Die lieblichste der lieblichsten Gestalten - Friedemann Bedürftig - E-Book

Die lieblichste der lieblichsten Gestalten E-Book

Friedemann Bedürftig

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Beschreibung

Goethes letzte Liebe und sein größtes Gedicht Im September 1823 reist Goethe aufgewühlt aus Karlsbad ab. Die 19jährige Ulrike von Levetzow hat seinen Heiratsantrag mit einem unausgesprochenen «nein» beantwortet. Noch in der Kutsche beginnt er mit der Niederschrift eines Gedichts: ein schmerzlicher, fast lebensbedrohlicher Prozeß, in dem der 74jährige Leben in Kunst überführt, Abstand gewinnt und sich dadurch rettet. Die «Marienbader Elegie» ist entstanden.

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Seitenzahl: 254

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Friedemann Bedürftig

Die lieblichste der lieblichsten Gestalten

Ulrike von Levetzow und Goethe

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Goethes letzte Liebe und sein größtes Gedicht

 

Im September 1823 reist Goethe aufgewühlt aus Karlsbad ab. Die 19jährige Ulrike von Levetzow hat seinen Heiratsantrag mit einem unausgesprochenen «nein» beantwortet. Noch in der Kutsche beginnt er mit der Niederschrift eines Gedichts: ein schmerzlicher, fast lebensbedrohlicher Prozeß, in dem der 74jährige Leben in Kunst überführt, Abstand gewinnt und sich dadurch rettet. Die «Marienbader Elegie» ist entstanden.

Über Friedemann Bedürftig

Friedemann Bedürftig, geboren 1940 in Breslau, studierte Germanistik und Geschichte in Tübingen. Er arbeitete als Lexikonredakteur, Verlagslektor und Journalist.

Inhaltsübersicht

PrologKarlsbadEgerPößneckJenaWeimarEpilogElegie. September 1823

Prolog

«Sah ein Knab ein Röslein stehn …» – Urvers aller Liebeslieder. Was aber, wenn der «Knab» über siebzig Jahre alt wäre und das «Röslein» ein junges Ding von achtzehn oder neunzehn? Das will selbst in unseren Zeiten des notorischen Tabu-Bruchs und des «so what?» nicht recht passen. Da ist dann auf einmal gar nicht mehr so sehr die Frage, was dem oder jenem gefällt, sondern wieder vielmehr, was sich ziemt, obwohl alle Instanzen, die einst darüber zu befinden gehabt hätten, längst entmachtet sind.

1823 aber setzten sie noch frag- und konkurrenzlos die sittlichen Maßstäbe, da kamen Ausnahmen nur sozusagen von Gottes Gnaden in Frage, und auch das noch rechtsförmig bemäntelt als Ehen «zur linken Hand». Gewiß, Goethe galt durchaus als gottbegnadet, aber doch allenfalls poetisch. Was den Benimm anging, stand ihm keine Extrawurst zu, und er selbst wäre der letzte gewesen, an gesellschaftlichen Schranken zu rütteln, siehe Tasso. War er beispielsweise mit seinem Landesherrn Karl August allein, gestattete der ihm das freundschaftliche «Du». Kam aber ein auch nur halbwegs Fremder ums Eck, hieß es ruckartig auf «Durchlaucht» umschalten.

Und doch: In der Liebe scherte Goethe sich nicht darum, was die Mode streng geteilt, wie es Freund Schiller ausgedrückt hatte. Schon seine gerade auch von diesem berümpfte Liaison mit Christiane Vulpius, die er erst nach achtzehn Jahren «wilder Ehe» und mehreren Schwangerschaften legalisiert hatte, zeigte, daß er es in intimis souverän ignorierte, wenn sich die Leute das Maul zerrissen. Er stand unerschütterlich zu seinem «Verhältnis» und zu seinem «natürlichen» Sohn. Das allerdings, was sich seit 1821 anbahnte – seine Frau war vor einem Jahrfünft gestorben –, bot womöglich noch mehr Lästerstoff, denn zum Unschicklichen kam in den Augen der Tugendbolde ein Zug ins Blamable.

Längst vergessen wäre der Zwischenfall, hätte er nicht Stoff und Impuls geliefert für ein Gedicht, das in der Weltliteratur seinesgleichen sucht: In der «Marienbader Elegie» spiegelt sich die tiefe seelische Erschütterung des Dichters, gehen Kunst und Leben einen rettenden Bund ein, reflektiert Lyrik über Sehnen und Singen und mithin über sich selbst. Um zu verstehen, wie sich Poesie aus einem tiefen Lebenstal heraus zu solcher Intensität aufschwingen kann, ist zunächst der biographische Hintergrund zu beleuchten.

***

Im fraglichen Jahr war der Dichter erstmals nach Marienbad zur Kur gefahren, nachdem er schon im Vorjahr dem im Aufbau befindlichen Ort eine Stippvisite abgestattet hatte. «Nicht leicht habe ich etwas Erfreulicheres gesehen», hatte er damals nach Hause gemeldet und damit sowohl die planvolle Bäderanlage wie die geologischen Neuigkeiten der Gegend gemeint. Karlsbad, bisher sein Favorit unter den Gesundbrunnen im Böhmischen, war in diesem Punkt für ihn weitgehend abgegrast. Auch bestach ihn das neue, ansehnliche, nach dem gräflichen Erbauer benannte Klebelsbergsche Palais. Das aber war verwunschen, was Goethe freilich erst in den beiden Folgejahren zur Gänze aufging.

