Die liegende Frau - Laura Vogt - E-Book

Die liegende Frau E-Book

Laura Vogt

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Beschreibung

Romina, Romi genannt, erwartet ihr zweites Kind, und seit kurzem gibt es da auch einen zweiten Mann. Szibilla findet es grundsätzlich unverantwortlich, Kinder in die Welt zu setzen, und Romis Polyamorie ist für sie nichts anderes als eine Möglichkeit, sich noch mehr von Männern abhängig zu machen. Was sie verbindet, ist ihre beste Freundin Nora. Doch Nora flieht mit ihrer kleinen Tochter zu ihrer Mutter ins Schweizer Rheintal, legt sich geradewegs ins Bett ihres Jugendzimmers – und schweigt. Ratlos reisen die Freundinnen ihr nach, mieten sich in ein billiges Wellnesshotel ein. Während Romi sich Sorgen um Nora macht, ist Szibilla überzeugt, dass sie diese Auszeit braucht, um wieder zu sich selbst zu kommen. In den fünf Tagen, in denen sie Lebensentwürfe diskutieren, reißen die Gräben zwischen Romi und Szibilla immer weiter auf – bis Nora schließlich ihr Schweigen bricht. Was bedeutet Freiheit, was Verantwortung? Was prägt uns, was wollen wir weitergeben? In ihrem dritten Roman taucht Laura Vogt tief ein in die Gefühlswelt ihrer Figuren, Frauen um die dreißig, und zeigt sie uns mit all ihren Schwächen und Stärken, Enttäuschungen und Hoffnungen. Ein lebendiger, lebensbejahender Roman, der deutlich macht, wie Individualismus, Mutterschaft und Selbstbestimmung ständig neu verhandelt werden müssen.

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Szibilla findet es grundsätzlich unverantwortlich, Kinder in die Welt zu setzen, und Romis Polyamorie ist für sie nichts anderes als eine Möglichkeit, sich noch mehr von Männern abhängig zu machen. Was sie verbindet, ist ihre beste Freundin Nora. Doch Nora flieht mit ihrer kleinen Tochter zu ihrer Mutter ins Schweizer Rheintal, legt sich geradewegs ins Bett ihres Jugendzimmers – und schweigt. Ratlos reisen die Freundinnen ihr nach, mieten sich in ein billiges Wellnesshotel ein. Während Romi sich Sorgen um Nora macht, ist Szibilla überzeugt, dass sie diese Auszeit braucht, um wieder zu sich selbst zu kommen. In den fünf Tagen, in denen sie Lebensentwürfe diskutieren, reißen die Gräben zwischen Romi und Szibilla immer weiter auf – bis Nora schließlich ihr Schweigen bricht.

Was bedeutet Freiheit, was Verantwortung? Was prägt uns, was wollen wir weitergeben? In ihrem dritten Roman taucht Laura Vogt tief ein in die Gefühlswelt ihrer Figuren, Frauen um die dreißig, und zeigt sie uns mit all ihren Schwächen und Stärken, Enttäuschungen und Hoffnungen. Ein lebendiger, lebensbejahender Roman, der deutlich macht, wie Individualismus, Mutterschaft und Selbstbestimmung ständig neu verhandelt werden müssen.

 

 

Inhalt

Erster Tag

Romi

Szibilla

Romi

Szibilla

Romi

Szibilla

Romi

Phil

Szibilla

Anni

Romi

Szibilla

Zweiter Tag

Romi

Szibilla

Romi

Szibilla

Romi

Szibilla

Romi

Anni

Romi

Anni

Romi

Szibilla

Romi

Szibilla

Dritter Tag

Romi

Dennis

Szibilla

Romi

Szibilla

Phil

Romi

Szibilla

Romi

Phil

Romi

Szibilla

Romi

Szibilla

Phil

Romi

Vierter Tag

Romi

Szibilla

Romi

Szibilla

Anni

Szibilla

Romi

Szibilla

Romi

Szibilla

Romi

Szibilla

Romi

Szibilla

Romi

Epilog

Notiz

 

Erster Tag

8. Juni

 

Romi

Es ist ein Zimmer, in dem ich liege, aber welches. Alles um mich verschwommen: schemenhafte Flächen, nur die Weckerziffern leuchten deutlich, sechs Uhr dreizehn. Ich setze mich auf, das Heft neben mir. Mit den Fingerkuppen wische ich über die Notizen, die einzelnen Buchstaben bilden Furchen im dünnen Papier; es ist Dennis’ Zimmer, er schläft, sein Atem geht ruhig, im Gegensatz zu meinem. Sechs Uhr vierzehn. Ich muss los, um halb; ich muss pünktlich sein, muss zu Nora, davor nach Hause, zu Phil und zu Leon, dorthin, wo ich lebe, wo ich mich eingerichtet habe, mich weiterhin einrichte, einzurichten versuche, und nicht nur dort; unsere Wohnung. Phils Wohnung. Sein Erbe, auch der Küchentisch, an dem er saß, vorgestern, während ich fragte: »Ist es noch immer okay für dich, wenn ich morgen bei Dennis übernachte?« Und schnell hinzufügte: »Auch wenn ich die Nächte darauf schon weg bin?«

Phil hob die Schultern wenige Zentimeter, und seine Brauen, wie dicke Pinselstriche über den hellen Augen, blieben unbewegt. Früher wäre ich mir sicher gewesen, dass dieser Blick »Ja« bedeutet. Früher, das heißt bis vor einhundertundzwei Tagen, als wir noch dieses eine Wir waren: ein Mann, eine Frau, ein Kind an der Hand und ein Embryo in einem Bauch, von dem wir noch nicht wussten; wir: fast so weit, umzuziehen, ins Dorf, was wir schließlich auch machten, trotz allem. Trotz Dennis, trotz der Verwischung der Bedeutungen von Worten; Monogamie, Liebe, Familie, wir.

Die Buchstaben auf der Papierseite, meine Finger, die darübergleiten; ich ziehe meine Hand zurück, lege die Hände in meine Kniekehlen, lasse den Kopf auf die Knie sinken; mein Rücken: gekrümmt, von Scham und schlechtem Gewissen. Da kommt ein nächstes Bild, schon wieder dieses, satte Farbtöne: der Mann, die Frau mit Schwangerschaftsbauch und das Kind sitzen auf einem Sofa in einem frisch gestrichenen Wohnzimmer und lächeln, glücklich und gelassen.

