Die Löwinnen von San Marco - Waldtraut Lewin - E-Book

Die Löwinnen von San Marco E-Book

Waldtraut Lewin

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Beschreibung

Venedig im 16. Jahrhundert: Die Familie der Priuli hat fast ihren gesamten Besitz an die Türken verloren. In ihrer Not sind sie sogar bereit, ihre Töchter als Bräute zu verkaufen. Donata und Leonida werden dieses Schicksal auf sich nehmen. Doch dann erfährt Leonida, dass Donata ausgerechnet von Fulvio gekauft werden soll, den sie selbst seit langem heimlich liebt. Voller Verzweiflung flieht Leonida aus der Stadt – und gerät in maurische Gefangenschaft … Begeisterte Leserstimmen: »Wer niveauvolle, historisch stimmige und dennoch fesselnde Lektüre sucht, der ist bei diesem Buch bestens aufgehoben.« »Das Buch hat mir sehr viel Spaß gemacht und ich empfehle es Allen, die gern saftige historische Romane lesen.«

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Seitenzahl: 540

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Waldtraut Lewin

Die Löwinnen von San Marco

Roman

Knaur e-books

Über dieses Buch

Venedig im 16. Jahrhundert: Die Familie der Priuli hat fast ihren gesamten Besitz an die Türken verloren. In ihrer Not sind sie sogar bereit, ihre Töchter als Bräute zu verkaufen. Donata und Leonida werden dieses Schicksal auf sich nehmen. Doch dann erfährt Leonida, dass Donata ausgerechnet von Fulvio gekauft werden soll, den sie selbst seit langem heimlich liebt. Voller Verzweiflung flieht Leonida aus der Stadt – und gerät in maurische Gefangenschaft …

Bei »Die Löwinnen von San Marco« handelt es sich um eine Neuauflage des bereits 2007 unter demselben Titel bei Knaur Taschenbuch erschienen Romans.

Begeisterte Leserstimmen:

»Wer niveauvolle, historisch stimmige und dennoch fesselnde Lektüre sucht, der ist bei diesem Buch bestens aufgehoben.«

Inhaltsübersicht

PrologEINSI.II.III.IV.V.VI.VII.VIII.IX.X.XI.XII.XIII.XIV.XV.XVI.XVII.XVIII.XIX.XX.ZWEII.II.III.IV.V.VI.VII.VIII.IX.X.XI.XII.XIII.DREII.II.III.IV.V.VI.VII.VIII.IX.X.VIERI.II.III.IV.V.VI.VII.VIII.IX.X.XI.XII.XIII.XIV.XV.XVI.XVII.XVIII.XIX.EpilogAnzeige
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Prolog

Am Anfang war das Meer.

Es hatte die Stadt hervorgebracht, deren Kinder sie waren. Es sollte auch ihren Abschied empfangen.

Andere Meere würden sie durchqueren, andere Städte würden ihnen zur Wohnung werden. Aber keine der Städte würden sein wie diese. Und keines war wie dieses Meer.

 

Der Fürst ihrer Stadt pflegt einmal im Jahr hinauszufahren, an einem gleißend hellen Tag, ins blaue Leuchten hinein, dorthin, wo sich Himmel und Erde begegnen, um einen Ring vom Finger zu streifen. Sich mit dem Element zu vermählen.

Nun fahren sie beide hinaus, bei Nacht, und keine Prunkbarke trägt sie, sondern ein schwarzer Nachen, und der Ruderer ist genau so dunkel vermummt, wie sie es sind. Aber es gilt ja auch nicht, sich zu vermählen, sondern zu scheiden.

Sie sitzen schweigend, die Kapuzen ihrer Mäntel bis zu den Augen herabgezogen, und halten im Schoß die Reliquien ihres bisherigen Lebens, halten sie mit beiden Händen umklammert, wie man eine Schütte mit Saatkorn festhalten würde. Bewahren sie. Noch. Ein paar Ruderschläge lang.

Der Mond ist jung in dieser Nacht. Scheint zu flüchten, jagt dahin zwischen Wolkenschatten, wie gehetzt, eine junge Hindin, die vorm Jäger flieht. Luna, mal hell, mal dunkel.

Die Inseln der Lagune tragen ihre kleinen Feuer an der Stirn – hier und da ein Haus, wo man nicht schläft. Wo jemand betet, liest, stirbt oder wo man sich liebt beim Schein der Öllampen.

Das Ruderblatt lässt von Zeit zu Zeit Blitze im Wasser aufspringen. Tiere der Tiefe? Nächtliche Geister? Oder nur der Widerschein fernen Lichts?

Die eine der vermummten Gestalten im Boot dreht sich um, streift die Kapuze mit einer Hand zurück, sucht die Stadt mit dem Blick. Dunkel vor grauem Wolkenhimmel, die Umrisse so vertraut, dass man sie mit geschlossenen Augen nachzeichnen könnte. Die Kuppeln, die Türme, der gen Himmel weisende Zeigefinger des Campanile, die zackig zerrissene Silhouette der Häuser und Palazzi.

»Hier. Hier sollten wir es tun. Hier ist es tief genug.«

Die andere Gestalt nickt, heißt die Entscheidung gut. Sie gibt dem Schiffer das Zeichen: Beugt sich vor und berührt mit der Hand seinen Rücken.

Nun, ohne das Ruderplätschern, ist es so still auf dem Wasser wie am Tage, nach dem die Welt erschaffen wurde. »Wer fängt an?«

»Du. Du bist diejenige, die mehr weggeben muss.« Die erste lacht leise.

»Nein«, sagt die zweite. »Lass es uns anders machen. Ich gebe dir meines. Du gibst mir deines, nacheinander. Dann sind wir verbunden.«

»Das sind wir ohnehin. Aber gut.«

»Schaff uns Licht, Lelio.«

Der Schieber einer Blendlaterne wird aufgezogen. Der schwache gebündelte Strahl erhellt die Gesichter der beiden Frauen. Ernst, gesammelt. Das Boot schaukelt, gewiegt vom Atem des Wassers, lässt den Lichtschein hin und her geistern zwischen den beiden.

Die zweite wählt aus den Dingen in ihrem Schoß ein Bündel Briefe. Sie sind von einem verblichenen Band umschlungen, zusammengehalten durch ein Siegel. »Hier. Die Kopien der Briefe an dich. Ich weiß nicht, wie viele dich davon erreichten.«

»So viele.« Die andere hält ein schmaleres Päckchen hoch, zerknittert, verschlissen. »So viele.«

»Du hast sie gelesen?«

»Nein.«

»Lügst du?«

»Ja. Aber ich wusste immer, dass auch diese Briefe nur Lügen enthalten. Deshalb ist es so gut, als hätte ich sie nicht gelesen.«

»Alsdann …«

»Alsdann: Addio.«

Sie tauschen. Und die beiden Briefbündel klatschen mit dumpfem Laut aufs Wasser, treiben eine Weile oben, dann verschluckt sie das Meer.

»Weiter. Du hast noch mehr geschrieben, Donata.«

»Ja. Briefe, die die Wahrheit enthalten. Die ich nie abgeschickt habe.«

»Gib sie mir.«

»Noch kannst du sie lesen.«

»Wozu?« Leonida reißt das Päckchen so heftig an sich, dass sich das Band löst. Ein Schwarm weißer Vögel, flattern die einzelnen Papiere durch die Luft, versinken hier und dort. »Addio.«

»Jetzt weiter du, Donata.« Leonida schiebt die Gegenstände hin und her, die sich auf ihrem Schoß, im Bausch des Mantels befinden. Reicht dann ein an den Rändern versengtes Pergamentblatt hin, versehen mit fremdartigen Schriftzeichen. Das Siegel ist groß und prunkend.

»Das stammt vom Türken. Hat es mit uns zu tun?«

»Mehr, als du denkst.«

Donata hebt schon die Hand zum Schwung, aber Leonida beugt sich vor und fängt ihren Arm auf. »Nein, warte. Pergament will oft nicht untersinken. Verbrenn es.«

Donata sagt nichts. Sie öffnet das Hornfenster der Laterne und hält das Schriftstück an die offene Flamme. Beide beobachten, wie sich das Blatt verfärbt, sich krümmt im Todeskampf, schließlich auflodert, wie der feuerrote Siegellack schmilzt und herabtropft. Mit konzentrierten Gesichtern sehen sie beide zu. Die unruhigen Flammen tanzen und werfen Schatten über ihre Stirnen.

Donata wirft die Asche ins Meer. Greift dann von ihrem Schoß einen Goldring. Schleudert ihn, weit ausholend, davon, ehe die andere eingreifen kann. »Das Pfand meiner Ehe. Fort damit!«, sagt sie wild.

»Ich hätte ihn wegwerfen sollen!«, sagt Leonida spöttisch. »War es nicht so abgemacht, dass wir die Dinge tauschen?«

Donata ringt nach Worten. »Du hast – du hast ihn ja schon wertlos gemacht, bevor ich ihn am Finger trug«, sagt sie leise.

Leonida antwortet nicht. Stattdessen nimmt sie ebenfalls einen Ring aus ihrem Vorrat, schmal, mit einem Mondstein. Hebt ihn hoch, das Gold blitzt im Licht der Laterne. »Fort mit dem, was wir liebten!«, flüstert sie. Holt aus. Wirft.

Und nun, wie auf ein Zeichen hin, beginnen sie, regellos alles über Bord zu werfen, was sie noch haben an seltsamen Gedenkstücken. Verdorrte Blumen und Bänder, Ranken von Weinlaub, ein Becher und eine dünne Fußfessel, ein paar Kinderschuhe und ein Fächer, eine Flöte, in rotes Leder gebundene Büchlein, ein bunt gemaserter Stein. Immer schneller. Das Wasser spritzt auf, die Kreise breiten sich aus, gehen ineinander über. Irgendwo springt ein Fisch.

