Die Magie der 7 Göttinnen (Band 1) – Rick Riordan präsentiert - Graci Kim - E-Book

Die Magie der 7 Göttinnen (Band 1) – Rick Riordan präsentiert E-Book

Graci Kim

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Beschreibung

Yuna Oh hat schon immer das Gefühl, dass sie nicht wirklich dazugehört. Nicht nur, weil sie adoptiert ist, sondern auch, weil sie, anders als der Rest ihrer Familie, keine magischen Fähigkeiten besitzt. Als ihre Schwester Hattie offiziell in den Clan der Gom aufgenommen werden soll, schmieden die beiden Schwestern einen Plan: Während der Zeremonie wird Hattie einen Teil ihrer Magie auf Yuna übertragen. Doch dann passiert etwas, womit keine der beiden gerechnet hat, und Yuna muss ihr Zuhause hinter sich lassen, um ihre Schwester zu retten. Dabei erwarten sie nicht nur ihre größten Ängste, sondern auch ein düsteres Geheimnis aus ihrer Vergangenheit, das das Potenzial hat, alles zu zerstören. Der erste Band einer fantastischen Trilogie! Von Rick Riordan empfohlen und perfekt für Fans von Percy Jackson, Magnus Chase und Aru gegen die Götter. 

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Für meine Eomma und meinen Appa, deren Liebe der Grund ist, weshalb es mich gibt.Für meine Schwestern Ally und Joya, deren Liebe der Grund ist, weshalb es diese Geschichte gibt.Und vor allem für meinen Spudman, dessen Liebe (und Geduld) der Grund ist, weshalb es dieses Buch gibt.

Vorwort von Rick Riordan

Warum hat mir davon nicht schon früher jemand erzählt?

Das war mein erster Gedanke, als ich Yuna und der letzte gefallene Stern las. Graci Kim gelingt es auf so wunderbare Weise, koreanische Mythologie in die moderne Welt zu integrieren, dass ich mich nun frage, wie ich jemals ohne all dieses coole Wissen leben konnte. Wie sich rausstellt, gibt es in Los Angeles, mitten unter uns ahnungslosen Menschen, eine ganze Gemeinschaft koreanischer Hexen, die in enger Verbindung zum Reich der Götter stehen. Ich bin so froh, dass L.A. endlich etwas hat, womit es angeben kann – außer dass dort der Eingang zu Hades’ Unterwelt liegt.

Für welchen der sechs magischen Clans würdet ihr euch entscheiden? Die Möglichkeiten sind verlockend, jeder bringt eine eigene Schutzgöttin und besondere Fähigkeiten mit sich. Ich würde am liebsten zu den Miru – den Wächtern – gehören, weil ihre Schutzgöttin die Wasserdrache-Göttin ist. Allerdings wäre ich wohl weder schnell noch stark genug. Ich lese auch unheimlich gern und interessiere mich für Geschichte, weshalb der Horangi-Clan für mich durchaus seinen Reiz hat. Aber wie ihr bald merken werdet, haben die Gelehrten zurzeit nicht den besten Ruf. Genau genommen wurden sie von den fünf anderen Clans verstoßen. So ein Pech.

Als Nächstes würde meine Wahl wohl auf die Gumiho fallen. Ich mochte die Neunschwänziger-Fuchs-Göttin schon immer. Und Illusionen zu erzeugen könnte echt praktisch sein. Morgens spät dran und keine Zeit zum Anziehen? Einfach einen Zauber anwenden, und man sieht aus, wie man möchte! Das Motto der Gumiho lautet »Schönheit und Einfluss«. Ich glaube, sie würden sich gut mit Aphrodites Kindern verstehen!

Auch Yuna Oh, die Heldin unserer Geschichte, weiß nicht so genau, wo sie hingehört. Ihre Familie ist Teil des Gom-Clans – der begnadeten magischen Heiler –, und Yuna würde an ihrem 13. Geburtstag liebend gern zur heilenden Hexe werden, genau wie ihre Schwester Hattie. Doch leider ist Yuna eine Saram – jemand, der ohne den geringsten Funken Magie geboren wurde. Sie ist adoptiert, und ihre leiblichen Eltern waren keine Hexen. Obwohl Yunas Adoptiveltern super sind und sie sich blendend mit ihrer Schwester versteht, ist es trotzdem manchmal echt hart, die Einzige in der Familie zu sein, die nicht zaubern kann.

Doch dann hat Hattie eine brillante Idee. Sie will während ihrer eigenen Hexenzeremonie einen Zauber anwenden, mit dem sie Yuna die Hälfte ihrer Magie abgibt! Okay, der Zauber ist eigentlich verboten. Und sie müssen ihn aus dem Safe ihrer Eltern stehlen. Und ihn dann noch vor dem Rat der Ältesten und der versammelten magischen Gemeinde durchführen. Aber was kann da schon schiefgehen?

Ähm … Ihr könnt euch sicher vorstellen, wie das ausgeht.

Immerhin findet Yuna dabei heraus, dass ihre Vergangenheit sehr viel komplizierter ist, als sie bisher dachte. Der Zauber, mit dem sie einen Teil von Hatties Magie auf sich übertragen wollte, löst eine wahre Lawine aus unbeabsichtigten Konsequenzen aus und bringt Geheimnisse ans Licht, die für immer hätten verborgen bleiben sollen. Wenn Yuna ihre Familie, die Gemeinschaft der Hexen und das gesamte Reich der Sterblichen retten will, muss sie dringend herausfinden, welche Macht wirklich in ihr steckt, und erkennen, wem unter den Hexen, Göttinnen und Normalsterblichen sie trauen kann.

Ich muss gestehen, die Arbeit an Gracis Manuskript hat sich für mich zu einer echten Herausforderung entwickelt. Ich begann zu lesen und war sofort gefesselt. Erst als ich zur Hälfte durch war, fiel mir ein: »Ach ja, ich sollte das hier eigentlich redigieren.« Also fing ich von vorne an und hielt bewusst nach Stellen Ausschau, an denen es etwas zu redigieren gab, nur um gleich wieder in die Geschichte reingesogen zu werden. So gut ist sie.

Man muss sich einfach in diese Welt verlieben. Yunas bester Freund Emmett ist die Art Mensch, die jeder gern in seinem Team haben würde. Er backt für sein Leben gern und versorgt alle um sich herum mit seinen köstlichen Kreationen. Er liebt es, Haustiere in abgedrehte Kostüme zu stecken. Außerdem behauptet er, allergisch gegen Gefühle zu sein, weshalb ich ihn am liebsten in den Arm nehmen würde! Er sollte sich unbedingt mal auf ein paar Cookies mit Nico di Angelo treffen. Hattie ist die tollste große Schwester, die man sich nur wünschen kann, und Yuna und sie haben ein absolut wunderbares Verhältnis zueinander, obwohl sie so verschieden sind. Die Familien der Hexenclans sind allesamt so chaotisch und liebevoll und kompliziert – genau wie im wahren Leben! Und hatte ich das Essen schon erwähnt? O. Meine. Götter. Kartoffeltwister. Bulgogi-Tacos. Gimchi-Salsa. Mini-Donuts. Her damit!

Apropos Essen: Ich habe dieses Buch viel zu schnell verschlungen. Das ist einer der Nachteile, wenn man eine Geschichte schon so früh zum Lesen bekommt. Dann verschlinge ich sie und bin bereit für Nachschub, bevor der erste Band überhaupt erschienen ist. Rülps!

Immerhin kann ich Yuna und der letzte gefallene Stern nun mit euch teilen! Ich weiß, ihr werdet dieses Buch lieben. Und wenn ihr fertig seid, sollten wir uns bei Gelegenheit mal in L.A. treffen, um uns bei einem magischen Mittagessen über unsere Lieblingsclans auszutauschen.

1.

Meine Familie heilender Hexen

Also, es ist so.

In zwei Tagen findet die Initiationszeremonie meiner Schwester statt. Noch zweimal schlafen, dann wird Hattie 13 und muss vor den Mitgliedern der magischen Clans von Los Angeles beweisen, dass sie das Zeug hat, eine Hexe zu werden. Eine heilende Hexe. Eine echte Gom.