Aber diese Frau bin ich im Grunde nie gewesen. Welche Frau bin ich dann? Ich löse die Umklammerung, knipse die Nachttischlampe an.

Notiz

Anzahl der Tage, die wir auf dem Land wohnen: siebenunddreißig.

Anzahl der Kisten, die komplett ausgepackt sind: drei.

Seiten, die ich überarbeitete seit dem Umzug, berufsbedingt: dreiundzwanzig.

Neue Aufträge, die reinkamen: null.

Bilderbücher, die ich las für Leon: zwanzig; jedes mindestens fünfmal.

Tage bis zu meinem dreißigsten Geburtstag: vierunddreißig.

Anzahl der Männer, die ich liebe: zwei.

Anzahl der Betten für mich allein: null.

Was zu tun ist: beim Verlag nachhaken!

Das Heft liegt leicht in meinen Händen, egal, ob ich in Dennis’ Bett sitze wie jetzt oder in dem von Phil und mir. Als hätte all das kein Gewicht, die Zahlen, die Wörter, ich selbst. Erstaunlich, dass der von Feuchtigkeit gewellte Umschlag und die drei locker gewordenen Heftklammern das Ganze überhaupt noch zusammenhalten.

»Ich habe nichts dagegen«, hatte Phil vorgestern geantwortet.

Ich musterte ihn, seine hohe Stirn, das rötliche Haar; sein aufmerksamer und gleichzeitig leicht zurückgezogener Blick begegnete meinem. Nichts hat sich verändert an ihm in den letzten Monaten, scheinbar, nur dieses Etwas an Mattheit, dieses Auflösen seiner Konturen ab und an ist neu.

»Wirklich?«, fragte ich.

»Wir haben doch schon alles besprochen, was Dennis betrifft«, antwortete Phil. »Und auch das mit der Berlinreise.«

Aber Berlin ist gestrichen, seit gestern Nachmittag. Kein Städtetrip mit Nora und Noras zweiter bester Freundin, Szibilla. Nora ist krank, ist bei ihrer Mutter; und ich sollte los, sollte aufstehen, mich anziehen. Im Moment will ich gerade nur eins: noch drei Minuten liegen, bei Dennis, in seinem Zimmer mit dem gelben Teppich, dem Sessel, dem Schreibtisch.

Ich blättere im Notizheft ein paar Seiten nach vorne.

Notiz

Ein Haus in der Stadt, eine Fassade von schräg oben betrachtet. Ich blicke durch ein gekipptes Fenster und erkenne zuerst nur Umrisse, weil sich Licht in den Scheiben spiegelt. Ab und an ist das Lachen einer Frau aus dem Innern des Gebäudes zu hören. Nun sehe ich einen Sessel, einen gelben runden Teppich und einen großen weißen Schreibtisch, auf dem sich drei Stifte befinden – ein stumpfer Bleistift, ein Caran-d’Ache-Kugelschreiber, ein Werbestift von PostFinance. In der hinteren Ecke bemerke ich erst, als ich mich direkt vor der Fensterscheibe befinde, ein Bett. Es ist 140 Zentimeter breit, weiß bezogen, daneben stehen zwei Tassen; ich bin jetzt inmitten des Raumes. Im Bett liegen ein Mann und eine Frau, Körperteile verschwinden unter einer Decke, andere kommen hervor: ein Bein, ein Kopf, Zehen, ein nackter Bauch, eine helle Brust und Hände, die nacheinander greifen; ich gehe näher heran, erkenne: ich bin die Frau, die da liegt, und lache schon wieder laut heraus, als ich den anderen Körper umschlinge mit meinen Armen, ihn zu mir ziehe, in mich hinein; dieser feste, gleichmäßige Druck, wenn er kommt, und ich will dann sofort auch, ich will dann kommen, nah zu ihm und näher, und ich muss lachen, denn es sprudelt überall aus mir heraus, während er mich weiter streichelt, als ginge es darum, etwas nachzuzeichnen mit seinen Händen auf Rücken und Po, so lange, bis auch er vergisst und erneut erbebt.

Ich ändere abermals die Perspektive; ich verlasse den Raum. Ich habe nichts gesehen, im Grunde nichts erkannt. Der Blick geht wieder von schräg oben auf das Fenster von außen, auf die Hausfassade, der Himmel dunkelt ein, Regentropfen lösen sich, aber noch immer ist es warm. Sommer. Schweißtreibend.

Auf der zweiten beschriebenen Seite, in der Ecke unten rechts, kleinere Schrift, steht:

 

»Ich denke, dass Denken eine Art Fühlen und Fühlen eine Art Denken ist.« (Susan Sontag, 1978)

Das habe ich geschrieben, notiert, habe ich? Nur wann, wann war das noch mal, vor ein paar Tagen, im Zug, oder morgens, neben Dennis; nein, in der einen Stunde, am Schreibtisch; kein Datum, keine Uhrzeit. Nur diese Worte, meine Worte, die jetzt wie Fischchen im seichten Wasser in alle möglichen Richtungen strömen, auf einmal fern jeglicher Verbindung, schon nicht mehr sichtbar.

Ich schlage die nächste leere Seite auf und notiere, automatisch; als würde sich nur durch das Notieren von Fakten, von Zahlen, ein Netz knüpfen, das wenigstens einige der Fische einfängt und sie mich betrachten lässt.

Notiz

Anzahl der Tage, bis das Baby kommt, laut Frauenarzt: hundertfünfundfünfzig.

Anzahl der Nächte, die ich bis dahin bei Dennis verbringe, im Haus in der Stadt: zweiundzwanzig.

Anzahl der Stunden, die ich heute im Zug sitzen werde, ins Rheintal: anderthalb.

Anzahl der Tage, die ich dort bleibe, im Hotel (Wellnesshotel??): fünf.

Anzahl der Franken, die das kostet, die Übernachtungen allein; Geld, das ich nicht habe: fast fünfhundert.