»Vorbei«, sagt Donata schließlich tonlos. »Alles weg. Was wir liebten. Was uns betrübte. Alles da unten im Schoß unseres Meers. Aufgehoben bei unserer Stadt, von der wir uns für immer trennen werden.«

Leonida greift nach ihren Händen, hält sie fest. »Die Dinge sind fort. Gehören nun der Adria. Aber vieles wird wohl bleiben. Das in unseren Herzen bleibt. Und auch das Erlebte in unserem Kopf.«

»Ich hätte meine Tagebücher behalten sollen.«

»Aber du weißt doch alles. Wort für Wort, nicht wahr?«

»Wort für Wort, cara.«

Sie schließen den Schieber der Laterne, geben dem Schiffer das Zeichen zur Umkehr. Im Rudertakt schwebt die Stadt auf sie zu, bis der Ferge beidreht, das Boot nach Westen hin fortbewegt, hinter der Kirche San Giorgio Maggiore hinüberfährt nach Castello, fort von der Pracht zur Ehre Gottes, von Glanz und Schönheit, hin zu Armut und Bescheidenheit. Dort, wo die Arbeiter des Arsenals wohnen, gehen die beiden Frauen an Land.

Die Mitternacht ist vorüber. Sie entlohnen den Schiffer, und er küsst Donata die Hand. Der Mann sieht sie an. Noch nicht so lange her, und sie war seine Herrin. Nun will sie fort auf Nimmerwiedersehen. Mit der anderen.

Donata hält die Blendlaterne. Sie gehen über Ziegenpfade und feuchte Sträßchen, vorbei an den niedrigen Häusern der arsenalotti, über hölzerne Brücken. Reden nicht miteinander. Katzen schreien. Es ist Brunstzeit. Donata kennt das – sie hat bereits eine Zeit lang hier gewohnt.

In San Biagio wartet die Clarissin schon auf sie, bringt sie, ebenfalls schweigend, in ihre Zellen. Hier werden sie übernachten. Das Gepäck steht aufgetürmt, ein dunkler Batzen von Taschen und Ledersäcken. Morgen werden sie diese Stadt, dies Meer verlassen. Heimlich. Ja, und auf Nimmerwiedersehen.

Aber es gibt nichts, was sie je vergessen werden, auch wenn sie ihre Andenken tief, tief versenkt haben, damit sie hier bleiben für immer.

[home]

EINS

I.

Ich, Leonida

Wie viel Zeit vergangen ist seit jenem Tag, als ich in der glühenden Sonne auf dem Dach unseres Hauses saß und mir das Haar bleichen ließ? Ich weiß es nicht mehr. Ich habe irgendwann aufgehört, sie zu messen. Aber es war wohl weniger, als ich dachte – schließlich zählt sich Lebenszeit nach dem, was man erlebt. Vielleicht wüsste es Donata, die nach unserer nächtlichen Ausfahrt nun in der Zelle neben mir liegt und sicher wach ist, genau wie ich es bin. Sie wüsste es auf Monat und Tag. Donata, die alles so genau aufzeichnete. Schon damals. Schon immer.

Jedenfalls, ich war jung. Jung wie der junge Tag. Gerade sechzehn. Es war zwei Tage bevor ich, wie ich mir erhoffte, das Glück meines Lebens finden würde.

Ich saß auf der altana, dem Dach unseres Palazzo, und die Sonne stand im Zenit. Eine breite, strohgeflochtene Krempe beschattete mir Nacken und Stirn, damit mir nicht die Haut verbrannte. Weiße Haut und goldenes Haar. Die Sonne galt nur meinen Haaren! Die fürchterliche Mischung aus indischem Tinkal und Salzwasser aus der Lagune; Kalkerde sollte die Bleichkraft verstärken. Es juckte und schmerzte. Eine Frau in Venedig, die nicht blond ist, die gilt nicht als schön. Und ich musste schön sein übermorgen. Die Schönere von uns beiden.

Die andere konnte sich diese schmerzhafte Prozedur sparen. Die andere. Donata. Ihr hatte der Himmel ein natürliches Blond gegeben, sie musste nicht alle vier Wochen diese Tortur über sich ergehen lassen.

Der Schweiß lief mir übers Gesicht, obwohl ich den Fächer bewegte. Mittagsstille. Siestazeit. Keine Stimmen von der nahen Piazza, kein Vogelflügel, der sich regte. So wie ich da saß, folgsam auf dem Stuhl inmitten der prallen Sonne, konnte ich über die Balustrade hinweg nichts weiter sehen als das fahle Weiß des Himmels, das mit dem opalenen Grau der Lagune verschmolz. Keine Grenze zwischen Himmel und Meer.

Keine Grenze. Nachts, diese Vollmondnacht wieder, würden Meer und Himmel ebenfalls verschmelzen, würden nur die Feuer, die auf dem Lido lodern, anzeigen, wo das Wasser ans Land grenzte – die Feuer der seltsamen Feste, die dort bei Vollmond gefeiert wurden. Feste, die nicht die unseren waren, aber den Hintergrund abgaben für unsere Wonnen.

Inmitten der Hitze überlief mich ein Schauer. Ich fühlte, wie meine Brüste aufwachten, als würden seine Hände schon auf ihnen liegen. Zwischen meinen Beinen wurde es feucht. Ich musste die Augen schließen. Heute Nacht! Ich würde Kopfweh haben nach dieser Sonnenmarter. Aber das würde vergehen, sobald ich mich seinen Händen überließ. Sobald ich in seiner Hand war …

Das Klappern von Holzschuhen auf der Treppe.

Sie kam immer pünktlich, sie brauchte kein orologio, kein Stundenglas, um zu wissen, wie spät es war. Als spürte sie, an welchem Punkt der Himmelsbahn Sonne oder Mond gerade standen, als fühlte sie den Gang der Stunden in sich wie das Meer die Gezeiten. Die Moresca. Es schien, das Klippklapp ihrer Schuhe würde den Glockenschlag erst auslösen, der nun mit volltönender Strenge vom Campanile herüberklang.

Die Moresca. Endlich, die Moresca. Und hoffentlich mit Nachrichten für mich, für den Abend.

Ich fuhr mir mit den Händen über das glühende Gesicht. (Der Fächer war mir vorhin aus der Hand gefallen, lag irgendwo unterm Stuhl.) Sie sollte meine Erregung nicht bemerken, sollte die Röte meiner Wangen auf die mittägliche Hitze zurückführen – als wenn man vor der Moresca etwas verbergen könnte!

Da war es schon, ihr spöttisches Lachen. »Nun, Madonnina, schon wieder in Liebesgedanken?«

»Wie kommst du darauf?«

»Wer wie du dasitzt, die Beine ausgestreckt, den Schoß vorgeschoben – mach mir nichts vor, Kleine!«

»Nimm dir nur nicht zuviel heraus!«, sagte ich und wusste, dass es falsch war, ihr gegenüber auftrumpfen zu wollen.

Diese schöne Mohrensklavin, hochgewachsen und rank wie eine Zeder, war schließlich nicht nur die oberste Zofe meiner Mutter, sondern auch die Geliebte meines Vaters. Unbekümmert trug sie das Perlenband, das Messer Antonio, der Hausherr, ihr aus Candia mitgebracht hatte. Perlen und das zum Turban geschlungene Kopftuch – weißes Leuchten gegen braune Haut. Mandelmilch und Zimt.

Fast schäbig kam ich mir in so einem Augenblick vor gegen diese bestürzende Schönheit – ich hier mit nichts bekleidet als einer leinenen cotta, an den Achseln durchgeschwitzt, mit den erregten Brüsten, deren Warzen sich unter dem dünnen Stoff deutlich abzeichneten, barfuß, denn meine Seidenpantoffeln hatte ich abgestreift, um Kühlung auf den Fliesen der altana zu suchen … Und dennoch. Geliebt. Geliebt vom besten aller Männer. Vien dunque Amor, cantiamo insieme …

Die tiefe Stimme der Moresca. Ihr Lachen, ihr Verschen, mit dem sie mich schon seit den Kindertagen neckte: »Leonida Signorina, Madonnina, piccina!« (Ja, immer nannte sie mich noch die Kleine, gab mir die gleichen spöttischen Kosenamen wie seit eh und je.) »Erzähl mir nicht, dass es die Sonne ist, die dir so zusetzt, dass du mit offenem Mund und heftigem Atem dahockst wie die Tauben im Schatten mit aufgerissenen Schnäbeln!«

Sie griff nach dem weit ausgebreiteten Bund meines Haars über der Strohkrempe und schüttelte es auf. »Noch einmal!«, ordnete sie an. »So bist du noch nicht schön. Willst du, dass überall die roten Borsten unterm Blond hervorgucken?«

Rote Borsten? »Unverschämtes Weibsstück! Wie redest du mit mir? Soll ich dich schlagen?« (Das sagt man so zu Sklaven, ohne es wirklich zu tun.) Niemals hatte ich wirklich rotes Haar gehabt! Aber dass da in dem Braun ein rötlicher Schimmer war, das konnte man schlecht leugnen …

Die Moresca tat meine Drohung mit einem verächtlichen Schnaufen ab. So etwas nahm sie nicht ernst. Sie krempelte die Ärmel ihres Hemds bis über die Ellenbogen hoch, schürzte den Rock und rückte die tönernen Krüge scheppernd auf den Marmorfliesen zurecht, und meine Ungeduld wuchs. Aber die Erfahrung hatte mich klug gemacht. Sie liebte es, mich zappeln zu lassen, und wenn ich in sie drang, zögerte sie alles noch mehr hinaus. Sie konnte boshaft sein. Es bereitete ihr Freude.

