Die Macht der Seuche - Volker Reinhardt - E-Book

Die Macht der Seuche E-Book

Volker Reinhardt

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Beschreibung

Die Große Pest der Jahre um 1348 war eines der einschneidendsten Ereignisse der europäischen Geschichte. Der Historiker Volker Reinhardt rekonstruiert den Verlauf der Epidemie von den Anfängen in Asien bis zu ihrem vorläufigen Erlöschen in Europa, beleuchtet die unterschiedlichen Verhältnisse in ausgewählten Städten und fragt, wie die Überlebenden politisch und wirtschaftlich, religiös und künstlerisch das große Sterben bewältigten. Sein spannend geschriebenes Panorama führt eindringlich vor Augen, was wir dem medizinischen Fortschritt verdanken – und wie verblüffend ähnlich wir heute trotzdem auf eine Pandemie reagieren. Als im Frühjahr 1348 die Pest nahte, ließ der Mailänder Herrscher Luchino Visconti die Stadt komplett isolieren. Kranke in der Stadt wurden vorsorglich eingemauert. So blieb Mailand als einzige Stadt Italiens verschont. Volker Reinhardt hat die verfügbaren Quellen zur Großen Pest neu gesichtet und zeigt in seinem anschaulich erzählten Buch, dass der vermeintliche europäische Flächenbrand eine Summe von lokalen Dramen war, die die Menschen auf ganz unterschiedliche Weise bewältigten: durch politische Umstürze, Verfolgung von Minderheiten, Restauration alter Verhältnisse oder eben durch ein Lob der Tyrannis à la Mailand. Klassische Pestbeschreibungen wie die von Boccaccio erweisen sich als spätere Stilisierung nach antiken Vorbildern, doch Bilder, Bauwerke oder anonyme Chronisten lassen ermessen, wie groß die Verunsicherung war und wie übermächtig die Sehnsucht nach der verlorenen Normalität.

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Volker Reinhardt

DIE MACHT DER SEUCHE

Wie die Große Pest die Welt veränderte

1347–1353

C.H.Beck

Zum Buch

Die Große Pest der Jahre um 1348 war eines der einschneidendsten Ereignisse der europäischen Geschichte. Volker Reinhardt rekonstruiert den Verlauf der Epidemie von den Anfängen in Asien bis zu ihrem vorläufigen Erlöschen in Europa, beleuchtet die unterschiedlichen Verhältnisse in ausgewählten Städten und fragt, wie die Überlebenden politisch und wirtschaftlich, religiös und künstlerisch das große Sterben bewältigten. Alle Ähnlichkeiten mit aktuellen Pandemien sind rein zufällig.

Als im Frühjahr 1348 die Pest nahte, ließ der Mailänder Herrscher Luchino Visconti die Stadt komplett isolieren. Kranke in der Stadt wurden vorsorglich eingemauert. So blieb Mailand als einzige Stadt Italiens verschont. Volker Reinhardt hat die verfügbaren Quellen zur Großen Pest neu gesichtet und zeigt in seinem anschaulich erzählten Buch, dass der vermeintliche europäische Flächenbrand eine Summe von lokalen Dramen war, die die Menschen auf ganz unterschiedliche Weise bewältigten: durch politische Umstürze, Verfolgung von Minderheiten, Restauration alter Verhältnisse oder eben durch ein Lob der Tyrannis à la Mailand. Klassische Pestbeschreibungen wie die von Boccaccio erweisen sich als späte Stilisierung nach antiken Vorbildern, doch Bilder, Bauwerke oder anonyme Chronisten lassen ermessen, wie groß die Verunsicherung war und wie übermächtig die Sehnsucht nach der verlorenen Normalität.

Über den Autor

Volker Reinhardt ist Professor für Geschichte an der Universität Fribourg und gehört international zu den führenden Italien-Historikern. Bei C.H.Beck erschien von ihm zuletzt das viel gerühmte Buch «Die Macht der Schönheit. Kulturgeschichte Italiens» (3. Aufl. 2020). Für sein Lebenswerk wurde er 2020 mit dem Preis der Kythera-Kulturstiftung ausgezeichnet.