Aber ich muss dahin, zu Nora. Was ich hoffe: Dass es ihr bald besser geht. Dass wir uns wieder begegnen können, so richtig, trotz der Distanz in den letzten Wochen. Dass wir uns endlich alles erzählen können. Alles über die letzten Monate.

Niemand kennt mich besser als Nora.

Sechs Uhr siebenundzwanzig. Dennis liegt neben mir mit seitlich ausgestreckten Armen, die Decke reicht ihm bis zu den schmalen Hüften, sein nackter Brustkorb hebt und senkt sich, seine Haut wirkt grau im fahlen Morgenlicht. In einer Dreiviertelstunde muss ich zu Hause sein, bei Leon, mit ihm frühstücken, seine Sachen packen, auch meine, ihn zu Phils Eltern bringen, dann weiter.

Ich sehe Zahlen, schwarz und fett, 6 - 2 - 7, 6 - 2 - 8, absehbare Folgen, ich greife einen Zettel. Kaum mustere ich ihn, zerfällt er zu glitzerndem Staub, formiert eine neue Zahl, 217, pulsierendes Neongelb, 2 - 1 - 7. Spucke sammelt sich in meinem Mund, meine Zunge wächst und wächst, und mit ihrer Spitze berühre ich die Zahlen einzeln, weich und glitschig sind die Zwei und die Eins, nur die Sieben hat Kanten, schneidet mir ins Fleisch. Etwas rinnt über mein Kinn, tropft auf mein Schlüsselbein, fließt zwischen den Brüsten bis zum Bauch und weiter runter; ein Kitzeln breitet sich aus, und ich gebäre eine Sieben, und da kommt noch eine und noch eine, in allen Farben, verschwinden unter der Decke, im Dunkeln. Ich schlage die Augen auf; so eine Frau bin ich auch. Drehe mich auf den Bauch. Ein Scheppern, der Wecker fällt. Dann höre ich Dennis’ langsames Atmen. Ein. Aus. Ein. Aus. Ein. Stille; wie vor einhundertundzwei Tagen, im Zimmer 217, als Dennis schlief, für eine einzige Stunde, und ich ihn betrachtete, die ganze Zeit.

Wahrscheinlich ist es gut, zu verreisen, nicht ins lärmende Berlin, sondern zu Nora. Dinge hinter mir lassen, Dinge ordnen. Sicher wird mir Nora dabei helfen. Sicher werden wir wieder zueinanderfinden in den nächsten Tagen.

 

Szibilla

Die Geschlechtsorgane der Frau sind die beiden Eierstöcke, die beiden Eileiter, die Gebärmutter und die Scheide.

Ich klappe das Buch zu. Erscheinungsjahr 1981, Lehrmittelverlag Zürich. Lasse es neben die Liege fallen. Durch die hohe Fensterfront sehe ich direkt auf zwei Rottannen. Trocknen in der Hitze vor sich hin. Hier drin herrscht das feuchtwarme Klima eines überheizten Schwimmbads. Ob Romi schon angekommen ist? Bald Mittag. Die Maschine läuft noch immer nicht. Gleich rufe ich den Miele-Techniker persönlich an. Sobald die verfluchte Blutung begonnen hat. Ich kann es kaum erwarten. Bis ich das alles hinter mir habe. Diese elenden Unterleibsschmerzen. Und alles, was damit zu tun hat.

Ein defektes Antriebssystem. Und das vor Pfingsten! Wie der Haustechniker gestern die Schultern hochzog. Beiläufig. Bloß sagte: Das müsse sich der Herstellungsvertreter anschauen. Was allerdings schwierig werden könnte. Ihn am gleichen Tag noch herzubekommen. Ich warf ein: Wir sind eine Wäscherei, kein Einfamilienhaushalt! Dass es eile, werde auch Herrn Rüttimann klar sein! Der Interne erwiderte, dass ich es gerne versuchen könne. Und ergänzte: Ich hätte ja einen guten Draht.

Kaum war er abgezischt, hatte ich Romi am Apparat. Leons Kreischen im Hintergrund. Noras Mutter habe eben angerufen, sagte Romi. Nora sei zu ihr gekommen. Sei krank. Nichts Schlimmes, aber nach Berlin zu reisen sei nicht möglich. Ans Telefon gehe Nora nicht. Romi habe schon mehrere Male versucht, sie zu erreichen. Ob ich wisse, was los sei?

Als hätte Romi keine Möglichkeit gehabt, Nora direkt zu fragen in den letzten Wochen und Monaten. Der Wäscheberg vor mir. Ein Plan musste her. Wir sollten ins Rheintal reisen, meinte Romi. Möglichst günstig. Airbnb? Ich sah es vor mir: schmuddlig. Verlebt. Wenn schon, dann Hotel, sagte ich. Es gebe da was. In der Nähe von Noras Mutter. Ein einfaches Wellnesshotel.

»Zu teuer!«, entgegnete Romi sofort.

»Dann bezahl ich dir was dran«, sagte ich. Und Romi: Das könne sie nicht annehmen. Und ich: Wenn Urlaub, dann richtig. Und Romi: Es gehe doch nicht um Wellness, sondern um Nora! Und ich: Für mich gehe es um beides. Ich bräuchte dringend Erholung. Genau für solche Anlässe hätte ich das Geld meiner Mutter auf der Seite. Und Romi: Besteht die Welt eigentlich nur noch aus Erben? Und ich: Ich würde das jetzt mal checken mit dem Hotel. Mich später nochmals melden. Und auch sonst hätte ich noch zu tun.

Rechts der Rottannen freie Sicht bis zum Talboden. Ein Wirrwarr von Gebäuden, Straßen, Wiesen. Dazwischen Autodächer, in ständiger Bewegung. Der Rhein in der Ferne: ein gespannter Strick.

Mein Team wird heute irgendwie zurechtkommen. Mit einer Waschmaschine weniger. Murren gestern auf meine Ansage hin: »Zusatzschicht am Samstag!« Ich relativierte: Ein Morgen müsste reichen. Nur für eine der Textilreinigerinnen. Maximal zwei. Unschön, das sei mir schon klar. Aber nichts zu machen. »Wir wollen doch keine Toten wegen einer Keimübertragung riskieren, nicht wahr?« Lange Gesichter. Ironie ist ihnen ein Fremdwort. Leider.