Endlich nahm sie mir den Sonnenschutz ab, entblößte meine Schultern, meinen Oberkörper. »Schließ die Augen, Madonnina!«

Ich beugte mich vor, fühlte schaudernd und erlöst das laue Wasser, das mir über Kopf und Hals rieselte. Die Rinnsale auf den Schultern und Armen, das Kitzeln auf den Brüsten – und dann ihre Stimme, raunend: »Vollmond ist heute. Ich werde auf dem Lido sein bei den anderen. Wir tanzen und singen. Giorgio schmachtet nach mir!«

Ich machte eine ungeduldige Bewegung mit dem Kopf, das Wasser lief mir in die Augen. Das war es nicht, was ich hören wollte! Warum rückte sie nicht mit der Sprache heraus?

»Wie kannst du gleichzeitig die favorita meines Vaters sein und einen Geliebten haben?«, fragte ich verärgert.

»Ich habe keinen Geliebten. Ich sage nur: Giorgio schmachtet nach mir.«

»Ach?«, sagte ich. »So sah es nicht aus für mich, damals, als du mich mitgenommen hattest auf den Lido, zu euren nächtlichen Mohrentänzen, verbotenerweise! Der Junge, dessen Haut glänzte wie Öl! Der aus dem Hause Vendramin! Das war er doch, nicht wahr?«

»Giorgio«, bestätigte sie. »Und du hast gezittert wie Espenlaub, als du sahst, wie sie alle den Mond beschworen. Ich musste dich unter meinen Mantel nehmen und festhalten!« Sie kräuselte verächtlich die Lippen. »Zumal wir nah beim alten Judenfriedhof waren …«

»Du lenkst ab. Und es ist nicht wahr!«, erwiderte ich wild. »Ich habe mich keinen Augenblick gefürchtet. Vor dem Friedhof nicht und vor euch schon gar nicht. Ich fand es nur – seltsam, ihr dort, und du und dieser Giorgio!«

Wieder einmal war es mir unerträglich, dass sie so viel von mir wusste. Alle Peinlichkeiten, die mir jemals zugestoßen waren, kannte sie. War dabei gewesen, als ich im Palazzo Vendramin, wo wir Visite machten, so unziemlich schnell die Treppe hinunterlief, dass ich ausglitt und mit hochgerutschten Röcken über den Marmorboden schlitterte wie eine Katze auf dem Eis. Hatte miterlebt, wie ich unterm Gelächter und Beifall der Venezianer bei einer großen Regatta aus einem kenternden Boot sprang und nicht darauf wartete, mich retten zu lassen, sondern den Rock abstreifte und halbnackt an Land schwamm. Gut, ich war noch fast ein Kind, und inzwischen hatte man diese Eskapaden zum Glück in der Stadt vergessen. Aber sie, sie wusste so etwas und behielt es in ihrem eigensinnigen Kopf.

Sie behielt, das ich mich auf dem Lido gefürchtet hatte, und sie behielt, wie ich einem zudringlichen jungen nobile bei einem Karnevalstanz öffentlich eine Ohrfeige gegeben hatte, weil er mich, wie ich fand, zu fest um die Taille fasste. Meine Mutter war fast in Ohnmacht gefallen! Die Moresca hatte gelacht …

Da hockte sie vor mir, die schöne Mohrin, auf ihren Fersen, rührte die Zutaten für eine neue Tinktur an, und ich sah herunter auf ihre Hände, braun, fast schwarz, wo sich die Haut an den Gelenken verdickte, und dunkel auch die Monde der Nägel – ein Zeichen dafür, dass sie keine reinblütige Afrikanerin war. Ein Zeichen, wie auch ihre grünen Augen. Eine Moresca eben, keine Mora. Eine hochmütige, boshafte, ihrer Macht bewusste Moresca.

»Du hast dich gefürchtet damals«, wiederholte sie ruhig. »Und Giorgio – Giorgio schmachtet nach mir!«

»Und du? Schmachtest du auch?«

Ich biss mir auf die Lippen.

Statt einer Erwiderung auf ihre Frechheit hatte ich schon den Fuß gehoben, um sie damit vor die Brust zu treten. Aber ich musste mich zurückhalten. Sollte ich meine Liebesbotin treten?

Sie erhob sich, mit ihrem unerträglichen, ihrem ewig spöttischen Lächeln, und begann, mir Stirn, Nacken und Schläfe mit Olivenöl einzureiben, zum Schutz vor dem zweiten Gang mit der ätzenden Mischung – bevor sie die Haarsträhnen bis hinunter zur Kopfhaut kräftig damit bearbeitete. Wie es brannte! Sie legte die Strohkrempe wieder um meinen Kopf. Und sagte noch immer kein Sterbenswort. Nicht das Wort, das ich erwartete. Vor Ungeduld presste ich mir die Fingernägel in den Handballen.

Und dann auf einmal war der Kopfschmerz da. Jener Schmerz, der vorher schon wie Nebelwellen durch mein Gehirn gegeistert war, dem ich befohlen hatte, fortzubleiben. Ich verzog das Gesicht, konnte ein leises Stöhnen nicht unterdrücken.

»Piccina!« Nun gurrte sie. Ihr Mund war dicht an meinem Ohr. »Im Hause der Dolfins hat man Befehl gegeben, für heute Abend eine felze zu bestellen.«

Mein Herz setzte kurz aus, schlug dann so heftig, dass es wehtat im Hals.

»Die felze?« Ich flüsterte.

Das war die überdachte Barke, in deren Schutz sich Liebender und Geliebte ungesehen zusammenfinden konnten in der Nacht. Fulvio würde kommen!

Kopfschmerzen? Nur noch ein feines Prickeln in den Schläfen. Zornig? Nur die Ungeduld war geblieben.

»Danke, Moresca. Nimm dir nachher aus meinem Beutel eine Goldzecchino.«

Ihr Lachen. »Goldzecchine liebe ich. Ich lass sie durchlöchern und häng sie mir in die Ohren, wenn es zum Tanz geht heute Nacht. Giorgio wird Augen machen! Dann bin ich noch schöner!«

Warum ihr nicht schmeicheln? »Du bist ohnehin schön genug.«

Sie schnaufte befriedigt. Spülte sich Hände und Arme im hölzernen Wasserbottich ab. Ich hörte das Klirren – Schlüsselbund und Schere. Sie nestelte den Spiegel vom Gürtel. »Und du? Bist du schön genug?«

Der Schreck, sich plötzlich selbst zu sehen – beschattet von jener Krempe aus Stroh, ein Gesicht, glänzend vor Schweiß, die viel zu starken Brauen gerunzelt, darunter der Blick der schrägen Augen, forschend, fast böse, die Lippen wie mit Sepia nachgezogen … Nein, schön fand ich mich nicht. Und doch, ich konnte gefallen! Ihm gefallen.

Die Moresca kicherte. »Ich muss dir die Brauen zupfen. Und wie deine Haut aussieht! Madonna mia, willst du als eine von uns daherkommen, so dunkel, wie du bist? Ich werde dir Kompressen mit Bleiwasser machen müssen!«

Ich schlug den Spiegel beiseite, wilder, als ich wollte. Er rutschte über den glatten Boden. »Ich mag nicht!«

Sie bückte sich, ungerührt. »Du musst aber! Für ihn bist du ohnehin schön, ich weiß. Und unterm Dach der felze brennt kein Licht. Aber übermorgen werden sie dich verkaufen, und da solltest du zusehen, dass du einen guten Preis erzielst für die Deinen!«

Sie konnte es nicht begreifen! Ich zischte vor Ärger. »Geht es nicht in deinen Sklavinnenkopf, dass es kein Verkauf ist? Kannst du es denn nicht verstehen? Dass es eine alte venezianische Sitte ist, mittellose Jungfrauen aus gutem Hause zu versteigern! Kein Verkauf!«

Sie blieb gelassen – ein dunkles Weib mit spöttisch nach unten verzogenen Mundwinkeln.

»Nein, es geht nicht in meinen Sklavinnenkopf. Eben weil es ein Sklavinnenkopf ist! Ich bin nur ein Mohrenweib. Aber wenn ein Mensch an den Meistbietenden verhökert wird, dann ist das für mich ein Verkauf, ob das nun auf dem Gerüst des Händlers in Marrakesch stattfindet oder in der Halle eines Palazzo. Du und deine Kusine – ihr werdet an eure zukünftigen Ehemänner verschachert. So ist das. Basta.« Sie lachte wieder. »Und wenn ich mich umsehe in dieser schönen Stadt – sind nicht die meisten Ehen so etwas wie Sklaverei? Also, meine Kleine, sieh zu, dass du einen guten Mann erwischst! Und weise nicht meine Bleikompressen zurück, die dir helfen, schön zu sein!«

Ihr Geplapper rauschte mir an den Ohren vorbei. Nun beugte sie sich gar zu mir herunter, und ihr heißes Geflüster war neben meiner Wange. »Und vor der Hochzeitsnacht komm zur Moresca. Sie wird dir helfen, und dein Gatte wird hinters Licht geführt. Er soll glauben, eine intakte Jungfrau ersteigert zu haben. Nicht, dass deine Familie den Kaufpreis zurückerstatten muss!«

Ihr gurrendes Lachen, tief aus der Kehle. Wie dreist sie war! »Was erlaubst du dir! Halt deinen Mund, du redest ungereimtes Zeug!«, protestierte ich.