Inhalt

ERSTER TEIL: DIE PEST UND DIE MENSCHEN

1. Herkunft und Ankunft

2. Ausbreitung

3. Symptome und Ursachen

4. Sterbeziffern und Bevölkerungsverluste

5. Reich und Arm

6. Auf der Suche nach Brot, Sinn und Seelenheil

ZWEITER TEIL: DIE MENSCHEN UND DIE PEST

1. Überlebende berichten

2. Kaufleute, Literaten und Parvenüs in Florenz

Der Kaufmann Matteo Villani und die strafende Hand Gottes

Der Verlierer Marchionne und die schrecklichen Parvenüs

Boccaccio und die Kunst der Verdrängung

Was in Florenz wirklich geschah

3. Pest und politischer Neuanfang in Rom

Das Schweigen der Römer

Der Bericht des Namenlosen

Eine Treppe zum Himmel

4. Keine Pesttoten: Das Wunder von Mailand

Sterben in Piacenza, überleben in Mailand

Einmauern und isolieren

Pest und Tyrannei

5. Ein Putsch nach der Pest: Venedig

Obrigkeitlicher Aktionismus

Tod in Venedig

Der Putschversuch des Dogen

6. Viel Rauch und soziale Distanz: Der Papst in Avignon

Die umstrittene Stadt

Der Leibarzt des Papstes und seine Diagnose

Clemens VI. und die Juden

Der Papst und Petrarca, Geißler und Quacksalber

7. Eine Stadt rückt zusammen: Die Pest in Paris

Versöhnung, Trost und reiche Erbschaften

Wie der Ordnungsruf der Pest verhallt

Diagnosen und Heilmittel der Pariser Universität

8. Pogrome und Geißler: Würzburg, Straßburg, Frankfurt

Die Vernichtung der Würzburger Juden

Ein Verfolgungsbündnis von Adel und Pöbel

Bettelmönche und Flagellanten

9. Ursachenforschung und Gegenmaßnahmen: Europäische Vergleiche

Pest und Gewalt nördlich und südlich der Alpen

Pesttraktate im Maurischen Spanien und in Latein-Europa

Ketzerische Notmaßnahmen in England

Das Rätsel Polen

DRITTER TEIL: DIE MENSCHEN NACH DER PEST

1. Gewöhnung, Prävention und kulturelle Prägungen

2. Wirtschaftliche Vorteile der Besitzlosen

3. Die Stärkung der Mächtigen

Auf dem Weg zur Einzelherrschaft

Republikanische Ideale und nützliche Netzwerke – das Beispiel Florenz

Wie die Pest den Aufstieg der Medici ermöglichte

Cosimo de’ Medici als Retter

4. Das neue Selbstbewusstsein der Unterschichten

5. Der Machtverlust der Päpste

6. Wie die Humanisten mit der Pest umgingen

Petrarca, der Berg und die Seuche

Coluccio Salutatis trotzige Selbstbehauptung

7. Auf der Suche nach der Pest in Bildern und Statuen

Totentanz und Grabmäler

Ghiberti und die Beinahe-Opferung von Florenz

8. Kinder der Pest: Die Heilige und der Kapitalist

Caterina da Siena: Ein Frauenleben im Zeichen der Pest

Francesco Datini: Ein Leben in Angst und Reichtum

EPILOG – Alte Gewissheiten und neue Hoffnungen

ANHANG

Anmerkungen

Die Pest und die Menschen

Die Menschen und die Pest

Die Menschen nach der Pest

Quellen und Literatur

Wichtige Quellen

Ausgewählte Literatur

Bildnachweis

Personenregister

Zeiten der Verunsicherung, einst und heute

Dieses Buch handelt von der großen Pest, die in den Jahren 1347 bis 1353 durch Europa zog: von ihren Ursachen, von ihrer Ausbreitung, von den Verwüstungen, die sie anrichtete, und von ihren unmittelbaren wie langfristigen Folgen. Doch vor allem geht es um die Anstrengungen der Menschen, die Pest nicht nur physisch unbeschadet zu überstehen, sondern die verstörenden Geschehnisse auch zu verstehen, um sie psychisch zu bewältigen und Sinn aus dem scheinbar Sinnlosen zu filtern. Mit dieser Blickrichtung lädt die Schilderung einer fernen Vergangenheit zu einem vergleichenden Blick auf die Corona-Pandemie des Jahres 2020 ein. Nichts liegt näher, nichts ist legitimer als ein solcher Vergleich, stechen doch die großen Ähnlichkeiten über die Distanz von fast siebenhundert Jahren deutlich genug ins Auge.

Die Krankheit, die ab dem Herbst 1347 ihren unaufhaltsamen Siegeszug von Osten nach Westen und dann von Süden nach Norden antrat, war unbekannt – wie 2020 –, und das Unbekannte weckt Urängste. Sie wurden dadurch weiter geschürt, dass es zur Bekämpfung der plötzlich hereinbrechenden Seuche keine Heilmittel gab – wie 2020 –, und Hilflosigkeit steigert die Angst. Zudem gingen die Prognosen der Experten, was den Verlauf und die Folgen der Ansteckung betraf, weit auseinander – wie 2020 –, und das Nichtwissen derjenigen, die es wissen sollten, erzeugt Panik. Auf besonders intensive Resonanz stießen schon im vierzehnten Jahrhundert die Szenarien, die vom Schlimmsten ausgingen und zugleich eine erfolgreiche Gegenwehr und Abwendung des Unheils in letzter Minute in Aussicht stellten – wie 2020, als zeitweise von einer siebzigprozentigen Durchseuchung ganzer Nationen die Rede war und Hamsterkäufe die Regale der Supermärkte leerten. Die Pest, die in den Jahren 1348 und 1349 ihren Höhepunkt erreichte, diskreditierte in den Augen kritischer Beobachter den Berufsstand der Ärzte auf Dauer; ob die Folgen ab 2021 für die Virologen und andere «Experten» ähnlich ausfallen, bleibt abzuwarten.

Die Liste der Vergleichbarkeiten zwischen 1348/49 und 2020 lässt sich stichpunktartig vervollständigen. Beide Pandemien veränderten kollektive und individuelle Verhaltensweisen im Zeichen der Angst, die die Ratio als Gradmesser des Handelns weitgehend verdrängte. Beide Pandemien hatten weitreichende Auswirkungen auf die Kommunikation und das soziale Gefüge. Konkret hieß das: Bestimmte Bevölkerungsgruppen – 1348/49 die Angesteckten, 2020 die Ansteckungsgefährdeten – wurden gemieden, Lebensmittel wurden vor Haustüren deponiert, Generationen auseinandergerissen. Beide Pandemien erzeugten eine Atmosphäre des Misstrauens, mit allem, was dazugehört: ungehemmte Lust an der Denunziation, heftiges Wuchern von Feindbildern, das Aufkommen abstruser Verschwörungstheorien und eine Flut von Schuldzuweisungen. Diese Anklagen fielen besonders heftig aus, weil beide Seuchen globale Dimensionen annahmen und sich von Osten nach Westen ausbreiteten, also damals wie heute aus nicht geheurer Ferne und Fremdheit in eine vertraute Lebenswelt eindrangen, deren Ungeschütztheit und Verwundbarkeit sie dadurch brutal offenbarten.

Beide Pandemien wurden zudem eine Belastungsprobe für die Politik und ihre Akteure. Diese mussten Handlungsbereitschaft und Handlungsfähigkeit und damit ihre Existenzberechtigung unter Beweis stellen. Diesem Druck gaben sie überwiegend durch ostentativen Aktionismus nach, der sich in ungehemmter Reglementierungswut niederschlug. So steigerte sich in den Pestjahren von 1347 bis 1353 der ohnehin schon hohe Gesetzesausstoß städtischer und fürstlicher Obrigkeiten nochmals um ein Vielfaches – die Übereinstimmung mit den Beschränkungen der Corona-Zeit auszuführen, erübrigt sich. Damals wie 2020 schrieben sich die politisch Verantwortlichen die vermeintlichen Erfolge im Kampf gegen die Seuche zu, die Schuld an Rückschlägen hingegen verorteten sie bei anderen. Damals wie 2020 brachen Konflikte darüber aus, wie viele wirtschaftliche Einschränkungen und Einbußen in Kauf genommen werden sollten, um Menschenleben zu retten.

