Die Magie der Glanzlichter - Isabella Mey - kostenlos E-Book

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Isabella Mey

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Beschreibung

Eine verbotene Liebe in einer fremden Welt voller Magie Anspannung, Angst, der verblüfft-wütende Ausdruck in Berkats Gesicht und die absurde Idee meiner Schwester vermengen sich zu einem explosiven Gefühlscocktail in meinem Inneren. Voller Entsetzen spüre ich, wie sich meine Magie zusammenbraut und nach außen drängt. Panisch rutsche ich unter den Tisch, wobei im selben Augenblick helles Licht aus meinen Augen strahlt. Ich kneife die Lider zusammen, presse meine Handflächen auf die Augen und bete, dass niemand etwas gesehen hat. »Leanah! Rucht Femmock! Komm sofort unter dem Tisch hervor!«, schimpft Berkat. »Was ist nur in euch Weiber gefahren? Wenn ihr mich für dumm verkaufen wollt, werdet ihr es bitter bereuen!« Erleichtert merke ich, wie die Magie abflaut. Ich atme tief durch und krabbele langsam unter dem Tisch hervor. Berkat steht breitbeinig im Raum, die Hände in die Hüften gestemmt. Ein Fantasy-Liebesroman. Erster Teil der abgeschlossenen Lichtertanz Trilogie 1912 wird Atlatica vom grausamen Lord Sorbat beherrscht. Leanah bekommt davon jedoch nicht allzu viel mit, da sie abseits der großen Straßen, am Rande der Zone der Monster wohnt. Dort kämpft sie sich als Tochter eines Schafbauern durch ihren harten Alltag. Sorbats Magier sind bei der einfachen Bevölkerung verhasst, nicht nur deshalb versucht Leanah, ihre magische Begabung vor allen zu verbergen. Ihr Leben gerät jedoch vollkommen aus den Fugen, als sie auf die Burg des Lords gebracht wird, um dort zu dienen. In Frankfurt am Main ahnt Silas, der Sohn eines Arztes, nichts von den Lords oder Atlatica. Erst nachdem seine Eltern entführt werden und er selbst ins Visier der Verfolger gerät, muss er sich nicht nur den Gefahren einer fremden Welt voller Magie stellen, sondern auch seinen Gefühlen für eine Frau, die nicht für ihn bestimmt ist. Lichtertanz Band I – Die Magie der Glanzlichter Band II – Die Magie der Goldwinde Band III – Die Magie der Lichtkristalle (Finale)

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Isabella Mey

Die Magie der Glanzlichter

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

LICHTERTANZ - Magie der Glanzlichter

 

LICHTERTANZ

 

Die Magie der Glanzlichter

 

Isabella Mey

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Prolog

 

Es gibt Menschen, zu denen fühlen wir vom ersten Augenblick an eine tiefe Verbindung. Wir glauben, beinahe verrückt zu werden, weil es unserem Verstand nicht gelingt zu erklären, woher die intensiven Gefühle stammen, weshalb dieser besondere Mensch uns so vertraut erscheint, als würden wir ihn schon immer kennen und weshalb wir nicht aufhören können, an ihn zu denken.

Vielleicht glauben wir, endlich im Himmel des Glücks angekommen zu sein, doch in Wahrheit sind wir mit dieser Begegnung noch lange nicht am Ziel, viel mehr beginnt erst jetzt unsere Reise mit der Suche nach dem Ursprung von allem.

 

 

1 – Maischamehl und Wolle

Leanah

 

1912, Atlatica unter der Herrschaft von Lord Nehef Sorbat

 

Es fühlt sich so an, als würde mich jemand beobachten. Das kam in den letzten Tagen häufiger vor und doch war es nie mehr als ein bloßes Gefühl gewesen, ohne sichtbare oder hörbare Anzeichen. Wider aller Vernunft gelingt es mir nicht, dieses Gefühl abzuschütteln. Ständig sehe ich mich nach allen Seiten um, lausche jedem Geräusch und glaube langsam schon, verrückt zu werden. Besonders intensiv verfolgte mich dieser Eindruck in meiner geheimen Höhle, sodass ich es dort nicht lange ausgehalten habe. Aber vielleicht war das besser so. In letzter Zeit hat es mich viel zu oft dort hingezogen, doch das erhöht nur die Gefahr, entdeckt zu werden und damit, mein Geheimnis preiszugeben. Noch weiß niemand, dass ich eine von ihnen bin und das muss auch so bleiben. Ich schäme mich so dafür und dennoch kann ich nicht widerstehen, die Magie ab und zu freizulassen.

Fröstelnd trete ich durch die Tür unseres Hauses und klopfe den Schnee von meinen Haaren und aus dem Mantel. Wie die meisten Bauernhäuser besteht das unserer Familie aus im Kreis gewachsenen Giebelbäumen. Stämme und Äste bilden das Gerüst eines zwiebelförmigen Gebäudes, wobei alles Holz oben miteinander zu einem dicken Stamm verwächst, um in luftiger Höhe ein mächtiges Kronendach auszubilden. Die Lücken des Gerüsts werden von milchigen Glasscheiben im Wechsel mit einer gehärteten Tonschicht ausgefüllt, welche elastische Eigenschaften besitzt, sodass sie dem Wachstumsdrang der lebenden Teile nachgeben.

Wenigstens im Inneren des Hauses fühle ich mich unbeobachtet. Aber wahrscheinlich bilde ich mir das Ganze sowieso nur ein.

Ich streife mir die Stiefel von den Füßen und stülpe sie umgekehrt auf die Holzstangen des Schuhregals. Heute gesellt sich zum Stallmist auch noch reichlich Schnee dazu, welcher sich im Profil festgesetzt hat. Den Mantel hänge ich ebenfalls auf und schlüpfe in meine Fellschuhe. Doch ohne die wärmende Hülle beginne ich nun zu bibbern, denn im Vorraum hat sich die Kälte festgesetzt. Eilig trete ich daher in die Wohnstube und schließe die hölzerne Tür sorgfältig hinter mir.

Vier gepolsterte Sessel hängen an dicken Seilen von der Decke aus miteinander verwachsenen Ästen herab. Gerne würde ich mich jetzt in die Sessel hineinlegen, doch dafür bleibt selten Zeit. Stattdessen gehe ich daran vorbei, genau wie an unserem großen, runden Esstisch, bis zum Kochbereich. Das Feuer im Ofen ist fast ausgegangen, sodass ich dringend Holz nachlegen muss. Rechts in der Ecke türmen sich die Scheite auf – normalerweise. Durch den unerwarteten Kälteeinbruch ist der Stapel bis auf ein kleines Häufchen zusammengeschrumpft. Mit dem Schürhaken und den restlichen Holzscheiten bringe ich das Feuer wieder zum Auflodern. Danach fülle ich Maischamehl in eine Holzschale. Nach jahrelanger Übung weiß ich ganz genau, welche Menge ich benötige.

Ein langgezogenes Stöhnen erfüllt den Raum und bringt mich innerlich zum Zittern. Das Geräusch begleitet mich fast mein halbes Leben lang und doch jagt es mir noch immer einen kalten Schauer durch die Glieder, lässt meine Haare zu Berge stehen, so als kratzte man mit den Fingernägeln über glatt polierten Schiefer. Doch dies liegt weniger am Klang des Stöhnens, sondern viel mehr an der Person, die diesen Laut des Schmerzes von sich gibt. Denn ich kann das Leid förmlich an meinem eigenen Körper spüren, wenn sich meine Mutter mit schmerzverzerrtem Gesicht bewegt. Selbst ihre Augen füllen sich manchmal mit Feuchtigkeit, wenn sie stöhnend ihren Hängesessel verlässt, um den Waschraum aufzusuchen oder sich die Beine zu vertreten.

Nicht selten ertappe ich mich bei dem Wunsch, sie würde einfach weiter bewegungslos in ihrem Sessel liegen bleiben und schlafen. Doch ich weiß ganz genau, dass ihre Muskeln verkümmern und die Sehnen steif werden würden, wenn sie nur herumliegt. Seit meine Mutter vor drei Jahren von der Moorkrankheit heimgesucht wurde, leidet sie unter unerträglichen Schmerzen in den Gelenken. Sie hat es einmal beschrieben wie die winzigen Nadeln der Baumkakteen, die bei jeder Bewegung ein Meer an Stichen verursachen. Normalerweise hinterlässt die Moorkrankheit nach zweitägigem Fieber keine körperlichen Schäden – auch mein älterer Bruder Mikáso hat sich damals ohne Nachwirkungen angesteckt – doch in seltenen Fällen kommt es zu Komplikationen, welche einen Menschen zu einem Leben in Leiden verdammen.