Betrieben nämlich wurde es von einem Herrn von Brösigke, dessen lieblicher Tochter Amalie, verheiratete und inzwischen verwitwete von Levetzow, Goethe schon 1806 in Karlsbad begegnet war; er sprach von ihr bewundernd als einem «glänzenden Stern meines früheren Horizonts». Diese nahm nun natürlich auch Quartier im buchstäblich hohen Haus des Vaters, von wo der ganze noch wenig bewachsene Ort zu überblicken war und auf dessen Terrasse man weithin gesehen wurde. Dieser Aspekt nämlich fällt beim Kuren kaum weniger ins Gewicht als die Aussicht. Amalie hatte mittlerweile ihrerseits drei liebliche Töchter, von deren anmutigen Gestalten sich Goethe gern eingerahmt sah und denen er soviel Aufmerksamkeit schenkte, daß sich die Zaungäste darüber in allerlei, und keineswegs nur wohlwollenden, Mutmaßungen ergingen.

Zunächst, 1821, sah man im Quartett Goethes mit den drei noch fast kindlichen Grazien nur Großväterliches und erzählte sich angelegentlich manches über die schwierigen Verhältnisse des verehrten Geheimrats daheim in Weimar. Sohn August und Schwiegertochter Ottilie, die in der Mansardenwohnung des Goethe-Hauses am Frauenplan wohnten, vergällten ihm die Häuslichkeit durch Vergnügungssucht, Oberflächlichkeit und Unruhe. Hier bei den Levetzows habe er offenbar jenes Behagen gefunden, das ihn nun sichtlich aufblühen lasse. Die damals 17jährige Ulrike, still und aufmerksam, lauschte geduldig den Belehrungen Goethes. Die um zwei Jahre jüngere Amelie war ständig zu Neckereien aufgelegt und brachte den alten Herrn manchmal hübsch auf Trab. Und Bertha, die jüngste, zeigte erfreuliches Interesse an seinen geologischmineralogischen Sammlungen.

Im Folgesommer traf man sich erneut im Klebelsbergschen Palais und nahm sogleich den vertrauten Umgang wieder auf. Eine Veränderung aber gab es insofern, als Goethe nun besonders Ulrikes Nähe suchte, mit ihr spazierenging, um ihretwillen ausdauernd tanzte, ihr Bücher schenkte und Widmungszeilen hineinschrieb. So las die junge Frau in einem Band der Lebenserinnerungen «Dichtung und Wahrheit» mit dem Abschnitt über des Dichters Teilnahme am Feldzug in Frankreich 1792: «Wie schlimm es einem Freund ergangen, / Davon gibt dieses Buch Bericht. / Nun ist sein tröstendes Verlangen: / Zur guten Zeit vergiß ihn nicht.» Auf die Idee, darin mehr zu sehen als eine nette Geste, kam Ulrike an dieser Stelle ebensowenig wie bei einem Scherz Goethes, der ihr ein paar Fundstücke von Gebirgsexkursionen mitgebracht hatte, wohlwissend, daß sie sich dafür wenig zu begeistern vermochte. Deswegen hatte er zwischen den Steinen Wiener Schokolade versteckt und dazu den Vers: «Genieß das auf deine eigne Weise, / wo nicht als Trank, doch als geliebte Speise.» Das fand Ulrike «entzückend», mehr nicht.

Der Dichter aber machte sich keine Illusionen. Er fühlte, daß sich für die erblühte Ulrike längst mehr als nur Großväterlichkeit in seinem Herzen regte. Es trieb ihn um, und wie stets suchte er poetisch zu ergründen, wie es um ihn stand. Dabei flogen ihm Verse zu, die den Sog der Schönheit und den Bann der Jugend eher verstärkten als Klärung schufen. «Könnt ich vor mir selber fliehn …», seufzte er, und: «Ach, wer doch wieder gesundete!» Ja, er war liebeskrank, ein Zustand, der sich nach dem Abschied am 25. August 1822 in sehnsuchtsvollen Versen äußerte. Im Wechsel von männlichem und weiblichem Part erklingen «Äolsharfen», so der Titel, im Windhauch, und «Er», Goethe, beschwört den Regenbogen («Iris») als Zeichen eines ewigen Bundes: «Ja, du bist wohl an Iris zu vergleichen! / Ein liebenswürdig Wunderzeichen. / So schmiegsam herrlich, bunt in Harmonie / Und immer neu und immer gleich wie sie.»