Wenn sie wüsste.

Ich würde ihre Hilfe nicht brauchen. Es gab keine Gefahr. Alles war vereinbart, es war nichts zu befürchten. Es gab nur Grund zu Freude und Hoffnung.

Die Moresca hantierte mit ihren Tiegeln und Töpfen. »Du trägst es tapfer!«, bemerkte sie. »Wirst du gleich beim ersten Vollmond nach deiner Heirat den Galan wieder treffen? Ist das deine Hoffnung?«

»Geh jetzt!«

»Ich gehe, wann ich will!«

Das freche Frauenzimmer! Am liebsten hätte ich ihr etwas an den Kopf geworfen. Aber bevor ich Luft holen konnte zu einem scharfen Befehl, erlöste mich die helle Stimme meiner Mutter von drinnen: »Catalin, dove sei?«

»Wenigstens die Herrin nennt mich mit meinem christlichen Namen hier im Haus!« Sie klang befriedigt. »Ich komme, Madonna Ornella!«

Dann das Klappern ihrer Holzschuhe auf den Marmorfliesen. Danach die hölzerne Stiege …

Ich lehnte mich aufatmend zurück, froh, dass das rote Zorn-Tier nicht aus mir ausgebrochen war. Oft verletzte ich mehr, als ich eigentlich wollte … Und schließlich schuldete ich der Moresca vieles. So wie heute. Für die Verabredung zum Stelldichein in der Nacht.

Mit geschlossenen Augen ertrug ich den Biss der Sonne. Der Schmerz in den Schläfen kam wieder. Unwichtig. Heute Abend würde er vergehen wie Schnee, der vor der Glut schmolz.

Die Zofe schicken, Bescheid geben, dass ich komme. Heute Abend wie fast jeden Abend. Und bald ganz und gar für immer.

Meine Kusine fiel mir ein. Arme Donata. Was für sie in zwei Tagen, zu der Versteigerung, ein Opfergang sein würde – für mich würde es ein Triumphzug werden.

So dachte ich in meiner Einfalt.

Vom Glockenturm schlug es die zweite Mittagsstunde und ich summte jene Canzone Boccaccios vor mich hin, die mir vorhin schon durch den Kopf gegangen war. Jene, in der die Liebende mit Gott Amor spricht und ihn zum Zwiegesang auffordert: Vien dunque Amor, cantiamo insieme! Komm doch, Amor, lass uns gemeinsam singen …

Ich war die glücklichste Frau der Welt. Glaubte es zu sein, damals.

II.

Ich, Donata

Damals, wie lange auch immer es zurück sein mag, wähnte ich, glücklich werden zu können. Nun liege ich hier auf dem schmalen Bett der Clarissinnen, schlaflos, die Arme unterm Kopf verschränkt, und denke zurück. Und ich weiß, dass nebenan, nur durch eine dünne Wand aus Lehm und Ziegeln getrennt, die andere gleichfalls wach sein wird in dieser unserer letzten Nacht in Venedig, und dass ihre Bilder, ihre Träume durch ihren Kopf wandern werden wie Gespenster der Vergangenheit.

Meine reichen weit zurück. Weiter als ihre vielleicht.

 

Wir waren gemeinsam aufgewachsen, wir, die Töchter der Brüder Priuli. Gleichen Alters, unzertrennlich, ich die Blonde, sie die Braune, ein Herz und eine Seele damals, als nur der katzenhaft gebuckelte Bogen einer Brücke die Häuser unserer Väter trennte – dieser Brücke an den Fondamente del Osmarin, über die wir täglich liefen, sprangen, hüpften, um uns unsere neuen Puppen und unsere neuen Kleider zu zeigen, uns die Frisuren vorzuführen, die man uns kämmte, uns unsere Geheimnisse ins Ohr zu flüstern. Unschuldige Geheimnisse, die in Wirklichkeit keine waren. Man kam sich wichtig vor, zu tuscheln und so zu tun, als erzählte man sich verbotene Dinge, damit sie uns hinterherliefen, die besorgten Ammen, die Mägde, die Erzieher – sie, die ohnehin immer in Angst waren, wir könnten in den Kanal fallen.

Leonida tat alles stets als Erste und ich folgte ihrem Beispiel: Auf Fenstersimsen und Türstürzen direkt überm Wasser turnen, die Treppengeländer hinunterrutschen mit gebreiteten Armen, dabei die Beine steif abgespreizt wie die Böckchen (man sah unsere Knie und unsre Strumpfbänder, wie unschicklich!), Türen schlagend Versteck spielen durch die Räume längs des androne, des Ganges, der durch das ganze Gebäude führt. Unsre Pantoffeln flogen davon, unsere Zöpfe lösten sich, unsre Röcke wehten wie Fahnen. Sogar auf den Taubenturm stiegen wir und kamen dreckverschmiert zurück, über und über gepudert mit getrocknetem weißem Taubenkot.

Ja, gewiss war es Leonida, die begann mit solchen Streichen. Bisweilen zögerte ich, aber nie war ich fähig, Nein zu sagen. Wenn wir bestraft wurden, nahm sie ohnehin die Schuld auf sich. Ohne zu weinen. Das Weinen blieb mir überlassen. Ich übte mich früh darin und habe es später noch reichlich weiter tun können …

Während der villegiatura, der Sommerfrische, reisten wir mit Müttern und Dienern zu Schiff auf der sanft dahinfließenden Brenta in unsere Villa ins Veneto, und wir bedauerten die Väter, die als Haus- und Handelsherren zurückbleiben mussten in der nach Fäulnis stinkenden Lagunenstadt.

Zu Schiff bereits umfing uns frischer Wind und belebende Luft, die Zweige der Uferweiden überschatteten das kühle dunkle Wasser. Es verhieß Abenteuer.

Das Haus auf dem Lande war neu, Messer Palladio hatte es für die Familien Priuli gebaut. Es war rosenfarben und sonnengelb gestrichen und hatte Säulen und Treppen nach dem Vorbild, wie sie im alten Griechenland errichtet worden waren.

Wie brav wir im Schatten saßen mit unseren Müttern und Tanten, unter den Sonnenschirmen oder unterm Blätterdach der Kastanien, neben den Marmorbrunnen, die für Frische sorgten! Wie wir unsere kleinen Fächer bewegten und uns Mühe gaben, nicht mit den Beinen zu baumeln! (Das gehörte sich nicht!) Bis Leonida sich als Erste davonschlich, fort von den künstlichen Grotten und den geraden, mit Lorbeer und Zypressen gesäumten Sandpfaden.

Draußen, dort, wo der Park aufhörte, wartete das freie Land auf uns, gleißend im Licht der Sonne. Wir standen geblendet, hielten die Hände schützend über die Augen, und die Hitze traf uns wie ein Schlag vor die Brust, raubte uns auf beglückende Weise den Atem. Dann stapften wir los ins Unbekannte.

In der macchia, in der Wildnis aus Ginsterbüschen, Weißdorn und Korkeichen, gab es Kinder in unserem Alter, struppige kleine Ziegenhirten, sie trieben ihre nach Kühlung lechzende Herde umher und zeigten uns den Wurf gelbäugiger Hunde, den sie in der Felshöhle versteckt hielten, damit ihre Eltern die Welpen nicht töteten.

Ihre Mütter knicksten vor uns und sprachen uns als donzella, als Fräulein, an. Sie gaben uns aus der Tiefe ihrer Keller herben Wein, mit Wasser gemischt, oder Milch im beschlagenen Krug, und priesen sich selig, wenn wir bei ihnen verweilten und uns abkühlten zwischen Weinstöcken und Oliven, unter breit aufgespannten, wassergetränkten Leintüchern.

Einmal hatten wir herausbekommen, dass die dürren schwarzen Schweine, die einer unserer barfüßigen Freunde im Eichenwald zu hüten hatte, auf einen bestimmten Pfiff ihres Hirten nach Haus liefen in den Stall. Ein Pfiff auf zwei Fingern.

Leonida konnte pfeifen wie ein Junge. Versteckt im Weißdorngebüsch, schickte sie zweimal, dreimal die Schweineherde nach Haus. Es war nicht boshaft gemeint, nur ein Streich. Erst als unser Freund nach dem dritten Mal mit von Schlägen verschwollenem Gesicht wiederkam, begriffen wir. Leonida, die Röcke bis zu den Schenkeln gerafft, rannte los zu der Kate des Pächters, ich kam kaum nach. Heulend verlangte sie von der Mutter des Jungen, gleichfalls gezüchtigt zu werden.

»Ich war es, verstehst du! Ich hab die Tiere nach Haus geschickt! Dein Sohn verdient keine Strafe!«

Die Frau guckte bestürzt – wie sollte sie die Tochter eines ihrer Herren anrühren? Schließlich kam sie auf den Gedanken, Leonida zur Strafe aufzuerlegen, einen Bottich Trauben zu sortieren. Ich hätte gehen können, aber bestand darauf, meiner Herzensfreundin zu helfen. Bis über die Ellenbogen mit rotem Saft beschmiert, saßen wir in der Sonne und verlasen verbissen den Wein; die guten Trauben in den Kelterbottich, die schlechten in den Trog. Von Zeit zu Zeit kam die Pächterin aus dem Haus, begutachtete kopfschüttelnd unser Werk, wollte uns wieder und wieder nach Haus schicken. Die Sonne stand schon tief und die Tiere waren nun endgültig im Stall. Unter Tränen arbeiteten wir weiter. Es kam uns vor, als würden Stunden vergehen. Ich hätte längst aufgegeben. Leonida nicht.