Meine Mutter liegt in einem der Hängesessel und hat sich eben aufgerichtet. Bestimmt wird sie sich gleich herausquälen. Genau wie meine Schwester Thera würde ich Mama gerne dabei zu Hilfe eilen, aber das lehnt sie energisch ab, da ihr Körper noch immer funktioniert und sie sich nicht wie einer der alten Krüppel fühlen will, die an den Straßenecken der Städte betteln. Um das Elend nicht auch noch untätig mitansehen zu müssen, konzentriere ich mich darauf, den Mehlberg in meiner Holzschale mit warmem Wasser zu vermengen.

Vielleicht ist es ja sogar ein Glück, dass die Krankheit außerdem eine andauernde Müdigkeit verursacht. Kann sein, dass es ein bisschen selbstsüchtig ist, froh darüber zu sein, dass Mama die meiste Zeit des Tages schläft, damit ich nicht so oft daran erinnert werde, wie sehr sie leidet.

»Es ist so kalt heute. Hast du den Ofen angeheizt, Leanah?«, fragt meine Mutter, nachdem sie es unter Ächzen endlich geschafft hat, sich aus dem Sessel zu quälen. Häufig sitzt neben ihr mein Opa, doch heute hat es ihn trotz des Schnees – oder vielleicht sogar gerade deshalb, denn er wirkt ein wenig wirr im Kopf – nach draußen gezogen. Dafür steht meine Mutter heute erstaunlich aufrecht im Raum und sieht mich aus ihren klaren blauen Augen liebevoll an. Die Augen habe ich eindeutig von ihr, auch mein Gesicht sieht dem ihrem sehr ähnlich, nur dass sich bei meiner Mutter graue Strähnen und ein paar Falten eingeschlichen haben, woran vermutlich ihre Dauerschmerzen die Hauptschuld tragen. Das schulterlange, leicht gewellte Haar müsste mal wieder gekämmt werden, aber mich lässt sie das nicht machen und für sie bedeutet es eine Tortur. Wie so oft trägt meine Mutter Denya ihr Lieblingskleid aus grüner Glitzerwolle. Meines dagegen ist eisblau, was sich bestimmt mit meiner graublauen Iris beißt, aber das kann ich selbst ja nicht sehen. Überhaupt bleibt auf dem Schäferhof meiner Eltern wenig Zeit, mir über solche Dinge Gedanken zu machen. Unser Hof gehört zu den Größten in der Region und unsere farbigen Wollschafe blicken auf einen langen Stammbaum edler Zuchtschafe zurück. Wir liefern Wolle in fast allen Grundfarben, während die wertvollsten mit besonderen Schiller-, Glitzer- oder Leuchteffekten aufwarten können. Eigentlich sollte es unserem Hof gutgehen, doch es fehlt ständig an etwas. Zu gerne hätte ich gewusst, wofür Vater die vielen Tinnis und Toloits ausgibt, die er mit der Wolle verdient, welche meine Schwester und ich tagtäglich waschen und spinnen. Als Mama noch gesund war, hat sie daraus sogar edle Stoffe gewoben, aber das schafft sie jetzt leider nicht mehr. So verkaufen wir die gesponnene Wolle an die Weberei oder auf dem Zehntagsmarkt in Mistad.

»Das Feuer brennt, aber es ist vorhin ausgegangen, als ich die Tiere gefüttert habe, deshalb dauert es noch eine Weile, bis es hier drin wieder richtig warm wird‹‹, erkläre ich ein wenig außer Atem, weil ich den Brotteig gerade kräftig durchknete. Ich kann mich an genau zwei Kaltzeiten erinnern, in denen wir auf Atlatica Schnee hatten, eine davon ist diese. So eisig wird es hier nur selten. Schnee findet man sonst eigentlich nur auf den höchsten Gipfeln des Shikoat-Gebirges.

»Danke, Leanah! Es ist ungewöhnlich kalt geworden, dieses Jahr«, spricht Denya meine Gedanken aus.

Ich walke den Teig gründlich durch und schiele zu meiner Mutter hinüber, die sich unter Ächzen die Hände reibt und hineinhaucht, wobei sich ihr Atem in kleinen Nebelwölkchen verflüchtigt.

»Stimmt, über Nacht hat es sogar geschneit. Woran kann es liegen, dass wir um diese Zeit solchen Frost haben?«

Meine Mutter schnaubt verächtlich.

»Du weißt doch, dass wir hier umgeben sind von Femmockmagiern! Es gibt nichts, was die nicht zustande bringen und nicht einer von ihnen zögert, seine Macht gegen uns einfache Menschen zu missbrauchen«, schimpft meine Mutter und wie immer wird mir flau im Magen bei diesem Thema.

Du bist eine von ihnen!, dröhnen die Worte meiner verstorbenen Großtante Tyra in meinem Kopf.

»Aber … findest du nicht, dass es übertrieben ist, alles und jedes den Magiern zuzuschreiben? Ich meine, das Wetter könnte sich doch auch aus anderen Gründen verändern.«

Nur schwerlich gelingt es mir, meine Stimme gleichgültig klingen zu lassen, zu sehr schmerzt mich der Umstand, dass meine eigene Mutter Menschen, die wie ich Magie wirken können, verachtet.

»Welche Gründe wären das schon? Wir hatten genau zwei Mal in zwanzig Jahren Schnee. Das kann doch nicht mit rechten Dingen zugehen, Leanah.«

Zwecklos, weiter darüber zu streiten, außerdem könnte es mich verraten.

»Ja, vielleicht …«, lenke ich sicherheitshalber ein und baue meine inneren Spannungen stattdessen dadurch ab, dass ich den Teig mit Wucht auf die steinerne Arbeitsplatte knalle.

Nein, ich darf auf keinen Fall den Eindruck erwecken, dass ich das Treiben der Magier in Schutz nehmen würde. Und genau genommen besteht dazu auch kein Grund. Tatsächlich behandeln sie uns einfache Menschen schlecht. Sie stellen die Regeln auf, nehmen sich alle Rechte heraus, uns zu gängeln, zu bestrafen, auszunutzen und zu demütigen. Und wir nichtmagischen Menschen haben keine Chance, uns gegen sie zu wehren.

Wir nichtmagischen Menschen!

So ist es nun mal. In meinem Herzen gehöre ich nicht zu den Magiern und ich weigere mich, weiter darüber nachzugrübeln, ob das so stimmt.

»Thera melkt noch die Kuh?«, unterbricht Denya meine düsteren Gedanken.

»Ja, sie müsste gleich fertig sein«, antworte ich keuchend und werde mir erst da bewusst, mit welcher Wucht ich den Teig malträtiere.

Er müsste jetzt genug durchgeknetet sein. Ich rolle ihn zu einer langen Wurst. Dann sehe ich zu meiner Mutter auf, zwinge mich zu einem Lächeln.

»Du bist ein liebes Kind«, sagt Denya wie so oft.

Bin ich das wirklich? Würde meine Mutter das auch zu mir sagen, wenn sie wüsste, dass ich eine Magierin bin?

Denya wendet sich ab und stakt zum Vorraum, von dem man sowohl nach draußen als auch zum Badom gelangt, als würden ihre Füße über Nagelbretter wandern – jedoch ohne einen Ton von sich zu geben. Aber dieses schweigende Leiden erscheint mir beinahe noch unheimlicher als das Stöhnen.

Nun bleibe ich allein zurück mit meinen Gedanken und dem Brotteig, den ich nun in vier gleich große Stücke teile und diese dann zu Laiben forme. Gehackte Nüsse kommen oben drauf. Der Ofen ist inzwischen heiß genug, sodass ich die Brote hineinschieben kann.

Eigentlich wäre jetzt Zeit, mich ans Spinnrad zu setzen, doch ich fühle mich erschöpft. Wenigstens ein paar Minuten Ruhe möchte ich mir gönnen. Selten ist die Verlockung so groß und dieses Mal kann ich einfach nicht widerstehen. Es ist keiner da, der mich dafür kritisieren könnte, so lasse ich mich in einem der vier Hängesessel nieder, bringe ihn ein wenig zum Schaukeln, lehne mich zurück und schließe die Augen.

In meinem Kopf beginnt es schummrig zu werden, während mein Körper die Entspannung förmlich in sich aufsaugt. Es duftet nach Holzfeuer und Schafwolle, die in ihrer Kiste darauf wartet, gesponnen zu werden. Ich döse so vor mich hin, wobei ich zunehmend gegen das Einschlafen ankämpfen muss. Eine warme Hand auf meinem Arm lässt mich zusammenzucken.

»Leanah! Steh auf! Du kannst doch jetzt nicht schlafen! Stell dir vor, Berkat kommt herein und erwischt dich dabei!«

Das erschrockene Gesicht meiner Schwester Thera schaukelt vor mir, als ich schlaftrunken die Lider öffne.