Schließlich waren während der großen Pest wie auch 2020 die Erwartungen hoch, dass nach dem Ende der Pandemie vieles besser werden würde; besonders kühne Optimisten hofften sogar auf einen geläuterten, hilfreicheren und edleren Menschen an und für sich. Umso größer war nach der Mitte des vierzehnten Jahrhunderts die Enttäuschung, als für die meisten Pest-Überlebenden dieser moralische Reinigungseffekt nicht nur ausblieb, sondern die Welt sogar noch viel schlechter zu werden schien. Nur für sehr wenige Beobachter, die besonders abgeklärt und oft mit größerem Zeitabstand urteilten, zeichnete sich ab, dass zwar mancherlei Verschiebungen in Gesellschaft und Wirtschaft, seltener auch im Machtgefüge, zu bilanzieren waren, die Menschen jedoch ihrem Wesen nach gleich geblieben waren und auch weiter bleiben würden. Damit ist aller Erfahrung nach auch 2021 und später zu rechnen.

Ein Vergleich zwischen der Pest des vierzehnten Jahrhunderts und der Corona-Pandemie von 2020 liegt nahe und ist legitim, aber zugleich gefährlich, ja in die Irre führend. Schließlich stechen die großen Unterschiede über die Distanz von fast siebenhundert Jahren nicht weniger deutlich ins Auge als die Ähnlichkeiten. In den Jahren von 1347 bis 1353 war die Ursache der Pandemie unbekannt, kein Arzt des christlichen und muslimischen Europa kam ihr mit seinen Theorien auch nur nahe. Der tatsächliche Auslöser des Massensterbens, das Pestbakterium, wurde erst ganz am Ende des neunzehnten Jahrhunderts identifiziert. Im Gegensatz dazu war das Coronavirus SARS-CoV-2, das die Krankheit Covid-19 auslöst, 2020 nicht nur sehr schnell bekannt, sondern auch sicher nachweisbar. Die größten Unterschiede aber zeigen sich in den Sterblichkeitsquoten. Über die zentrale Frage, wie viele Menschen der Pest bei ihrem ersten Parcours durch Europa ab dem Herbst 1347 zum Opfer fielen, herrscht bis heute in der Forschung keinerlei Einigkeit. Allerdings würden nur sehr wenige Historiker die durchschnittliche Mortalitätsrate für diesen Zeitraum unter fünfundzwanzig Prozent ansetzen – unter fünfundzwanzig Prozent der Gesamtbevölkerung wohlgemerkt, und das hieß, dass im Mittel mindestens jeder vierte Mensch des Kontinents, bei sehr großen Unterschieden im Einzelnen, dieser Seuche zum Opfer fiel. Dagegen nimmt sich der entsprechende Bevölkerungsverlust im Europa des Jahres 2020 geradezu vernachlässigbar niedrig aus, vorausgesetzt, man betrachtet ihn mit der Mitleidlosigkeit und Blindheit für das Einzelschicksal, die Statistiken nun einmal an sich haben.

Die Liste der Unterschiede zwischen einst und jetzt lässt sich stichpunktartig erweitern: Im Gegensatz zu den «Peak-Jahren» 1348 und 1349, als die Chancen der Erkrankten, die Pest zu überleben, minimal waren, überstieg 2020 die Zahl der Genesenen die der Verstorbenen schnell um ein Vielfaches. Zudem stellte die Pharmaforschung 2020 für die nähere Zukunft die Entwicklung von Medikamenten und Impfstoffen in Aussicht. Solche Silberstreifen am Horizont fehlten 1348 und 1349 hingegen völlig. Nicht zuletzt gab es 2020 einen weit ausgebauten Behördenstaat, der versuchte, durch enorme öffentliche Verschuldung die tief einschneidenden wirtschaftlichen Pandemie-Folgen, die er zum großen Teil durch seine Anordnungen mit ausgelöst hatte, aufzufangen. Im Gegensatz dazu waren um die Mitte des vierzehnten Jahrhunderts allenfalls erste bescheidene Ansätze einer solchen Staatlichkeit zu beobachten.

Ein weiterer gravierender Unterschied zwischen den beiden Pandemie-Zeiten liegt in der Öffentlichkeit und Verbreitung des damit verbundenen Geschehens. In den Zeiten der Pest gab es an Medien nur das gesprochene Wort, von der Kanzel und innerhalb der Nachbarschaft, die auf Papier geschriebene und auf dem Kurierweg verbreitete Nachricht sowie einige wenige nicht-verbale Signale, unter denen das Glockenläuten das wichtigste war. In einigen Städten wurde es auf dem Höhepunkt der Pest sogar verboten, weil es als Begleitung nicht enden wollender Begräbnisse Angst schürte. 2020 war es umgekehrt. Der Fülle von «Informationen» zu allen nur erdenklichen Aspekten der «Coronakrise» konnte sich niemand entziehen. Welche Wirkungen die Dauerberieselung zu diesem Thema erzielt hat, wird die spätere Forschung aufzuarbeiten haben. Vieles spricht dafür, dass sich die Medien und ihre Macher 1347 bis 1353 und 2020 in einem wesentlichen Punkt gleichkamen – sie heizten Ängste an und wunderten sich gleichzeitig über die Unvernunft der Massen, die sie selbst in beträchtlichem Maße mit hervorgebracht hatten.

So spricht vieles für und vieles gegen einen Vergleich der Pandemien von einst und jetzt. Erlaubt, wissenschaftlich korrekt und zugleich erhellend ist er dann, wenn er über die angeführten Ähnlichkeiten und Unterschiede im Einzelnen hinaus die grundlegende Andersartigkeit, ja Fremdartigkeit dieser fernen Vergangenheit deutlich macht. Die Menschen zur Zeit der ersten großen Pest lebten in anderen Weltbildern, wörtlich und übertragen verstanden: Für sie war der Kosmos um ihren Planeten, die Erde, angeordnet, und sie sahen sich als Mittelpunkt der Schöpfung und als Objekte eines Schöpfers, der ihnen die Epidemie mit Vorzeichen ankündigte und sie durch ihren Vollzug für ihre Sünden strafte. So verkündeten es zumindest die Theologen in ihrem Ringen um die Deutungshoheit über das Geschehen. Vor allem gab es damals keine exakte Naturwissenschaft und erst recht keine im heutigen Sinne wissenschaftliche Medizin, und die heute klar gezogenen Grenzen zwischen Naturforschung und Magie waren fließend. So musste es für die überwältigende Mehrheit der Menschen eine höhere, im modernen Verständnis übernatürliche Ursache der Ansteckung geben, während heute von solchen Deutungsversuchen glücklicherweise überwiegend Abstand genommen wird. Zudem war im Gegensatz zum einundzwanzigsten Jahrhundert der Glaube an ein christlich geprägtes Jenseits mit Hölle, Fegefeuer und Paradies vorherrschend, was dem Sterben einen anderen Stellenwert und Sinn verlieh, die Angst vor dem Pesttod bemerkenswerterweise aber kaum vermindert haben dürfte.