Es wurde Abend und von unserem Platz machten wir aus, wie die verängstigten Dienstboten unserer Mütter mit großen Laternen in der Umgebung nach uns suchten, ihre Lichter bewegten sich wie riesige Glühwürmchen durch das Gezweig der entfernten Büsche, und ihre Stimmen hallten weit in der Dämmerung.

Oh, die Bleiwasserkompressen, mit denen sie uns damals nachtsüber quälten, damit unsere sonnenbraune Haut wieder blass wurde, wie es sich für junge Damen gehörte! Bei mir schlug es an. Bei Leonida war alle Mühe vergebens, die Haut ihres Gesichts immer gefärbt wie reifer Honig, die zarten Fältchen in der Armbeuge nussbraun. Für alle ein Gräuel! Ich fand sie schön.

Dann, eines Sommers, warteten wir vergeblich darauf, dass die Diener unsere Sachen packen würden. Die Hitze kam, trieb uns von draußen zurück in die Kühle der Innenräume unserer Palazzi. Wir blieben in der stickigen Stadt, in den Nächten gepeinigt vom üblen Gestank der Lagune. Die Villa im Veneto, so hörten wir aus den geflüsterten Gesprächen der Diener und Mägde, war fort, verkauft an einen Tuchhändler aus Pesaro, mitsamt allen Gobelins und Teppichen, mit den Gemälden des Messer Veronese an den Wänden und den Bronzeskulpturen, deren glatte kühle Rundungen wir heimlich betastet und an deren üppigen Formen wir uns gerieben hatten, als seien sie lebendig.

Verkauft waren auch die Weinberge und die Olivenwäldchen mit Mann und Maus und Ziegenherden, die schmutzigen glutäugigen Kinder, unsere Spielgefährten aus der macchia – wir sahen sie nie wieder. Alles gehörte nun einem anderen padrone. Der kleine Weinberg im Valpolicella, der Leonidas Eltern gehörte, die zwei kleinen Olivengärten nördlich davon – das war alles, was uns geblieben war.

Seufzend saßen unsere Mütter im Dunkeln, denn wegen der Hitze waren die Fensterläden geschlossen; sie zogen beim Schein der Kerze die Nadeln mit den Silberfäden durch den knirschenden Stoff im Stickrahmen, schalten mit uns, murrten, raunten, vergossen Tränen. Vittoria, meine Mutter, die Herrin unseres Hauses, neigte dazu, halbe Tage auf dem Bett zu verbringen, einen Teller mit Süßigkeiten neben sich. Matt und träge, so blieb sie in diesem Sommer.

Meine Tante, die hochaufgeschossene zia Ornella mit der hellen, möwenhaft schrillen Stimme, bestritt bei ihren Gemeinsamkeiten meist das Gespräch, zog über die Dienstboten her, beklagte sich, dass ihr Mann Antonio mit der Mohrensklavin Catalin im Bett lag – aber, so erklärte sie mit gesenkter Stimme, eigentlich sei sie froh darüber. Der Eifer ihres Gatten wäre ihr nachgerade zu viel. (Wir lauschten an der angelehnten Tür, die Wangen gerötet.)

Was aber war geschehen? Warum hatte man die Villa verkauft? Hinter vorgehaltener Hand flüsterte uns der procurista unserer Väter zu: Vier Schiffe mit Porzellan aus dem fernen China und mit morgenländischen Spezereien, gemeinsam finanziert von den Gebrüdern Priuli, hatte man an die Türkenpiraten verloren … Es gab Verbindlichkeiten zu begleichen …

Wir stellten uns die Türkenpiraten in ihren Pluderhosen vor, mit Turbanen wie Bienenkörbe auf den Köpfen und riesigen Schnurrbärten, die krummen Dolche quer im Mund. Wenn Leonida damals schon gewusst hätte, was ihr dereinst begegnen würde – aber nein, dergleichen war unvorstellbar …

Wir langweilten uns auch in Venedig nicht in diesem Sommer. Das war uns nicht gegeben.

Es war das Jahr, in dem Leonida im Schrank ihres Vaters das Buch vom Rasenden Roland des Messer Lodovico Ariosto entdeckt hatte. Hingestreckt auf dem kühlenden Estrich unserer Zimmer, die Kleider bis zu den Schenkeln hochgeschoben, lasen wir uns gegenseitig die üppigen Liebesabenteuer von Angelica und Medoro vor und räkelten uns wie junge Katzen unter einer streichelnden Hand.

Nachts unter den verzierten Leinendecken, jede in ihrem Zimmer, erhitzten wir unsere kindlichen Körper mit Streicheln und Reiben bis zur Erschöpfung und schliefen mit glühenden Wangen ein, die Münder offen vor Sehnsucht nach Berührung. Am Morgen tauschten wir flüsternd unsere nächtlichen Erlebnisse aus. Wer hatte uns im Traum besucht? Einer der Paladine? Der schöne Maure Medoro oder gar Orlando, der Held, selbst, nackt unter der klirrenden Rüstung …?

Das gehörte zu den Freuden jenes Sommers. Dann jedoch fiel mir Dantes »Göttliche Komödie« in die Hände, und mit vor Entsetzen gesträubtem Haar las ich von der Pein der armen Seelen im Fegefeuer, die sich der Wollust hingegeben hatten. Aber meine Kusine, der ich das Buch zum Lesen gab, lachte mich aus.

»Ich glaube, Messer Dante war selbst einer von den Wollüstigen!«, sagte sie. »Lies nur, wie er die Liebesgeschichte von Francesca und Paolo beschreibt. Und seine Beatrice? Glaub mir, wie er von der redet, das war nicht nur himmlische Verehrung! Die vielfältigen Qualen endlich, die er sich ausgedacht hat für die verirrten Sünder – alles nur Fantasie des Dichters!«

Ich wollte ihr gern glauben, doch trotzdem ging ich zur Beichte. Als ich aber von dem Zeugnis ablegen sollte, was ich mit meinem Körper anstellte, da stockte mir die Zunge im Mund, und ich ging davon, ohne darüber gesprochen zu haben …

Im Winter darauf wuchsen uns die Brüste – meine klein und apfelrund, Leonidas spitz wie die Zitzen einer jungen Ziege. Wenn wir zusammen waren und die Mägde entfernt wussten, hoben wir unsere Röcke und zeigten uns gegenseitig das Haar, das uns im Dreieck zwischen den Beinen wuchs; bei mir blond und weich wie der Flaum eines Kükens, bei Leonida – ich beneidete sie – rötlich braun und kraus wie Petersilie.

Nie im Leben werde ich diese Stunden vergessen; in den Lichtstreifen, die durch die Ritzen der Fensterläden leckten, wirkten unsere Bäuche gestreift wie die Kirchen auf der terra ferma, dem Festland Venedigs, mit ihren schwarzen und weißen Marmorschichten. Leonida war wie immer die Kühne, sie spielte den Mann, berührte mit den Fingern die Rose zwischen meinen Beinen; die durchdringende Süße des Gefühls breitete sich in meinem ganzen Körper aus und trieb mir Tränen in die Augen.

Ich wagte mich nie so weit vor wie sie, überließ ihr die Führung und hatte allein meinem Mund Lizenz erteilt zu diesen Spielen, ich leckte ihre Brüste und küsste ihr die Lippen wund. Weiter berührte ich sie nicht. Oft verging so die Zeit bis zum Angelusläuten, wenn die Mägde uns zum Kirchgang riefen. Wir kamen sittsam mit gesenkten Augen hervor aus unserer verbotenen Siesta, unser Atem ging heftig und die Wangen glühten. Diese Hitze!

Damals gab es niemanden, der zwischen uns war. Es war vollkommenes Glück.

Leonida gelang es, aus dem Bücherschrank ihres Vaters, meines Onkels Antonio, noch eine weitere Lektüre zu entwenden, ein schmales Büchlein, das ganz hinten zwischen den Folianten versteckt war. Es enthielt die Sonette des Pietro Aretino.

Anders als die wilde Leonida, hatten mir diese frivolen Verse fast die Lust an unseren gemeinsamen Spielen geraubt. Die Gedichte zogen mich gleichzeitig an und stießen mich ab. Der Dichter benannte die Teile unseres Leibes, die uns Lust bereiteten, und all das, was Mann und Frau miteinander taten, mit den gröbsten und direktesten Namen der Gosse und formte dennoch aus diesem Schmutz Verse von edelstem Gleichmaß. Er machte mich schamrot und begierig zugleich.

»Bring sie nicht wieder mit!«, sagte ich zu meiner Kusine. »Ich mag sie nicht. Mir genügt, was in meinem Kopf wohnt. Dieser Mann ist unzüchtig.«

Leonida lachte. »Ganz wie du willst. Dann hab den Messer Aretino ich für mich allein nachts unter der Decke.« Wir sprachen nicht mehr darüber.

Der Verlust des Hauses im Veneto war der Beginn unseres Abstiegs. Der Karneval stand bevor und mit ihm ein wirklicher Kummer für uns Mädchen und unsere Mütter.

Madonna Ornella, meine Tante, Leonidas Mutter, war weinend und schreiend über die Brücke zu uns gelaufen: Die Türken, diesmal waren es reguläre Truppen, hatten die Insel Negroponte in der Ägäis eingenommen! Antonio, mein Onkel, hatte all seine Besitzungen dort verloren! Sein Stammkapital. Auch mein Vater hatte dort einige kleinere Liegenschaften gehabt, die nun fehlten.