»Ach, ich weiß auch nicht, was mit mir los ist …«, stöhne ich. »Ich war auf einmal so müde.«

Thera ist mit ihren sechzehn Jahren nur eines jünger als ich und man kann deutlich sehen, dass wir Geschwister sind, denn wir haben eine ähnliche Gesichtsform, die gleichen graublauen Augen und dunkelblondes Haar mit leichtem Rotstich. Allerdings beschreiben die meinen sanfte Wellen, während ihre vollkommen glatt herabhängen. Da wir es aber während der Arbeit mit einem Haartuch zusammenbinden, sieht man den Unterschied tagsüber ohnehin nicht. Meine Schwester ist für mich der beste und liebste Mensch. Wir halten immer zusammen und teilen alle Geheimnisse – na gut, fast alle. Genau wie ich, trägt sie heute ein hellblaues Wollkleid. Meine Schwester macht sich oft einen Spaß daraus, die gleiche Stofffarbe herauszusuchen wie ich, was allerdings nicht allzu schwer ist, bei der geringen Auswahl von vier Alltags- und einem mit glitzerfaden besticktem Festkleid für besondere Anlässe. Das ist immerhin doppelt so viel, wie die Bauernmädchen normalerweise besitzen, aber da wir als Schafbauern unsere eigene Wolle spinnen und für uns selbst auch weben, haben wir genug Stoff zur Verfügung.

Maischa bauen wir hauptsächlich zum Brotbacken an, aber auch als Kraftfutter für die Tiere. Neben den wenigen Schafbauern gibt es viele reine Maischabauern, Obst- und Gemüsebauern, Kräuter- und Pilzbauern sowie Vielviehbauern, die von allem etwas halten und anbauen.

»Beinahe wäre das Brot verbrannt«, sagt meine Schwester und deutet auf die vier Laibe, die bereits fertig gebacken auf dem Holztisch liegen. In Theras Stimme klinkt kein Vorwurf, sondern viel mehr Besorgnis.

»Ich muss doch eingenickt sein …«, stöhne ich und klettere hastig aus dem Hängesessel. »Ein Glück, dass du rechtzeitig zurückgekommen bist.«

Für verbrannte Brote hätte ich unvorstellbaren Ärger bekommen.

»Was ist denn los? Du wirst doch nicht etwa krank?«

Meine Schwester drückt mir ihre Hand auf die Stirn.

»Ach was! Ich war einfach nur müde.«

»Hm, heiß bist du nicht«, stellt sie fest und nimmt ihre Hand wieder runter. »Trink schon mal ein paar Schlucke Milch und dann lass uns mit dem Spinnen anfangen, bevor Berkat zurückkehrt!«

Unser Vater besteht darauf, dass wir ihn Berkat nennen. Das gilt allerdings nur für uns Frauen, sein Lieblingssohn Mikáso darf Papa zu ihm sagen. Nicht selten habe ich mich gefragt, ob ich vielleicht gar nicht die richtige Tochter meiner Eltern bin, denn beide sind eindeutig keine Magier und es ist mir ein Rätsel, weshalb ich diese Fähigkeit entwickeln konnte. Aber vom Aussehen her bin ich eindeutig ihr Kind. Zum Beispiel habe ich genau wie Thera die charakteristischen Ohren meines Vaters geerbt. Sie verlaufen ungewöhnlich schmal und beschreiben nach hinten einen kleinen Höcker, nicht groß, aber doch so ungewöhnlich, dass er auffällt, wenn man sich die Ohren näher betrachtet. Auch der Nasenrücken, der eine sehr sanfte S-Kurve beschreibt, stammt von Berkat. Ansonsten gleichen meine Gesichtszüge, Haare und Augen denen meiner Mutter. Daher ist es eigentlich ausgeschlossen, dass ich von anderen Eltern abstamme.

Mikáso dagegen hat tatsächlich eine andere Mutter. Berkat war zuvor schon einmal verheiratet gewesen. Ich vermute, dass er Mikáso deshalb bevorzugt, weil er diese Frau sehr geliebt hat, auch wenn er nie über sie spricht. Soweit ich weiß, kam sie bei einem Feuer ums Leben, für das mein Vater den Magiern die Schuld gibt.

Ich nehme ein paar Schlucke der frisch gemolkenen Kuhmilch. Sie ist noch immer warm. Selbst habe ich noch nie melken dürfen. Das liegt daran, dass mir immer wieder Tiere folgen, nachdem ich sie berührt habe. Ich weiß nicht, ob das ein Effekt meiner Magie sein könnte – zum Glück kam meine Familie bisher nicht auf solche Ideen. Doch es macht mich traurig, dass ich sie nicht berühren darf, denn ich mag unsere Tiere sehr. Meinen Vater kostete es in meiner Kindheit jedoch viele Nerven, wenn Schafe oder Hühner hartnäckig versucht haben, mir ins Haus zu folgen. Und nicht selten hat er diese Tiere dann auf dem Markt verkaufen müssen oder Schlimmeres, über das ich jetzt nicht nachdenken möchte. Aus diesem Grund übernimmt Thera das Melken und alle Arbeiten in der Nähe der Tiere, während ich Heuballen aus dem Lager durch das Futterloch in den darunterliegenden Stall zu werfen habe. Zum Säubern der Ställe darf ich erst hinein, wenn alle Tiere auf der Weide sind. Wir haben fünf Pferde, zwei Kühe, einen Hund, zweiundzwanzig Hühner und viele, viele Schafe. Bei der letzten Zählung waren es über zweihundert.

Nachdem ich mich mit der frisch gemolkenen Kuhmilch gestärkt habe, setzen sich Thera und ich nebeneinander an die Spinnräder. Meine Schwester stellt sich bei dieser Arbeit deutlich geschickter an als ich selbst. Ihr Faden verläuft fast immer schön gleichmäßig, während ich nicht selten damit zu kämpfen habe, dass er an zu dünnen Stellen auseinander reißt oder sich dicke Klumpen bilden. Ich beneide Thera darum, dass ihr das Spinnen so leichtfällt. Aber dafür kann sie ja nichts, daher ist es auch kein böser Neid.

Meine Schwester träumt oft in den Tag hinein und in der Gesellschaft von Fremden ist sie sehr schüchtern und still. Nur mir gegenüber zeigt sie ihre ganze Lebendigkeit.

Sie beginnt, die alte atlaticanische Weise von der gütigen Waldfrau zu summen und ich stimme mit ein. Das Singen erleichtert uns die Arbeit, doch mehr als ein Summen darf ich nicht von mir geben, ohne Gefahr zu laufen, ungewollt Magie freizusetzen. Die Musik öffnet mich und damit den Weg zu meiner Zauberkraft, die ich so krampfhaft zu unterdrücken versuche, die es nicht geben darf und die mich zu einer von ihnen macht.

»Sollten wir Großvater nicht langsam reinholen? Da draußen im Schnee friert er uns sonst noch fest«, meint Thera besorgt. »Und wo ist Mama überhaupt?«

»Sie müsste noch in der Wanne stecken. Ich würde vorschlagen, du siehst nach Denya und ich hole Aaran herein!«

»Gut!«

Wir verlassen die Spinnräder und während Thera durch den Vorraum zum Badom geht, schlüpfe ich in Stiefel und Mantel.

»Willst du nicht langsam raus aus der Wanne?«, höre ich die gedämpfte Stimme meiner Schwester durch die Tür zum Badom.

»Nein, das Wasser ist gerade so schön warm. Nach dem Frühstück kannst du gerne nochmal nach mir sehen, falls ich einschlafen sollte.«

Direkt über dem Küchenofen gibt es einen Wassertank, dessen Inhalt man über ein Rohr in die Badewanne leiten kann, daher wundert es mich nicht, dass Denya bei der Kälte gerne noch in der warmen Wanne entspannen will.

Als ich ins Freie trete, wirbeln dicke Flocken um mein Gesicht. Über Nacht ist die Schneedecke auf gute dreißig Zentimeter angewachsen und ein Ende ist nicht in Sicht. So sind Berkat und Mikáso gleich nach dem Aufstehen losgezogen, um die restlichen Schafe von der Weide zu holen. Nachts bleibt zwar ohnehin nur die robuste und wehrhafte Sorte draußen, aber die Tiere verfügen über ein großes Areal zum Grasen und bei diesem Wetter kommen die Faulwölfe gerne aus dem Wald, um zu jagen. Unser Hof befindet sich in den sogenannten Schafhügeln, am Fuße des Shikoat-Gebirges. Das auf der weitläufigen Hügellandschaft wachsende Pfeitgras bietet den Schafen zwar einerseits gute Nahrung, andererseits grenzt unser Land an die Zone der Monster. So nennen die Leute die Teile des Gebirges, in die sich die schlimmsten magischen Mutationen der Tiere zurückgezogen haben. Obwohl es viele Jäger auf Atlatica gibt, die versuchen, die Verbreitung der gefährlichen unter ihnen einzudämmen oder sie sogar auszurotten, können sie nicht überall sein und beschränken sich daher meist auf die bewohnten Gebiete, wozu der angrenzende Teil des Shikoat-Gebirges nun mal nicht zählt.