So oder so. Kein idealer Urlaubsbeginn. Wobei ich mir sicher bin, dass Nora nicht krank ist im üblichen Sinne. Dass sie vielmehr »auf die andere Seite« musste. Wie sie es nennt. Sich sammeln. Im Stillen. Kein Zuckerschlecken. Aber wichtig. Für sie. Und sie wird ihre Gründe haben, warum sie in dem Zustand ausgerechnet zu ihrer Mutter gereist ist.

Es hat sich angedeutet. Dass es wieder einmal so weit kommt. Seit dem Kaffeetrinken im Buena Onda. Zu dritt. Dass Romi nichts aufgefallen ist, erstaunt mich nicht. Kennen wir ja. Zu beschäftigt. Diesmal mit ihrer zweiten Schwangerschaft. Erzählte, wie sehr sie sich freue. Auf das Kind. Trotz andauernder Müdigkeit. Die man ihr ansah. Sie war fahrig. Auch einen zweiten Mann erwähnte sie. Praktisch im gleichen Atemzug.

Sie sollte sich besser den Kopf frei machen. Sich endlich auf das Wesentliche konzentrieren. Auf die Lebewesen, die schon existieren. Ihr erstes Kind zum Beispiel. Und den ersten Mann. Und Bäume. Auf die Beschäftigung damit, was der Mensch mit diesem Planeten anstellt. Statt sich weiter ziellos zu vermehren.

Nora hatte ihre Haare frisch geschnitten und gefärbt. Das Rubinrot über ihrem schmalen Gesicht ließ sie vital wirken. Die kräftige Farbe lenkte von ihrer Verlorenheit ab. Zusammen mit dem Weiß ihrer Haut erinnerte sie mich an van Goghs Mandelblüten in Rot. Noras Hände wie die Äste auf dem Bild. Dürr. Sie gestikulierte mit ihnen in der Luft, während sie redete. Unsere geplante Reise nach Berlin erwähnte. Dass sie sich was überlegt habe. Was wir davon halten würden, wenn Romi mitkäme? Dass wir viel zu lange nichts zu dritt unternommen hätten. Und es Romi guttun würde. Ein paar Tage Luftwechsel. Die Wohnung von Noras Bekannten sei groß genug. Jede könne dem nachgehen, auf was sie Lust habe.

In Romis grüne, fast wimpernlose Augen kam plötzlich Leben. So ein bestimmter Glanz. Wie ein Schalter, der gedreht wird. In einer Sekunde von Stand-by auf Power.

»Also, ich wär dabei«, sagte sie. Sie müsse sich nur noch mit Phil absprechen. Wegen Leon. Pfingsten sollte aber passen. Wo denn Meret in der Zeit sei?

»Bei meiner Mutter«, antwortete Nora. Wandte sich mir zu und fragte: »Das wäre doch okay für dich? Wenn wir zu dritt reisen?«

Ich merkte es. Wie wichtig Nora das war. Zögerte. Keine Lust auf ewige Gespräche über Kinder. Darüber, was eine Schwangere essen darf, was nicht. Darüber, wie schön die Vorfreude sei. Im Untergrund brodelt es doch bereits. Resultat: Desaster! Nora wirkte plötzlich fast bettelnd. Da kippt was bei ihr, fürchtete ich. Schob alle Zweifel beiseite. Nur für sie. Ich sagte: »Solange jede ihr eigenes Zimmer hat – ja, von mir aus.«

Klar wäre ich lieber mit Nora alleine verreist. Zu zweit ist es einfach. Alles ergibt sich. Romi hingegen schießt überall gleich rein. Hastet von einem zum nächsten. Das habe ich schon damals geahnt. Erstes Treffen. Wie sie da stand. Mit ihrem Schwangerschaftsbäuchlein. Wartete. Den Kopf immer wieder zur Uhr drehte. Dabei waren wir pünktlich, Nora und ich. Hätte sie nicht zur Uhr geschaut, hätte sie uns gesehen. Romi wollte ja unbedingt Mama werden. Anstatt zuerst mal den Master abzuschließen. Sich beruflich zu orientieren. Und dann weiterzuschauen.

Jemand springt ins Wasser. Schwappende Wellen. Die Schmerzen werden stärker. Ausgehend von meiner Gebärmutter. Deren Existenz niemand leugnet. Laut dem Buch neben meiner Liege gibt es hingegen kein äußerlich sichtbares weibliches Geschlecht. Keine Vulva. Nur Eierstöcke, Eileiter, Gebärmutter, Scheide. Nora ginge an die Decke, würde sie das lesen. Ich sollte das Buch nachher schleunigst in die Hotelbibliothek zurückbringen. Ein Lehrmittel. So was habe ich nicht mehr angerührt, seit die Lehrerin in mir die Kreide abgegeben hat. Und gleichzeitig das letzte Staubkorn Idealismus verflog. Brauche ich nicht. Nicht mehr. Ich brauche funktionierende Maschinen und zuverlässige Mitarbeiterinnen!

Bei Romi ist das anders. Mit dem Idealismus. Ich ging nicht weiter auf sie ein. Als sie nochmals davon berichtete. Von ihrem Liebes- und Familienglück. Noch nicht mal Théophile habe ich zitiert, um zu sehen, wie sie reagiert. Aber da stand meine Menstruation nicht gerade an. Sonst hätte ich mich sicher nicht zügeln können. Parallel zu den Blutklumpen lösen sich die ehrlichen Worte. Und machen Platz für Wut.

Théophile sagt es längst. Dass das erste Menschenrecht lauten sollte, nicht in diese Welt geboren zu werden. Depressionen, Krankheiten, Naturkatastrophen. Gewalt, Ungerechtigkeit, Zerstörung. Oder: Scham, Überforderung und Chancenungleichheit – so könnte es Nora sagen. Wenn sie reden würde. Wenn sie wieder »auf dieser Seite« wäre. Aber das kommt schon. Schneller, als es ihrer Mutter vielleicht lieb ist. Und auch Romi. Die offensichtlich nie darüber nachgedacht hat. Was Mütter alles anrichten. Ohne es zu merken.