Und sie wird das natürlich rocken. Ich meine, sie ist von Geburt an dazu bestimmt. Sie hat die heilende Magie im Blut, genau wie unsere Eltern, denn wir aus dem Gom-Clan sind Nachkommen der Höhlenbär-Göttin – der Schutzgöttin des Dienstes und der Opferbereitschaft.

Na ja, alle außer mir.

Seufz. Jepp. Mein 13. Geburtstag ist in einem Monat, aber anders als meine Eomma (das ist meine Mom), mein Appa (das ist mein Dad) oder meine Schwester bin ich ein ganz normaler, nicht magisch begabter Mensch ohne den kleinsten Funken Magie. Ich bin eine Saram.

Ich bin adoptiert. Und versteht mich nicht falsch: Meine Eltern geben sich tierisch viel Mühe, damit ich mich wie ein Teil der magischen Gemeinschaft fühle. Dafür liebe ich sie auch. Aber je mehr sie sich bemühen, desto deutlicher wird mir, was für eine Außenseiterin ich bin. Die Wahrheit ist nun mal: Ich bin anders.

Deswegen sitze ich jetzt hier, an der Rezeption der Praxis für traditionelle koreanische Medizin, die meine Eltern betreiben, und sterbe innerlich vor Langeweile. Und während ich staubtrockene Daten eingebe, übt meine Schwester nebenan Heilzauber.

Die Glöckchen über der Eingangstür bimmeln, und ich setze mich ruckartig auf, als ein alter, dunkelhaariger Mann hereingehinkt kommt. Seinem Aussehen nach könnte er Koreaner sein, aber ich habe ihn noch nie im Tempel gesehen.

»Willkommen in der Praxis!«, sage ich. »Wie kann ich Ihnen behilflich sein?«

»Guten Morgen«, erwidert er und verzieht leicht das Gesicht, während er auf wackligen Beinen auf mich zuhumpelt. »Mein Name ist Robert Choi. Ich bin gerade erst aus New York hergezogen, und mir wurde empfohlen, mich an James oder Eunha Oh zu wenden. Ich glaube, ich habe mir den Knöchel verstaucht.«

Er reibt seine Handgelenke aneinander, sodass das Wasser in seinem Gi – dem zylindrischen Glasanhänger an seinem Armband – sachte hin und her schwappt. Auf seinem rechten Handgelenk erscheint ein grünlich leuchtendes Symbol aus zwei Sonnen und zwei Monden.

Aha, er ist also ein Tokki – ein Aromatiker. Das Symbol, das jedes Mal erscheint, wenn Magie benutzt wird, ist bei allen Hexen gleich. Nur die Farbe unterscheidet sich je nach dem, welchem Clan sie angehören. Uns hilft es zu erkennen, welche Patienten magische Fähigkeiten haben und welche nicht. Wenn wir es mit Saram zu tun haben, dürfen sie nämlich auf keinen Fall mitbekommen, dass wir mit Magie heilen. Dafür stellen die Aromatiker spezielle Tränke her, die danach das Gedächtnis auslöschen.

Ich weiß, was ihr jetzt denkt: Warum halten wir so eine abgefahrene Fähigkeit vor der Welt geheim? Tja, Appa sagt, wenn die Saram von der Existenz magischer Clans erfahren würden, würde das unsere Gemeinschaft in große Gefahr bringen. Die Menschen lehnen alles ab, was sie nicht verstehen. Es macht ihnen Angst, und wer Angst hat, reagiert unberechenbar. Was ich irgendwie nachvollziehen kann.

»Da sind Sie hier richtig«, sage ich und lächle freundlich. »James und Eunha sind meine Eltern. Das mit Ihrem Fuß tut mir leid, Mr. Choi. Mein Appa ist gerade mit einem anderen Patienten fertig und hätte jetzt für Sie Zeit, wenn Sie möchten.«

»Ah, dann musst du Hattie sie.« Er nickt mir wissend zu. »Wie ich höre, findet deine Initiationszeremonie bald statt. Ich hoffe, du bist gut vorbereitet.«

Ich schüttle den Kopf. »Hattie ist meine Schwester. Ich bin keine … Also, ich kann nicht …« Ich breche ab, und Mr Choi runzelt die Stirn.

»Seltsam. Es hieß, die Ohs hätten nur eine Tochter.«

Uff. Seine Bemerkung bohrt sich wie Speer in meine Brust, doch ich bleibe ganz ruhig und setze ein perfekt eingeübtes künstliches Lächeln auf. Am liebsten würde ich mein Gi-Armband (wenn ich eins hätte) hervorholen und seinen Knöchel gleich hier und jetzt heilen, um ihm zu beweisen, dass ich genauso eine Oh bin wie alle anderen. Oder zumindest würde ich gern für mich einstehen und ihm verklickern, dass ich ebenso Teil der Familie bin, auch ohne magische Kräfte. Das würde Hattie an meiner Stelle tun.

Aber ich bin nicht wie meine Schwester. Ich bin nicht so mutig wie sie. Ich ziehe lieber den Kopf ein und halte mich raus. Glaubt mir, so ist es einfacher.

Eine warme Hand legt sich auf meine Schulter und drückt sie sanft. Als ich mich umdrehe, steht Appa hinter mir. Ich habe ihn gar nicht kommen gehört. »Das ist Yuna, eindeutig unsere Tochter und die engagierteste Gom, die ich kenne.« Appa strahlt mich an und reicht Mr Choi die Hand. »Willkommen in unserer bescheidenen Praxis, Robert. Und willkommen in L.A. Folgen Sie mir, dann sehe ich mir Ihren Knöchel einmal an.«

Appa führt den humpelnden Mr Choi davon. Ich spüre ein warmes Prickeln hinter den Augenlidern. Seufz. Ein weiterer Tag im Leben von Yuna Oh – der Möchtegernhexe in einer Welt voller richtiger Hexen.

»Yuna!« Hattie kommt zur Rezeption gerannt, stützt die Ellbogen auf den Tresen und ihr Kinn in die Hände. Ihre runden Wangen sind gerötet, und ihr Haar ist verschwitzt. »Bitte rette mich. Eomma macht mich fertig. Andauernd lässt sie mich die Sprüche wiederholen, obwohl ich sie schon mindestens eine Milliarde Mal aufgesagt hab. Ich weiß schon gar nicht mehr, was sie bedeuten. Wörter? Was sind Wörter?«

»Sie will doch nur, dass du fit für deine Initiation bist.«

Hattie verdreht die Augen, auch wenn sie natürlich weiß, dass ich recht habe.

Eine erfolgreiche Initiationszeremonie ist das wichtigste Ereignis im Leben einer Hexe. Sie muss drei Zauber anwenden, die die Ältesten im magischen Rat zufriedenstellen, und dann vor der versammelten Gemeinde im Tempel einen Eid ablegen. Das sind Hunderte Leute aus fünf verschiedenen Clans, ganz zu schweigen von unserer Schutzgöttin, die aus dem Reich der Götter zusehen wird.

Erst dann erhält Hattie die Erlaubnis, ihr Gi ohne Aufsicht eines Erwachsenen am Handgelenk zu tragen, und kann damit endlich ihre Magie nutzen. Das Ganze ist also eine echt große Sache. Aber bloß keinen Stress.

Hattie fummelt an dem mit Erde gefüllten Anhänger herum, der an einem goldenen Kettchen um ihr Handgelenk hängt. Eomma bewahrt das Gi meiner Schwester normalerweise in ihrem verzauberten Safe auf, und Hattie darf es nur tragen, wenn sie mit unseren Eltern Zaubersprüche übt. »Okay, aber kannst du trotzdem mitkommen? Eomma ist nervös und schlecht gelaunt, und ich brauche dringend moralische Unterstützung. Bitte?«

Ich mache ein ernstes Gesicht und tue so, als müsste ich mich tierisch auf die Patientendatenbank konzentrieren. »Ich hab zu tun.«

»Biiiiitteeeee, bitte?« Sie bringt ihr Gesicht ganz dicht vor meins und setzt ihren herzerweichendsten Dackelblick auf. »Du kannst auch meinen Lieblingspullover ausleihen. Und ich übernehme eine Woche lang deine ganze Hausarbeit. Komm schon, Yuna, hab ein bisschen Mitleid!«

Ich bleibe standhaft, solange ich kann, muss dann aber doch lachen. »Okay, okay, überredet.« Ich schiebe ihre verschwitzte Rübe aus meinem Blickfeld. »Ich wollte dich bloß betteln sehen. Steht dir gut.«

»Das wirst du mir büßen!« Sie haut mir auf die Schulter, grinst dabei aber und zieht mich von meinem Stuhl durch den Flur in Eommas Behandlungszimmer.