Kaum stehe ich im Freien, überkommt mich schon wieder das unangenehme Gefühl, beobachtet zu werden.

Aber wie kann das sein? Wer sollte bei diesem Wetter hier draußen herumstreunen? Sicher bilde ich mir das nur ein.

Ich stapfe über den zugeschneiten Hof und halte nach meinem Großvater Aaran Ausschau, was durch das dichte Schneegestöber und das allumfassende Weiß erschwert wird, welches nicht nur den Boden, sondern auch die Haus- und Stallwände, die Zäune, das Mugok-Becken, die Tränke und die Obstbäume bedeckt. Ich finde Großvater schließlich auf seiner Lieblingsbank unter den Apfelbäumen, wobei vor lauter Schnee nicht mehr viel von ihm herausschaut. Die Flocken bedecken den langen, weißen Bart genau wie die Haare, sodass nur noch Augen und Nase einen farblichen Kontrast bilden.

»Aaran! Komm doch rein! Du bist ja schon ganz voll Schnee!«, rufe ich, während ich auf ihn zu stapfe.

Stattdessen streckt der Alte seine Arme aus, als wollte er die Flocken willkommen heißen, die auf seinen warmen Handflächen schmelzen.

»Schneeeeee…«, bringt seine rostige alte Stimme hervor, als gäbe es nichts Schöneres auf der Welt.

Bei ihm angekommen, beginne ich gleich damit, die weiße Pracht von Haaren, Bart und Mantel zu streifen, was der Alte mit einem gleichmäßigen Summen kommentiert. Dabei weicht er außerdem vor meinen Bewegungen zurück, als wollte er mit mir spielen. Obwohl Aarans Augen trüb sind wie milchiges Glas und er lediglich Licht und Schatten zu unterscheiden vermag, findet er sich erstaunlich gut zurecht. Und auch, wie er meinen Bewegungen jetzt ausweicht, lässt kaum vermuten, dass er fast blind ist.

»Bald kehren Berkat und Mikáso zurück, dann essen wir. Komm doch ins Haus, Aaran!«, bitte ich den Alten.

Obwohl er sichtlich Freude hat am Schnee, sorge ich mich darum, dass es zu kalt für ihn wird. Er sitzt schon über eine Stunde hier draußen und gewiss hat die Feuchtigkeit bereits seinen Mantel durchdrungen.

»Berkats Herz ist eingefroren«, sagt er.

Aaran richtet diese Worte wie an eine unsichtbare Person im Schnee. Jedenfalls fühlt es sich nicht an, als ob er mit mir sprechen würde und ich weiß auch nicht, was ich darauf antworten soll. Tatsächlich bringt mir mein Vater nur wenig Gefühl entgegen, aber da er Mikáso gut behandelt, kann sein Herz nicht ganz so unterkühlt sein.

Ich habe schon fast die Hoffnung aufgegeben, dass ich meinen Großvater dazu bewegen könnte, mitzukommen, da stützt er sich doch endlich auf seinen Stock und richtet sich auf.

»Leanah, was glaubst du? Bringt Materie Bewusstsein hervor oder ist es doch umgekehrt, dass Bewusstsein Materie erschafft?«

»Äh, ich weiß nicht, Großvater …«

Aaran redet oft so wirres Zeug, was keiner versteht und meistens beachten wir es nicht weiter. Im Grunde kenne ich ihn nur so, aber ich frage mich, wie er wohl in seiner Jugend gewesen sein mag.

Ich hake mich bei ihm unter den stockfreien Arm und wir stapfen durch den knirschenden Schnee gemeinsam zurück zum Haus. Die schmelzenden Flocken kribbeln auf meinen Wangen und ich blinzele, weil einige versuchen, den Weg in meine Augen zu finden. Man sieht kaum noch drei Armlängen weit, so dicht fällt inzwischen der Schnee. Alles ist weiß und kalt.

Im Vorraum angekommen helfe ich meinem Großvater aus Mantel und Stiefeln, obwohl er das auch alleine könnte, aber ich mag es, für ihn da zu sein und außerdem wäre er wahrscheinlich nachlässig dabei, den Schnee abzuklopfen.

»Das Leben ist ein Geschenk«, schwärmt Aaran, als wir durch die Tür zur Wohnstube treten. »Wie herrlich es hier duftet!«

Wahrscheinlich meint er den Geruch des frisch gebackenen Brotes, der auch mir das Wasser im Mund zusammenlaufen lässt. Thera hockt auf ihrem Schemel am Spinnrad und sieht zu uns auf.

»Wie warʼs im Schnee, Aaran?«, fragt sie verschmitzt.

»Herrlich, mein Kind! Herrlich!«, schwärmt der Alte.

Dann helfe ich ihm in seinen Hängesessel. Mein Großvater beginnt sogleich, sanft zu schaukeln und summt dabei vor sich hin.

Mein Magen beginnt mittlerweile Purzelbäume zu schlagen vor Hunger, aber solange Berkat als Oberhaupt nicht die Erlaubnis zum Essen gibt, ist es keinem der Familienmitglieder gestattet. Das war schon immer so und bei allen anderen Bauernfamilien geht es genauso zu, deshalb kam es mir nie in den Sinn, dies zu hinterfragen. Und doch ruft es Unmut in mir hervor, ein Gefühl, das ich zu unterdrücken versuche, damit es mir keine Probleme beschert.

Ich geselle mich wieder zu Thera an mein Spinnrad, da höre ich, wie die beiden Männer das Haus betreten. Auch wenn sie noch nichts gesagt haben, kann ich mittlerweile am Getrappel und an der Wucht, mit der die Tür zugeknallt wird, genau unterscheiden, wer den Vorraum betritt.

»Leanah! Wo steckst du? Hilf uns aus den Stiefeln!«, schimpft Berkat prompt.

Ich springe auf und eile in den Vorraum. Wie zu erwarten sind die beiden Männer über und über mit Schnee bedeckt und eifrig dabei, sich diesen abzuklopfen. Berkat streckt mir seinen Stiefel entgegen und ich habe alle Mühe, ihn von seinem Fuß zu ziehen. Mein Vater ist ein großer, kräftiger Mann mit stechenden Augen und einem Bart, der noch nicht als Vollbart zu werten ist, aber auch schon über die drei Tage hinausgeht. Sicher ist es nicht einfach, ihn immer genau in dieser Länge zu halten.

»So früh am Morgen, und wir haben schon ganze Männerarbeit geleistet!«, gibt Mikáso an.

Wie mein Vater überragt mich auch mein Bruder genau um einen Kopf. Seine schlaksige Figur täuscht ein wenig darüber hinweg, dass auch er gut definierte Muskeln besitzt, die er nicht selten zur Schau stellt.

»Rucht Femmock! Dieser verdammte Schnee kann nur ein Werk von ihnen sein! Niedermetzeln sollten wir sie alle!«, schimpft Berkat, während ich seinen zweiten Stiefel unter Ächzen entferne.

Ich deponiere die Schuhe auf den Stöcken des Schuhständers und wende mich ab, um wieder in die Wohnstube zurückzukehren.

»He, Schwesterchen, und was ist mit meinen Schuhen?«, protestiert Mikáso.

»Das kannst du doch selbst! Du bist schon ein großer Junge«, ärgere ich ihn.

Ich kann es absolut nicht leiden, wenn sich mein Bruder ständig wie der Herr im Hause aufspielt. Doch Berkat packt mich am Arm und zieht mich zurück.

»Natürlich hilfst du auch deinem Bruder aus den Stiefeln, Leanah!«, befiehlt er streng.

Mikáso grinst siegessicher und mir bleibt nichts anders übrig, als auch ihm die Stiefel von den Füßen zu ziehen.

»Immerhin haben wir uns draußen durch Schneestürme gekämpft und alle fünfzehn Schafe in Sicherheit gebracht. Das muss uns erst einmal jemand nachmachen in dieser kurzen Zeit«, prahlt mein Halbbruder weiter.

»Mikáso ist mir eine große Hilfe, da kannst du dir ein Beispiel daran nehmen, Leanah«, bestärkt ihn obendrein mein Vater.