Romi hat anscheinend tatsächlich keine Ahnung davon, wer Nora sonst noch sein kann. Neben der stets erreichbaren Freundin. Der Draufgängerin. Der Partynudel. Dabei ist es nicht das erste Mal. Dass sie sich hinlegt und nichts mehr sagt. Nur ist es schon lange nicht mehr vorgekommen. Aber Nora ist ein Stehaufmännchen. Eine Stehauffrau. Jetzt braucht sie ein wenig Zeit. Ein paar Stunden ganz für sich. Danach schaue ich bei ihr vorbei. Dann wird auch in der Wäscherei alles geklärt sein.

Eine junge Frau schießt aus dem Wasser. Hält sich am Beckenrand fest. Spitzt die Lippen. Spritzt einem Mann eine Ladung Wasser mitten ins Gesicht. Lacht. Ich halte das heute nicht aus. Diesen Lärm.

»Entschuldigen Sie, ist hier noch frei?«

Das Geräusch der nassen Badelatschen auf den Fliesen. Das freundlich zugewandte Gesicht eines älteren Mannes. Als würden wir uns kennen. Er deutet auf die Liege neben meiner. Ich nicke. Ich sollte hoch, zurück in mein Zimmer. Mich ausruhen, bis Romi ankommt.

 

Romi

Notiz

Meine Verspätung in Anzahl Minuten: dreiundsiebzig.

Anzahl Liebespaare, die in meinem Zugwagen turtelten: drei.

Anzahl Seiten, die ich las, im Langinterview mit Susan Sontag: drei.

(Zum Beispiel: »Fast alles, was ich mache, scheint genauso viel mit Intuition wie mit Verstand zu tun zu haben.«)

Nachrichten von Dennis: sechs.

Nachrichten von Szibilla: eine.

Nachrichten von Nora: null.

Nachrichten von Phil: null.

Mails gecheckt: fünfmal.

Neues: nichts.

Das Erste, was es zu tun gilt: den Nachtvorhang zuziehen; der Stoff liegt fest und unbeweglich in meiner Hand, wie mit Wachs beschichtet, schwingt dann doch mit, von oben nach unten, eine trotzige Bewegung. Das Zimmer jetzt dunkel, ich lege mich hin, ins gemachte Bett. Die Übelkeit wird stärker, Druck in meinem Hals; ich komme nicht zur Ruhe. Rapple mich auf, schiebe den Vorhang wieder zur Seite, Staub glitzert in der Luft; ich öffne das Fenster. So ist es besser. Mein Blick geht direkt auf die Straße vor dem Gebäude; folgt man ihr, erreicht man etwas weiter oben, seitlich vom Hotel, den Parkplatz: er ist bis auf eine einzige Lücke belegt. Vis-à-vis von meinem Fenster, auf der anderen Seite der Straße, liegt ein großer Bauernhof, wie verlassen, ein hämmerndes Geräusch ist zu hören; abrupt bricht es ab. Am Straßenrand steckt eine hölzerne Bauernfigur im Gartenbeet, mit ihrem dicken, überdimensional großen Finger zeigt sie zur Aufschrift auf dem Schild neben sich: Hofladen. Selbstbedienung. Auf dem Gehsteig davor spaziert ein Paar hügelaufwärts. Er schlingt seinen Arm um ihre Taille, sie geht tänzelnd neben ihm, berührt ihn alle paar Meter kurz am Hintern, wie aus Versehen; die beiden aus der Rezeption vorhin. Ein Mann, eine Frau, vielleicht ein Embryo in ihrem Bauch, wer weiß.

Ein unangenehmer Geruch klatscht mir entgegen, die unsichtbare Wolke drückt sich in den kleinen Raum. Ich schließe das Fenster, der Fensterflügel schlägt dumpf an den Rahmen; ich würge. Lasse mich nach unten gleiten, auf den grünen Teppich mit den gelben kleinen Punkten, lehne mich mit dem Rücken an die Wand und greife nach dem Notizheft. Ich atme tief ein und aus, so wie es mir die Hebamme erklärt hat; wäre es nur nicht so muffig im Zimmer, dann wäre Entspannung möglich.

»Ab heute sind wir ausgebucht«, hatte mir die junge Rezeptionistin gesagt und ihr trachtenähnliches Kostüm beim Ausschnitt zurechtgerückt. »Ein Glück, dass überhaupt etwas frei war für Ihre Freundin und Sie. Gerade an Pfingsten wollen sich ja viele was gönnen.«

Sie fokussierte den Bildschirm vor sich und fuhr fort: »Frau Szibilla Jakab hat ein größeres Zimmer erwischt. Aber ich bin mir sicher, Sie wissen auch den kleineren Raum zu schätzen. Er wurde bereits für Sie hergerichtet. Auch Frau Jakab konnten wir ein verfrühtes Check-in ermöglichen.«

Mit einem Lächeln reichte sie mir vier Getränkegutscheine in Kreditkartengröße, schwarze Lettern auf goldenem Grund; sie zwinkerte mir zu, als sie den Schlüssel nachreichte.

Ich schulterte meinen Rucksack.

Sobald es sich ergebe, könne ich in eines der Zimmer mit etwas mehr Komfort und Talsicht wechseln, spätestens am Montagmittag. Und falls ich hungrig sei: Das Mittagsbuffet sei gleich parat, da gebe es allerlei Leckereien zu einem fairen Preis.

Ich tippe Szibillas Profil an, es klingelt arrhythmisch zum Sekundenzeiger über der Zimmertür; noch bevor die Combox sich meldet, drücke ich auf das Zeichen mit dem roten Hörer. Elf Uhr siebenundfünfzig. Ich lege das Telefon auf den Boden, neben das Buch von Susan Sontag. Bestimmt genießt Szibilla gerade die Weitsicht aus ihrem luxuriöseren Zimmer. Oder sie sitzt bereits im Speisesaal und knackt Crevetten. Phil würde es hassen, diese Dekadenz; Mittagspause, sicher hat er sich in die Sonne gesetzt, auf eine der Bänke, Pflaster unter den Füßen, die ZHAW im Rücken, und studiert eins seiner Hobby-Bücher, wie er es nennt: »Bessere Welt: Hat der Kapitalismus ausgedient?«

Ich schiebe mir das Begrüßungsbonbon in den Mund. Familie Mäder und das ganze Buche-Team freue sich, dass ich da bin, steht auf der Karte, die sich auf dem kniehohen Tisch zwischen Bett und Fenster befindet. Gleich mache ich mich auf zu Nora. Wir werden uns zusammentun, endlich, wir werden Lösungen finden; für ihre Probleme, für meine. Nur noch eine Minute.