Drinnen läuft Eomma mit dem Familienzauberbuch vor der Nase hin und her. Ihre Brille ist beschlagen, und ihre schwarze Dauerwelle wippt wie ein Heiligenschein um ihren Kopf herum. »Da bist du ja, Hattie! Komm her und üb den Wundverschlusszauber noch mal.« Sie zeigt mit dem Finger auf ein koreanisches Wort in ihrem Buch. »Und denk diesmal dran, das p deutlich auszusprechen. Keine falsche Bescheidenheit – lass dein ganzes Zwerchfell mitarbeiten. Phh! Phh! Siehst du? So – phh!«

Hattie schlägt die Hände vors Gesicht und zieht sie langsam nach unten, wobei sie mir einen genervt-verzweifelten Blick zuwirft. Ich unterdrücke ein Lachen. Eomma ist mal wieder in Bestform. Sie kriegt diesen Ich-steh-übrigens-unter-Starkstrom- und Ausruhen-ist-was-für-Schwächlinge-Look besser hin als irgendwer sonst.

Während Hattie widerstrebend Eommas Anweisungen folgt und versucht, ihr phh deutlich auszusprechen, betrachte ich zum millionsten Mal die Gesichter der beiden und wünsche mir, ich würde mehr aussehen wie sie.

Mir wurde gesagt, dass meine biologischen Eltern ebenfalls koreanischer Herkunft waren. Aber das waren dann auch schon alle Gemeinsamkeiten. Eomma und Hattie sind zierlich, mit runden Gesichtern und makelloser Haut. Ich bin groß und sommersprossig, mit einem spitzen Kinn und hohen Wangenknochen, und überhaupt habe ich mehr Ecken als alles andere. Ich bin diejenige, bei der die Leute immer die Augenbrauen hochziehen, wenn sie mich auf Familienfotos entdecken.

Ta-daa, schon wieder brennen meine Augen. Ich wische sie heimlich trocken. Hrmpf. Das ist mal wieder typisch. Mein bester Freund Emmett nennt das mein »Augen-Inkontinenz-Problem«. Dazu muss man wissen, dass ich vielleicht einen Hauch zu nah am Wasser gebaut bin. Wenn ich traurig bin, weine ich. Wenn ich wütend bin, weine ich. Wenn ich frustriert bin, weine ich. Man könnte sagen, wenn ich ein Talent habe, dann ist das Weinen.

Hattie behauptet, das sei etwas Gutes – ich sei im Einklang mit meinen Gefühlen (wohl eher in deren Würgegriff …). Und Eomma und Appa versichern mir immer wieder, dass sich das irgendwann rauswächst. Aber seien wir ehrlich: Verglichen mit meiner selbstbewussten und ausgeglichenen Familie bin ich das reinste Mängelexemplar. Was nur ein weiterer Beweis dafür ist, dass ich keine echte Oh bin. Dass ich anders bin und nicht dazugehöre.

Eomma hat Hattie unterdessen dazu aufgefordert, ihren Eid zu üben, und meine Schwester gehorcht widerwillig. »Ich schwöre beim Namen von Mago Halmi, Mutter der drei Reiche, Mutter der sechs Göttinnen, Mutter der Schöpfung und aller Sterblichen« – Hatties Lispeln macht sich bemerkbar, was nur passiert, wenn sie müde oder gestresst ist – »dass ich meiner heiligen Pflicht, jene in Not zu heilen, stets nachkommen werde. Ich schwöre, dass ich das Motto des Gom-Clans, Dienst und Opferbereitschaft, ehren werde … und … und …«

Sie weiß nicht mehr weiter, daher beende ich den Satz für sie. »Und ich bin mir bewusst, dass meine Gabe mit großer Verantwortung einhergeht – für meinen Clan, für die magische Gemeinschaft und für unsere Vorfahrin, die Höhlenbär-Göttin, die uns mit ihrer göttlichen Macht gesegnet hat.« Ich habe zwar kein Gi und auch keine Magie im Blut, aber meinen Text kenne ich.

Hattie wirft mir einen dankbaren Blick zu. Danke, formt sie mit den Lippen. Sie stemmt die Hände in die Hüften. »Siehst du, Eomma? Yuna ist so was von bereit für ihre Initiationszeremonie. Viel mehr, als ich es jemals sein könnte. Hast du Tante Okja endlich gefragt, ob Yuna auch eine haben darf?«

Ich schiebe die Hand in die Hosentasche und umklammere, um meine Nerven zu beruhigen, den tränenförmigen Edelstein darin. Dieser Onyx ist das Einzige, was meine biologischen Eltern mir hinterlassen haben. Hattie glaubt, es könnte sich um eine Art Familienerbstück oder so etwas handeln, aber ich mag einfach, wie hart und real er sich in meiner Hand anfühlt. Er ist bloß ein Stein (und nicht annähernd so cool wie ein Gi), aber manchmal trage ich ihn mit mir rum, weil er mich daran erinnert, dass auch ich von irgendwo abstamme.

»Tut mir leid, ihr zwei. Euer Appa und ich haben auf einen geeigneten Zeitpunkt gewartet, um es euch zu sagen …« Eomma seufzt. »Tante Okja hat sich wirklich bemüht, aber die anderen Ältesten geben einfach nicht nach.«

Ich senke den Blick, hauptsächlich, um das nächste Rinnsal der Enttäuschung zu verbergen, das unter meinen Lidern hervorquillt. Meine bescheuerte Augen-Inkontinenz schon wieder! »Oh … Schon okay«, sage ich, obwohl das nicht stimmt. »Danke, dass ihr es versucht habt.«

Hattie zieht die Augenbrauen hoch. »Nein, das ist nicht okay.« Sie wendet sich an Eomma. »Appa und du drängt doch andauernd auf mehr Offenheit innerhalb der magischen Gemeinschaft. Das ist ja wohl die perfekte Gelegenheit, um ein Statement zu setzen, oder nicht?«

Eomma wirkt betreten. »Du hast vollkommen recht. Aber Veränderung braucht Zeit. Manche Clans sind nicht so fortschrittlich wie wir. Sie argumentieren, dass Yuna die Zauber ohne Gi nicht wirken kann. Und wenn der Rat die Zauber während der Initiation nicht sehen kann, kann er auch keine gerechte Bewertung vornehmen.«

Ich ziehe den Kopf ein, doch Hattie kommt jetzt erst richtig in Fahrt. »Aber das ist doch genau der Punkt. Yuna kennt die Sprüche in- und auswendig. Wenn der Rat ihr die Chance geben würde, sich zu beweisen, würde das die Göttin vielleicht überzeugen, Yuna ein Gi zu geben.« Sie verdreht die Augen. »Sie gehen das von der völlig falschen Seite an.«

»Ich verstehe das, Liebes. Das weißt du. Aber die anderen Ältesten glauben, es sei zu viel verlangt, die Göttinnen darum zu bitten, einer Saram den Segen der Magie zu schenken. Es sei vorlaut. Geradezu respektlos. Eure Tante ist von den fünf Ältesten als einzige dafür.«

Hattie wirft entnervt die Hände in die Luft, während ich am liebsten im Boden versinken würde. Ich hasse es, wenn sie sich meinetwegen streiten. »Ehrlich, es ist okay, Hat …«, versuche ich, meine Schwester zu beruhigen.