So muss in den Vergleich zwischen dem vierzehnten Jahrhundert und unserer Gegenwart diese Andersartigkeit – gelehrt ausgedrückt: diese Alterität – gebührenden Eingang finden. Die Inspizierung des Pestszenariums der Jahre von 1347 bis 1353 wird so zu einer Reise in eine Fremdheit, die immer wieder auch irritierend vertraut wirkt. Zu diesem Zweck wird im ersten Teil dieses Buches gezeigt, auf welchen Wegen sich die Pest verbreitete, welche biologischen Ursachen sie hatte und wie die Krankheitssymptome aussahen. Dabei sind nicht wenige dieser scheinbar simplen Fakten – so viel sei vorweggenommen – bis heute umstritten, auch das eine Parallele zum «Coronajahr» 2020. Noch sehr viel kontroverser wird bis heute diskutiert, welche Auswirkungen die Pest auf die Bevölkerungszahlen und die Wirtschaft sowie auf Kirche und Gesellschaft hatte. Vor diesem Hintergrund hält sich die folgende Darstellung vor allem an die Quellen und macht deutlich, wo und warum Fragen offenbleiben oder unterschiedlich beantwortet werden.

Der zweite, ausführlichste Teil des Buches handelt davon, wie die Menschen an den wichtigsten europäischen Schauplätzen des Pestgeschehens auf die Seuche reagierten. Hier ist erst recht eine Neubefragung der Quellen notwendig. Bringt man sie auf diese Weise zum Sprechen, so verraten sie, wie Menschen die Pest wahrnahmen und bewerteten, was sie betonten und ausblendeten, welche individuellen Überlebensstrategien sie entwickelten und nicht zuletzt, wie sie trotz allem vom Massensterben zu profitieren bestrebt waren und damit im scheinbar Sinnlosen einen ganz persönlichen Sinn zu finden suchten. Bei den meisten dieser «Pestberichte» ist zu bedenken, dass sie von Überlebenden stammen, die die Katastrophe aus einer mehr oder weniger sicheren, aber oft auch zutiefst frustrierten Distanz schildern. Die Leitmotive ihrer Darstellung sind daher häufig Hass, Ressentiment und Rachegelüste, Verzweiflung, Resignation und zähneknirschende Hinnahme; seltener, aber dafür stimulierender für uns heute sind sie von der Hoffnung auf Neuanfang, von Aufbruch und neuen Bildern vom Menschen und seiner Würde geprägt.

Die Inspektionstour durch das Europa der großen Pest konzentriert sich auf die «hotspots», auf die Orte mit den markantesten Reaktionen – Überlebensstrategien, Abwehrmaßnahmen und Schuldzuweisungen –, um deutlich zu machen, was allen gemeinsam war und wo markante Unterschiede liegen. Die Führer, die zu dieser Pest-Zeitreise anleiten, sind die Berichte der Zeitgenossen. Diese Quellen fließen am reichlichsten in Italien und am ergiebigsten in Florenz. Beides ist kein Zufall. Italien ist der wichtigste europäische Ausgangspunkt der Pandemie, und wo das Neue zuerst hervortritt, wird es in der Regel auch am intensivsten beobachtet und kommentiert. Zudem ist Florenz zwischen 1300 und 1500 das kulturelle Ausstrahlungszentrum des Kontinents, in dem alte und neue Ideen heftig aufeinandertreffen und die Debatten über die Pest ebenso wie deren Folgen besonders markant ausfallen. Italien und speziell Florenz sind daher der Ausgangs-, Orientierungs- und Vergleichspunkt der Pest-Reise. Von Florenz aus, wo Kaufleute und Literaten um die Deutungshoheit konkurrieren, führt sie weiter nach Rom, wo inmitten der Seuche eine Treppe zum Himmel wächst, nach Mailand, wo ein mächtiger Stadtherr die Pest mit brutaler Härte fernhält, nach Venedig, wo die Pest einen gescheiterten Staatsstreich provoziert, nach Avignon, wo sich ein Papst durch den Schutz der Juden unbeliebt macht, nach Paris, wo ein König um seine Legitimität ringt, – und in deutsche Städte, wo sich große Menschengruppen blutig geißeln und die Juden mit mörderischen Folgen zu Sündenböcken gemacht werden.

Der dritte Teil des Buches ist dem Leben der Menschen nach der Pest gewidmet. Er soll die sozialen, wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Veränderungen nach dem Ende der Seuche brennpunktartig einfangen und handelt von neuen Familien, die plötzlich große Erbschaften antreten, von «neuen Männern», die in Ämter aufsteigen, von denen sie vorher nicht zu träumen gewagt hatten, und vom schnellen Ende dieser Träume durch das gezielte Mobbing der Etablierten. Er berichtet von höheren Löhnen und gestiegenem Selbstbewusstsein der kleinen Leute und von ihrem Drang zur Selbsthilfe, vom Brüchigwerden überkommener Autoritäten, vor allem in der Kirche, und von den Versuchen, neue Vermittlungen zwischen Gott und den Menschen zu finden, und zeigt die Reflexe der Pest in den Schriften der Humanisten sowie ihren Niederschlag in der bildenden Kunst.

Den Abschluss des Buches bilden zwei «Pest-Lebensläufe» der besonderen Art: Erzählt werden die Biographie einer Handwerkertochter, die im Zeichen der Pest Kardinälen und Päpsten Anweisungen erteilt und als Heilige verehrt wird, und das Leben eines Gastwirtssohns, der durch die Pest verwaist und danach zum reichsten Mann der Welt wird, ohne jemals seinen Frieden mit sich, seiner Angst, seinem Geld und der Welt zu machen. Ein Epilog verweist am Ende erneut auf Parallelen und Unterschiede zwischen der Pest in der Mitte des vierzehnten Jahrhunderts und der Pandemie von 2020 und lädt wie das ganze Buch zu einem Vergleich ein zwischen der Pest im Mittelalter und Covid-19 heute. Dabei ist es jeder Leserin und jedem Leser selbst überlassen, Schlüsse zu ziehen – und damit im Spiegel einer fernen Vergangenheit zugleich das eigene Verhalten in der Gegenwart zu betrachten, zu überprüfen und zu bewerten.

