein roter Schleier in ihre Kemenate und der erdige Duft des Frühlings stieg ihr in die Nase.

Ein beunruhigender Traum hatte sie heimgesucht. Ihr war, als hätte sie im Schlaf einen kleinen Schmerz verspürt, doch als sie jetzt in sich hineinhorchte, war davon nichts mehr zu merken.

Schmerzen waren in den vergangenen Monaten immer wieder ihre Begleiter gewesen. Ihr Magen hatte in den ersten Monaten höllisch wehgetan, danach die Füße und schließlich der Rücken. Ein Elend, dass Gott die Frauen so prüft, dachte sie so manches Mal. Ihr Körper hatte mittlerweile den Umfang eines Fasses angenommen. Celeste meinte, dass sie sich nur noch wenige Wochen damit herumplagen müsse.

Nicole blickte an sich hinab und streichelte über ihren Bauch. Das Kind benahm sich seit Wochen wie ein ungestümes Füllen und trat gegen ihre Bauchdecke, als suchte es einen Weg in die Freiheit.

Sie war sicher, dass solch eine Kraft nur von einem Sohn ausgehen konnte. Ein Sohn, der ihr weitere Geburten ersparen würde, da der Graf sicher Ruhe gab, wenn er seinen ersehnten Erben erhielt. Außerdem sicherte sie sich auf diese Weise den Platz an seiner Seite. Vielleicht würde es ihr dann endlich freistehen zu tun, was sie wollte.

Seltsamerweise musste sie in den letzten Tagen häufiger an Henri Masson denken, der ihr mittlerweile genauso ergeben diente wie ihrem Gemahl.

Vor Kurzem hatte sie den Hauptmann beim Baden beobachtet – ein purer Zufall. Sie war gerade, in dicke Pelze gehüllt, durch einen Außengang der Burgmauer gelaufen, da hatte sie ihn gesehen, wie er vollkommen nackt in den nahen See sprang.

Der Anblick seiner vollkommenen Schultern und seines strammen Hinterteils hatte sie dazu gebracht, stehen zu bleiben und ihn anzustarren. Damit er sie nicht bemerkte, hatte sie sich hinter einem Pfeiler verborgen. Das Bild seines Körpers hatte weiterhin vor ihren Augen gebrannt. Was fand sie nur an diesem Mann, dass er sich immer wieder in ihren Verstand schlich?

Nachdem Nicole noch eine Weile in das Morgenlicht gestarrt hatte, erhob sie sich aus den Laken. Sie bürstete sich das Haar und warf sich ihren Morgenmantel aus rotem Samt über die Schultern.

Jeden Morgen fühlte sie sich ein wenig schwerfälliger, was sie allerdings nicht davon abhalten konnte, ihren Weg in den Bogengang zu suchen.

Ein wenig hoffte sie, Henri auf dem Hof zu sehen, doch wahrscheinlich war er bei den Fechtübungen mit dem Grafen. Vielleicht würde sie stattdessen der Blick auf den erblühenden Garten ein wenig aufmuntern.

Obwohl ihr das Gehen schwerfiel, schleppte sich durch die dunklen Gänge der Burg. Noch immer fühlte sie sich in diesen Mauern nicht heimisch. Sie waren ihr zu zugig und zu feucht. Selbst jetzt noch, wo die Frühlingssonne mehr und mehr erstarkte und die Keimlinge auf den Lavendelfeldern wärmte.

Am liebsten hätte sie hier alles Mögliche ändern lassen, aber darum würde sie sich kümmern, wenn sie ihre Last losgeworden war.

An der Balustrade des Bogenganges, der sich immerhin mehrere Ellen über dem Boden befand, blieb sie stehen und stützte sich mit den Händen auf. Erschöpft ließ sie den Blick über den Hof und den angrenzenden Garten schweifen. Ostern war nicht mehr weit und der Tag begann mit einer wohltuenden Milde. Ein süßer Duft, der von den prächtig blühenden Kirschbäumen herrührte, lag in der Luft und das Summen der ersten Bienen drang an ihr Ohr.

Nicole hatte für die Schönheiten der Natur jedoch keinen Blick. Wieder wurde sie sich der Beschwerlichkeit der Schwangerschaft bewusst, als sie sich keuchend gegen eine Säule lehnte.