»Wenn etwas respektlos ist, dann dass sie Yuna nicht mal die Chance geben«, fährt Hattie unbeirrt fort. »Wenn sie die Initiation vermasselt und die Höhlenbär-Göttin ihr kein Gi gibt, okay! Wenn Yuna es lieber doch nicht machen möchte, auch gut. Aber dass sie ihr nicht mal die Möglichkeit geben? Das ist auf so vielen Ebenen falsch.«

Als Eomma nicht antwortet, nimmt Hattie meine Hand und setzt eine entschlossene Miene auf. Ich nenne das ihr »Boss-Gesicht«, weil sich niemand, der noch halbwegs bei Verstand ist, mit Hattie anlegt, wenn sie so guckt. »Sobald ich alt genug bin«, verkündet sie, »bewerbe ich mich als Gom-Älteste. Und dann mische ich den Laden mal so richtig auf. Dieser Geheimgesellschaftskram ist doch so was von überholt.«

»Ich habe keinen Zweifel, dass dir das gelingen wird. Das und noch viel mehr«, sagt Eomma, und ich bin ganz ihrer Meinung. Ich meine, warum sollte bei Clan-Älteste Schluss sein? Warum nicht gleich Präsidentin? Hattie for President –ich kann die Anstecker schon vor mir sehen.

Ich drücke Hatties Hand und spüre, wie mir ganz warm ums Herz wird. Mag sein, dass mir so einiges fehlt, aber mit meiner Schwester habe ich das ganz große Los gezogen. Sie ist einfach die beste. Schwester. Aller. Zeiten.

»Schade, dass es keinen Zauber gibt, mit dem du deine Magie einfach teilen kannst«, scherze ich, um die Stimmung etwas aufzulockern. »Am besten so, dass die Empfängerin kein Gi braucht. Das wäre die Lösung für all unsere Probleme.«

Ein Grinsen macht sich auf Hatties Gesicht breit. »Eine Art Crowdsourcing für Magie. Das würde die Clans aber mal mit einem Schlag ins 21. Jahrhundert katapultieren, was, Eomma?«

Wir sehen Eomma an, und sie lacht nervös.

Hattie und ich wechseln einen Blick. So lacht Eomma nur, wenn sie etwas zu verbergen hat.

»Im Ernst?«, fragt Hattie. »Es gibt wirklich einen Zauber, um seine Magie mit einer Saram zu teilen?«

Mir fällt die Kinnlade runter. Das kann nicht sein!

Eomma murmelt etwas Unverständliches, sieht uns dabei jedoch nicht in die Augen. Verräterischer geht es ja wohl gar nicht. »So einfach ist das nicht«, räumt sie schließlich ein. »Es ist gefährlich, und selbst wenn es funktionieren würde, wäre es nicht von Dauer. Man müsste den Zauber wieder und wieder einsetzen …«

»Wie heißt der Spruch?«, unterbricht Hattie sie. »Und wo können wir ihn finden?«

Und hattet ihr vor, mir jemals davon zu erzählen?, füge ich in Gedanken hinzu, während sich meine Eingeweide zu einem schmerzhaften Knoten zusammenziehen.

Eomma schlägt das Zauberbuch in ihren Händen mit einem Knall zu. »Ende der Diskussion.« Sie sieht auf die Uhr an der Wand und schnappt nach Luft. »Wir kommen zu spät zum Tempel! Los, holt euren Appa. Wir brechen in zwei Minuten auf.«

Sie scheucht uns mit wedelnden Armen aus dem Behandlungszimmer, obwohl sie sich den Aufwand eigentlich sparen könnte. Um nichts in der Welt würde ich den Tempel verpassen wollen.

»Yuna!« Hattie hält mich am Arm zurück. »Hast du bemerkt, wie Eomma das Familienzauberbuch angesehen hat, als ich gefragt hab, wo wir den Spruch finden können?«

Ich schüttle den Kopf. Das ist mir nicht aufgefallen. Ich war zu sehr damit beschäftigt, mich zu fragen, warum meine Eltern das vor mir geheim gehalten haben, obwohl sie wissen, wie gern ich eine Hexe wäre.

»Ich weiß, in dem Buch stehen angeblich nur Heilzauber«, fährt Hattie fort, »aber vielleicht hat Eomma uns das bloß erzählt, damit wir nicht drin rumschnüffeln. Vielleicht steht der Spruch, mit dem man seine Magie teilen kann, auch irgendwo da drin. Weißt du was? Ich bin mir sogar sicher, dass er drinsteht. Wo sollte er sonst zu finden sein?«

Ich runzle die Stirn. Wir dürfen das Familienzauberbuch nicht anrühren – jedenfalls nicht, bevor Eomma und Appa beschließen, dass wir bereit dafür sind. Und gegen Regeln zu verstoßen, gibt mir immer ein supermieses Gefühl.

»Aber Hat«, werfe ich ein, »du weißt schon, dass das bloß ein Witz war, oder? Selbst wenn der Spruch da drinsteht, würde ich dich nie im Leben darum bitten, deine Magie mit mir zu teilen. Außerdem hat Eomma gesagt, dass es gefährlich ist. Wenn es um so etwas geht, würde sie niemals lügen.«

Hattie schnaubt. »Wer sagt, dass ich dich um Erlaubnis bitte? Hast du meinen Vortrag über das Recht auf freie Entscheidung nicht gehört? Ich entscheide, ob ich meine Magie mit dir teilen möchte oder nicht, niemand sonst. Nicht mal du.«

Ich sehe sie ungläubig an. Womit habe ich so eine mutige und selbstlose Schwester verdient?

Hattie senkt die Stimme. Ihre Augen funkeln abenteuerlustig. »Es scheint, als müssten wir ein gewisses Zauberbuch in unsere kleinen Patschehändchen kriegen, oder was meinst du?«

Während sie mich zum Behandlungszimmer schleift, um Appa zu holen, meldet sich in mir eine zaghafte kleine Stimme zu Wort.

Könnte ich vielleicht wirklich eine heilende Hexe werden – eine echte Gom? Könnte das hier meine Chance sein, meine Eltern stolz zu machen und der magischen Gemeinschaft zu beweisen, dass ich dazugehöre?

Ich weiß, ich sollte mir keine allzu großen Hoffnungen machen. Das endet nur wieder in Enttäuschung.

Aber hier kommt der eigentliche Haken an der ganzen Sache: Ich, Yuna Oh, bin eine echte Naschkatze.

Und Hoffnung ist süßer als Schokolade.

2.

Samstag ist Tempeltag

Unser H-Mart ist einer meiner absoluten Lieblingsorte. Ich meine, wie kann man es hier auch nicht lieben? Es ist ein Asia–Supermarkt, der bis obenhin mit allen nur erdenklichen Köstlichkeiten gefüllt ist: Gimchi in allen Formen, Farben und Geschmacksrichtungen, Eis, das wie Wassermelonenschnitze oder Maiskolben geformt ist, und dazu gibt es einen kleinen Stand, der Kartoffeltwister verkauft (das sind Kartoffeln, die in hauchdünne Spiralen geschnitten, auf einen Stock gespießt und dann frittiert werden – sabber).

Aber das ist nicht der einzige Grund, weswegen ich diesen speziellen H-Mart so mag. Hier verbirgt sich nämlich auch einer der geheimen Eingänge zum Tempel. Die magische Gemeinschaft ist ziemlich paranoid, wenn es darum geht, ihr Geheimnis vor der Saram-Bevölkerung zu bewahren, daher nutzt der Gumiho-Clan seine Illusionszauber, um uns gewissermaßen zu verstecken. Ziemlich genial eigentlich.

Jetzt gerade laufen meine Familie und ich zum Beispiel durch einen Gang mit Kühlregalen voller knallbunter Milchmixgetränke, vorbei an dem Stand mit den Süßkartoffelkuchen und auf die Theke zu, wo es koreanisches Grillhühnchen gibt. Für Saram sieht der Mann mit dem Engelsgesicht hinter der Theke wie ein normaler Imbissstandverkäufer aus. Aber wir aus den magischen Clans wissen, dass es sich in Wahrheit um einen Miru-Wächter handelt. Die Angehörigen des Miru-Clans stammen von der Wasserdrache-Göttin ab. Sie besitzen übermenschliche Stärke oder Schnelligkeit, weswegen sie perfekt geeignet sind, unsere geheimen Portale und Eingänge zu schützen.

»Hallo zusammen. Darf’s etwas Gegrilltes für Sie sein?«, begrüßt er uns fröhlich.