Das ist schwer auszuhalten für mich und am liebsten wäre ich jetzt nach draußen gerannt und hätte vor lauter Wut den eiskalten Schnee getreten, geboxt, zerstäubt und niedergemetzelt. Doch was hätte das gebracht? Wahrscheinlich wäre ich danach vom Frühstück ausgeschlossen gewesen.

»Dann wollen wir doch mal sehen, was ihr in dieser Zeit so geleistet habt«, fährt Berkat fort und mir wird ganz flau im Magen.

Er steuert geradewegs mein Spinnrad an und begutachtet die Spule. Zu meiner Verwunderung befindet sich deutlich mehr Garn darauf, als ich in Erinnerung hatte, außerdem ist der Faden viel feiner als sonst. Ich schiele zu Thera, die mir heimlich zuzwinkert. Doch Berkat wirkt alles andere als befriedigt.

»Das ist doch wohl ein Witz! Was hast du den ganzen Morgen über getrieben, Leanah? Fürs Faulenzen verdient sich hier niemand Essen und Unterkunft! Womit habe ich so eine Tochter verdient?«

»Leanah gibt ihr Bestes, Berkat!«, unterstützt mich meine Schwester kleinlaut.

Ich bin meiner schüchternen Schwester sehr dankbar für ihren Beistand, besonders, da ich genau weiß, wie viel Überwindung es sie kostet, Berkat die Stirn zu bieten. Mein Vater tritt jedoch mit wutverzerrter Fratze auf sie zu und holt aus, als wolle er ihr für diese Unverschämtheit eine Ohrfeige verpassen. Thera sieht schockiert von ihrem Schemel zu ihm auf, hält seinem Blick jedoch stand. Zum Glück geschieht nichts weiter, als dass Berkat die Stirn in Falten legt und weiter drauf loswettert.

»Pah! Auch du könntest mehr leisten, Thera! Die Frauen in diesem Hause sind einfach unfähig! Warum straft mich Omatan mit solchen Weibern? Rucht Femmock! Ihr setzt die Alten an den Tisch, dann spinnt ihr diese Spulen voll und erst dann erhaltet ihr euer Frühstück, jedoch zur Strafe nur die halbe Ration. Habt ihr das verstanden?«

Thera und ich nicken verhalten und setzen unsere Arbeit am Spinnrad fort. Ich kämpfe mit den Tränen und meine Schwester senkt den Blick. Dabei stößt mir mal wieder übel auf, dass er mit »die Alten«, nicht nur meinen Großvater, sondern auch meine Mutter mit einschließt. Sie war noch eine junge Frau von gerade einmal sechzehn Jahren gewesen, als mein Vater intensiv begonnen hatte, um sie zu werben. Mama schwärmte manchmal von dieser Zeit, als Berkat sie förmlich auf Händen trug und sie mit romantischen Geschenken überhäufte. So sehr ich mir diese Bilder vorzustellen versuche, es will mir einfach nicht gelingen. All das passt so wenig auf diesen Mann, der unerbittlich über unsere Familie herrscht. Wieso er sich so verändern konnte, darauf hatte auch meine Mutter keine Antwort.

Einmal auf dem Zehntagsmarkt von Mistad habe ich zufällig zwei Frauen belauscht, die miteinander lästerten. Sie sagten, Berkat hätte meine Mutter nur deshalb geheiratet, um den Hof meines Großvaters Aaran zu übernehmen, nachdem Denya als einziges Kind die Erbin sein würde. Aber ich will einfach nicht glauben, dass es meinem Vater einzig und allein um den Hof ging. Und doch lassen sich diese üblen Verdächtigungen seither nicht mehr aus meinem Kopf vertreiben. Nach der Hochzeit zog Berkat hier mit dem zweijährigen Mikáso und seiner Tante ein – meiner Großtante Tyra, der einzige Mensch, der mein Geheimnis je entdeckte und dafür mit dem Leben bezahlte …

2 – Unta

Leanah

 

Das Spinnrad dreht die Wolle, die ich in dünnen Faserbündeln nachschiebe und wickelt sie auf die Spule. Danach muss ich noch zwei der gesponnenen Fäden miteinander verzwirbeln, um ihnen Stabiltät zu geben.

Draußen scheint sich die Wolkendecke gelichtet zu haben, denn jetzt blinzelt die Sonne hervor und wirft ihr warmes Licht durch die unförmigen, milchigen Scheiben, welche verteilt über die ganze Wand die Lücken zwischen den Ästen ausfüllen. Die Schatten der verdampfenden Nebel tanzen über den Steinboden und die holzigen Wände. Das Bedürfnis, mit den Strahlen zu spielen, das Leuchten in mich aufzunehmen, quält mich mit ungewohnter Intensität. So muss ich den Blick abwenden von diesem überwältigenden Schauspiel. In den letzten Jahren wurde die Magie in mir zunehmend mächtiger, sodass ich es irgendwann nicht mehr aushielt, sie zu unterdrücken. Aus diesem Grunde flüchte ich mich regelmäßig an meinen geheimen Ort, um ihr freien Lauf zu lassen. In diesen Momenten fühle ich mich herrlich frei, danach jedoch kehre ich jedes Mal voller Schuldgefühle zurück zu meiner Familie, denke an meine verstorbene Großtante Tyra und an die bösen Magier, die das Schicksal unseres Lebens bestimmen.

Thera hat ihre Arbeit bereits lange vor mir erledigt, aber statt alleine das verdiente Frühstück zu genießen, bereitet sie die übrige Wolle vor, indem sie sie gründlich durchkämmt. Als meine Spule endlich voll ist, sind Berkat und Mikáso schon wieder draußen, um Hof und Wege vom Schnee zu befreien. Und mal wieder konnte mein Bruder sich einen Kommentar nicht verkneifen, in der Form »Draußen wartet richtige Männerarbeit auf uns, das könntet ihr Frauen mit euren kleinen Muskeln gar nicht leisten. Aber zum Spinnen braucht man ja kaum Kraft«.

Am liebsten hätte ich ihm gezeigt, wie kräftig ich tatsächlich bin, von der täglichen Arbeit im Hof und im Stall. Aber auch die Magie verleiht mir Stärke, denn ich habe herausgefunden, dass ich durch sie meine Bewegungen beschleunigen kann. Und nicht nur das, es gelingt mir sogar, einen Finger breit über dem Erdboden zu schweben. Aber das darf niemals jemand erfahren, deshalb wage ich auch nicht, beim Spinnen meine Zauberkraft einzusetzen. Es wäre viel zu auffällig, wenn ich meine Spule plötzlich in doppelter Geschwindigkeit gefüllt hätte wie sonst. Außerdem verselbständigt sich die Zauberkraft meistens, wenn ich sie erst einmal freilasse, indem aus verschiedenen Körperteilen Licht hervorstrahlt oder fremdartige Töne durch den Raum klingen.

Thera schneidet zwei dicke Scheiben Brot für uns ab. Wir setzen uns an den Tisch. Normalerweise frühstücken wir hier zu sechst, acht Personen könnten insgesamt auf den Schemeln, die um den runden Tisch stehen, Platz finden.

»Manchmal denke ich, Berkat ist auch nicht besser als die Magier«, rutscht es mir zwischen zwei Bissen heraus.

Thera sieht mich mit großen Augen an.

»Das kannst du doch nicht vergleichen«, widerspricht sie mit gedämpfter Stimme und wirft dabei hastige Blicke in den Raum.

Auch ich sehe mich nach Großvater und meiner Mutter um, die beide in den Hängesesseln schlafen. Aaran schnarcht ein wenig und Denya atmet tief und gleichmäßig.

»Warum denn nicht? Berkat schimpft über die Magier, dass sie ihre Macht missbrauchen, um über uns zu bestimmen, uns nach Lust und Laune herumzukommandieren und zu bestrafen. Dabei macht er es mit uns doch nicht anders«, flüstere ich.

Ich sehe Thera an, dass sie mir widersprechen möchte, ihr jedoch die Worte fehlen.

»Berkat ist unser Vater, wir sind eine Familie und alle aufeinander angewiesen. Ich finde, das ist schon ein Unterschied zu den Magiern, die keine Bindung zu uns haben und denen es egal ist, ob wir leben oder tot sind«, wendet meine Schwester schließlich ein.

»Na gut, sagen wir es mal so, darin besteht der einzige Unterschied, aber ansonsten …«

Mein Satz wird unterbrochen von Theras hellem Aufschrei. Gleich darauf hält sie sich jedoch erschrocken den Mund zu und sieht sich besorgt nach den Schlafenden um, die zum Glück ungerührt weiterschlummern.

»Was ist denn passiert?«, will ich wissen.

»Sie doch! Dort! Eine Unta!«, keucht sie aufgeregt.