ERSTER TEIL

DIE PEST UND DIE MENSCHEN

1. Herkunft und Ankunft

Die Krankheit, die als die Große Pest in die Geschichte eingehen sollte, geriet zuerst in Sizilien ins Blickfeld Europas: «So geschah es also, dass im Monat Oktober des Jahres 1347, gegen Anfang des Monats Oktober, zwölf Galeeren der Genuesen, auf der Flucht vor der Rache, die Gott unser Herr wegen ihrer Unrechtstaten über sie verhängt hatte, im Hafen der Stadt Messina festmachten. Und sie trugen eine in ihren Knochen festgesetzte Krankheit mit sich, so dass derjenige, der mit einem von diesen gesprochen hatte, von dieser tödlichen Ansteckung ergriffen wurde und dem unmittelbar darauffolgenden Tod nicht entkommen konnte.»[1] Diese berühmten, immer wieder zitierten Sätze stehen in einer Geschichte Siziliens (Historia sicula), die seit dem späten achtzehnten Jahrhundert einem Franziskaner namens Michele da Piazza zugeschrieben wird. Er hat diesen Text jedoch mit Sicherheit nicht verfasst, nicht zuletzt deshalb, weil es ihn mit größter Wahrscheinlichkeit nie gegeben hat – was seiner Beliebtheit als stets aufs Neue aufgerufener geistlicher Zeitzeuge jedoch bis heute keinen Abbruch tut. Die europäische Berichterstattung über eine der einschneidendsten Katastrophen der europäischen Geschichte beginnt also mit beträchtlichen Unsicherheiten hinsichtlich ihrer Authentizität, und das wird sich auch so fortsetzen.

Der unbekannte Verfasser stammte – darauf lässt die Auswertung seiner Chronik sicher schließen – aus Catania am Fuße des Ätna, das der Konkurrentin Messina mit tiefem und dauerhaftem Hass verbunden war, nicht zuletzt deshalb, weil die Nachbarstadt stärker vom internationalen Fernhandel mit dem Osten profitierte. Dieser wiederum wurde über die maritimen Kommerzmetropolen Venedig und Genua abgewickelt; kein Wunder also, dass die Genuesen als von Gott zu Recht bestrafte Unheilsbringer gebrandmarkt werden. Trotz aller Ressentiments und Feindbilder, die ausnahmslos in alle Pestdarstellungen der Zeit eingehen, darf die Nachricht des «Pseudo-Michele» über den Beginn der Seuche als glaubwürdig angesehen werden; das gilt auch für die Weiterverbreitung der Ansteckung auf der Insel: «Als die Einwohner Messinas erkannten, dass der plötzliche Tod wegen der Ankunft der genuesischen Galeeren in ihre Stadt Einzug hielt, vertrieben sie diese in höchster Eile aus ihrem Hafen und ihrer Stadt. Doch die besagte Seuche verblieb in der besagten Stadt, und aus ihr folgte eine ungeheure Sterblichkeit.» Diese beschränkte sich zuerst auf Messina, wo sich infolge der Ansteckung die soziale Ordnung und die familiäre Solidarität vollständig auflösten. Die Pest deckt die Schlechtigkeit der Menschen auf, auch das wird in nahezu allen Pestchroniken zum Leitmotiv.

Aber das Sterben beschränkte sich schon bald nicht mehr auf Messina: «In Anbetracht dieser grauenhaften und Furcht erregenden Vorkommnisse beschlossen einige Bewohner Messinas, ihre Stadt zu verlassen, um dort nicht hilflos zugrunde zu gehen. Sie wollten nicht nur nicht mehr in ihre Stadt zurückkehren, sondern nicht einmal in deren Nähe bleiben. Mit ihren Angehörigen bauten sie Unterkünfte auf Feldern und in Weinbergen. Die meisten aber wanderten nach Catania aus, weil sie darauf hofften, dass die heilige Jungfrau Agatha, die Schutzheilige Catanias, sie von der Krankheit befreien werde.» Mit dieser Übersiedlung wurde der Chronist zum Augenzeugen, denn jetzt verbreitete sich die Ansteckung auch in seiner Stadt wie ein Lauffeuer, was harsche Reaktionen gegen die Pestflüchtlinge aus der Nachbarstadt zur Folge hatte. Überall mit Misstrauen beäugt und vertrieben, irrten sie auf der ganzen Insel umher, stets von der tödlichen Infektion begleitet.

Alle diese Nachrichten dürfen – so sehr sie emotional eingefärbt sind – im Großen und Ganzen als harte Tatsachen betrachtet werden; dafür bürgt nicht nur die Tatsache, dass der Chronist hier selbst Augenzeuge war, sondern auch eine beträchtliche Anzahl gleich oder ähnlich lautender Berichte über Sizilien als Einfallstor der Seuche. Doch wo kam sie her?

Der Chronist Gabriele de Mussis aus Piacenza berichtet dazu: «Im Jahr 1346 gingen im Orient zahlreiche Stämme der Tartaren und Sarazenen an einer unerklärlichen Krankheit und an einem plötzlichen Tod zugrunde. Ausgedehnte Regionen und Provinzen, großartige Königreiche, Städte, Burgen und Dörfer, bewohnt von zahlreichen Menschen, wurden von der Krankheit erfasst, und die Menschen starben binnen kurzer Zeit einen schrecklichen Tod. Denn ein zu Konstantinopel gehöriger, aber von den Tartaren beherrschter Ort namens Thanna, in dem viele Kaufleute aus Italien zusammenkamen, war nach Konflikten mit einer großen Menge von Tartaren eine Zeitlang belagert und schließlich verlassen worden. Dann geschah es, dass die gewaltsam vertriebenen Christen sich vor der Übermacht der Tartaren mit einem bewaffneten Schiff in den mit Mauern umgebenen Ort Caffa zurückzogen, den die Genuesen vor einiger Zeit errichtet hatten, und dort Schutz für sich und ihre Güter suchten.»[2]