Trost bot ihm nur, daß auch im kommenden Jahr wieder gemeinsame Marienbader Wochen anstanden. Ulrike schrieb ihm darüber gegen Jahresende, und Goethe antwortete am 9. Januar 1823, er gedenke ihrer ständig wie ein «liebender Papa seiner treuen, schönen Tochter». Eine geübtere Leserin hätte wohl spätestens beim Briefschluß die Ungeduld des Verliebten gespürt: «Möge mir an Ihrer Seite jenes Gebirgstal mit seinen Quellen so heilbringend werden und bleiben als ich wünsche Sie froh und glücklich wieder zu finden, treu anhänglich J.W.v.Goethe.»

***

Aus dem Wiedersehen wäre um ein Haar nichts geworden, denn der Dichter erkrankte im Frühjahr an einer lebensbedrohlichen Herzbeutelentzündung (Perikarditis). Er genas nur sehr allmählich, aber er genas. Die Aussicht auf das baldige Zusammensein mit seiner Marienbader «Familie» und vor allem mit Ulrike dürfte die Lebensgeister dabei nicht unwesentlich unterstützt haben. Am 26. Juni verließ Goethe Weimar, am 2. Juli erreichte er Marienbad, und am 11. Juli schloß sich der traute Kreis erneut, denn da trafen die Levetzows ein. Allerdings wohnte Goethe nun in der «Goldenen Traube» gegenüber, weil Großherzog Karl August auf seinen Rat hin ebenfalls nach Marienbad gekommen war und das Palais beanspruchte. Treffpunkt aber blieb weiter die Brösigke-Terrasse, in diesem Jahr womöglich noch intensiver genutzt als früher, denn jetzt hielten hier Herzog und Dichterfürst zugleich Hof vor aller Augen. Auch wenn sich vieles in Salons und im Ballsaal abspielte, dem Publikum blieb nichts verborgen. Staunend verfolgte es, daß sich hier eine Posse entwickelte, oder gar eine Schmierenkomödie, wie es manche empfanden. Was kann es Alberneres geben als einen scharwenzelnden verliebten Greis, der sich bei Pfänderspielen lächerlich macht, glühenden Gesichts an Hopsereien der Jungen teilnimmt und nur noch Augen für die Angebetete hat? Noch dazu für eine, die kaum den Mädchenjahren entwachsen ist? Der große Goethe und das ahnungslose Kind! Man faßte es nicht und konnte doch bald ebensowenig mehr im Zweifel sein, wie es der Dichter selbst war. Er diktierte ein kaum verhülltes Geständnis, in dem er von «heiligen Nächten» spricht, in denen er von ihr geträumt habe und davon, daß ihm ihre «Gegenwart unentbehrlich» geworden sei. «Sollte das nicht», fragt er sich rhetorisch, «auf eine recht innerliche Zuneigung deuten, auf unbezwingliche Anhänglichkeit und wahre Liebe?»

Nicht satt sehen konnte er sich an seinem «Töchterchen», ja er bat Ulrike sogar um bestimmte Bewegungen. Ob sie ihm nicht ein paar Steine aufheben und bringen könne? Nur um sich an ihrem Bücken zu entzücken, wie er der Mutter ganz offen erklärte. Und seinem großherzoglichen Freund bekannte er: Er, Goethe, habe einen Arzt zu Rate gezogen und gefragt, ob in seinem Alter der Lebensbund mit einer jungen Frau schaden könne. Der Doktor habe keinerlei Bedenken geäußert. Karl August mochte sich vorstellen, wie der Medizinmann dabei innerlich gegrinst hatte, und auch er selber schüttelte erst einmal den Kopf: «Hörst du noch nicht auf, Alter? Immer Mädchen!» Doch er kannte seinen Goethe und sah das flackernde Feuer der Hoffnung und des Verlangens in den großen dunklen Augen. Und warum am Ende auch nicht? Mußte der Ewig-Liebende, der nach Verführung Schmachtende seine alten Tage einsam und im bitteren Gezänk mit der Familie des durstigen Sohnes vergeuden?

Der Großherzog erklärte sich bereit, bei den Levetzows den Brautwerber zu machen. Ihn könne man so ohne weiteres nicht zurückweisen, zumal er Mutter wie Tochter Verlockendes in seiner Residenz anbieten wolle: Haus, Hofnähe, Pension. Wie das Gespräch dann tatsächlich verlief, darüber wissen wir wenig. Es wird wohl auf ein höfliches Hinhalten hinausgelaufen sein. Jedenfalls war nichts an den Gerüchten, die sofort kursierten: Goethe habe die älteste Levetzow bereits geheiratet. Das nun nicht, aber abgeblasen war der Plan auch noch nicht, und der Dichter selbst hielt die Gerüchteküche am Brodeln durch Briefe nach Hause. Darin fanden sich allerhand Anspielungen auf den Namen «Ulrike», den auch die Schwägerin des Sohnes trug. Vielleicht könnte ein «Drittes oder Viertes» hinzukommen und das Zusammensein daheim befördern, fügte er hinzu.