Eomma und Appa reiben ihre Handgelenke aneinander, woraufhin ihre magischen Male aufleuchten.

»Die beiden gehören zu uns«, ergänzt Appa und deutet mit einem Kopfnicken auf Hattie und mich.

Der Miru-Wächter überprüft die goldenen Symbole an den Handgelenken meiner Eltern und neigt dann den Kopf in Richtung der Schwingtür links von ihm, die in die Küche führt. »Zutritt gestattet.«

Wir öffnen die Tür, und sofort wehen uns die köstlichsten Aromen von süß-scharfem Grillhühnchen aus der geschäftigen Küche entgegen. Das ist aber leider schnell wieder vorbei, denn kaum, dass wir den Kühlraum erreichen und sein frostiges Inneres betreten, befinden wir uns auf einmal im Foyer eines prachtvollen Gebäudes mit hohen Decken und Marmorböden.

Obwohl wir jede Woche herkommen, verschlägt mir der Tempel immer noch die Sprache. Auf den ersten Blick sieht er aus wie ein superschickes Luxushotel. Die Miru-Wächter im Foyer könnten als Portiere durchgehen, und im Hintergrund klimpert sanfte, beruhigende Musik. Sandelholzduft liegt in der Luft wie eins von diesen speziell zusammengestellten Raumparfüms, die es in besonders teuren Hotels gibt.

Aber der Tempel ist noch so viel mehr, und erst wenn man im Aufzug steht, bekommt man ein Gefühl für seine wahren Ausmaße. Er hat 88 Stockwerke, und in jedem davon gibt es so viele Räume, dass niemand den Überblick behalten kann, was sich hinter jeder einzelnen Tür verbirgt. Für die meisten davon braucht man spezielle Schlüssel, und Tante Okja sagt, dass manche von ihnen auch Portale zu anderen Tempeln überall auf der Welt sind. Andere Räume beherbergen mythische Kreaturen, die uns aus dem Reich der Götter besuchen. Angeblich gibt es sogar eine Tür, die direkt ins Reich der Seelen führt (dort landen wir, wenn wir sterben), was mich echt jedes Mal umhaut, wenn ich darüber nachdenke.

»Schneller, ihr zwei«, drängt Eomma, als der Aufzug im 88. Stock hält, und schiebt uns auf die großen Bronzetüren zu. »Mr Pyo wird uns büßen lassen, dass wir zu spät kommen.«

Und sie hat recht. Sobald wir das Herzstück des Tempels, den Festsaal, durch die schweren, mit geschnitzten Tierköpfen verzierten Holztüren betreten, schallt uns Mr Pyos donnernde Stimme entgegen.

»Na, sieh mal einer an. Wie schön, dass ihr uns mit eurer Anwesenheit beehrt, Familie Oh aus dem Gom-Clan. Ihr unterbrecht damit zwar den Gottesdienst, aber es gibt sicher einen wichtigen Grund für eure Verspätung. Nur zu, sucht euch ruhig einen Platz. Die Gemeindemitglieder, die pünktlich gekommen sind, warten sicher gern auf euch.«

Wir senken die Köpfe und beeilen uns, auf den Bänken des Gom-Clans Platz zu nehmen, während Hunderte Augenpaare jeden unserer Schritte verfolgen.

»Ist das peinlich«, murmelt Eomma.

»Boah, der Typ ist echt unausstehlich«, flüstere ich.

»Und wie«, raunen Hattie und Appa im Chor.

Mr Pyo wendet seine Aufmerksamkeit wieder dem Gottesdienst zu, und nach einer Weile traue ich mich, den Blick zu heben und mich umzusehen.

Der große sechseckige Saal ist heute besonders voll. Die Hexen aus dem Gom-Clan, dem Samjogo-Clan, dem Miru-Clan, dem Gumiho-Clan und dem Tokki-Clan sitzen alle in ihren jeweiligen Bereichen, die im Kreis um das Zentrum angeordnet sind. Hinter ihnen befindet sich eine große Statue der jeweiligen Schutzgöttin, in deren Sockel eine glänzende Bronzetafel mit dem Clanmotto eingelassen ist. Die Statuen bestehen aus Materialien, die den Farben ihrer Clans entsprechen: Jade für die Tokki, blauer Lapislazuli für die Miru, Gold für die Gom – und so weiter. Nur die Bänke des Horangi-Clans sind wie immer leer. Dem sechsten Clan ist der Zutritt zum Tempel schon seit Jahren verboten.

Wie es Brauch ist, stehen die fünf Ältesten auf dem Podest in der Mitte des Festsaals, direkt neben dem Gi-Kessel, bei dem es sich um eine große schwarze Urne mit Klauenfüßen handelt. Auf dem Kessel prangt das Symbol der zwei Sonnen und zwei Monde, und er ist gefüllt mit dem Sand vom Anbeginn der Zeit. Oben drin stecken Räucherstäbchen, die mich an die Kerzen auf einem Geburtstagskuchen erinnern.

Die Ältesten sind in Hanboks in den Farben ihres jeweiligen Clans gehüllt, so wie Tante Okja, die einen ganz in Gold trägt. Sie ist die ältere Schwester meiner Mutter und die Gom-Älteste im Rat von L.A. Als sich unsere Blicke treffen, winke ich ihr unauffällig zu. Sie antwortet mit einem Zwinkern.

»Wie ich bereits sagte«, fährt Mr Pyo fort, »ist dies kein gewöhnlicher Samstagsgottesdienst. Der heutige Tag ist für meine Familie und den gesamten Samjogo-Clan ein ganz besonderer, denn meine Enkelin Mina wird hundert Tage alt!«

Die versammelte Gemeinde klatscht begeistert, nur meine Familie wirft mir nervöse Seitenblicke zu.

Um es ganz klar zu sagen: Ich liebe es, in den Tempel zu gehen, wirklich. Aber wenn es etwas gibt, was ich daran überhaupt nicht leiden kann, dann die endlose Zahl von Gi-Zeremonien, die ich dabei über mich ergehen lassen muss.

Wenn ein Kind aus einer magischen Familie hundert Tage alt wird, wertet der Gi-Kessel dessen Gleichgewicht der Elemente aus und erstellt daraufhin sein Gi. Die Eltern bewahren dieses Gi sicher auf, bis das Kind alt genug ist, um mit dem Training für die Initiationszeremonie an seinem 13. Geburtstag zu beginnen.

Tante Okja hat es mir mal so erklärt: Die Welt besteht aus fünf heiligen Elementen – Holz, Erde, Wasser, Feuer und Metall. Wenn es einer Hexe gelingt, ein perfektes Gleichgewicht zwischen allen fünf zu erzeugen, kann sie auf die Macht der Göttin zugreifen und die Magie ihres Clans ausüben.

Der Haken daran ist nur, dass Hexen von Geburt an lediglich vier Elemente mit sich bringen. Deswegen müssen sie das fünfte Element – das, das ihnen fehlt – an ihrem Handgelenk tragen. Ein Gi funktioniert wie eine Art Autoschlüssel. Jede Hexe braucht ihr fünftes Element, um ihr Auto anzulassen, aber jeder Clan fährt eine andere Marke (will heißen: verfügt über eine andere Magie). Das liegt ihnen im Blut. Bei uns Gom ist es die heilende Magie.

Mr Pyo nimmt die kleine Mina aus den Armen ihrer Mutter und bringt sie zum Kessel. Instinktiv kauere ich mich in mein samtiges Sitzkissen. Ich wünschte, ich könnte darin versinken und von hier verschwinden.

»Mago Halmi, Mutter der drei Reiche, Mutter der sechs Göttinnen, Mutter der Schöpfung und aller Sterblichen«, beginnt er, während er Mina mit ausgestreckten Armen in die Luft reckt. »Voller Demut präsentiere ich dir dieses Kind aus dem Samjogo-Clan, eine Nachkommin der Dreibeinige-Krähe-Göttin. Mögest du ihr deinen göttlichen Segen erteilen.«

Der Samjogo-Clan sagt rhythmisch sein Motto, Führung und Weisheit, auf, während die vier Ältesten nacheinander Minas Stirn mit ihren leuchtenden magischen Malen berühren. Dann schreitet Mr Pyo auf den Gi-Kessel zu und ruft: »Mago Halmi, teile uns deinen Willen mit!«

Die Gemeinde verstummt. Einen Augenblick lang tut sich nichts. Sofort beginnt mein Herz zu rasen, und meine Handflächen werden feucht. Dann dringt ein tiefes Grollen aus dem Kessel, und ich zähle leise bis zehn, während Minas erstes Element enthüllt wird.