Daraufhin wurde der genuesische Handelsstützpunkt Caffa auf der Krim (heute Feodossia) drei Jahre lang von den Tartaren vergeblich belagert, denn von der Seeseite wurden den Eingeschlossenen Lebensmittel geliefert. Dann kam laut dem Chronisten plötzlich durch den Willen Gottes die Pest ins Spiel: «Und siehe da, die Krankheit überfiel die Tartaren, lähmte ihr ganzes Heer und vernichtete jeden Tag viele Tausende von ihnen, als ob Pfeile vom Himmel fielen und den Hochmut der Tartaren ersticken wollten.»[3] Doch die Belagerer versuchten, das Unheil zu ihrem Vorteil zu nutzen: «Daraufhin ließen die Tartaren, die durch das Unglück und die Krankheit erschöpft, niedergedrückt und völlig ratlos waren und ohne Hoffnung auf Rettung nur noch den Tod erwarteten, die Leichen der Pesttoten, die sie mit Maschinen übereinander geschichtet hatten, in die Stadt Caffa schleudern, damit dort alle durch die unerträgliche Ausdünstung zugrunde gehen sollten.»[4] Diese Strategie hatte ungeahnten Erfolg. Kaum einer von tausend Kriegern konnte aus diesem Kampf entkommen, und trotzdem reichte diese geringe Anzahl von Flüchtlingen aus, um die ganze Welt anzustecken. So breitete sich die Seuche in Windeseile über ganz Asien bis nach China, Arabien, Nordafrika und Griechenland aus. Der Weg nach Westen verlief de Mussis zufolge auf diese Weise: «So entkam aus der genannten Stadt Caffa ein Schiff, von wenigen Seeleuten gesteuert, die ebenfalls von der vergifteten Krankheit angesteckt waren, nach Genua, ein anderes nach Venedig.»[5]

De Mussis Bericht besitzt in der Pestforschung hohe Autorität, weil man ihm eine weitreichende, die Ausbreitung der Pest verfolgende Augenzeugenschaft zuschrieb. Doch diese beruht auf einer falschen Übersetzung aus dem holprigen Latein des Textes. Der Chronist erklärt dem Leser schlicht, dass er vernünftigerweise bei seiner Schilderung vom Osten in den Westen übergewechselt sei und schließlich in seiner Heimatstadt Piacenza Selbsterlebtes zu berichten habe,[6] und nicht, dass er gerade von Caffa nach Italien zurückgekehrt sei. Dass der Ursprungsort der drei Kontinente umspannenden Pandemie der kleine genuesische Handelsstützpunt Caffa gewesen sein soll, lässt sich getrost ins Reich der Legende verweisen. Es ist vielmehr eine typische Schuldzuweisung in Pestzeiten, wenn der Chronist berichtet, die Ansteckung habe durch göttliches Dekret zuerst die «Ungläubigen» getroffen, die dann den Spieß umdrehten und die Christen ansteckten. Belege hierfür gibt es nicht. Dass die Pest von der Krim auf genuesischen Schiffen ihren Siegeszug in Richtung Europa antrat, ist hingegen durch die mehr oder weniger übereinstimmenden (Zeit-)Angaben verschiedener Quellen zumindest sehr wahrscheinlich.

Den fernsten Ursprung der Seuche lokalisiert der muslimische Arzt und Gelehrte Ibn Khatima aus dem spanischen Almeria viel genauer: «Über den Anfang und das erste Auftreten dieses Ereignisses ist man sich nicht einig gewesen. Vertrauenswürdige Personen haben mir erzählt, dass nach dem Bericht christlicher Kaufleute, die zu uns nach Almeria gekommen sind, der Ursprung in China liegt, wie ich auch von gleichermaßen zuverlässigen und aufrichtigen Leuten aus Samarkand erfahren habe. China ist das Land im äußersten Osten, und so dehnte sich die Pest von dort über Persien und die türkischen Länder nach Westen aus.»[7] Diese Diagnose haben archäologische Forschungen seit der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts bestätigt. Demnach breitete sich die Pest ab 1331 im Reich der Mitte aus, dessen Bevölkerung dadurch von 125 Millionen auf 90 Millionen abgesunken sein soll. Um 1338 ist die Seuche auf den Hochebenen Zentralasiens nachweisbar, wo ab diesem Zeitpunkt eine deutlich erhöhte Sterblichkeitsrate belegt ist und auf Grabsteinen eine Seuche als Todesursache angegeben wird. Von dort aus setzte die Ansteckung ihren Vormarsch nach Westen fort, um in den 1340er-Jahren die Gestade des Schwarzen Meeres zu erreichen.

2. Ausbreitung

Von Caffa aus lässt sich der Weg der Infektion durch die Route der genuesischen Galeeren verfolgen. Diese legten einen Zwischenhalt in Pera, einem Vorort der Metropole Konstantinopel, ein. Dort zeichnete der regierende Kaiser Johannes Kantakuzenos im Rückblick die Wanderung der Seuche im Großen nach: «Von den hyperboräischen Skythen (= Nord-Russland) ausgehend, durchzog die Pest fast alle Gebiete der bewohnten Welt und vernichtete den Großteil ihrer Bewohner. Denn nicht das Schwarze Meer allein suchte sie heim sowie Thrakien und Mazedonien, sondern auch Griechenland und Italien sowie alle Inseln des Mittelmeers, Ägypten, Judäa und Syrien und im Kreis herum nahezu die gesamte Erde.»[8] Speziell für die Mächtigen war es unabdingbar, den globalen Charakter der Katastrophe zu betonen, um Schuldzuweisungen an die eigene Adresse zu vermeiden. In diesem Sinne schildert der Kaiser die Symptome der Krankheit mit größter Genauigkeit, um danach das düstere Bild aufzuhellen: «Viele jedoch, die von diesen Erscheinungen der Krankheit ergriffen wurden, genasen wider Erwarten.»[9] Der Höhepunkt der Seuche ist nach seinen Beobachtungen in Konstantinopel für die Monate November und Dezember 1347 anzusetzen. Von dort erreichte die Ansteckung die Ägäischen Inseln, das festländische Griechenland, Kreta, Zypern, Palästina, den Libanon, Syrien und das Niltal.