Das war am 18. August, und die in der Luft hängende Entscheidung zerrte an aller Nerven. Man brauchte Distanz, auch um Ulrikes willen, fand die Mutter. Die Levetzows reisten zwei Tage später nach Karlsbad. Goethe ahnte wohl, daß dies ein unausgesprochenes «Nein» bedeutete. Er habe, hieß es im letzten Marienbader Schreiben nach Weimar, «das Bittersüße des Kelchs bis auf die Neige getrunken und ausgeschlürft». Akzeptieren aber mochte er den definitiven Abschied noch nicht. «Möge das alles werden, wie ich’s denke und wünsche», äußerte er wenig später im selben Brief, der auch seine Abreise aus Marienbad ankündigte, das nun «ganz leer» für ihn sei. Er werde nach Eger gehen.

Das tat er auch, aber es hielt ihn dort nicht. War doch noch etwas im Kelch? Er reiste den Levetzows nach und quartierte sich am 25. August im selben Haus in Karlsbad ein, im Stockwerk über den Damen. Keine Seite sprach in den verbleibenden zwölf Tagen von dem Antrag und darüber, ob eine Verbindung Goethes mit Ulrike überhaupt in Betracht käme. Für die junge Frau stand offenbar fest, daß es mit Rücksicht auf Goethes Familie und auf den enormen Altersunterschied besser bei Töchterlichkeiten bleiben sollte. Goethe selbst rührte nicht daran, zu leicht hätte er den Zauber zerstören können, der sie alle umfing. Denn es wurden unbeschwerte, ja heitere Tage, die zu verkürzen ihm selbst dann als Frevel erschienen wäre, wenn es tatsächlich die letzten, ja die «letztesten» sein sollten, wie er es in der bald entstehenden «Elegie» erkennen und benennen würde.

Höhepunkt wurde sein 74. Geburtstag am 28. August. Die Levetzows hatten sich geschworen, darüber kein Wort zu verlieren, und doch alles Gehörige vorbereitet. Einen frühen Kutschausflug nach Elbogen, ein Picknick und auch ein Geschenk, einen Kristallbecher mit den eingravierten Namen der Töchter. Die Mutter hatte auf allen drei Namen bestanden, damit nicht wieder das Sonderverhältnis zu Ulrike betont würde. Den Becher erhielt Goethe ausdrücklich nicht zum Geburtstag, sondern als Erinnerung an das «schöne Beisammensein». Alle wußten zwar, daß alle wußten, doch zur «fortgesetzten Lustigkeit», wie Goethe im Tagebuch notierte, gehörte eben auch dieses scherzhafte Tabu, das sich erst löste, als man abends heimkehrte und den ganzen Kurort auf den Beinen fand, dem Dichter zu gratulieren. Damit endete der «Tag des öffentlichen Geheimnisses», wie ihn Goethe fortan nannte und damit sowohl das Beschweigen seines Geburtstages wie seines Verhältnisses zu Ulrike meinte. Denn auch über diese asymmetrische Romanze glaubte ja inzwischen jedermann Bescheid zu wissen und mehr oder minder abfällig urteilen zu dürfen.

Noch einige Tage flossen dahin mit «vielfachen Erinnerungen», wie es am 31. August im Tagebuch heißt. Dann nahte die Trennung und der Moment des Erkennens, daß es nun doch die «letzteste» sein würde. Mühsam bewahrte Goethe die Fassung. Ein Kuß noch, dann ein «etwas tumultuarischer Abschied» am 5. September. Er war allein in seinem Wagen. Wie damals 1786 ebenfalls in Karlsbad. Seinerzeit aber war es ein Aufbruch zu neuen Ufern in den heraufdämmernden hellen Tag gewesen. Dieses Mal vermochte nicht einmal die Morgensonne darüber hinwegzutäuschen, daß die Reise in den Abend ging und bereits die Nacht ahnen ließ.

***

Über die nun folgenden Tage und Wochen nach dem Abschied von Ulrike sind wir Nachgeborenen aus Goethes Aufzeichnungen in groben Zügen unterrichtet und wissen zudem ziemlich genau Bescheid darüber, wie sich die ersten Strophen der Marienbader Elegie bildeten. Es ist nämlich 1980 der «Schreib-Calender» wieder aufgetaucht, der es erlaubt, die Anfänge des großen Gedichts sozusagen «im Entstehen aufzuhaschen», Goethe zufolge eine entscheidende Bedingung für das Begreifen von Poesie. Die Metamorphose des Lebensstoffs in Verse, indem aus Leid Lied wird, läßt Goethe gesunden, allerdings erst in einem schmerzlichen, ja lebensbedrohlichen Prozeß, um den es im Weiteren geht.

Karlsbad

Mit einem leichten Ruck setzte sich der Wagen in Bewegung. Goethe saß starr. Er blickte nicht zurück. Als die letzten Häuser von Karlsbad hinter ihnen lagen, ließ er halten. Stadelmann trat an den Schlag.

«Wo hat Er den Schreib-Calender hingetan? Er sollte doch hier drinnen bereit liegen.»

«Um Vergebung. Herr Geheimrat haben das Heft selbst in das Felleisen gepackt.»

«So hol Er es.»

Stadelmann machte sich am aufgeschnallten Gepäck zu schaffen. Mit einem dunkelbraunen, ledergebundenen, schlank-hohen kleinen Buch kletterte er wieder herunter und überreichte es Goethe.