Thera deutet auf eine golden glitzernde Schriftrolle, die eben noch nicht dagewesen ist, jetzt aber über meinem Kopf schwebt.

»Schnell! Nimm sie dir, sonst verschwindet sie wieder!«, flüstert Thera aufgeregt.

Mit gemischten Gefühlen greife ich nach dem Schriftstück und lege es vor mir auf den Tisch. Wie von selbst entrollt es sich und gibt seinen Inhalt preis. Meine Schwester rutscht nah an mich heran, um mitlesen zu können. Wir lesen beide ganz passabel, was wohl daran liegt, dass unsere Mutter eine gute Lehrerin war. Irgendwann hat mal ein weiser Mann beschlossen, allen Atlaticanern das Rechnen und Lesen beizubringen. Dazu versammelte er heimlich aus jedem Dorf Verbündete, die er zu Lehrkräften ausbildete. Diese wiederum sollten dann die Einwohner schulen. Eltern erhielten die Aufgabe, das Lesen und Rechnen auch ihren Kindern beizubringen. Das liegt zwar schon lange zurück, doch zum Glück blieb dieser Brauch sogar bei den armen Familien erhalten.

Mir zittern die Finger, als wir das Pergament betrachten. Bilder von Tieren und unbekannte Schriftzeichen wurden darauf gemalt.

»Du weißt schon, dass wir gerade etwas Verbotenes tun?«, frage ich meine Schwester, die sonst eher ängstlich darauf achtet, Berkats Regeln nicht zu übertreten.

»Ja!«, flüstert sie. »Weil die Unta ein Werk der Magier ist, aber dennoch verstehe ich nicht, weshalb Berkat die Unta so verteufelt. Gerade die Magier versuchen doch, sie zu zerstören. Immerhin stehen da Sachen drin, über die sie keine Kontrolle haben.«

»Ja, das musst du mir nicht sagen. Mir hat es ja schon immer in den Fingern gejuckt, so eine Unta mal aufzurollen. Aber mal ehrlich, mit diesen kryptischen Zeichen lässt sich überhaupt nichts anfangen.«

»Man munkelt, die Untergrundorganisationen tauschen mit der Unta geheime Informationen aus. Das funktioniert natürlich nur mit gut verschlüsselten Texten, sonst könnte es ja jeder lesen, der sie aufmacht.«

»Das ist mir schon klar. Aber es gibt doch bestimmt auch Leute, die lesbare Dinge hineinschreiben. Kann man sie nicht weiterrollen?«

Das Pergament lässt sich nicht weiterdrehen, dafür schiebt sich jedoch der Text nach unten, als ich die obere Rolle berühre.

Und hier steht tatsächlich etwas Lesbares:

Lord Unta von Arkantis wollte der armen Bevölkerung einen Dienst erweisen, indem er ihnen das Rechnen und Lesen beibrachte. Zudem entwickelte er eine Zeitung, die sich jeder Kontrolle entziehen sollte und damit eine freie Meinungsäußerung und direkte Berichterstattung ermöglicht. Der Magiepunkt, von dem aus sie gesteuert wird, verbirgt sich an einem gut gesicherten, geheimen Ort. Hier werden alle Texte gespeichert und von hier aus wird gesteuert, wo sich die Unta auf Atlatica materialisiert. Durch die Vernichtung eines einzelnen Schriftstückes erleidet die Unta daher keinerlei Schaden und kann sich unverändert an anderer Stelle materialisieren.

Zeit der Belagerer, 1786, Verfasser: Unbekannt

»Ach so funktioniert das«, staune ich. »Aber weißt du, was komisch ist? In dem Moment, als ich die Unta weiterrollen wollte, habe ich mir genau die Frage gestellt, für die hier im selben Moment eine Antwort aufgetaucht ist.«

Theras Augen leuchten. Sie scheint alles um sich herum vergessen zu haben und saugt den Text förmlich in sich auf.

»Du, vielleicht funktioniert sie so. Wir berühren die Rolle oben, während wir ihr eine Frage stellen. Lass mich mal!«

Meine Schwester tippt die Rolle an und schon flackern neue Zeilen auf. Während Thera in Erzählungen über Faulwolfattacken und Kriege versinkt, muss ich an den Bericht über die Entstehung der Unta denken. Man hatte uns erzählt, ein weiser Mann hätte den einfachen Leuten das Lesen beigebracht, doch der Bericht sagt ganz klar aus, dass der Erschaffer der Unta dafür verantwortlich war. Er war jedoch ein Lord und Lords waren ausnahmslos alle Magier. Dies wiederum würde jedoch bedeuten, dass dieser Magier Gutes für die einfache Bevölkerung gewirkt hätte. Und auch mit der Unta wollte er etwas schaffen, das nach Freiheit und Selbstbestimmung riecht – genau das Gegenteil von dem, wie wir die Magier heute erleben. Das passt irgendwie alles nicht zusammen, doch es lässt Hoffnung in mir aufkeimen, Hoffnung, dass nicht alle Magier durch und durch schlecht sind, Hoffnung, dass auch meine Zauberkraft nicht etwas grundlegend Böses sein muss.

»Du, Leanah, wollen wir auch etwas hineinschreiben?«, haucht Thera aufgeregt.

»Hm … Was willst du denn schreiben?«, frage ich.

Meine Schwester holt die Feder und das Glas mit dem Schwarzbaumsaft vom Regal.

»Lass mich mal überlegen … Wir könnten von dem ungewöhnlichen Schneefall heute berichten.«

»Na gut, aber ich schreibe nichts. Ich bin so aus der Übung, dass meine Schrift ganz krakelig aussehen würde«, antworte ich.

Leider gibt es im Leben einer Schafbäuerin nicht oft Gelegenheiten, zu denen man das Schreiben benötigt, daher bin ich tatsächlich nicht besonders geübt darin. Thera hat wenigstens eine Freundin, die vor drei Sonnenwenden nach Haifat gezogen ist und seither schicken sich die beiden regelmäßig Briefe. Vielleicht sollte ich Samelia auch einmal etwas schreiben, schließlich kenne ich sie auch und ich beneide meine Schwester ein wenig um die Post, die sie immer wieder erhält.

Thera findet sichtlich Spaß daran, genau zu beschreiben, wie wir über Nacht eingeschneit wurden, wie alles unter weißer Watte versinkt und der Atem in Form von kleinen Nebelwolken austritt. Als sie fertig ist, malt sie für den Verfasser statt ihres Namens einen Schneeriesen mit Spitzhut und Kehrschaufel.

»Lass uns mal nachsehen, was in letzter Zeit so alles passiert ist!«

Gerade, als ich die Rolle berühre, poltert Berkats Stimme durch den Raum und lässt meine Schwester und mich hochfahren. Unser Vater lugt zornig zur Tür herein.

»Habe ich es doch geahnt! Ich wollte mal nachsehen, was ihr treibt, wenn euch keiner kontrolliert. Und was muss ich feststellen? Meine Töchter faulenzen schon wieder! Was treibt ihr dort mit der Feder?«

Berkat hat sich so leise hereingeschlichen, dass nichts von seinen üblichen Tür- und Trampelgeräuschen zu hören war. Mir wird abwechselnd heiß und kalt, als er auf uns zusteuert, traue mich gar nicht, auf das verbotene Schriftstück herabzusehen, das vor uns auf dem Tisch liegt. Ich kann Theras Zittern spüren, die sich dicht an mich drängt. Mamas lautes Stöhnen erfüllt den Raum und bringt meine Gänsehaut dazu, ein noch deutlicheres Profil auszubilden. Auch Aaran blinzelt in seinem Hängesessel.

»Zeigt her, was ihr geschrieben habt!«, verlangt mein Vater mit ausgestreckter Hand.

Es bleibt uns nichts anderes übrig, als ihm die Unta auszuhändigen, doch als ich danach greifen will, finde ich eine leere Tischplatte vor. Ich schiele zu Thera, die lediglich mit den Schultern zuckt. Wie es scheint, ist die Unta genauso plötzlich wieder verschwunden, wie sie aufgetaucht war. Ein klitzekleines bisschen atme ich erleichtert auf. Wenigstens bleibt es uns erspart, dieses Vergehen zu beichten, doch von Entspannung kann keine Rede sein.

»Meine Geduld neigt sich dem Ende! Gebt mir sofort, was ihr geschrieben habt!«, fordert Berkat wütend.

»Äh, wir-wir haben noch nichts geschrieben. W-wir wollten gerade a-anfangen, eine Liste anzufertigen, was wir noch zu tun ha-haben«, stottert Thera.

Eine Liste, was wir zu tun haben?

Dieser absurde Einfall verschlägt meinen Vater tatsächlich die Sprache und er starrt Thera an, als hätte sie ihm von tanzenden Sumpfschmeigeln erzählt.