Herrgott, wann ist es denn endlich so weit?, dachte sie ungeduldig. Wann werde ich diese Last endlich los?

Sie hätte eigentlich keine Antwort auf diese Frage erwartet, aber sie erhielt sie prompt. Plötzlich kam der Schmerz über sie, ein Ziehen, nein, eher ein innerliches Reißen, das ihren Verstand und ihren Körper lähmte. Es begann in ihrem Bauch und zog bis in den Rücken, den sie daraufhin weit nach vorne bog. Mit ihren Händen, mit denen sie vorher sanft über die weiche Haut gestreichelt hatte, umfasste sie den vorgestreckten Bauch und hielt ihn nun, als hätte sie Angst, dass er zu Boden fallen könnte. Eine Weile ertrug sie die heftige Welle, doch als der Schmerz nicht weniger wurde, hielt sie es nicht mehr aus.

Ihr ersticktes Stöhnen wurde allmählich zu einem Schrei. Zunächst war er noch kraftlos, weil eine neue Wehe ihr den Atem nahm, aber bald schon erkannte Nicole den Rhythmus und stieß den erleichternden Schrei zwischen den Schmerzwellen aus. Laut hallte er durch die gesamte Burg und gab den Bewohnern bekannt, dass die Zeit für den Erben gekommen war.

Aufgeschreckt durch das Geschrei, stürzte kurz darauf Celeste, begleitet von zwei Mägden, in den Bogengang.

Dort fanden sie Nicole, die sich regelrecht an der Balustrade festkrallte, das schöne Gesicht zu einer leidenden Grimasse verzerrt.

»Was ist Euch, Herrin?«, fragte die Kammerfrau, obwohl sie sofort erkannte, was vor sich ging.

Die Antwort war zunächst nur ein neuerlicher Schrei, bei dem die Gräfin ihr gerötetes Gesicht hilfesuchend den drei Frauen zuwandte. Schweiß rann ihr von der Stirn, benetzte ihre Augenlider, ihre Wangen, dann ihre Lippen, während ihr dunkles Haar wie frisch gewaschen an Kopf und Hals klebte. Die Wehe hatte kurz nachgelassen und erlaubte ihr nun, tief durchzuatmen.

Die Kammerfrau nickte ihren beiden Helferinnen auffordernd zu. Die dicke Josette mit ihrem schwerfälligen Gang war plötzlich flink wie ein Reh, die fahle Sylvie dagegen wurde angesichts ihrer stöhnenden Herrin noch blasser und stand selbst kurz vor einer Ohnmacht.

»Bringen wir sie zurück«, wies Celeste die beiden an und strich ihrer Herrin dann sanft über die feuchte Stirn. »Die Zeit für Euer Kind ist gekommen. Es genügt ihm nun nicht länger, die Welt aus Euren Augen zu betrachten.«

Die Kammerfrau umfasste den Arm der jungen Gräfin. »Josette«, herrschte sie die Magd an. »Komm und hilf mir, sie aufzurichten.«

Das dralle Mädchen folgte dem Befehl, auch wenn ihre Knie weich wie Butter waren und der Rest ihres Körpers wie Espenlaub zitterte. Sie war die Jüngste in ihrer Familie und hatte noch nie zuvor einer Geburt beigewohnt.

»Und du, Sylvie, lauf und besorge heißes Wasser und ruf den Medikus oder meinetwegen auch eine Hebamme.«

Die Angesprochene nickte und rannte dann los, so schnell wie noch nie zuvor in ihrem Leben.

Unter Schreien und Stöhnen ließ sich die Gräfin in ihr Schlafgemach führen. Inzwischen waren sämtliche Dienstboten im Gang zusammengelaufen und alle begafften die merkwürdige Prozession. Die junge Herrin konnte sich kaum auf den Beinen halten. Ihr Atem fand einen lauten Widerhall an den hohen Wänden des Ganges, während ihre Füße feuchte Spuren auf dem Steinfußboden hinterließen. Das Fruchtwasser lief an ihren Beinen herab und durchnässte ihr Hemd. Ihr Stöhnen, das sie zwischendurch von sich gab, brachte die Dienstboten dazu, sich zu bekreuzigen.