«Danke, Stadelmann. Es kann weitergehen. Aber gemächlich, bitte ich mir aus. Ich will schreiben.»

«Sehr wohl, Herr Geheimrat.»

Die Pferde fielen in Schritt. Goethe wog das dünne Büchlein in der Hand. Er nahm den kurzen Bleistift aus der Lasche daran, zögerte dann aber, den Calender zu öffnen.

«Heute will ich die Abendbeichte vorziehen», murmelte er.

«Das Gedicht arbeitet derweil in mir fort.» Er zog eine andere Kladde hervor und schrieb stockend, weil Gedanken und Kutsche holperten:

«Das alte Buch, ja alles Alte ist zu Asche verbrannt. Die Zukünfte, die ich entworfen, sind nur Vergangenheiten noch. Allein der poetische Lebensfaden glänzt mir weiter vor. Er soll nicht reißen, wenn irgend die Kraft reicht, diesen Abschied als Aufbruch zu nutzen wie den damaligen, genau ein halbes Leben zuvor. Fast auf den Tag vor 37 Jahren: auf gleicher Straße fort von der Liebe.»

Goethe legte das Tagebuch beiseite und griff zum Schreib-Calender des Vorjahres 1822, den er für Reisebemerkungen aufbewahrt hatte. In seinem Mittelteil standen bereits Notizen und Entwürfe der früheren Ulrike-Gedichte. Goethe blätterte das Büchlein von hinten auf, wo neben dem Kalendarium des Monats Dezember Raum für Eintragungen war, senkrecht hatte er damals bei gekipptem Heft in deutscher Schrift die Zeilen geschrieben:

«Was soll ich nun vom Wiedersehen hoffenDas Paradies, die Hölle steht dir offen.

Kein Zweifeln hier! Sie tritt ans Himmels ThorUnd hebt zu ihren Armen dich empor.»

Das war noch in Marienbad entstanden, als Goethe den Plan gefaßt hatte, Ulrike nachzureisen. Er überlas die Verse mehrmals, versank in Gedanken. Nach kurzem Blick aus dem Fenster in die seltsam früh schon herbstliche Landschaft setzte er unter der letzten Zeile neu an, nun in lateinischer, vom Rütteln des Wagens krakeliger Kurrentschrift auf dem rechten Knie schreibend:

«Und hör ein Wort das schönste dich zu fassenDu wirst mich finden wie du mich verlassen.»

Anders als die schon in Marienbad abgefaßten ersten vier Verse durchstrich er die Zeilen nicht schräg von unten nach oben. Er war also nicht zufrieden. Geglücktes nämlich hakte er sonst auf diese Weise für die Reinschrift ab. Er schüttelte den Kopf, blätterte und schrieb auf die Seite des November-Kalendariums die Abwandlung:

«welch hoher lohn

Wenn du sie findest wie du sie verlassen.»

Auch das blieb undurchstrichen. Und die nächsten Zeilen, auf der Novemberrückseite schroff neu beginnend, schienen ihm ebenfalls nicht so zu sprechen, wie gewünscht:

«Und wundert Sich dass nicht um ihretwillenDie Sonne stille Steht.»

Mit der rechten Schreibung und der Zeichensetzung nahm er es wie üblich nicht so genau. Das war Riemers Aufgabe. Wenn denn aus den Anläufen je etwas würde, das er preisgeben konnte. Die Reminiszenz an das im Alten Testament erwähnte Wunder der angehaltenen Sonne gefiel ihm sehr, und doch verwarf er sie wieder. Es brauchte hohen Ton, was er zu sagen hatte, doch nicht überhöhtes Pathos. Goethe blätterte nochmals zurück, fand auf der Dezemberrückseite noch Platz und versuchte einen neuen Kontrapunkt zur gescheiterten Hoffnung der Eingangszeilen:

«Wo Tod und Leben grausam sich bekämpfenWohl gäbs ein Kraut des Körpers Quaal zu stillenAllein dem fehlt an entschlossn Willen»

Das hakte er, obschon noch nicht durchgeformt, ab. Ja, daran ließ sich anschließen, denn der leichtere Duktus durch Wörter wie «gäbs» oder «Kraut» minderte das Schwergewicht der Aussage. Auf der Novembervorderseite und Oktoberrückseite fuhr Goethe fort:

«Fehlt s am Begriff wie er sie soll vermissenUnd wiederholt ihr Bild zutausend malenDoch zauderts bald wird es weggerissenUndeutlich bald und bald im reinsten StrahlenWie möchten sie zum Troste frommenDie Ebb und Fluth ihr gehen und das Kommen»

Mit Tränen im Auge und doch aufatmend durchstrich Goethe auch dies. Er hatte die beiden letzten Passagen hastig vorwärtsdrängend hingeworfen, keinerlei Interpunktionszeichen mehr gesetzt, Buchstaben, ja ganze Wörter weggelassen. Etwa die Antithese zum heilbaren Körper: den «Geist», dem es am «entschlossenen Willen» fehlt. Auch ein zweites «bald» nach «zauderts bald» war rhythmisch bereits mitgedacht, aber nicht hingeschrieben.