Angst, Anspannung, der verblüfft-wütende Ausdruck in Berkats Gesicht sowie die Komik der absurden Idee meiner Schwester vermengen sich zu einem explosiven Gefühlscocktail in meinem Inneren, der mir Tränen in die Augen treibt. Voller Entsetzen spüre ich, wie sich meine Magie zusammenbraut und nach außen drängt. Panisch rutsche ich unter den Tisch, wobei im selben Augenblick helles Licht aus meinen Augen strahlt. Ich kneife die Lider zusammen, presse meine Handflächen auf die Augen und bete, dass niemand etwas gesehen hat.

»Leanah! Rucht Femmock! Komm sofort unter dem Tisch hervor!«, schimpft Berkat. »Was ist nur in euch Weiber gefahren? Wenn ihr mich für dumm verkaufen wollt, werdet ihr es bitter bereuen!«

Erleichtert merke ich, wie die Magie abflaut. Ich atme tief durch und krabbele langsam unter dem Tisch hervor. Berkat steht breitbeinig im Raum, die Hände in die Hüften gestemmt.

»Äh, nein, uns würde niemals einfallen, dich für dumm zu verkaufen, Berkat«, versucht Thera ihn zu beruhigen.

»Und was bitteschön, suchst du unter dem Tisch, Leanah?«

»Ich äh, mir war plötzlich schwindelig«, lüge ich.

»Vorhin wirkte Leanah auch schon so erschöpft. Vielleicht wird sie krank.«

Thera befühlt abermals mit sorgenvoller Miene meine Stirn.

»Das fehlte noch, dass eine von euch ausfällt! Invaliden haben wir hier schon genug zu versorgen!«, klagt mein Vater. Er klingt ein wenig besänftigt, doch seine Worte bringen mein Herz zum Bluten.

Wie kann er so herzlos über meine Mutter und meinen Großvater herziehen? Und das soll mein Vater sein? Aaran hat Recht damit, dass er ein Herz aus Eis hat. Wir liefern uns ein stummes Blickduell, das von einem erneuten Stöhnen meiner Mutter unterbrochen wird.

»Wut berührt keine Herzen!«, kommentiert Aaran, doch wie so oft wird er von allen ignoriert.

»Lass doch die Mädchen!«, steht uns Denya bei.

»Halte du dich da raus!«, weist sie Berkat zurecht. »Und ihr beiden geht unverzüglich in den Waschraum und übernehmt Mikásos Arbeit! Im Gegensatz zu euch, hat sich der Junge seine Pause redlich verdient.«

Klar, das tüchtige, tolle Papasöhnchen hat sich eine Pause verdient!, äffe ich Berkat in Gedanken nach. Dennoch bin ich froh, dass wir noch so glimpflich davongekommen sind. Es hätte weitaus schlimmer ausgehen können, mit Arbeit bis in die späte Nacht hinein.

Im Waschraum ist Mikáso gerade damit beschäftigt, die Stiefel von Schnee und Dreck zu befreien. Viel Sinn macht das Stiefelputzen in meinen Augen nicht, denn schon nach dem nächsten Stallbesuch ist nichts mehr von der ganzen Arbeit zu sehen. Doch ab und zu muss das wohl sein, sonst bildet der Mist vielleicht irgendwann eine harte Kruste.

»Ach, da kommt ja endlich meine Ablösung. Ich hab mich schon gefragt, warum das so lange dauert.« Mein Halbbruder grinst überlegen und drückt mir einen triefenden Stiefel in die Hand, sodass mein Kleid matschige Spritzer abbekommt.

»He! Pass doch auf!«, schimpfe ich.

Am liebsten hätte ich ihn jetzt in den Trog mit Schmutzwasser gestoßen, doch das würde die Sache nur verschlimmern und mir Arbeit bis zum Umfallen einbringen. Also beschränke ich mich auf einen Blick, der ihn das Fürchten lehren soll. Leider beeindruckt das meinen Halbbruder nicht im Mindesten.

»Was habt ihr denn angestellt, dass Papa so laut gepoltert hat?«, fragt Mikáso scheinheilig.

»Gar nichts! Jedenfalls nichts Schlimmes. Mir ist nur versehentlich der Schürhaken aus der Hand gefallen. Bedauerlicherweise stand deine Trommel darunter. Darin klafft jetzt leider ein Loch. Aber mach dir keine Sorgen, Berkat kann das sicher wieder reparieren.«

Die Gesichstfarbe meines Halbbruders wechselt abrupt von gut-druchblutet-von-der-Kälte-Rot zu genauso-weiß-wie-der-Schnee-draußen.

»Mei-meine Trommel!?«, haucht er fassungslos, dann stürzt er zur Tür hinaus.

Thera schüttelt den Kopf, kann aber nicht verhindern, dass ihre Mundwinkel leicht nach oben zucken. Die Trommel ist Mikásos größter Schatz und das Einzige, was ihm von seiner verstorbenen Mutter geblieben ist. Zugegeben, es war gemein von mir, ihn anzulügen, dass sie kaputt sei, aber der Schock wird nicht lange andauern und ich halte es einfach nicht aus, immer alles von meinem überheblichen Halbbruder hinzunehmen, ohne auch mal zurückzuschlagen. Ich kann nur hoffen, dass Mikáso Berkat nichts davon erzählt, aber das halte ich nicht für wahrscheinlich, denn er ist viel zu eingebildet um zuzugeben, dass er auf meine Lüge reingefallen ist.

Ich mache mich gemeinsam mit Thera daran, die Stiefel zu putzen. Dafür steht uns ein steinerner Trog zur Verfügung, der über eine Rinne vom höher gelegenen Waschbecken mit frischem Wasser versorgt wird. Seltsamerweise fließt heute sehr wenig Wasser nach. Aber dann wird mir auch schon klar, woran das liegt. Wie die meisten Bauernhäuser grenzt unseres an einen Bach. Weiter flussaufwärts zweigt eine breite Wasserrinne ab, die den Brunnen im Badom und den Stall mit fließendem Wasser versorgt. Durch die Kälte und den Schnee wird die Leitung jetzt weitgehend vereist sein. Aber immerhin musste meine Mutter nicht auf ihr warmes Bad verzichten, denn der steinere Behälter über unserem Ofen im Küchenbereich hatte noch reichlich warmes Wasser gespeichert. Bei Bedarf kann man die Schleuse öffnen und die Wanne damit befüllen. Die Rinne vom Waschbecken zum Waschtrog kann ebenfalls in die Wanne umgeleitet werden, sodass sich die Wassertemperatur optimal einstellen lässt. Aber ganz gleich, in welche Wanne oder welches Becken das Wasser abgeleitet wird, am Ende sammelt es sich über einem Loch im Boden, das uns als Toilette dient.

Das Abwasser wird in ein riesiges Wasserbecken ein wenig unterhalb des Hauses – also flussabwärts – geleitet, in dem auch die Fäkalien aus den Ställen landen. Dieses Becken ist das Zuhause mehrerer Mugoks – schlangenartige Tiere, die sich von allen tierischen und pflanzlichen Abfällen ernähren. Ihre Ausscheidungen wiederum säubern das Wasser, färben es rosa, duften blumig und werden als Dünger weiterverwendet. In den Städten tummeln sie sich manchmal zu Hunderten in den Abwasserkanälen. Viele Einwohner Atlaticas halten sich ein oder zwei Mugoks, wir dagegen haben so viele davon, dass man schon von einer Zucht sprechen könnte. Es heißt, mit Schafkot gedeihen sie besonders gut. Jedenfalls kann Berkat regelmäßig Dünger und Mugokeier verkaufen. Außerdem führen die Abwasserleitungen aus dem Becken nicht nur auf unsere Weiden, sondern versorgen gegen Bezahlung auch Felder der nächstgelegenen Höfe. Wofür er die vielen Tinnis ausgibt, die mein Vater mit alldem verdient, weiß ich nicht.

»Ich wünschte, wir hätten mehr Zeit gehabt, um in der Unta zu lesen«, schwärmt Thera, während sie Berkats Stiefel mit der Bürste bearbeitet.

»Ja, es gäbe so einiges, was ich auch gerne nachgelesen hätte«, stimme ich ihr zu.

Ein lautes Glockenläuten lässt uns aufhorchen. Ich kenne dieses Geräusch nur zu gut. Es stammt vom Händler Serto, der mit seinem Karren von Hof zu Hof fährt, dort Waren ein- und verkauft, die Post und Neuigkeiten bringt. Es wundert mich, dass er es trotz des vielen Schnees bis zu uns geschafft hat und gleichzeitig schlägt mein Herz ein wenig schneller, denn ich bin seinem Sohn Jolim versprochen. In dieser Hinsicht habe ich großes Glück gehabt, denn Jolim ist ein lieber, freundlicher junger Mann, ein Jahr älter als ich und er sieht sogar gut aus. Rasch rubbele ich die letzte Feuchtigkeit von den Stiefeln und stecke sie dann auf die Holzstangen im Vorraum. Thera will es mir gleichtun, doch da kommt Berkat aus der Wohnstube und nimmt sie ihr aus den Händen, um hineinzuschlüpfen.