»Was steht ihr da und haltet Maulaffen feil!«, fuhr Celeste die Dienstboten an. »Los, an die Arbeit!«

Ihre Worte hatten die Wirkung eines Peitschenhiebes und das Gesinde lief schleunigst auseinander.

 

*

 

Auch Armand hatte die Unruhe in seiner Burg bemerkt. Der Schrei seiner Frau hatte ihn, einen Mann, der kein noch so scharfes Schwert fürchtete, gehörig zusammenschrecken lassen.

Er wusste, dass ihre Schwangerschaft weit vorangeschritten war und dass das Kind jeden Tag auf die Welt kommen konnte. Dennoch traf ihn die Erkenntnis völlig überraschend, dass es nun so weit sein könnte.

Kurzerhand beendete er die allmorgendliche Fechtübung mit seinem Hauptmann, warf das Schwert achtlos beiseite und rannte ins Haus zurück. Der Weg bis zum Schlafgemach erschien ihm endlos, doch schließlich erreichte er die Tür und riss sie besorgt auf.

Weit kam er allerdings nicht, es reichte nur, um einen kurzen Blick auf seine Frau und das Blut auf deren Nachthemd zu werfen. Da kam auch schon Celeste auf ihn zu, als sei sie eine Glucke, die ihre Brut vor einem Habicht schützen wollte.

»Herr, Euer Kind kommt«, sagte sie mit einer leichten Verbeugung, während die Mägde die junge Herrin zum Bett geleiteten und ihr das Hemd vom Körper zogen.

Sorgenvoll blickte der Graf auf den geschwollenen Leib seiner Gemahlin. Nicole lag inzwischen auf dem Bett und über ihre Blöße war ein Leintuch gedeckt.

»Ihr solltet nach einer Hebamme schicken.«

»Kann mein Medikus nicht nach ihr sehen?«

Armand hatte noch immer deutlich vor Augen, wie sich die Hebamme damals angestellt hatte, die seine zweite Frau entbinden wollte.

Celeste blickte ihn verwundert an. »Aber Seigneur, dies hier ist Frauensache. Wollt Ihr nicht lieber ...«

Der Graf unterband ihren Redefluss, indem er die Hand hob. »Der Medikus wird nach ihr sehen. Schickt eine Magd nach ihm.«

In Celestes Augen lag noch immer der Zweifel, ob dies das Richtige sei. Immerhin waren Geburten Frauensache. Ein Mann hatte dort nichts zu suchen. Dennoch antwortete sie: »Wie Ihr wünscht, Seigneur.« Dann knickste sie und wandte sich an eine der Mägde, die mit Tüchern und einem Wasserkessel herbeieilten.

»Geh und sag dem Medikus Bescheid, er möge sich auf Wunsch des Grafen hier einfinden.«

Das Mädchen blickte ebenso überrascht drein wie Celeste zuvor, doch es wagte keine Widerrede und lief sogleich los.

Armand beobachtete derweil, wie man seine Gemahlin auf ihr Lager bettete. »Gibt es nichts, was ich tun könnte?«, fragte er besorgt.

»Betet für Eure Gemahlin, Seigneur«, sagte die Kammerfrau und verschwand dann mit den Tüchern, die sie dem Mädchen abgenommen hatte, durch die Tür.

Der Graf fühlte sich in diesem Augenblick so hilflos wie ein Kind, das allein nicht mehr aus dem Wald herausfindet. Er stand noch eine Weile ratlos vor der Tür, wandte sich dann aber um. Vielleicht hat Celeste recht, ich sollte für Nicole beten, dachte er und begab sich dann zu der kleinen Burgkapelle.

Unterwegs begegnete ihm der Medikus, den die Magd offenbar gerade aus dem Bett geholt hatte, denn seine Kleider saßen auffällig unordentlich. Er verneigte sich kurz vor dem Grafen, da rief dieser ihm auch schon zu: »Dass Ihr mir ja auf meine Gemahlin und das Kind achtgebt! Lasst sie nicht zu Schaden kommen, sonst habt Ihr die Anstellung in meinen Diensten verwirkt!«

Der Arzt, ein Mann mit ergrautem Haar und verwaschenen Gesichtszügen, nickte untertänig und setzte dann seinen Weg fort.