In der Eile hatte Goethe nur mit einem kleinen waagerechten Strich unter den ersten drei Zeilen nach dem Reimwort «Willen» den entscheidenden Durchbruch in der Strophenform markiert. Er hatte die sechszeilige Stanze als die angemessene gefunden: vier Verse im Kreuzreim abab, zwei sänftigende Verse im Paarreim cc. Italien und der seinerzeitige rettende Aufbruch dorthin klangen Goethe darin nach. Im «grausamen» Kampf von «Tod und Leben» schien ihm nun der Sieger doch noch nicht festzustehen.

***

Das kräftige «Brrrr!» des Kutschers schreckte Goethe auf. Man hielt an der Poststation Zwodau am gleichnamigen Flüßchen, und da es auf ein Uhr zuging, stieg Goethe aus und begab sich in die Gaststube. Erhebliches Stimmengewirr empfing ihn. Der Wirt, von Stadelmann vorbereitet, begrüßte den neuen Gast mit der gebührenden Ehrerbietung:

«Welche Auszeichnung für mein einfaches Haus, Euer Exzellenz!» dienerte er und führte Goethe an einen etwas abseits stehenden Tisch.

«Macht Euch keine Umstände. Ein einfaches Mahl und, so Ihr habt, eine gute Bouteille Weißer genügen. Doch sagt, was tuscht diese Aufregung hier?» fragte Goethe.

«Haben Exzellenz noch nicht gehört? Die Stadt Hof ist gestern von einem verheerenden Brand heimgesucht worden. Die Wehren sollen der Flammen immer noch nicht gänzlich Herr sein. Der scharfe West schürt sie.»

«Was für ein furchtbarer Schlag», entgegnete Goethe.

«Und er trifft ausgerechnet ein so schön erhaltenes Städtchen. Sind Menschen zu Schaden gekommen?»

«Wie durch ein Wunder nur zwei. Sie opferten sich für die anderen. Es handelt sich um das Türmerehepaar von Sankt Michaelis. Die beiden läuteten so lange die Feuerglocke, bis sie von den Flammen eingeschlossen waren und es kein Entrinnen mehr gab.»

«Ein schreckliches und doch ein gottseliges Ende.» Damit entließ Goethe den Wirt und winkte John heran:

«Bitte holt mir nach dem Essen Schreibutensilien und eine Mappe mit leeren Bogen. Ich habe etwas abzuschreiben.»

«Ist meine Hand nicht mehr gut genug, Herr Geheimrat?»

«Keine Sorge, John, ich halte große Stücke auf sie, das wißt Ihr. Nein, es handelt sich um etwas, das selbst für Eure Augen nicht gedacht ist. Noch nicht.»

«Um Vergebung, Herr Geheimrat.»

John entfernte sich. Das Essen kam. Goethe sprach ihm erstaunlich eifrig zu. Vom Wein aber nahm er nur ein Glas. Er brauchte einen klaren Kopf für die Verse, die ins Reine zu schreibenden wie die weiteren, die sich ihm in Gedanken schon formten. Er zog den Schreib-Calender aus der Rocktasche und übertrug die durchstrichenen Teile des Gedichts strophenweise oder in Sinneinheiten einzeln auf die von John bereitgelegten Bogen. Er hatte es sichtlich eilig und nahm nur einige wenige Änderungen vor. Gegen zwei Uhr ließ er den Wagen vorfahren. John beglich die Rechnung. Der Wirt begleitete Goethe unter Verbeugungen hinaus:

«Hat der Wein Euer Exzellenz nicht gemundet?» erkundigte er sich besorgt.

«Seid ganz beruhigt, guter Mann. Ein vortrefflicher Tropfen. Zu vortrefflich fast. Um ein Haar wäre ich der Versuchung erlegen. Nein, ich habe noch Geschäfte. Da schadet zuweilen die Weinseligkeit. Lebt wohl!»

***

Weiter ging es, nun fast ständig leicht bergan und damit von selbst recht langsam Richtung Falkenau. Goethe hatte sich wieder den Schreib-Calender vorgenommen und blätterte ihn nun vorn auf, da der Mittelteil schon mit früheren Eintragungen gefüllt war. Jetzt, da er die Form gefunden hatte, flossen ihm die Verse ungehemmter zu und hielten meist auch der Überprüfung stand. Auf die Titelrückseite des Calenders schrieb er:

«Wie schlanck und zierlich, fein und zart gewobenSchwebt Seraph gleich aus ernster Wolcken Chor,Als glich es Ihr am blauen Äther drobenEin zart Gebild aus weißem Duft empor.»

Das beschließende Reimpaar paßte nicht mehr hin und kam daher neben das Januar-Kalendarium:

«So sahst du sie im frohen Tanze waltenDie lieblichste der lieblichsten Gestalten».

Die Inbrunst der Steigerung der höchsten Steigerungsstufe trieb Goethe erneut die Tränen ins Auge. Die Suche nach Trost führte den Stift auf der Januarvorderseite rasch weiter:

«Ist denn die Welt nicht übrig? Felsen WändeSind sie nicht mehr gekrönt von heilgen SchattenDie Erndte reift sie nicht ein grün GeländeZieht sichs nicht hin am Fluss …»

Hier mußte er aus Platzmangel sogar die Zeile brechen und schrieb unter Überschlagen eines Blattes auf der Februarrückseite fort:

«… durch Busch und MattenUnd wölbt sich nicht das unermeßlich groseGestaltet jetzt und bald gestaltenlose.»