Zurück zur Route der genuesischen Galeeren! Nach ihrer Vertreibung aus Sizilien, wo die Pesterreger die enge Meeresstraße zum Festland mühelos überquerten und nach wenigen Wochen Reggio di Calabria erreichten, fuhren die Unheilsschiffe in Richtung ihres Heimathafens Genua. Dort wurden sie zwar abgewiesen, doch kam nach den Berichten lokaler Chroniken trotzdem ein Teil der Besatzung an Land, womit im Nordwesten der italienischen Halbinsel die Ausbreitung der Epidemie begann. Von Genua aus setzten die verzweifelten Seeleute ihre todbringende Fahrt nach Westen fort; am 1. November 1347 liefen sie im Hafen von Marseille ein, wo sich die Kunde von den schrecklichen Mitbringseln offenbar noch nicht verbreitet hatte und die Seuche daher in Ermangelung jeglicher Vorsichtsmaßnahmen verheerend wütete. Damit hatte sie ein Einfallstor nach Frankreich gefunden; nach Norden dehnte sie sich jetzt entlang der Rhone aus, der wichtigsten französischen Handelsroute der Zeit, nach Westen über den Seeweg. Im März 1348 erreicht die Pest Avignon, wie aus verlässlichen Quellen hervorgeht.

Der Vergleich zwischen den sicheren Daten in Marseille und Avignon wirft Fragen auf: Warum dauerte die Übertragung über eine Entfernung von etwas mehr als einhundert Kilometern vier bis fünf Monate? Eilkuriere konnten solche Distanzen an einem Tag bewältigen, Handelskonvois brauchten einige Tage mehr, doch bleibt so immer noch ein schwer erklärbares Intervall. An Sperren und anderen Schutzmaßnahmen kann es nicht gelegen haben, denn diese waren noch fast nirgendwo in Kraft. Eine ähnliche Differenz ergibt sich für Italien. Ob man die Ausbreitung der Epidemie von Süden, über Neapel, oder von Norden, über Genua und Venedig, ansetzt – und sie kam wahrscheinlich von beiden Seiten –, macht kaum einen Unterschied: Zwischen dem Herbst 1347, in dem sie in Sizilien und in den nördlichen Hafenstädten erscheint, und dem Frühjahr 1348, in dem sie in Rom und Florenz auftritt, klafft dieselbe Zeitspanne.

Spätestens von jetzt an wird die Chronologie der Infektion schwer überschaubar und noch schwerer erklärbar. Mit Sicherheit wurden Südwestfrankreich im Frühjahr 1348 und die Ile de France mit Paris im Sommer desselben Jahres erfasst. Ungefähr gleichzeitig traf sie spanische Städte, sofern diese durch ihre Häfen nicht sogar schon früher befallen waren. Kurz darauf erreichte die Seuche über den Ärmelkanal englische Städte. Auf dem Weg über die Rhone und weiter östlich über die Alpen erfasste die Ansteckung das Gebiet der heutigen Schweiz und Süddeutschland, doch brach die Epidemie in den wichtigeren deutschen Reichsstädten und in den heutigen Niederlanden meist erst im späten Frühjahr und im Sommer 1349 aus – sofern diese erste Welle nicht weitgehend, manchmal sogar ganz an ihnen vorbeizog. Alle Versuche, eine durchschnittliche Verbreitungsgeschwindigkeit auf dem Landweg zu bestimmen, scheitern an diesen Phasenverschiebungen. Am ehesten lässt sich da, wo relativ präzise Datierungen vorliegen und keine «Zeitsprünge» auftreten, von einer Ausbreitung von ein bis zwei Kilometern pro Tag ausgehen. Ebenfalls schon 1349 ist die Pest in Schottland und Irland nachweisbar, im Jahr darauf in Skandinavien, wiederum auffällig spät. 1352/53 erreichte sie das Gebiet des heutigen Russlands und der Ukraine.

Noch erklärungsbedürftiger als die unterschiedlichen Geschwindigkeiten der Ausbreitung ist die Tatsache, dass einige Gebiete gar nicht oder nur mit sehr geringen Sterberaten von der Pest getroffen wurden. Dass bestimmte Gebirgsgegenden in den Pyrenäen ohne Ansteckung blieben, war schon für die Zeitgenossen unschwer durch die Ferne zu den Hauptverkehrswegen zu verstehen. Dass jedoch auch süddeutsche Handelsstädte und eine Metropole wie Mailand sowie ein Großteil des heutigen Polen weitestgehend verschont blieben, verlangte schon damals nach Erklärungen und stellt die Forschung bis heute vor Herausforderungen.

3. Symptome und Ursachen

Zwanzig Jahre nach dem ersten Auftreten der Pest in Europa beschrieb der päpstliche Leibarzt Guy de Chauliac ihre Merkmale in aller Knappheit so: «Sie trat in zwei Erscheinungsformen auf. Die erste hielt vor Ort zwei Monate an und war durch dauerhaftes Fieber und das Spucken von Blut gekennzeichnet. Und die davon Betroffenen starben innerhalb von drei Tagen. Die zweite Erscheinungsform dauerte die restliche Ansteckungszeit hindurch, ebenfalls mit permanentem Fieber und mit Ausschlägen und Beulen auf den äußeren Gliedmaßen, vor allem zwischen den Achseln und in der Gegend der Leisten.»[10] Ausführlicher, aber nicht weniger diagnostisch geprägt fiel die Schilderung des hochgebildeten byzantinischen Kaisers aus: «Die Krankheit war nicht bei allen von derselben Art. Einige starben nämlich sofort, noch am selben Tag oder sogar in einer einzigen Stunde. Diejenigen, bei denen es zwei oder drei Tage lang dauerte, wurden zuerst von sehr starkem Fieber befallen und konnten dann, als die Krankheit den Kopf erreichte, nicht mehr sprechen und fielen in eine Art tiefen Schlaf … Bei anderen aber schlug die Krankheit nicht auf den Kopf, sondern von innen auf die Lunge und verursachte stärkste Schmerzen in der Brust. Sie hatten einen blutigen Auswurf zur Folge und waren von einem ungewöhnlich stinkenden Atem begleitet, der aus dem Innern des Körpers kam. Der Rachenraum aber und die Zunge waren wie von Hitze ausgetrocknet, schwarz und blutig. Und es war einerlei, ob sie viel oder wenig tranken, sie litten an Schlaflosigkeit und hatten überall Schmerzen. Unten und oben an den Schultern, bei einigen auch am Kiefer, bei anderen an anderen Körperstellen, bildeten sich Ablagerungen von unterschiedlicher Größe, und daraus wuchsen schwarze Beulen hervor.»[11] Auch in dieser Beschreibung sind die beiden Haupttypen des Krankheitsverlaufs klar zu unterscheiden.