Notiz

Anzahl der Minuten am Telefon mit Noras Mutter gestern: knapp drei.

Ihre Stimme: leise, bedächtig; während wir redeten, hatte ich immer wieder ein Bild vor mir: Ein Tuch liegt über einer frisch gewetzten Messerklinge, und ich ahne, dass das Tuch jeden Moment durchtrennt wird, die Klinge freigelegt.

Der Name der Mutter: Annegret. (Wird lieber Anni genannt.)

Sie betonte, wie wichtig es für Nora sei, sich auszuruhen, zu schlafen, wieder zu Kräften zu kommen.

Anzahl Sekunden, die ich überlegte, doch nach Berlin zu fahren, allein: zehn.

Anzahl der Worte, die ich Anni beim zweiten Anruf auf den Telefonbeantworter sagte: zu viele. Dass wir anreisen würden, Szibilla und ich, am nächsten Tag. Dass ich hoffte, nicht zu aufdringlich zu sein. Dass ich unser Kommen wirklich wichtig fände. Usw.

Anzahl der Treffen mit Nora in den letzten einhundertundzwei Tagen: fünf. Das längste davon vor anderthalb Monaten. Zu dritt; mit Szibilla. Noras Wunsch: zuerst ins Kino, dann ins Buena Onda. Aber sie war anders als sonst, wirkte nervös, den ganzen Nachmittag.

Kurz vor Aufbruch zu zweit in der Toilette. Nora auf einmal so ruhig. Sie fasste mich ums Handgelenk, blickte mich lange an, völlig ausdruckslos; ich umarmte sie, um die Spannung zu brechen, und sie sagte mir ins Ohr: »Ich beneide dich. Weißt du das?«

Noch einmal wähle ich Szibillas Nummer. Die Combox meldet sich. Ich lege das Handy auf den Tisch. Ich muss los, zu Nora.

 

Szibilla

Er sei schon auf dem Weg. Sagt der Miele-Techniker. Rüttimann. Gleich treffe er im Sonnmatt ein. Schaue sich das defekte Gerät an. Da dürfte kein größeres Problem dahinterstecken.

Ich lege auf. Schiebe das Telefon neben den Laptop. Zwei Klicks. Das Bild füllt den Desktop aus. Eine Waage mit zerstückelten Fleischteilen drauf. Frisch vom Metzger. Könnte man meinen. Wäre auf dem Bild nicht auch ein grünes Operationstuch zu sehen. Und der Uterusmanipulator nach HOHL. Länglich, mit Blutspuren dran. Darunter steht: 323 Gramm wiegt die Gebärmutter mit den zerstückelten Myomen, fünfmal mehr als normal.

Der Wasserkocher piept. Ich greife danach. Sprudelnd ergießt sich das Wasser in die Porzellantasse wie aus Großmutters Zeiten. Reißt die gefriergetrockneten Kaffeekrümel mit. Verbindet sich zu einer dampfenden braunen Brühe. Schon hab ich mir die Zunge verbrannt. Der Laptop rauscht derart laut, dass man meinen könnte, er explodiere gleich. Romi rufe ich später zurück. Zuerst muss das Dolormin wirken.

Plötzlich war sie da. Die Blutung. Etwas zu früh. Der dunkelrote Fleck auf dem weißen Bademantel vorhin. Schnell ein Tuch um die Hüften gewickelt. Im Badekorb nach einem Tampon gekramt. Dann den Mantel zu einem Knäuel gerafft. Weg mit den Zeichen meiner Reproduktionsfähigkeit. Auf dem Weg zur Toilette in den Behälter für gebrauchte Frotteewäsche. Mein Bauch nur noch pochender Schmerz. Der mich dermaßen konkret erinnerte. Wie jeden Monat. Daran, was Menschsein alles in allem bedeutet.

Mir die Gebärmutter entfernen lassen. Ohne großes Tamtam. Wie in den Siebzigern. Wegkommen von diesem großen Schmerz. Vom Dolormin-Schlucken. Von dieser Demütigung, die andauert.

Ich läge auf einer himmelblauen Liege. In einem Kostüm aus Papier. Nur meine Vulva entblößt. Der Arzt hätte nicht diesen sezierenden Blick. Nichts Angewidertes. Auch sonst nichts von dem, was ich von Ärzten kenne. Sondern etwas Eigensinniges. Aufständisches. Wie Théophile. »Nehmen Sie mir dieses Ding raus, Herr Doktor. Und zwar schnell«, würde ich ihm sagen. Ihn dann hantieren lassen. Und kurz darauf würde sie sich vor mir auf dem Operationstuch befinden. Meine Gebärmutter. Nicht nur ihr Inhalt wie damals. Sondern in Gänze. Und in meinem Bauch wäre es seelenruhig. Diesmal absolut.

Nora habe ich das Bild gezeigt. Die zerstückelten Myome. Nachdem sie mir die Menstruationstasse überreicht hatte. Kein Abfall, seltener auswechseln, sagte sie. Vor vier Wochen war das. Ich habe die Tasse schnell zur Seite gelegt. Stattdessen von meinem Vorhaben erzählt. Verödung der Gebärmutterschleimhaut, weil eine Gebärmutterentfernung nicht zu rechtfertigen sein wird. Symptome zu gering. Und Nora sagte es klarer denn je. »Ich verstehe dich mittlerweile so.« Und fuhr fort: Sie hätte so eine Verödung vielleicht besser auch durchführen lassen sollen. Bevor sie schwanger geworden sei.

Verhüten ließe sich damit leider nicht, entgegnete ich.