Goethe blätterte zurück, durchstrich alle Verse zum Zeichen der Zufriedenheit. Dann bemerkte er, daß die halbe Januarrückseite noch frei geblieben war, und setzte dort fort:

«Doch schon verschwindets. Solch ein Bild zu halten Wie»

Er stockte, tilgte energisch alles nach «Doch» und schrieb darüber:

«… nur Momente kannst du frevelnd dencken»

Wieder strich er die drei letzten Wörter, dann erst hatte er die gewünschte Reimanbindung mit:

«Doch nur Momente kannst dich unterwindenEin Luftgebild statt ihrer fest zu haltenIn s herz zurück. Dort wirst du s besser findenDort regt sie sich in wechselnden gestalten».

Das Blatt war voll. Goethe überblätterte wieder das nächste und schrieb den Schluß dieser Strophe wie den der vorigen auf die Februarrückseite:

«Da bildet eins in’s andre sich hinüberSo tausendfach und immer immer lieber.»

Hier trat eine längere Pause ein. Goethe schob die Gardine beiseite und ließ die Landschaft auf sich wirken. Die Natur war seit eh und je seine Muse. In sie sah er hinein, was ihn innerlich erfüllte. Das unaufhaltsame Vorüberziehen der Bilder draußen empfand er wie ein endlos wiederholtes «Nein!» auf die Frage nach der Haltbarkeit der «Luftgebilde», welche die Phantasie uns vorgaukelt. Er griff wieder nach dem Calender, entdeckte die überblätterte Vorderseite des Februars und schrieb den unerfüllbaren Wunsch nach Dauer neben das Kalendarium. Ein reimloses Verspaar, vielleicht ein Baustein für eine noch kommende Strophe:

«O könnt ich wie vom Stein die Bilder druckenWelch eine liebe Sammlung würd es geben»

Zu unfertig schien ihm das allerdings. Er durchstrich die Zeilen nicht, schloß das Büchlein und sah hinaus.

***

Weit konnte es nicht mehr sein, denn die Sonne stand bereits tief über den Fichtenwäldern auf den westlichen Bergen. Da, nach der nächsten Biegung der Straße, sah er es auch schon: Das Schloß Hartenberg des Grafen Auersperg. Es erhob sich mit zahlreichen Nebengebäuden auf einem Felssporn zwischen zwei Tälern und sah auf ein drittes Tal, das tiefste, hinab, in dem die Zwodau glitzerte. Auf gewundenem Fahrweg erreichte Goethes Wagen über eine Landverbindung den rückwärtigen Schloßhof, wo der Graf, ein schöner, wohlgestalteter Mann, etwa in den Fünfzigern, dem Ankömmling freudig die Freitreppe hinab entgegeneilte.

Goethe stieg aus. Man tauschte die üblichen Artigkeiten, jedoch in unüblich herzlicher Weise. Goethe hatte zum Hausherrn eine freundliche Zuneigung gefaßt, seit er vor zwei Jahren erstmals dessen dringlicher Einladung gefolgt war und einen klugen und vielseitig gebildeten Gesprächspartner in ihm gefunden hatte. Damals hatten die Bewohner der Herrschaft Hartenberg Goethe zum 72. Geburtstag mit einem herrlichen Feuerwerk überrascht. Die darin zum Ausdruck gebrachte Verehrung für ihn, selbst unter den einfachen Leuten, hatte ihn tief gerührt. Und so fühlte er sich ein bißchen wie bei einer Heimkehr, als er nun neben dem Grafen zum Portal hinaufstieg.

Wie in den beiden letzten Jahren fand er sein behaglich eingerichtetes Zimmer mit Blumen geschmückt. John und Stadelmann teilten sich ein einfacheres auf demselben Flur. Zum Abendessen umgekleidet, erschien Goethe kurz nach neunzehn Uhr im Salon, wo Graf Auersperg an der geöffneten Flügeltür zum Altan stand.

«Kommen Sie, mein Freund», forderte er den eintretenden Dichter auf. «Werfen Sie einen Scheideblick in den verlöschenden Tag. Im Dorf erglühen bereits die ersten Lichter.»

Goethe trat zu ihm und ließ seine Augen über das fesselnde Schauspiel der heraufkriechenden Dämmerung schweifen. Tief atmete er die Abendluft und schaute auf zum noch hellen Himmel:

«So schön man sich ein Bild im Herzen bewahrt, Graf, so sehr wird es von der Wirklichkeit übertroffen.»

Er hielt inne, bewegt von der Erinnerung an den Kampf um das Bild der Geliebten im Gedicht. Der Schloßherr nahm die Bewegung natürlich als Überwältigung durch die herrliche Aussicht.