Die schwarzen Blattern, die Gott als Strafe über Ägypten verhängt, da der Pharao die Juden nicht ziehen lässt, sind in der Toggenburger Bibel von 1411 mit Symptomen der Beulenpest dargestellt. Nach den Beschreibungen der Zeitgenossen waren die Erscheinungen der Seuche allerdings um einiges schrecklicher als hier gemalt.

Der Arzt und der Kaiser waren von Berufs wegen zu nüchterner Darstellung verpflichtet, denn ihre Aufgabe war es, den Schrecken und seine Folgen in Grenzen zu halten. Das bespiellose Entsetzen, das beim Eintreffen der Pest rasch um sich griff, nährte sich aus der Neuheit und Unbekanntheit der Symptome und ihrer Ursachen, der unheimlich raschen Verbreitung, der völligen Rat- und Hilflosigkeit der Ärzte, der Unausweichlichkeit des Ausgangs, der Anonymität des seriellen Todes und, wohl am meisten, aus den grausigen Begleiterscheinungen des Sterbens.

Mit all diesen Merkmalen war die Seuche der perfekte Stoff für eindrucksvolle literarische Ausmalungen, wie die nachfolgende Passage aus der Feder des erfolgreichen Novellendichters Giovanni Boccaccio belegt: «Und sie (= die Pest) zeigte sich nicht wie im Orient, wo Nasenbluten das Zeichen eines unabwendbaren Todes war, sondern an ihrem Anfang entstanden bei Männern und Frauen gleichermaßen an den Leisten oder unter den Achseln gewisse Schwellungen, von denen einige bis zur Größe eines durchschnittlichen Apfels anwuchsen, andere die Form eines Eis annahmen, die einen mehr, die andere weniger; und diese Geschwülste wurden vom Volk Pestbeulen (gavoccioli) genannt. Und von den genannten Körperteilen breitete sich diese todbringende Beule in einem kurzen Zeitraum unterschiedslos überall hin aus. Und danach verwandelte sich das Erscheinungsbild der Krankheit in schwarze oder dunkelblaue Flecken, die an den Armen, Schenkeln und an anderen Stellen zahlreich wurden, bei dem einen groß und vereinzelt, beim anderen klein und zahlreich. Und wie schon die Beule ein ganz sicheres Anzeichen des nahen Todes gewesen war, so waren es auch die Flecken für jeden, der sie aufwies.»[12] So eindrucksvoll die Ausmalung der Seuche mit ihren physiologischen und psychologischen Folgen auch ist, so weist sie doch im Vergleich zu den Schilderungen des Arztes und des Kaisers zwei gravierende Mängel auf: Sie unterscheidet nicht zwischen der Lungen- und der Beulen-Form der Krankheit, und sie gibt die Reihenfolge von Hautflecken und Geschwulst falsch an.

Schrecken und heilsame Furcht will die Schilderung Gabriele de Mussis verbreiten: «Zuerst befiel sie (= die Pestkranken) eine eisige Steifheit, die den ganzen Körper ergriff, der sich wie von einer Lanze durchbohrt und von Pfeilspitzen gepeinigt anfühlte. Einige von diesen befielen am Gelenk der Schulter unter der Achsel, andere an der Leiste, zwischen Rumpf und Schenkel, harte und dicke Hautflecken; wenn sich diese vergrößerten, brachten sie schreckliche Anfälle mit sich. Diese steigerten sich rasch zu stärkstem Fieber und zu Fäulnis sowie zu heftigsten, alles beherrschenden Kopfschmerzen, bei einigen zu unerträglichem Gestank, bei anderen zu Blutspucken. Andere wiederum wiesen neue Geschwülste neben den alten und neue am Rücken, an der Brust und am Schenkel auf. Andere fielen in eine der Trunkenheit ähnliche Betäubung, aus der sie nicht wiedererweckt werden konnten. Das waren Zeichen des drohenden Gottes. Und diese alle gingen elend zugrunde.»[13]

Innerhalb des damit abgesteckten Spektrums bewegen sich die Beschreibungen der Krankheitssymptome in ganz Europa, die einen genauer beobachtend, die anderen phantasievoller ausgestaltend, aber alle mit ihren eigenen Zielsetzungen, Stoßrichtungen und Feindbildern. Die genauesten von ihnen entsprechen weitgehend den Klassifizierungen der Pest nach heutigem Kenntnisstand. Deren häufigste Erscheinungsform war – darin sind sich alle zeitgenössischen Berichte einig – die Beulen-Variante, die – auch das entging manchen Chronisten wie de Mussis nicht – bei aller Fürchterlichkeit der Symptome doch gewisse Überlebenschancen bot: «Gegen das Spucken des Blutes konnte kein Heilmittel verordnet werden. Diejenigen, welche in Schlaf gefallen und von der stinkenden Fäulnis befallen waren, entkamen dem Tod sehr selten; vor allem, wenn das Fieber sank, konnten sie gelegentlich vorm Tod bewahrt werden.»[14] Nach heutigen Schätzungen konnte ein Viertel der so Erkrankten mit einem glimpflichen Ausgang rechnen, wobei solche Quantifizierungen immer sehr unsicher ausfallen. Was die zweite Hauptform der Epidemie, die Lungenpest, betrifft, gibt die neuere Forschung de Mussis ebenfalls recht: Sie verlief ausnahmslos tödlich. Sie konnte sich aus einer Beulenpest entwickeln, aber auch direkt durch Ansteckung über eine infizierte Person übertragen werden. Auch die dritte Variante, die septische Pest, zeichnet sich in den Berichten der Zeit ansatzweise ab, wenn von Todesfällen innerhalb eines Tages oder in noch kürzeren Fristen berichtet wird. Eine solche Blutvergiftung konnte aus besonders heftigen Verläufen der beiden Haupttypen hervorgehen, kam aber nur sehr vereinzelt vor.