»Ihr vorherrschendes Element ist Wasser!«, verkündet Mr Pyo, als ein wirbelnder Strudel aus Flüssigkeit über dem Kessel erscheint. »Das Symbol des Überflusses und der Anmut. Wie passend für eine Seherin.« Die Gemeinde jubelt zustimmend.

Der Wasserstrudel verschwindet und weicht einem leuchtenden Samenkorn, das vor unseren Augen zu einem Baum heranwächst. »Ihr untergeordnetes Element ist Holz«, ruft Mr Pyo. »Das Symbol für Einfühlungsvermögen und Wachstum.«

Unter anhaltendem Jubel kommt das dritte Element zum Vorschein – eine Pyramide aus Bronze, die schimmert, als wäre sie in Glitzer getaucht worden. »Gefolgt von Metall. Dem Symbol für Macht und Stärke.« Mr Pyos Strahlen ist fast so hell wie das der Pyramide.

Zu guter Letzt flackert ein Feuer an der Stelle auf, wo gerade noch die Pyramide glitzerte. Die hungrigen Flammen lodern über dem Kessel. »Und schließlich: Feuer. Das Symbol für Verwandlung und Willenskraft. Mago Halmi hat gesprochen!«

Ich kann mich nicht vom Anblick des Feuers losreißen. Ich würde es gern, aber es gelingt mir nicht.

»Damit wird Minas Gi aus Erde erschaffen – dem Element, das sie nicht besitzt«, fasst Mr Pyo zusammen. »Das Symbol für Fruchtbarkeit und Leben, und zugleich der Schlüssel, um ihr den Zugang zum perfekten Gleichgewicht ihrer Elemente zu öffnen. Möge Mago Halmi ihre Zukunft als sehende Hexe segnen.«

Als das Feuer verpufft, erscheint ein kleiner gläserner Anhänger über der Öffnung des Kessels. Er ist mit weicher Erde gefüllt und sieht genauso aus wie Hatties Gi. Der zylindrische Anhänger schwebt abwartend in der Luft, bis Mr Pyo ihn behutsam mit beiden Händen umschließt und an Minas Eltern weiterreicht.

Ich fasse mir an die Brust. Hattie nimmt meine Hand und drückt sie ganz fest. Sie weiß genau, was gerade in mir vorgeht.

Als ich hundert Tage alt wurde, haben meine auf Fortschritt und Inklusion bedachten Eltern die Ältesten überredet, eine Gi-Zeremonie für mich auszurichten. Und sie haben es sicher nur gut gemeint. Für die Clans von L.A. muss es ein wahrer Meilenstein gewesen sein, mitzuerleben, wie eine Saram den Segen der Göttin erhalten sollte. Nur leider lief es nicht ganz nach Plan …

Die Geschichte geht so, dass der Gi-Kessel erst mal unerträglich lange still blieb, nachdem er gebeten worden war, mein Gleichgewicht der Elemente auszuwerten. Dann begann er zu husten und zu spucken, als hätte er einen Feuerball verschluckt. Schließlich verkündete er seine Antwort.

Erstes Element: Feuer.

Zweites Element: Feuer.

Drittes Element: schon wieder Feuer.

Viertes Element: Jepp, richtig geraten. Feuer.

Zu guter Letzt ging er, statt mein Gi zu erschaffen, einfach in Flammen auf. Im wahrsten Sinne des Wortes. Das ganze Ding leuchtete auf wie der Weihnachtsbaum vor dem Einkaufszentrum.

Die Sache ist die: Niemand besitzt ein Element doppelt, geschweige denn vierfach. So funktioniert das einfach nicht. Der Rat betrachtete den Vorfall daher als Beweis, dass die Saram nicht zur Gemeinschaft gehören sollten, und ich wurde kurzerhand zu einer feurigen Laune der Natur erklärt. Seufz. Wie ihr euch vorstellen könnt, war das der Anfang vom Ende für mich.

»Wen interessieren schon Gi-Zeremonien, wenn wir die Magie auch per Zauberspruch teilen können?«, flüstert mir Hattie ins Ohr. »Vergiss die Sache von damals. Freuen wir uns lieber auf die Zukunft.«

Ich beiße mir auf die Lippe. »Aber was, wenn du dadurch deine Magie verlierst? Außerdem hat Eomma gesagt, dass es gefährlich ist, vergiss das nicht.«

»Manchmal muss man eben riskieren, sich die Finger zu verbrennen, wenn man Lust auf geröstete Marshmallows hat.«

Aber für mich ist das was anderes, denke ich. Ich liebe Hattie von ganzem Herzen, doch sie versteht nicht, dass es für mich nicht so leicht ist wie für sie. Ein Fehltritt, und der Rat könnte beschließen, mich ganz aus dem Tempel zu verbannen. Oder, Mago behüte, er könnte auf die Idee kommen, meine Erinnerungen mit einer ordentlichen Dosis Gedächtnisnebel-Trank auszulöschen. Ich bleibe aus gutem Grund still und weitestgehend unsichtbar. Es ist sicherer so.

Aber wenn ich über Minas Gi-Zeremonie nachdenke und über Hatties bevorstehende Initiation, frage ich mich doch irgendwie … Ist das vielleicht meine letzte Chance, mein wahres Potenzial zu entfalten? Wenn ich jetzt kneife, werde ich mich dafür nicht den Rest meines Lebens in den Hintern beißen?

Wahrscheinlich brennt in meinen Nerven gerade irgendwas durch, denn nach einem kurzen Moment des Zögerns lasse ich mich von Hatties Begeisterung anstecken. Da ist er wieder, der süße Geschmack der Hoffnung. Ich erwidere flüsternd: »Dann müssen wir wohl einen Weg finden, Eommas Safe aufzubekommen.«

Hatties Augen leuchten auf, so hell, dass ich mein Spiegelbild darin sehen kann. »Das ist das Klügste, was du seit Jahren gesagt hast.«

Während wir dasitzen und stillschweigend über die mechanischen Feinheiten verzauberter Safes nachgrübeln, beginnt Mr Hong, der Miru-Älteste, mit den allgemeinen Verlautbarungen. Als Erstes weist er darauf hin, dass das Datum für die feierliche Wiedereröffnung der magischen Bibliothek in Kürze bekannt gegeben wird. Die Bibliothek war mehr als zehn Jahre geschlossen, es wird also ein riesiges Fest für die Clans aus aller Welt.

Die zweite Mitteilung betrifft den bevorstehenden Ausflug der Samstagsschule zum Jahrmarkt. Die Samstagsschule findet nach dem Gottesdienst statt. Dort lernen die Kinder und Jugendlichen aus dem Tempel mehr über die magischen Clans, das Reich der Götter und all so was. Quasi eine Art Schule für Hexen, nur halt einmal wöchentlich. Und der Jahrmarkt ist eines der Highlights im Kalender der magischen Gemeinschaft.

Plötzlich kommt mir eine Idee. »Unterrichtet heute nicht Professor Ryu in der Samstagsschule?«, raune ich Hattie zu.

Sie lässt sich das einen Augenblick durch den Kopf gehen und haut mir dann auf den Arm. »Ich mag, wie du denkst!«

Professor Ryu ist eine von diesen superlockeren Pfeif-auf-den-Lehrplan-und-lass-die-Schüler-bestimmen-wohin-der-Unterricht-führt-Lehrerinnen. Ihr zufolge gibt es keine unzulässigen Fragen. Sie stammt aus dem Tokki-Clan, dessen Motto nicht umsonst Herz und Freundlichkeit lautet. Außerdem ist sie einer der nettesten Menschen, die wir kennen, und wahrscheinlich unsere beste Chance, herauszufinden, wie wir den verzauberten Safe knacken können.