Aber da hatte sie schon Musik angemacht. Laut aufgedreht. Angefangen, den Text mitzusingen. »Dick in the air«. Den Kopf hin und her gewippt. Entspannt hatte sie dabei ausgeschaut. So ist Nora. In manchen Situationen weiß man nicht so ganz. Wie das, was sie sagt, zu gewichten ist.

Die Menstruationstasse probiere ich morgen aus. Jetzt ist der Instantkaffee endlich trinkbar. Zumindest von der Temperatur her. Ich werde mich wieder in den Speisesaal begeben müssen. Dort einen Kaffee aus der Siebträgermaschine bestellen. Sicher sind auch die andern wieder da. Das Rentnerehepaar, das Haufen an Kartoffelstock und Geschnetzeltem verschlang. Die einzelne Frau. Auffallend aufrecht. Nervöse Gesten. Am Tisch unter dem Gemälde von Botticelli. Die Geburt der Venus. Das junge Paar. Sich wolkig verliebte Blicke zuwerfend. Diese verfluchten Schweizer Wohlstandskinder. Ich werde in der Zeitung blättern. Romi zurückrufen. Mich im Sonnmatt nach dem neusten Stand erkundigen. Danach sollte ich endlich entspannen.

Ich ziehe meine kurze Jogginghose an. Das weiße Shirt. So geh ich runter.

 

Romi

Durch die Rezeption, da ist sie wieder, die Frau in Tracht im Empfang. Ich trete durch die automatische Schiebetür, von der anderen Straßenseite blickt mir der 2D-Bauer stoisch entgegen. Auf dem Gehsteig eile ich hügelabwärts, in der Ferne die Berge, davor das Rheintal, breiter, als ich es in Erinnerung hatte. Ob Szibilla schon bei Nora ist? Unerreichbar, unauffindbar, Frau Jakab. Ich gehe schon wieder viel zu schnell, als hastete ich etwas nach, aber was? Ich halte inne, atme einmal tief ein, drehe mich um.

Die »Buche« vor mir. Das Gebäude hat etwas Zeitloses, als wäre der obere Bereich aus dunklem Holz seit je Teil dieser Landschaft. Das Hoteldach spitzt sich in einem weiten Winkel, darunter sind die zu den gehobeneren Zimmern gehörenden Balkone zu erkennen. Der untere Bereich, mit Anbau, besteht fast ausschließlich aus einer modernen Glasfront; davor der kostenpflichtige Whirlpool, heute sicher nicht in Betrieb. Ob Nora da schon mal drin war? Ich gehe weiter, Buchenstraße, Nummer hundertzweiundzwanzig – da ist sie aufgewachsen, und da wohnt die Mutter noch immer. Street View zeigte gestern ein beige geschindeltes Haus, braune Fensterläden, eine Hecke zwischen Grundstück und Straße; eine eingepferchte Welt, »beschissen eng« hat Nora mal gesagt.

Die Straße macht eine Kurve, das muss es sein. Ich trete durch das Gartentor, eine Treppe führt zum türlosen Windfang, das Namensschild neben der Klingel wurde von Hand beschriftet: Brugger. Ich klingle, warte, nichts zu hören. Links der Haustür befindet sich ein kniehoher Pflanzentopf in Form von zwei Schwänen, Schnäbel aneinander; mit ihren langen Hälsen bilden sie gemeinsam ein Herz, und mitten in diesem Herz blühen Primeln.

Plötzlich geht die Tür auf, eine Frau steht im Türrahmen; das muss Anni sein, sie reicht mir bis zum Kinn. Ich blicke direkt auf ihr schwarzes Haar, der Scheitel schimmert grau. Sie macht einen Schritt rückwärts. Schmal wie Nora ist sie, mit derselben langen, leicht nach oben gewölbten Nase, den eng beieinanderliegenden Augen, die mich mustern, überrascht, streng auch, als hätte ich mich nicht angekündigt.

»Hallo«, sage ich, »ich bin Romi. Wir hatten telefoniert.«

Ihr Blick wird im ersten Moment noch abweisender, weitet sich dann langsam, aber nur minimal; das Strenge bleibt. Sie deutet ein Lächeln an, reicht mir die Hand.

»Ah, Romi«, sagt sie mit kehliger Stimme. »Bist du tatsächlich angereist.«

Das Lächeln passt nicht zum Rest dieser Person.

»Haben Sie – also, hast du meine Nachricht noch abgehört? Ich wollte so spät dann nicht mehr stören.«

»Ja, ja«, sagt sie beiläufig, streicht über ihre Tunika, korallenfarbig und mit Blumenmuster; sicher aus der »Boutique Chic«, wo Nora während ihrer Arbeitszeit jeweils versucht, Ordnung zu wahren, wie sie sagt, während Ü-60-Frauen in den Regalen und an den Bügeln rastlos ihre Verjüngung suchen und Textilien begutachten, als wären es wertvolle Jahre, die zurückgeholt werden könnten durch den Griff zum Portemonnaie. »Meine Mutter? Eine alte Schachtel, auf ihre ganz eigene Weise«, hat Nora stets betont. Ende sechzig müsste sie jetzt sein, und man sieht sie ihr an, die Jahre, trotz der dicken Schicht Make-up und der jungen Mode.

Es freue mich, sie endlich kennenzulernen, auch wenn die Gründe dafür nicht erfreulich seien, sage ich, aber Anni hat sich bereits abgewandt, deutet zur Wendeltreppe hinter der Haustür, sagt, ich wolle ja sicher gleich zu Nora. Gemeinsam steigen wir hoch, ich hinter ihr; Anni hat mein Tempo.

»Es wäre wirklich nicht nötig gewesen, dass du anreist«, sagt sie, während sie Stufe um Stufe nimmt. »Bisher hat sich nichts getan.«

»Was hat Nora denn genau?«, frage ich. »Eine Sommergrippe?«

»Nein«, antwortet Anni. »Ich denke nicht.«

»Sondern?«

Anni hat den oberen Treppenabsatz erreicht und dreht sich zu mir um. »Na ja«, sagt sie, ihr Ausdruck noch immer genau gleich, irgendwie abgelöscht, so seltsam unbeteiligt: Es sei so, dass Nora vorgestern ganz überraschend aufgetaucht sei, einen Tag zu früh, mit Meret auf dem Rücken. Sie habe das Kind abgeschnallt und sich in ihr Jugendbett fallen lassen. Danach habe sie nur noch einen Satz gesagt, und zwar, dass sie nicht nach Berlin reisen könne und sie, Anni, Szibilla und mich informieren solle. Ansonsten habe Nora noch nicht einmal die Kraft, auf Meret zu reagieren, was sicher auch mit dem Beruhigungsmittel zu tun habe, das sie geschluckt habe und das ihr hoffentlich helfe. Sie, Anni, sei wirklich froh, dass Nora zu ihr gereist sei, hier würde sie sich sicher schnell erholen und für Meret sei auf diese Weise ja auch bestens gesorgt.