Im Hof wartete Masson auf den Grafen. Die Nachricht, dass seine Herrin das Kind des Grafen gebar, schien ihn ebenfalls sehr mitzunehmen. Sein Gesicht war kreidebleich und seine Lippen zitterten, als er fragte: »Wie geht es Eurer Gemahlin?«

»Sie bekommt mein Kind, mehr kann ich dir nicht sagen. Beten wir, dass Gott uns diesmal gnädig sein möge.« Damit lief Armand weiter zur Kapelle.

Vor dem Altar angekommen, kniete er mit gesenktem Kopf vor der Mutter Gottes, die das Jesuskind auf dem Arm hielt, nieder und bat darum, dass seine Gemahlin und auch sein Kind überleben mögen.

Das Morgenlicht fiel strahlend durch die Kirchenfenster und zeichnete deren Ornamente auf den Steinfußboden vor ihm. Armand hatte dafür keinen Blick. Er versuchte, ganz in die Psalmen einzutauchen, um sicherzugehen, dass sie Gott auch erreichten.

Nicole hatte das Gefühl zu zerreißen. Die Wehen kamen in immer kürzeren Abständen und waren zunehmend heftig. Gleichzeitig wurde ihr die Luft immer unerträglicher. Von Wasserdampf, Schweiß und dem Geruch ihres Fruchtwassers erfüllt, wirkte sie so dick, als könnte man sie in Scheiben schneiden. Dabei war das noch gar nicht das Schlimmste.

Der Medikus, den ihr Mann ihr geschickt hatte, wirkte erschreckend hilflos. Er mochte vielleicht in der Lage sein, Magenschmerzen zu kurieren und Brüche zu schienen, doch Ahnung von der Hebammenkunst hatte er nicht. Das war Nicole klar geworden, als er sie kurz nach seinem Eintreffen geradezu stümperhaft untersucht hatte.

»Warum keine Hebamme?«, hatte die Gräfin Celeste zugeflüstert, als der Medikus unter dem Laken verschwunden war, das man über ihre Beine gespannt hatte.

Ihre Kammerfrau hatte den Blick gesenkt und geantwortet: »Der Herr hat befohlen, dass sich der Leibarzt um Euch kümmern soll.«

Auf diese Antwort hin wäre Nicole beinahe ein Fluch über die Lippen gekommen.

Verdammter Berieux!, dachte sie. Will er mich umbringen, indem er mich in die Hand eines solchen Hohlkopfes gibt? Warum kann ich nicht wie jede Frau eine Hebamme haben?

Der erneut heraufziehende Zorn verebbte unter einer weiteren Schmerzwelle.

Nicole klammerte sich an ihren Schenkeln fest, da sie spürte, wie ihre Kraft allmählich schwand. Hin und wieder hatte sie beobachtet, wie die Mägde blutdurchtränkte Tücher fortgeschafft hatten.

»Wann kommt es denn endlich?«, schrie sie verzweifelt auf. Auf einmal überkam sie Todesangst.

Erneut schob der Arzt eine Hand unter das Laken, und in ihrem Schmerz bemerkte Nicole nicht einmal, wie er in sie hineinfuhr.

»Der Muttermund ist offen, eigentlich müsste es ...« Der Medikus brach ab, als hätte er gerade eine erschreckende Entdeckung gemacht.

»Was ist?«, fuhr Nicole ihn an. Ohne dass sie es verhindern konnte, sanken ihre Arme kraftlos auf das Bett.

Der Medikus beachtete sie nicht weiter. »Sagt dem Grafen Bescheid«, rief er den Frauen zu. »Er soll unverzüglich herkommen.«

Celeste blickte den Arzt, der auf einmal kalkweiß geworden war, erschrocken an, dann stürmte sie aus der Tür. Draußen schnappte sie sich den erstbesten Mann, der ihr über den Weg lief.

Es war Jean, der Laufbursche. Schon von Kindesbeinen an stand er im Dienst des Grafen und erst vor kurzem war er selbst Vater geworden.

Seinem Weib hat eine Hebamme beigestanden und kein Medikus, ging es Celeste durch den Sinn, doch laut sagte sie: »Lauf in die Kapelle und hol den Grafen. Schnell!«

Jean blickte sie verwundert an, aber in ihrer Stimme hatte genug Nachdruck gelegen, um ihn sofort loseilen zu lassen.