»Und zu guter Letzt«, fährt Mr Hong fort, »ein Wort der Warnung an unsere treue Gemeinde.«

Die anderen Ältesten, darunter auch Tante Okja, wirken sichtlich angespannt.

Mr Hong räuspert sich mehrmals, bevor er weiterspricht. »Uns ist zu Ohren gekommen, dass der Horangi-Clan versucht hat, Kontakt zu einigen Mitgliedern des Rates aufzunehmen.«

Ein eisiger Windhauch weht durch den Saal. Gänsehaut überzieht meine Arme. Das kann nicht sein.

»Der Rat hat dazu ein Treffen einberufen. Wir haben die Befürchtung, dass der exkommunizierte Clan einen neuerlichen Angriff auf unsere Gemeinschaft planen könnte. Daher rufen wir alle dazu auf, wachsam zu bleiben und die nötigen Sicherheitsvorkehrungen zu treffen. Solltet ihr einen der Gelehrten unerlaubterweise auf einem Grundstück der Gemeinde vorfinden, gebt uns unverzüglich Bescheid. Sollte ein Horangi versuchen, mit euch in Kontakt zu treten, geht auf keinen Fall darauf ein. Diese Leute sind gefährlich und sollten nach Möglichkeit gemieden werden.«

Nervöses Raunen breitet sich von der Mitte des Raumes aus wie Lava aus einem Vulkan. Eomma und Appa wechseln einen besorgten Blick, während ich unwillkürlich zu der roten Jaspisstatue der Bergtiger-Göttin – der ehemaligen Schutzgöttin des Horangi-Clans – und den leeren Bänken davor hinüberschaue.

Die Horangi-Gelehrten waren nicht immer verflucht. Vielmehr waren sie in der magischen Gemeinschaft für die Pflege von Wissen und Wahrheit zuständig. Sie behüteten die heiligen Schriften in der Bibliothek und wurden allseits respektiert, wenn nicht sogar verehrt.

Doch vor nicht ganz 13 Jahren änderte sich das plötzlich. Laut Tante Okja wurde der Clan unter der Führung seiner neuen Ältesten, Ms Kwon, auf einmal total machtbesessen. Ms Kwon behauptete, sie habe herausgefunden, wie Hexen so mächtig wie die Göttinnen werden könnten. Sie wollte alles daransetzen, dass die Gelehrten selbst göttlichen Rang erreichten. Als die anderen fünf Clans sie der Ketzerei bezichtigten, rief Ms Kwon die Horangi zum Angriff auf die Gemeinschaft auf. Man war entweder auf ihrer Seite oder gegen sie.

Zum Glück konnten die Gelehrten aufgehalten werden, bevor ein Krieg ausbrach. Dennoch kamen mehrere unschuldige Hexen ums Leben, darunter die damalige Gom-Älteste und Mutter meines besten Freundes Emmett.

Zur Strafe verfluchte die Bergtiger-Göttin den Horangi-Clan und entzog ihnen ihre Magie. Der Fluch reichte so weit, dass jeder, der dabei erwischt wurde, mit dem Clan zu kollaborieren, ebenfalls seine Magie verlor. Wie ihr euch vorstellen könnt, blieb dem Rat keine andere Wahl, als die Horangi aus der Gemeinschaft zu verbannen. Ihre Machtgier hatte die Gelehrten unvernünftig gemacht und damit letztlich zu ihrem Untergang geführt. Eigentlich eine traurige Geschichte.

»Und mit dieser recht bedrückenden Mitteilung beenden wir den heutigen Gottesdienst«, schließt Mr Hong. »Mago sei auch in der kommenden Woche mit euch.«

»Mago sei mit dir«, antwortet die Gemeinde im Chor.

Wenig später versammeln sich die ersten Kinder und Jugendlichen in der Nähe des Aufzugs, von wo aus es zur Samstagsschule im Nachbargebäude geht. Hattie flitzt noch schnell aufs Klo, während ich Professor Ryus Dauerwelle über dem Meer aus Köpfen wogen sehe. Mein Herz rast. Hoffentlich funktioniert unser Plan.

»Yuna, hast du einen Augenblick?«

Als ich mich umdrehe, steht Tante Okja in ihrem umwerfenden goldenen Hanbok vor mir. Sie sieht so anmutig und selbstsicher aus wie immer.

»Aber natürlich, Tante O.« Ich lächle sie voller Wärme an. »Was gibt’s?«

»Es tut mir so leid wegen deiner Zeremonie. Ich habe alles gegeben, aber der Rat hat mich überstimmt.« Sie streicht mir eine lose Strähne hinters Ohr, und ich schmelze unter dieser zärtlichen Geste dahin. »Du weißt, dass ich immer auf dich achtgebe, oder? Dass ich nur das Beste für dich will, auch wenn es manchmal nicht so erscheinen mag?«

Ich nicke und blicke zu Boden. »Ich weiß, Tante O.«

Eine Sekunde lang würde ich ihr am liebsten alles verraten. Ich möchte ihr von unserem Plan, Eommas Zauberbuch zu stehlen und Hatties Magie auf mich zu übertragen, erzählen. Vielleicht würde sie es mir dann ausreden. Oder sie würde anbieten, uns zu helfen. Schließlich hat sie gerade gesagt, dass sie nur das Beste für mich will …

Doch die Gelegenheit verfliegt, als Mrs Lee, die Tokki-Älteste, dazukommt und Tante Okja mitnimmt. Es geht um irgendwelchen dringenden Ratskram.

»Ach, übrigens, ich habe ein paar Ideen für eine Kampagne für mehr Diversität und Inklusion«, sagt Tante Okja zu mir, bevor sie sich zum Gehen wendet. »Kann ich sie nachher mit dir besprechen?«

»Na klar«, sage ich. »Ich freu mich drauf.«

»Das Einzige, worauf du dich freuen solltest, ist, die Hälfte meiner Magie abzubekommen«, flüstert Hattie und zieht mich zu den anderen rüber. »Und ja, ich weiß, was du denkst. Und nein, wir bitten Tante O nicht um Hilfe.«

Ich wende den Blick ab, um das schlechte Gewissen zu verbergen, das mir in magogroßen Buchstaben ins Gesicht geschrieben steht. Für Hattie bin ich ein offenes Buch.

»Aber vielleicht würde sie uns ja helfen?«, werfe ich vorsichtig ein.

Hattie schnaubt. »Du musst noch so viel lernen, kleiner Grashüpfer. Sie ist eine Älteste aus dem Rat. Wenn Eomma uns schon nicht hilft, dann sie erst recht nicht. Wenn wir das durchziehen wollen, sind wir auf uns allein gestellt.«

Ich runzle so angestrengt die Stirn, dass mein Auge zuckt.

»Wenn es umgekehrt wäre, würdest du das dann auch für mich tun?«, fragt sie.

»Ohne jeden Zweifel«, antworte ich prompt. »Das weißt du doch.«

»Dann wäre das geklärt«, sagt sie grinsend. »Und nun haben wir einen verzauberten Safe zu knacken.«

3.

Selbst Hexen gehen zur Schule

Das Gebäude neben dem H-Mart ist ein Noraebang. Norae ist Koreanisch für Lied, und bang heißt Raum. Ein Noraebang ist also ein Liederraum – genauer gesagt: eine Karaokebar. Dort treffen sich Teenager mit ihren Freunden, um abzuhängen und lauthals ihre Lieblingshits zu singen. Zufällig verbirgt sich dort ein weiterer Geheimeingang, nämlich der zur Samstagsschule.

»OMG, könnt ihr das mit den Horangi glauben?«, krakeelt Jennie Byun mit ihrer nervtötend lauten Stimme, als wir durch die Türen von Gangnam Style Karaoke treten. Alles an ihr – von ihrer unsichtbaren Zahnspange über die manikürten Nägel und das Ralph-Lauren-Polokleid bis hin zu ihrer perfekten Designer-Handtasche – regt mich auf. »Meine Mom hat mir erzählt, dass unser Samjogo-Ältester heute Morgen eine Vision hatte, als er die Theke mit den Grillhühnchen berührt hat. Und jetzt haltet euch fest: Die exkommunizierte Horangi-Älteste – Ms Kwon – hat versucht, in den Tempel einzubrechen. Krass, oder?«

Unsere Gruppe besteht aus ungefähr zwanzig Leuten, und gut drei Viertel davon hängen an Jennies Lippen, als ginge es um Leben und Tod.