«Das macht das ständig wechselnde Kleid, das die Natur der Szene gibt. Mit einem Bild ist dieser Wandel nicht zu bannen. Allenfalls durch den Dichter», fügte er mit vielsagendem Blick auf seinen Gast an.

Goethe lächelte. «Sie schmeicheln, Graf. Der Natur gegenüber sind alle Künstler, auch die des Wortes, Stümper», sagte er und verspürte wieder diesen Schmerz, der ihm beim Schreiben in der Kutsche ständiger Begleiter gewesen war. Ein Diener bat zu Tisch. Es versammelten sich außer den beiden Freunden der kurz vor Goethe aus Wien eingetroffene Sohn des Grafen, Joachim Joseph, ein Endzwanziger und bereits im Staatsdienst tätiger Jurist, die Tante Dorothea, die seit dem Tod der Gräfin dem Haushalt vorstand, und ein zu Besuch weilender Vetter namens Anton Alexander aus einer anderen Linie der Auerspergs, die in Slowenien beheimatet war. Das lebhafte, vornehmlich von Goethe und dem Hausherrn bestrittene Gespräch drehte sich um Fragen der Versorgung der zur Herrschaft gehörenden etwa 5000 Menschen mit Arbeit und Brot, wandte sich dann der Bewirtschaftung des eigentlichen Gutes zu und wollte schließlich in geologisch-mineralogische Erörterungen münden, als der Graf bat:

«Lassen Sie uns das Thema aufheben, Exzellenz, bis zur Besichtigung meiner Mineraliensammlung. Sicher sind alle begierig, von Ihnen zu hören, wie Sie Marienbad und Karlsbad in diesem Jahr gefunden und mit welchen Plänen Sie sich tragen.»

In diesem freundlichen Kreis war Goethe gern bereit, Auskunft zu geben, obwohl er dabei an Wunden rühren mußte. Darüber aber ließe sich hinwegplaudern, hoffte er und hob an:

«Bei Ihrer ländlichen Tätigkeit hier käme Ihnen der Kurbetrieb gewiß als eitles Getändel vor: eine Soirée hier, eine Redoute da, Durchlaucht hier, Exzellenz dort. Und wohin man kommt, am Brunnen oder beim Ball: Klatsch über Nichtigkeiten. So war es stets, und doch: Die neue Umgebung, der eigene Stand unter so vielen anderen, die Muße auch zu ernstem Gespräch – das alles belebt das eingegrübelte Ich», sagte er, und da er wie alle Liebenden den Gegenstand seiner Neigung nicht ganz für sich zu behalten vermochte, setzte er hinzu: «Vielleicht urteile ich zu hart über den Klatsch, weil ich heuer zeitweilig selbst eines seiner Lieblingsopfer habe geben müssen.»

«Das nimmt nicht wunder», warf der Graf ein. «Eine Hoheit des Geistes mag wohl auch unter den hohen Herrschaften das Mundwerk in Gang setzen.»

Goethe hörte heraus, daß manches über Ulrike und ihn scheint’s bis hierher gedrungen war. Dosierte Offenheit schien ihm das geeignete Mittel:

«Zu viel der Ehre für die hohen Herrschaften, wie Sie sie nennen, Graf», nahm er den Faden wieder auf. «Thema Nummer eins sind stets Liebeleien oder was man dafür ausgibt. Finden sich keine geeigneten, werden sie halt herbeigeredet. Und den besten Stoff geben natürlich solche ab, denen sich ein Ruch des Skandalösen abgewinnen läßt. Solchen scheine ich damit geliefert zu haben, daß ich der Familie von Levetzow meine besondere Aufmerksamkeit schenkte. Nicht genug, daß man mir sogleich ein mehr als freundschaftliches Interesse an der schönen verwitweten Mutter andichtete. Ich kam schließlich sogar mit den lieblichen Töchtern ins Gerede. Und es war des Tuschelns kein Ende über den alten Mann und das Gör», schloß er bitter. Keiner wußte so recht etwas zu erwidern, und so brach Goethe rasch das Schweigen, ehe es sich zu Betretenheit ausweiten konnte:

«Fragen wir doch die jungen Leute, ob eine Beziehung, so sagt man heute wohl, zwischen einem Siebziger und einer um fünfzig Jahre Jüngeren eo ipso als Mesalliance anzusehen ist.»

Der junge Graf fühlte sich angesprochen, da der Vetter mit seinen siebzehn Jahren denn wohl doch mit dem Thema überfordert war:

«Exzellenz haben ganz recht: Wie so vieles ist auch dies eine Frage der Perspektive. Es dürften, denke ich, weniger die Jungen gewesen sein, die den Gerüchten Nahrung gegeben haben.»

«Du meinst», unterbrach ihn der Vater, «daß eher Neider und welkende Stiefkinder des Glücks das Reine gern hämend herabziehen?»

«Ja, Herr Vater, nur hätte ich es nie so vollendet auszudrücken verstanden.»

«Ein Gast wie Herr von Goethe inspiriert eben», lachte der Graf und wandte sich wieder diesem zu. «Der Tribut an die Schönheit, da stimme ich Joachim zu, kann nicht Privileg oder gar Monopol der Jugend sein.»