 

*

 

Während er seine Gebete immer wieder von neuem begann, merkte Armand nicht, wie die Zeit verrann. Ungeduld und Angst tobten in ihm. Sein Herz raste und seine Ohren lauschten verzweifelt auf den ersten Schrei des Kindes, aber dieser war bisher ausgeblieben.

Da hörte er Schritte, die sich auf dem Kiesweg der Kapelle näherten. Hastige Schritte.

Als sich der Graf, aufgeschreckt durch den Klang, jäh umwandte, sah er Jean durch die Kapellenpforte stürmen.

»Herr, Ihr solltet besser kommen.« Die Stimme des Mannes durchschnitt die Stille wie ein scharfes Messer.

Armand richtete sich auf und seine Angst wurde größer. Beinahe war sie mit dem zu vergleichen, was er gefühlt hatte, als die wilden Mameluckenkrieger auf das Heer des Königs zugestürmt waren.

»Was ist geschehen?«

»Das weiß ich nicht, aber Celeste hat mir aufgetragen, Euch sofort Bescheid zu geben«, antwortete der Bote.

Armand schloss die Augen. Das konnte nur eines bedeuten.

Ohne ein Wort zu sagen, lief er los.

Jean rief ihm noch etwas hinterher, aber der Graf hörte nicht darauf. Sein Pulsschlag dröhnte wie das Schlagen eines Schmiedehammers durch seinen Verstand.

Keuchend machte er wenig später vor der Tür von Nicoles Gemach halt und riss sie auf. Das Bild, das sich ihm beim Betreten des Schlafgemachs bot, war furchterregend.

Nicole hatte anscheinend viel Blut verloren und anstatt zu schreien, stöhnte sie nur noch schwach. Ihr vormals glühend rotes Gesicht wurde allmählich grau. Das Laken war ebenso blutbefleckt wie die unzähligen Tücher, die auf dem Boden lagen.

Armand musste sich angesichts dieses Anblicks am Türrahmen abstützen. Wieder hatte er vor Augen, wie seine anderen beiden Frauen gestorben waren.

»Verzeiht mir, Seigneur«, sagte der Medikus, während er furchtsam den Kopf neigte. »Das Kind liegt mit dem Rücken nach unten. Ich kann Eurer Gemahlin nicht helfen, wenn es sich nicht durch ein Wunder noch dreht.«

Diese Worte trafen Armand wie ein Schlag ins Gesicht. Offenbar wollte Gott wirklich nicht, dass er einen Erben bekam. Oder es war der Fluch des Sultans …

»Vielleicht solltet Ihr doch nach einer Hebamme schicken«, brachte Celeste hervor, die über die Worte des Medikus ebenso erschrocken war.

Der Graf wirkte, als wollte er diesen Vorschlag erneut abschmettern, da meldete sich Jean, der hinter dem Grafen zurückgeblieben war, zu Wort.

»Seigneur, bitte verzeiht mir, wenn ich spreche«, sagte er mit zitternder Stimme und wartete auf eine Reaktion seines Herrn.

Armand nickte schwach.

»Ich weiß von einer Schäferin, die in dem alten Turm in den Wiesen wohnt«, berichtete Jean daraufhin. »Aimee ist ihr Name. Sie hat vergangenen Sommer meine Frau entbunden. Es gibt keine, die besser in dieser Kunst geübt ist als sie. Nicht einmal die Hebamme im Dorf ist kenntnisreicher.«

Armand fragte sich, warum er noch nie von dieser Frau gehört hatte. Wahrscheinlich, weil es schon eine Weile her war, dass eine Hebamme seine Burg betreten durfte.

»Im alten Turm wohnt sie, sagst du?«

Der Graf erinnerte sich, einmal bei einer Jagd durch diese Gegend geritten zu sein. Der Turm hatte einst zu einer Burg gehört, deren Herr gestorben war und die dessen Feinde daraufhin geschleift hatten. Der Name dieses Herrn war längst vergessen, der Turm war geblieben. Als er ihn das letzte Mal gesehen hatte, war ihm zwar keine Schäferin aufgefallen, aber Jean wusste sicher, wovon er sprach.