»Komm mit hinaus und begrüße deinen zukünftigen Mann, Leanah!«, bestimmt er mit strengem Blick – einer der wenigen Befehle, die ich gerne ausführe.

»Aber wische dir vorher die Dreckspritzer aus dem Gesicht«, mahnt er.

Über diese Anweisung kann ich sogar froh sein, schließlich will ich mich nicht vor Jolim blamieren. Ich eile zum Waschbecken und benetze mein Gesicht mit kaltem Wasser. Dann rubbele ich mich mit dem Wolltuch trocken und kehre in den Vorraum zurück, wo Berkat bereits seinen Mantel überwirft.

»Ist-ist es mir erlaubt, euch zu begleiten?«, bittet Thera kleinlaut.

Berkat legt die Stirn in Falten, nickt dann jedoch. Wahrscheinlich fällt ihm gerade einfach keine Arbeit für seine jüngste Tochter ein.

So schlüpfen auch Thera und ich in warme Kleidung und treten hinter unserem Vater ins Freie. Im Hof und ein Stück den Weg entlang wurde der Schnee von den Männern beiseite geräumt und türmt sich stattdessen auf zwei Haufen rechts und links. Alle Wolken haben sich verzogen und dem strahlend blauen Himmel Platz gemacht. Die Sonne bringt den Schnee zum Glitzern, dennoch brennt die Kälte auf meiner Haut, als ich ins Freie trete. In der Mitte des Hofes steht Sertos Eselskarren. Aus den Nüstern der vier kräftigen Tiere entweichen Dampfwolken. Neben seinem Vater sitzt Jolim auf dem Kutschbock und winkt mir freudig zu. Dahinter gelangt man durch eine Tür ins Innere des Karrens. Serto erlaubt niemandem einen Blick dort hinein, was bei den potentiellen Käufern die Neugier auf seine Waren ins Unermessliche steigert. Ich nehme mich da nicht aus und hoffe, dass ich, wenn ich erst einmal Jolims Frau geworden bin, in die Geheimnisse des Karrens eingeweiht werde.

»Sei gegrüßt, Berkat!«

Der Händler und sein Sohn klettern vom Kutschbock. Sie begrüßen Berkat mit Handschlag. Dann wendet sich Jolim mir zu und lächelt freundlich.

»Schön, dich zu sehen, Leanah!«, sagt er. »Ich freue mich schon darauf, wenn es endlich so weit ist.«

Ich kann nicht anders, als sein Lächeln zu erwidern.

»Gut, dass du das ansprichst, mein Sohn! Es wird höchste Zeit, das Versprechen in die Tat umzusetzen, was meinst du, Berkat?«

»Nun ja, du weißt, wie es mir damit geht. Leanah wird deinen Sohn heiraten, das steht fest, nur der Zeitpunkt stellt ein Problem dar. Ich kann auf ihre Arbeit nicht verzichten. Wir haben schließlich die zwei Alten mitzuversorgen. Meine Tochter ist eine tüchtige junge Frau, sie ist gescheit und so schön wie sie ist, würden sich die Männer in Mistad um sie schlagen …«

Ich glaube nicht recht zu hören. Mein Vater preist mich an wie ein edles Prachtschaf, dabei hat er ständig etwas an mir auszusetzen, wenn wir unter uns sind.

»Worauf willst du hinaus, Berkat? Ich habe dir bereits eine ordentliche Summe für die Ablöse gezahlt. Das sollte ausreichen, um eine Magd anzustellen, die Leanahs Arbeit übernimmt«, erbost sich Serto.

Da entgleisen meine Gesichtszüge und auch Jolim und Thera blicken die Streitenden düster an. Ich hatte nicht gewusst, dass Berkat eine Ablösesumme von dem Händler erhalten hat. So etwas ist für besonders begehrte Frauen zwar üblich, aber ich hatte bisher angenommen, dass die beiden diese Vereinbarung nur aufgrund ihrer Freundschaft getroffen hätten.

»Dann wirst du mir erst eine Magd besorgen müssen, die die Arbeit in gleicher Qualität und zu geringem Lohn leistet, wie mein Prachtkind!«

Ich weiß gar nicht, wie mir geschieht, als mein Vater nun sogar einen Arm um mich legt. Ich kann mich nicht erinnern, dass er dies schon einmal getan hätte. Beinahe bin ich versucht, mich loszureißen, weil mir das alles so scheinheilig und falsch vorkommt. Gleichzeitig kann ich nicht anders, als diese liebevolle Geste in mich aufzusaugen, wie ein ausgetrockneter Schwamm, der nach Wasser lechzt, selbst wenn mir nur allzu bewusst ist, dass sie nicht ehrlich gemeint ist, sondern einzig einem Zweck dient. So stehe ich nur wie erstarrt im Schnee und lausche einem Gespräch, das ich lieber nicht gehört hätte.

»Glaube nicht, dass ich mich erpressen lasse! Es gibt viele schöne Töchter, die sich um meinen Jungen reißen.«

»Vater!«, protestiert Jolim. »Das Versprechen wurde besiegelt und ich möchte keine andere als Leanah!«

»Aber wer wird denn von Erpressung sprechen. Ich wollte dir nur deutlich machen, in welcher Not wir uns auf dem Hof befinden. Selbstverständlich werden unsere Kinder heiraten. Ich brauche jedoch Zeit, um einen geeigneten Ersatz zu finden und du kommst doch viel herum. Sicher kannst du mir behilflich dabei sein, Serto«, versucht Berkat seinen Freund zu beschwichtigen.

»Nun gut, ich werde mich umhören, ob eine gute Magd verfügbar ist«, lenkt auch der Händler ein.

»Wenn das jetzt geklärt ist, ich habe einen Sack Maischamehl für dich. Dafür benötige ich Jamnektar, ein scharfes Messer sowie eine Dose Tereck.«

»Ich sehe schon, wir kommen doch noch ins Geschäft«, erwidert Serto breit grinsend. »Ich habe überdies einige Raritäten dabei, die dich interessieren dürften.«

Dabei senkt er geheimnisvoll die Stimme und rückt nah an Berkat heran.

»Na dann zeig mal, was du so anzubieten hast!«

»Du wirst staunen! Und bevor ich es vergesse, hier sind noch zwei Briefe für dich.«

»Steck alles hier rein!«

Berkat streckt dem Händler seine mitgebrachte Kiste entgegen. Dann beginnen die beiden über verschiedene Dinge zu verhandeln. Thera steht bei ihnen und versucht, einen Blick ins Innere des Wagens zu erhaschen, sobald sich die Tür öffnet und Serto Gebrauchsgegenstände, Früchte oder seine besonderen Kostbarkeiten hervorzaubert.

»Wollen wir ein Stück durch den Schnee gehen?«, fragt Jolim und blickt mich dabei schüchtern an.

»Gerne!«, antworte ich lächelnd.

Wir stapfen den Weg entlang, auf dem der Karren des Händlers seine Spuren hinterlassen hat, und ich muss fortwährend die veränderte Landschaft bestaunen. Selten genug kommt es vor, dass der Schnee alles zudeckt.

»Hast du gewusst, dass dein Vater eine Ablösesumme gezahlt hat?«, frage ich nach einer Weile.

»Nein, aber für mich macht es keinen Unterschied. Ich freue mich, dass wir füreinander bestimmt sind und ich hoffe, dir geht es genauso, Leanah«, sagt er und mir wird ganz warm ums Herz.

»Ja, ich freue mich auch«, antworte ich.

Da bleibt Jolim plötzlich stehen und greift nach meiner Hand. Das hat er noch nie getan. Sonst war er immer sehr zurückhaltend. Wir stehen uns nun gegenüber. Seine brauen Augen sehen mich an, genau genommen, blicken sie auf meine Lippen.

Oh, oh, er wird mich doch nicht etwa küssen?

Unwillkürlich öffne ich leicht den Mund, als sein Gesicht langsam näher kommt. Atemwolken dampfen zwischen uns, dann spüre ich sie: Seine kühlen, weichen Lippen berühren ganz sanft die meinen. Doch bevor sich unser erster Kuss intensivieren kann, lässt uns ein Knall zusammenzucken. Der Händlerkarren rattert den Weg entlang. Serto sitzt auf dem Kutschbock und schnalzt mit der Peitsche in der Luft.