Wie auf Kommando ist von unten Kinderweinen zu hören, und bevor ich etwas fragen kann, eilt Anni schon an mir vorbei die Treppe runter; ich solle Nora nicht zu lange stören, sagt sie, und: Sie mache mir einen Tee, wenn ich schon hier sei.

Alleine stehe ich nun vor einer Zimmertür, an der vier Buchstaben in unterschiedlichen Pastelltönen befestigt sind: N, O, R, A. Ich trete ein. Die Tür quietscht. Einer der Fensterläden ist geschlossen, die getäfelten Wände lassen den Raum noch dunkler erscheinen.

Nora liegt seitlich auf einer Neunzig-Zentimeter-Matratze in der Mitte des Zimmers. Ihre Beine hat sie angewinkelt, die Kniescheiben zeichnen sich wie zwei aufeinanderliegende Steine unter der dünnen Baumwolldecke ab, ihr rotes Haar ist ausgeblichen. Ich mache einige Schritte auf sie zu, beuge mich zu ihr hinunter, ihre Lider sind geschlossen, die Haut wirkt transparent, winzige Adern schimmern hindurch. Ich lege ihr eine Hand auf die kühle Stirn, die andere auf ihren oberen Rücken.

»Nora, hey, ich bin’s«, sage ich. »Was ist denn passiert? Wie geht es dir?«

Keine Reaktion.

»Nora, hallo? Hörst du mich?«

Nichts.

»Kannst du mir sagen, was los ist?«

Nora liegt da, als wäre sie eine Attrappe, und sie selbst ist sonst wo, weit weg; ich fühle mich wie gelähmt. Bleibe einen Moment so stehen. Setze mich dann neben die Matratze auf den Boden.

»Kann ich irgendetwas für dich tun? Willst du was trinken?«

Nora reagiert nicht, ihr Puls geht ruhig, ich streiche über ihren Rücken, ihr Haar riecht nach Heu. Schläft sie?

Notiz

Anzahl der Türen in Noras Zimmer: eine.

Anzahl der Fenster: zwei.

Ich ziehe mit einer imaginären Schnur einen Kreis; der Abstand von Noras Körper zu den vier Zimmerwänden ist jeweils exakt derselbe.

Anzahl der Wünsche: einer. Mich zu ihr legen, ihren Rücken an meinem Bauch fühlen, zu ihr hinuntertauchen, schlummern, gemeinsam, dann gleichzeitig aufwachen und reden, wild drauflos.

Es ist so still in diesem Zimmer, als befänden wir uns in einem Karton, der alles dämpft, die Geräusche, auch die Farben. Aber in Wahrheit sind die Wände aus Holz, sind gezeichnet, chiffriert; es sind die Wände, die sich Nora früher weiß gewünscht hat. Eidechsen und Schlangen habe sie als Kind in den Musterungen gesehen, sagte sie mal, Gestalten, die sich mit den Jahren wandelten, zu Wichteln und Feen wurden, zu bösen Hexen, zu Mördern aus Horrorfilmen, zu väterlichen Schultern, abgewandt und kalt, zu Baubo und anderen mythologischen Figuren, die sie schon immer interessierten; letztere die einzigen, die sie mitnahm im Geiste, als sie hier auszog.

Vor drei Jahren, während ihrer ersten großen Krise mit Emrik, hatte sie auf einmal das Verlangen gehabt, das Zimmer auszumisten, all die alten Dinge wegzuwerfen oder mitzunehmen und somit endlich restlos gehen zu können. Das habe sie nicht geschafft, wie sie mir später aufgekratzt berichtete, zumindest nicht in Gänze: sie habe die Foto- und Tagebücher bei ihrer Mutter gelassen, in diesem Haus, das ewig nach Mittagessen, Waschmittel und wollenen Hausschuhen rieche, nach schweren Teppichen, unter denen Dinge verborgen lägen. Sie wisse keinen anderen Ort dafür, für die Verwahrung ihrer Erinnerungsstücke aus Kindheit und Jugend, sie habe ja selbst keinen Platz, wo auch; aber das alles sei ja eigentlich auch egal.

Der Bürostuhl hat Rollen, der Schreibtisch die perfekte Höhe, darauf ein leeres Wasserglas, im Papierkorb daneben liegt eine Tablettenpackung, sonst nichts. Über dem Schreibtisch hängen zwei Fotos, an die Wand gepinnt.

Notiz

Geschätzte Größe des Zimmers: achtzehn Quadratmeter.

Anzahl der Jahre, die Nora hier lebte: knapp siebzehn.

Format der Fotos, die hier hängen, über dem Schreibtisch: A4.

Anzahl der Jahre, die vergangen sind, seit sie gemacht wurden: viele.

1 – Nora als etwa Zwölfjährige, in einem neongelben Badeanzug, steht an einem Flussufer, Kopf gesenkt, Blick zum Wasser; neben ihr ein Mann um die fünfzig, seine eine Hand auf ihrer Schulter, die andere in die weiche Taille gestemmt, eine Zigarette im Mundwinkel; auf dem nackten behaarten Bauch des Mannes steht mit schwarzem Permanentmarker geschrieben: Muschi.

2 – Nora als Kleinkind mit Schnuller und rosa Haarband; darüber notiert, mit demselben Marker: Leck mich.

Nora hat sich keinen Zentimeter bewegt.

»Hast du das gemacht? Das mit den Fotos?«, frage ich.

Nora bleibt liegen, wie sie ist.

»Ich würde so gerne über alles mit dir reden, über Familie und deine Erinnerungen und überhaupt.«