Das hätte uns Mädchen wenig gerührt – was lag uns schon an Negroponte? Aber dann erfuhren wir die Folgen: Wir würden keine neuen Kleider zum Karneval bekommen, und nicht einmal den Schmuck würden uns unsere Väter nach der Mode neu fassen lassen! Wie schrecklich! Wie unausdenkbar!

Zia Ornella rang die Hände und steckte meine Mutter und mich an mit dem Geheul. Keine Bälle, keine Feste, keine Konzerte und keine Maskeraden. Als wäre dies schon alles, was ihr mit Negroponte verlorengegangen war!

Doch nicht am Karneval teilzuhaben, das war so gut wie schon gestorben. Weinend lagen sich die Frauen in den Armen.

»Und die Seidenbrokate aus China, die mein Mann auf Vorrat hat?«, fragte meine Mutter und hob ihr tränennasses Gesicht hoffnungsvoll der Schwägerin entgegen. Zia Ornella fing sich als Erste. Sie schnaubte verachtungsvoll durch die Nase.

»Die schimmeln in eurem Lager doch schon seit dem vorigen Winter! Du weißt doch, dein Marco hat sich verspekuliert. Die Seidenraupen, die die Florentiner züchten, spinnen billigere Fäden. Und erst die Muster – sie sind allesamt aus der Mode, in Florenz gibt es viel schönere Ornamente. Nein, niemals, Vittoria! Ehe wir uns Kleider aus diesem verjährten Zeug machen lassen, gibt es keinen Karneval!«

»Ach, wir Unglücklichen!« Meine Mutter stopfte sich eine ganze Handvoll Honigkonfekt in den Mund. (Sie war inzwischen so rundlich, dass der Schneider ihr neu hätte Maß nehmen müssen, wenn man ihn denn gerufen hätte.)

Ich lief zu meiner Kusine, dies Leid mit ihr zu teilen – aber Leonida war weit davon entfernt, zu jammern. Sie saß mit ihrer schwarzen Dienerin, der Moresca, zusammen und lachte mich aus. Die beiden hatten beschlossen, den Karneval dennoch zu feiern, vermummt, eingehüllt in eine bauta, einen großen Kapuzenmantel aus lackschwarzer Wolle, wie ihn die Mohrinnen anzogen, wenn sie sich bei Vollmond auf dem Lido trafen, und Leonida war bereit, mich mitzunehmen. Aber mein Mut verließ mich, so viel Heimlichkeit war mir nicht geheuer … und die schwarze Frau war mir noch nie geheuer und nicht geheuer war mir auch Leonidas wilder Ungehorsam an diesem Tag. Meine Kusine beachtete mich nicht und schmiedete weiter Pläne mit ihrer Moresca. (Später erfuhr ich, dass sie sogar auf dem Lido gewesen war …!) Und so feierte sie denn Karneval ohne mich und ich litt das erste Mal die Qualen des Verschmähtseins. Ausgestoßen sein! Allein sein! Ohne sie, die mein Ein und Alles war – und sie da draußen in irgendwelchen Abenteuern mit dem Mohrenweib, der Konkubine meines Onkels!

Der Karneval ging vorüber, und die Unglücksnachrichten für uns nahmen kein Ende. Meine Mutter weinte beinah jeden Tag, wenn der Vater nach Haus kam und neue Botschaften brachte. Endlich musste er die Waren aus dem Lager verschleudern, und seine beiden letzten Schiffe gingen uns in einem Sturm verloren; sie waren in die Etesien, die gefürchteten Herbststürme, geraten.

Bevor der nächste Sommer kam, rückte eines grauen Morgens ein Heer von Arbeitern und Lohndienern aus der fattoria meines Vaters bei uns ein und trug alles fort, zuerst die Möbel, dann die Teppiche, die den Estrich deckten, die Gobelins und die Bilder von den Wänden, dazu Dutzende Körbe mit Geschirr und Besteck, eine Handvoll Kisten mit Büchern, die Bettkästen und Kandelaber und Nachtstühle und Truhen voller Wäsche und den geschnitzten Hausaltar – alles wurde auf bauchige Lastkähne verladen.

Meine Mutter saß vornübergebeugt in der Mitte des andron, dem weitläufigen Gang, ganz allein auf einem Stuhl, ihr Haar war unfrisiert und hing auf ihre Schultern herab, sie hatte die Ellenbogen auf die Schenkel gestützt und starrte vor sich hin, als würde sie nichts hören und nichts sehen. Messer Marco, mein Vater, gab den Dienern und Arbeitern Anweisung, und Lollo, sein Faktotum und Buchhalter, eine Wachstafel mit Anmerkungen in der Hand, die Ärmel hochgekrempelt, half ihm dabei.

Um mich herum Geschrei, Getöse, das Schurren der Kisten auf den Fliesen, das Scheppern der Körbe, die lieblos da draußen in die Lastkähne geworfen wurden.

Es kam mir vor wie eine Plünderung. Jedoch, es war nur ein Umzug. Wir mussten den Palazzo verkaufen – Lollo, den Schreibgriffel hinterm Ohr, erklärte es mir zwischen zwei Anweisungen, die er den Arbeitern zuschrie. Er strich mir dabei übers Haar, als sei ich noch ein Kind, noch das wilde kleine Mädchen, das nun nie wieder auf den Fenstersimsen und Balustraden entlangklettern oder die Treppengeländer hinunterrutschen konnte.

Ich floh aus dem Haus, stand auf unserer Brücke, oben auf dem Katzenbuckel, die Hände um mich herumgeschlagen, hielt mich an mir selber fest und sah dem Geschehen zu. Mein Herz war in mir so schwer wie ein Stein, ich glaubte, festgewurzelt zu sein an diesem Platz.

Dann plötzlich das Geräusch hölzerner Schuhe. Aus dem Nachbarhaus kam meine Kusine. Die Röcke geschürzt, stolperte sie auf ihren hohen zoccoli, den Pantinen, die man trägt, um die Rocksäume nicht zu beschmutzen, zu mir die Schräge der Brücke hoch. Die Augen unter ihren dunklen Brauen weit aufgerissen, starrte sie hinüber zu dem Haus, das uns, meiner Familie, bald nicht mehr Heimat sein würde.

»Was geschieht da?«

»Wir ziehen fort. Ich weiß nicht, wohin«, erwiderte ich mit lahmen Lippen.

Wir blickten uns nicht an, sahen beide in die gleiche Richtung. Kein Zuruf mehr von Fenster zu Fenster, kein schneller Gang über unsere kleine ponte, die Brücke, um miteinander in der Dämmerung der Palazzi zu tuscheln, keine Wäscheleine, die von den freundschaftlich verkehrenden Dienstboten der beiden Häuser über den Kanal gespannt wird, die weißen Unterröcke flatternd in der Brise … Addio, Zweisamkeit. Addio, Kindheit.

Wir zogen nach Canareggio, wo es sumpfig war und die Arbeiter des Arsenals wohnten, bezogen ein schmalbrüstiges Haus zwischen Trampelpfaden und Buschwerk, umlauert von streunenden Katzen, deren brünstiges Geschrei uns nachts den Schlaf raubte. Zu allem Überfluss auch noch ganz in die Nähe des Ghetto, des Judenviertels! Was für ein Sturz!

Meine Mutter weinte viel. Wenn ich nun zu Leonida wollte, musste ich die Gondel nehmen. Meine Kusine kam nur ein- oder zweimal zu mir, betrachtete die Umgebung mit einer Verwunderung, die an Abscheu grenzte. Wären wir noch Kinder gewesen, sicher hätten wir diese wildwüchsige Umgebung als Abenteuer betrachtet. Aber wir waren andere inzwischen, entfernten uns voneinander. Leonida las wohl immer noch die frechen Verse des Pietro Aretino. Ich hingegen verliebte mich in einen Padre, meinen Beichtvater, einen jungen Franziskaner mit flammend schwarzen Augen. Doch dann vergaß ich ihn und meine Schwärmerei völlig. Ein neues, anderes, tieferes Gefühl hatte mich ergriffen. Und dann … folgte der eisige Schreck. Er packte uns, Leonida und mich, wie eine Faust ein Hündchen ergreift und es am Nackenfell hochhebt.

Unsere Väter offenbarten uns, dass von uns Töchtern die Rettung der Familienehre abhing. Sie waren beide außerstande (auch mein Onkel Antonio wurde nun weiter vom Pech verfolgt), die Arsenalsteuer für das nächste Jahr aufzubringen – das Schlimmste, was einer Adelsfamilie geschehen konnte. Abhilfe, so schien es, konnte nur eines schaffen: unsere Versteigerung an den meistbietenden Mann.

III.

Zwei Tage vor der geplanten Versteigerung der beiden Jungfrauen Donata und Leonida Priuli sitzen die Väter der Mädchen sorgenvoll in ihrem gemeinsamen Kontor und machen Bilanz.

»Bankrott ist Bankrott«, sagt der eine von ihnen mit dumpfer Stimme.

Der andere sieht vor sich hin und nickt. »Wir sind blamiert. Wenn ich an die Steuern denke, die die Stadt von uns verlangt, könnte ich mir die Haare ausraufen.«

»Ich schlafe keine Nacht mehr.«

Trotzdem wenden sie sich wieder ihren Berechnungen zu.

Es ist die Stunde der Siesta. Durch die halb geschlossenen Läden, die auf den Campo hinausgingen, schiebt das Licht fächrige Finger über die Fläche des breiten Tischs aus Eichenholz; er ist beladen mit buntgefärbten Papieren: Tratte. Schuldscheine.