»Niemaaaaals«, rufen ein paar.

»Du hast echt immer die besten Storys«, meint jemand anderes.

Jennie grinst. »Dochmals. Ihr wisst schon, dass unser Clan quasi der mächtigste von allen ist? Ich meine, es gibt schon einen Grund, warum der Vorsitz über den Rat immer an jemanden von den Sehenden geht.«

Hattie und ich stöhnen wie aus einem Mund auf. Jennie Byun – der nervigste Mensch aller drei Reiche – ist eine Seherin. Die Angehörigen des Samjogo-Clans müssen einen Gegenstand nur anfassen, um eine Vision zu bekommen. Außerdem haben sie Vorahnungen in ihren Träumen, und die mächtigsten Samjogo können sogar durch Raum und Zeit sehen, was zugegebenermaßen schon ziemlich cool ist. Aber bei uns gibt es einen Insiderwitz, dass ihr Motto eher Macht und Ego sein sollte, nicht Führung und Weisheit. Appa sagt, sie sind so voll heißer Luft, dass es ein Wunder ist, dass ihre Füße noch auf dem Boden stehen.

»Und wisst ihr, was ich sonst noch gehört hab?«, fährt Jennie fort. »Diese ganzen Pläne, die magische Bibliothek wieder zu öffnen, sind gelogen. Seit die Gelehrten verbannt worden sind, hat der Rat es nie geschafft, sie zu reaktivieren. Und nun, da die Gefahr besteht, dass die Horangi zurückkommen, haben die Ältesten die stärksten Wächter vor dem Eingang postiert. Stimmt doch, oder Noah?«

Noah Noh, ein Miru-Wächter, dreht sich um, als wir die Treppe des Noraebang hinaufsteigen. »Es stimmt auf jeden Fall, dass die Wächter da an einem streng geheimen Projekt arbeiten. Mehr weiß ich aber auch nicht.«

Mit einem Schaudern denke ich daran, welchen Schaden der Horangi-Clan angerichtet hat. Wären sie nicht gewesen, würde Emmett immer noch der Gemeinschaft angehören. Seine Mom hat einen Saram geheiratet (wodurch Emmett halb Saram, halb magischer Abstammung ist), und sie war eine der Ersten, die sich für mehr Inklusion in den Clans ausgesprochen hat. Eomma sagt, Mrs Harrison und meine Tante Okja waren beste Freundinnen. Nach Mrs Harrisons Tod hat Tante O den Posten als Gom-Älteste von ihr übernommen.

»Na, meine Mom irrt sich jedenfalls nie, ihr habt es also als Erstes von mir gehört«, verkündet Jennie. »Dankt mir später.« Sie wirft ihr Haar so schwungvoll zurück, dass es mir ins Gesicht peitscht. Was irgendwie schmerzhafter ist, als man erwarten würde.

»Muss das sein?«, protestiere ich. »Schon mal was von Höflichkeitsabstand gehört, Jennie?«

Sie plustert sich auf und durchbohrt mich mit einem mörderischen Blick. »Wag es nicht, mir zu sagen, wie ich mich verhalten soll, du Möchtegernhexe.«

Ich ziehe den Kopf ein, wodurch Hattie erst richtig in Fahrt kommt. »Pass auf, was du sagst, Jennie! Nur Feiglinge mobben.«

»Ich bin kein Feigling!«,

»Dann hör auf zu mobben!«

Jennie schnaubt entrüstet und stürmt davon.

Wie gesagt: die nervigste Person aller drei Reiche.

Am Empfang warten zwei Leute auf uns, die aussehen wie College-Studenten. Die junge Frau frischt ihr Make-up auf (das auch so schon makellos ist) und murmelt kaum hörbar einen Zauberspruch, woraufhin sich die rosa Strähnen in ihrem Haar silbern färben. Eindeutig eine Gumiho-Illusionshexe.

Im Gegensatz zu den Gom, die trotz ihrer heilenden Kräfte außerstande sind, sich selbst zu heilen, können die Gumiho ihr eigenes Äußeres ändern. Das liegt an ihrer wunderschönen Schutzgöttin, der Neunschwänziger-Fuchs-Göttin. Deswegen sehen sie alle so unglaublich gut aus, und viele von ihnen werden K-Pop-Stars oder Schauspieler. Von BTS sind alle bis auf einer Gumiho. Ohne Witz.

Der Typ am Empfang trägt ein ärmelloses blaues Shirt mit dem Bild eines Drachen, der in einem Fluss schwimmt. Auf der Brust des Drachen steht F&S 4EVER, und ich kann nicht umhin, die Detailversessenheit des Typen zu bewundern. Der Saram-Kundschaft hier wird das nichts sagen, aber für uns ist es ein offensichtlicher Hinweis darauf, dass er ein Miru-Wächter ist. Fürsorge und Schutz ist ihr Motto, und Blau ist die Farbe ihres Clans.

Professor Ryu reibt ihre Handgelenke aneinander und zeigt den beiden ihr grünes Mal. Die Gumiho-Hexe nickt und gibt dem Miru-Wächter ein Zeichen. Er flitzt so schnell los, dass nur ein Windstoß von ihm übrig bleibt, und einen Wimpernschlag später ist er schon wieder zurück – mit einem Umschlag in der Hand. Übermenschliche Geschwindigkeit muss im Straßenverkehr von L.A. unfassbar nützlich sein.

Er gibt Professor Ryu den Umschlag. »Nummer 18, Professor.« Dann wendet er sich mit einem geradezu wehmütigen Ausdruck an uns. »Viel Spaß, Leute. Ich erinnere mich noch gerne an die gute alte Zeit der Samstagsschule.«

Professor Ryu führt uns zur Nummer 18, einem fensterlosen, schwach beleuchteten Raum, der ungefähr so groß ist wie mein Zimmer zu Hause. Es riecht nach Cheetos, Root-Beer und etwas Säuerlichem, von dem ich lieber nicht so genau wissen möchte, was es ist. Szenen aus Musikvideos und zur Auswahl stehende Songtitel flackern über den großen Fernseher an der Wand. Gegenüber steht eine große, wie ein C geformte Couch, und dazwischen befindet sich ein flacher Tisch mit einem Ordner voller Songtexte, einer Fernbedienung, mehreren Mikros und einer Federboa. Cosette Chung, eine superhübsche Gumiho-Hexe (die leider zugleich Jennies engste Verbündete ist), schnappt sich die Federboa und wirft sie sich um. Ich muss sagen, es ist einfach nicht fair, wie gut ihr dieses billige pinke Flauscheding steht.

Jetzt endlich öffnet Professor Ryu den Umschlag, der den Titel des Songs enthält, der diese Woche den Illusionszauber bricht. »›Fake Love‹ von BTS«, verkündet sie, woraufhin alle triumphierend grinsen. Der ist zwar schon etwas älter, aber immer noch gut.

»Wenn wir zu Jimins und Jins Part kommen«, erklärt sie, »müssen wir einfach nur die Worte fake love durch secret life ersetzen. Alle bereit?«

Mit der Fernbedienung wählt sie den Song aus. Musik erklingt, die gesamte Klasse stellt sich vor den großen Fernseher, und gemeinsam singen wir uns die Seele aus dem Leib.

I’m so sick of this fake lovesecret life, fake lovesecret life, fake lovesecret life

I’m so sorry but it’s fake lovesecret life, fake lovesecret life, fake lovesecret life

Kaum dass wir die letzten Worte ausgesprochen haben, beginnt sich der Illusionszauber der Gumiho aufzulösen. Die schäbigen Wände schimmern, als wären sie aus silbrigem Wasser, und schmelzen wie heißes Kerzenwachs.

Im nächsten Moment ist das Noraebang verschwunden, und wir stehen in einem geräumigen, hell erleuchteten Klassenraum mit Sitzsäcken anstelle von Pulten und Stühlen. Drei der Wände sind mit Landschaftsansichten bemalt, die so realistisch und detailgetreu wirken, dass sie auch Fotos sein könnten.