»Hol sie!«, befahl der Graf ohne Umschweife und gewann mit diesen Worten seine Standfestigkeit zurück. »Geh zu Masson und sag ihm, was los ist! Die Frau soll unverzüglich herkommen!«

Während Jean auf der Stelle losrannte, trat Armand an das Bett seiner Frau und streichelte über ihr schweißnasses Haar. Obwohl sie die Augen noch immer offen hielt, schien sie seine Gegenwart nicht zu bemerken.

Durch das Fenster konnte er bald darauf Hufschlag vernehmen, als seine Männer losritten. Im Stillen betete er, dass sie die Schäferin möglichst schnell fanden und zu ihm brachten.

 

3. Kapitel

 

 

Der Morgen war schon ein paar Stunden alt, als Aimee ihren Turm verließ und sich auf den Weg zu ihrer Schafherde machte, die unweit neben einem See graste.

Sie reckte das Gesicht der Sonne entgegen und schloss genießerisch die Augen, als sie die warmen Strahlen auf ihren Wangen spürte. Dann strich sie sich das blonde, von roten Strähnen durchzogene Haar über die Schultern, griff nach ihrem Hirtenstock und stapfte los.

Während sie den Blick über die von hohen Bäumen gesäumte Wiese schweifen ließ, kamen ihr wieder die alten Geschichten in den Sinn, die man sich über sie erzählte.

Einige Menschen glaubten, dass ihr ährenblondes Haar nur deshalb von roten Strähnen durchzogen war, weil sie die Gabe der Voraussicht hätte.

Das Schicksal hatte es so bestimmt, dass sich bei jedem Leid, das ihr zugefügt wurde, jeweils einige Locken rot färbten. Woher das kam, wusste sie nicht, aber die Menschen waren der festen Überzeugung, dass sie dadurch ihr bevorstehendes Leid vorhersehen könnte.

Aimee konnte das bestreiten, wie sie wollte, das Gerücht hielt sich hartnäckig. Es hätte durchaus gereicht, um zu verbreiten, dass sie eine Hexe sei, aber die Menschen behandelten sie mit größtem Respekt. Sie war es, nach der man rief, wenn eine der Frauen oder Mädchen ein Kind bekam. Sie war es, die Frauen Fruchtbarkeit bescherte und ihnen half, wenn sie von Krankheit befallen waren. Sie war es, die oftmals als Letzte retten konnte, was stümperhafte Ärzte und Hebammen verbrochen hatten.

Als sie sich ein Stück weit von ihrem Turm entfernt hatte, blieb sie kurz stehen. Es war, als hätte sie ein Geräusch vernommen, doch als sie sich umwandte, erblickte sie nichts als den Turm.

Die Leute aus den Dörfern hatten ihrem Unterschlupf den Beinamen »Der Alte« gegeben. Sie selbst nannte ihn lieber den Rosenturm, weil er von dichten, wilden Rosenstöcken umwuchert war, die im Sommer zartrosa Blüten ausbildeten. Die dornigen Ranken umarmten das Gestein und wucherten zuweilen auch durch die Fenster, die sich nur mit hölzernen Läden verschließen ließen.

Das Innere war karg eingerichtet. Außer einem Bett, einer Feuerstelle, in der ein geschwärzter Kessel hing, und einem wackligen Tisch gab es nur noch einen geflickten Schemel. Aber das reichte Aimee. Die Räume waren erfüllt vom Duft der Kräuter, die sie trocknete. Im Sommer strömte zusätzlich das Aroma der Rosenblüten und der fernen Lavendelbüsche, die in der Grafschaft im Überfluss gediehen, herein. Um ihre Haare zu schmücken, fand sie den ganzen Sommer über Blüten. Ihr Gewand aus rauem Leinen war so robust, dass sie sich nur jedes Jahr ein neues schneidern musste.

Ganz vollständig war der Turm nicht mehr, doch durch die massigen Steine und die dicken Wände bot er ihr eine sichere Unterkunft. Von der Spitze aus, die einstmals ein Dach geziert hatte, das einem Unwetter zum Opfer gefallen war, hatte Aimee einen hervorragenden Rundblick über ihre Herde, die von weitem wirkte, als seien Wolken auf die grüne Wiese gefallen. Von dort aus sah sie im Hochsommer auch das prächtige Violett des Lavendels, dass sich wie ein Band durch die Grafschaft Berieux zog.