Seit es zum Alltag gehört in Venedig, auch den armen, des Lesens unkundigen Leuten Geld auszuleihen – und Tag für Tag wächst die Zahl der Armen an –, kennzeichnet jeder Pfandleiher, jeder Kreditgeber seine tratte in einer anderen Farbe, und so geht man zum giallo, zum rosso oder zum azurro banco, zum gelben, roten oder blauen Geldhaus.

Die Brüder Priuli sind bei allen in der Kreide.

Wenngleich sie in einem gemeinsamen Kontor sitzen, waren ihre Geschäfte streng voneinander getrennt (bis auf die vier verlorengegangenen Schiffe mit Porzellan und Spezereien) – schon aus dem Grunde, damit niemand den einen für die Verbindlichkeiten des anderen regresspflichtig machen kann.

Ungeachtet dessen fällt es den guten Venezianern schwer, sie zu unterscheiden. Obwohl die Brüder zwei Jahre trennen, sehen sie sich ähnlich wie Zwillinge – eine Art unteilbarer Größe, wozu ihre Namen beitragen, denn »Marco« und »Antonio« zieht man gern zu »Marcantonio« zusammen. Um jedoch bei der Kundschaft keine Verwirrung aufkommen zu lassen, hat sich der Ältere der beiden, Antonio, der Vater der wilden Leonida, entschlossen, einen goldenen Ohrring zu tragen als unverwechselbares Kennzeichen. Bald ist der Teil fürs Ganze genommen worden: Alle Welt nennt Antonio nun einfach Orecchino, den Ohrring.

An diesem schwülen Sommermittag nun lassen sie stumm und bedrückt die Kugeln des Abakus durch ihre Finger gleiten. Das trockene, helle Klacken des Holzes und das Summen der Fliegen sind die einzigen Geräusche im Raum. Hin und wieder macht Antonio ein paar Notizen mit dem Griffel auf eine Schiefertafel, wirft Marco einen Blick ins aufgeschlagene Hauptbuch, taucht seine Feder ins Tintenfass und korrigiert einen Posten.

Schließlich unterbricht Marco mit einem schweren Seufzer die Stille. Er schlägt das Hauptbuch zu, gießt aus dem bereitstehenden zinnernen Weinkrug ein schön geschliffenes Murano-Glas voll. Ein Lichtstrahl fällt darauf, und das Purpurrot des Getränks wirft zitternde Reflexe über Papiere und Tisch. »Es nützt alles nichts«, wiederholt er. »Bankrott ist Bankrott.«

Er wirft einen schwermütigen Blick auf das weiß-rot gestreifte Hauswappen der Priuli, das über dem verzierten Kamin angebracht ist und mit seiner lateinischen Devise »Calamitate fortior« vom trotzigen Gründergeist der Ahnen kündet.

»Calamitate fortior! Stärker als das Unglück!«, zitiert er höhnisch. »Seit dreihundert Jahren befahren die Handelsschiffe der Priuli die Meere! Wir sind nobili! Wir haben Dogen gestellt und unser Vater saß noch im Rat der Zehn! Was ist aus uns geworden – jetzt, Anno Domini 1570!« Er seufzt. »Mit den gekaperten Schiffen hat es angefangen, dann verlorst du die Fondachi auf Negroponte an die Türken.«

»Du verspekuliertest dich mit dem chinesischen Brokat.«

»Du mit den Gewürzen.«

»Ist es unsere Schuld?«

»Es ist die Weltlage.«

»Verflucht seien die Türken!«

»Und dreimal verflucht die Portugiesen!«

Jetzt schenkt sich auch der andere Bruder ein Weinglas voll. »Auf unsere Töchter! Sie werden uns retten übermorgen! Und vor allem: Sie werden unsere Ehre retten.«

Marco gießt sich schnell nach. Er leert sein Glas auf einen Zug. »Glaube mir, Bruder, ich weiß nicht, ob ich wirklich bereit gewesen wäre, so ein Juwel wie meine Donata dieser … dieser Prozedur auszusetzen. Aber die Arsenalsteuer nicht mehr zahlen zu können – das ist mehr Schande, als ein Priuli auf sich nehmen kann. Venedigs Schiffbau ist unser Leben, unser Stolz, unser Reichtum und unsere Kraft der Verteidigung. Ein Bürger dieser Stadt, der dazu nicht beitragen kann – der hat es nicht mehr verdient, Venezianer zu heißen!«

Antonio kaut an der Unterlippe. »Es sind brave Mädchen. Gute Töchter unseres Hauses. Sie verstehen die Notwendigkeit, die uns treibt. Es nagt mir trotzdem am Herzen.«

»Kopf hoch, Orecchino! Es ist ein alter Brauch, und unter uns – auch ohne Versteigerung wären sie ja nicht in der Lage gewesen, sich den Bräutigam auszusuchen. Ehen werden in den Familien geschlossen, es sind Geschäfte, keine Herzensangelegenheiten!«

»Wohl, wohl. Eine Heirat geschieht immer für das Ansehen der Familien. Sei’s drum.«

»Unsere Mädchen werden uns salvieren, wie es gehorsamen Töchtern gebührt«, sagt Marco mit Nachdruck. »Wir kennen die Häuser, die auf der Suche nach edlen Bräuten sind. Sie alle sind solvent.«

»Solvent sind sie schon, aber eben nicht adlig!«, erwidert Antonio mit verzogenen Lippen und schiebt mit einer Bewegung des Unterarms Schuldverschreibungen und Abakus beiseite. »Was sind das denn für Namen, Bruder!« Er greift nach einem Blatt Pergament zwischen anderen Bögen und wedelt damit vor Marcos Nase herum. »Das sind keine nobili, keine Adelsfamilien, das sind schlicht und einfach Handwerker!« Mit zwei Fingern schnippt er gegen das hauchdünne Glas in der Hand des Bruders. »Der Vorsteher der scuola der Glasbläser ist unter den Bietern! Ein reicher Mann, gewiss! Aber vor zehn Jahren stand er selbst noch mit dem Blasrohr vorm Ofen. Nun stolziert sein Sohn in Samt und Seide und verlangt, sich mit einer adligen Jungfrau als Braut zu schmücken!« Er wühlt unter den Papieren nach einer zweiten, späteren Liste, findet sie. »Und auch hier: Unser Messer Ruggiero!« Er zeigt mit einer Bewegung seines Kinns in die Ecke des Raums, wo die Degen der Brüder in ihren Waffengehenken an der Wand lehnen. »Wir schätzen die Produkte aus seiner fattoria, seine chiavone, Degen mit verziertem Korb und einer Klinge, die Federn in der Luft zerschneidet! In aller Welt berühmt! Willst du wirklich, dass deine Tochter Madonna Schwertfegerin wird? Wir sind die Priuli! Oh, es ist eine bittere Frucht, in die wir beißen müssen übermorgen! Wo bleiben die Falier, die Venier, die Dandolo?«

Marco unterbricht die Tirade seines Bruders, indem er ihm beruhigend die Hand auf den Arm legt. »Sie werden demnächst das Gleiche tun müssen wie wir«, sagt er mit einem bitteren Lächeln. »Ihre Töchter verkaufen, ihr letztes Kapital. Denn das Geld, das wissen wir ja, das haben inzwischen die Handwerker, nicht mehr die großen Familien, die im Fernhandel tätig sind. Europa kauft in Venedig jetzt Spitzen und Spiegel, statt Pfeffer und Seide.«

Er holt tief Luft.

»Antonio, blick dich doch um! Sind wir die Einzigen, die ihre Ländereien auf den Inseln an die Türken verloren haben? Sind wir die Einzigen, deren Schiffe gekapert oder versenkt wurden? Wenn ich daran denke, dass bis auf wenige Städte der Levante alles in der Hand der Ungläubigen ist, dass der Türke uns nun schon seit dreißig Jahren in Dalmatien vor der Nase hockt, dann sträubt sich mir das Haar! Eine Schiffsstunde, und sie säßen auf der Piazza San Marco, wenn sie denn wollten!«

Marco wischt sich die Stirn mit dem Taschentuch.

»Nimm nur dies alles – es ist schon schlimm genug. Aber es ist ja noch nicht die ganze böse Wahrheit. Wie können wir, wie kann die Serenissima noch ankommen gegen die Spanier und die Portugiesen?

Wenn du da sitzest auf dem Dach deines Hauses und dein Angesicht dem Meer zuwendest, dann siehst du es doch: Die Ankerplätze an der Riva degli Schiavoni sind unbesetzt. Früher musste in der Regel eines unserer Schiffe tagelang draußen vorm Lido auf Reede liegen und warten, bis unsere Güter umgeschlagen werden konnten. Heute ist ein Frachter, der unter der Flagge von San Marco ins Hafenbecken kommt, ein Wunderding, und der Pöbel kommt gerannt, es zu bestaunen. Weit im Osten hat uns der Sultan im Würgegriff, im Westen der Portugiese. So haben sich Orient und Okzident gegen die Handelsherren von Venedig verschworen.«

Antonio nickt. Mit einem tiefen Seufzer blättert er in seinem Hauptbuch, lässt den Finger über sorgfältig geschriebene Zahlenkolonnen in roten und schwarzen Ziffern gleiten – Soll und Haben.

»Noch vor drei Jahren konnte ich dem Gewürzhändler Zorzi in San Polo eine Ladung Pfeffer und Nelken fast um das Doppelte verkaufen als heute möglich. Tiefer kann ich nicht gehen in meinen Preisen! Und der Portugiese unterbietet trotzdem bis auf weniger als die Hälfte davon. Verflucht sei dieser Vasco da Gama und seine Karavelle! Dass die Spanier die neuen Länder im Westen entdeckten mit ihrem Gold – das konnten wir noch verschmerzen. Aber als dieser Hundesohn um Afrika herumsegelte und den Portugiesen den Seeweg nach Indien freimachte – das war die Katastrophe! Die Serenissima blutet sich aus an Schutzzöllen und Passagegebühren über Land und durch fremde Gewässer – und die verdammten Portugiesen laden in Goa oder Diu auf und segeln direkt nach Lissabon. Den ersten Seglern Venedigs, die das auch versuchten, wurde der Garaus gemacht … Und nun sitze ich da mit meiner teuren Ware.«

Er hat sich in Hitze geredet, schlägt mit der flachen Hand auf die Seiten des Hauptbuchs. Sein Bruder lächelt schief. Er kennt das cholerische Temperament des Älteren. »Lass gut sein, Orecchino. Mir geht es schließlich nicht besser als dir – eher schlechter. Du konntest immerhin dein Haus behalten. Ich sitze in Canareggio. Die halbe edle Kaufmannschaft der Stadt lebt wie wir auf Kredit. So ist das.«

Er lehnt sich zurück. »Zur Sache denn. Wenn wir für jedes der Mädchen ein Anfangsgebot von zweitausend Dukaten festsetzen und hoffen, dass sie um das Doppelte weggehen, können wir unsere Verbindlichkeiten begleichen und die Arsenalsteuer zahlen. Dann bleibt uns noch ein Händchen voll Kapital für das nächste Unternehmen und …«

Antonio unterbricht ihn unwirsch. »Hör auf, so zu reden, als wären sie zwei preisgekrönte Jungstuten! Wie sehr es mir gegen den Strich geht, unsere Kinder an diese Emporkömmlinge zu verschachern!«

»Immerhin.« Marco hat nun seinerseits die Listen zur Hand genommen. »Ein guter Name zumindest ist unter den Bewerbern. Sebastiano Dolfin will für seinen Sohn bieten. Die Dolfin, eines der vornehmsten Geschlechter der Stadt!«

»Uns zumindest ebenbürtig!«, entgegnet der andere steif. »Die Dolfin sind wie die Priuli im Goldenen Buch der Stadt verzeichnet. Nobili, Hochadel. Wir allerdings haben in der Vergangenheit einen Dogen mehr gestellt.« Er schweigt einen Moment, sagt dann beiläufig: »Und was ist der Haken?«

»Welcher Haken denn?«, fragt Marco verwirrt.

»Es muss einen Haken geben, Bruder, wenn, wie du so schön sagst, eines der vornehmsten Geschlechter der Stadt seine Dukaten für eine Braut ausgeben will, statt durch andere Heirat eine üppige Mitgift einzunehmen.«

Jetzt ist es an Marco, aufzubrausen. »Könnte nicht einfach Schönheit und Sittsamkeit unserer Töchter den Ausschlag geben bei dieser Entscheidung?«

Antonio nickt. »Nichts, was ich mir lieber wünschen würde. Nur, ich kenne den edlen Sebastiano Dolfin. Er ist ein Querkopf und ein alter Fuchs obendrein, und wenn du ihn fragst, was ihm etwas wert ist, würde sich sein Blick gewiss auf den Tresor in seinem Kassenraum richten, nicht aufs Kreuz Christi, das Schwert der Ehre oder die Fahne von San Marco.«

»Sebastianos Sohn wird demnächst zu Capitano Bragadin nach Zypern entsandt als dessen Adjutant. Will Messer Sebastiano seinem Fulvio noch vorher zu der Frau verhelfen, auf die der möglicherweise ein Auge geworfen hat, damit noch schnell der Erbe gezeugt werden kann? Könnte Neigung im Spiel sein?«, mutmaßt Marco.

»Zu welcher von beiden?«, fragt Antonio trocken.

Der Bruder zuckt die Achseln. »Wer weiß? Meine Donata ist schöner. Und fügsamer. Deine Leonida …«

»Meine Leonida hat den Teufel unterm Rock«, stellt Antonio ruhig fest.

»Insofern ist es schon gut und richtig, dass sie unter die Haube kommt, ob es nun die Spitzenmütze einer Schwertfegerin ist oder das Perlenhaarnetz einer Dame von Adel. Aber gleichgültig, welche gemeint ist und ob Neigung im Spiel ist, wie du denkst, oder nicht: Es ist eine üble Art, jemanden zu verkuppeln, da kannst du sagen, was immer du willst, mein Lieber. Danken wir der Jungfrau Maria und San Marco, dass unseren Mädchen die Familienehre über alles geht und sie so fügsam sind.«

»Was willst du? Es ist ein Brauch hier in Venedig von alters her. Und die Zeit adelt selbst verwerfliche Sitten. Das wissen wir doch.«

Von draußen hinter dem campo dringt das Geräusch bewegten Wassers herein, gleichzeitig der singend langgezogene Ruf eines Gondelführers; ein melodisches »Ooee!«, gefolgt von einer zweiten Stimme: »Premi, Signor, premi!« Man streitet sich um die Vorfahrt an der Einmündung zweier Kanäle. Dann das Klappern von Holzschuhen auf der Brücke. »Latte, latte fresca, latte bianca, latte innocente!« Eine Bauersfrau vom Lande bietet ihre frische, ihre weiße, ihre unschuldsvolle Ziegenmilch an. Ihr Ruf verklingt, als sie vom campo in die calle, die angrenzende Gasse, einbiegt.

Antonio erhebt sich mit einem leisen Ächzen – beide Brüder neigen zur Korpulenz – und stößt den hölzernen Laden weit auf. Goldfarbenes Sonnenlicht des späten Nachmittags ergießt sich in den Raum. Die Zeit der Siesta ist vorüber.

IV.

Ich, Donata

Dreimal hatte er mich gegrüßt.

Das erste Mal, als ich zur Messe in Sant Aponal ging, um jenem jungen Priester zu beichten, dessen schwarze Augen es mir angetan hatten.

Ja, dreimal ist es gewesen, dass er mich beachtete. Er, den jeder in der Stadt kannte!

Fulvio Dolfin, der als Adjutant Bragadins nach Zypern gehen sollte – ein junger nobile vom Scheitel bis zur Sohle, das blonde Haar quoll ihm unter der Kappe hervor wie üppige Blütendolden, sein Gesicht war hell vom sprießenden Bart, und hell waren seine Augen; die kleine Falte über der Nasenwurzel war wie ein herrisches Fragezeichen in der Sanftheit seiner Miene.

Ich war allein; nur ein Kind, das mir zu Diensten war bisweilen, begleitete mich. Es half mir mit der Schleppe über die Stufen der Brücken und trug den unerlässlichen Almosenbeutel. Auch er war allein. Riverenza! Seine Verbeugung war untadelig, und ich knickste, die Röcke gerafft, einen Fuß vorgestellt, damit er sah, ich trug Strümpfe mit seidenem Zwickel unter meinen hohen hölzernen zoccoli – so arm wir waren, niemals wären wir aus dem Haus gegangen außer in den letzten standesgemäßen Kleidern, die uns geblieben waren, und nie hätten wir darauf verzichtet, Almosen zu geben, selbst wenn wir zu Mittag nur Polenta und Wasser gehabt hätten!

»Piaser vederla!« Welch Vergnügen, Euch zu sehen! – War es nur so dahingesagt? Nur bloße cortesia? Kannte er mich? Hatte er mich öfter angeschaut, im Kirchenstuhl, bei der Promenade, wo auch immer? Ruhten seine fremdartig hellen Augen länger auf mir, als es sich geziemte? Für mich war es ausreichend, um zu erröten – der Fluch blonder Frauen, denen die Flammen Hals und Nacken hinaufschießen bis in die Wangen und ungewollt verkünden, was sie eigentlich verbergen wollen.

Beim zweiten Mal, dass er mich ansah, war es auf der Piazza San Marco, ich ging mit meiner Mutter, einen Wettkampf auf dem Wasser anzuschauen. Er kam mit einer Gruppe anderer junger Edelleute zu Pferd daher – wenig Möglichkeiten fürwahr in unserer Wasserstadt, seine Reitkünste vorzuführen, wenn nicht auf San Marco! Er ritt eine stattliche Volte, entfernte sich von den anderen und zog sein Barett, schwenkte es vor mir, ritt zurück zu der Gruppe. »Wahrhaftig, deine Schönheit bewegt die Herzen!«, sagte meine Mutter zu mir. »Ich wollte, dieser Gruß hätte mir gegolten!« Ich schwieg und sah vor mich hin. Hatte er nur mir gegolten? Oder uns beiden?

Und dann, beim dritten Mal, sprach er mich an.

Es war am Tag der Regatta der Heiligen San Giovanni e Paolo, am dritten Sonntag des Juni, ich saß mit meiner schwitzenden Mutter unter einem Sonnenschirm nah bei den Arkaden, und von draußen, vom Kanal, hörten wir die taktmäßigen Ruderschläge der Wettkämpfer, ihre heiseren Rufe, das Klatschen des Wassers. Wir konnten nichts sehen von diesem Platz aus – das war auch nicht wichtig. Entscheidend nur, dass wir dabei gewesen waren. Aber meiner Mutter ging es nicht gut. Die Hitze! Ich fächelte ihr Kühlung zu, war innerlich abwesend und traurig – ich hatte gehofft, Leonida würde kommen, würde an diesem Fest teilnehmen; ich hoffte auf ihre schnellen, festen Schritte, die ich überall als die ihren erkennen würde. Aber sie blieb fern.

Stattdessen hörte ich eine tiefe, sanfte Männerstimme: »Un ombra per le donne?«