3,99 €
Sternentanz - Glühen der Finsternis
Entsetzt muss Iona feststellen, dass sich die Diebin Slinga bereits in das Herz ihrer Pflegeeltern hineingeputzt hat, wogegen sie selbst in Ungnade fällt. Obendrein verheißt das Schicksalsbuch eine Zukunft, der Iona unbedingt entfliehen muss, doch ob sie auf Kastron wirklich sicher ist?
Eine romantische Pentalogie der tiefen Gefühle und fantastischen Abenteuer.
Leseprobe
Die Angst kann mein gelähmtes Gesicht nicht erreichen und aus meiner Kehle dringt kein einziger Laut.
»Hier bist du also, wilde Futarin«, knurrt der Kerl, wobei sein heißer Atem bereits meine Lippen streift. »Dich zu küssen, wird mir ein ganz besonderes Vergnügen sein.«
In diesem Moment bricht die Verzauberung, die offenbar auf diesem Mann lag, denn plötzlich verwischt das Antlitz des Flüchtlings. Stattdessen blicke ich in die verzückte Fratze Develors. Der pure Horror erfasst mich, als dieser Kerl nun seine Lippen auf meine presst, um mir das letzte Bisschen, was von meiner Magie wieder zurückgekehrt ist, zu rauben. Den Würgereiz, welchen ich dabei verspüre, kann mein gelähmter Körper nicht ausführen, als der Sog einsetzt.
Nein, das darf alles nicht wahr sein! Bestimmt träume ich nur!
Eine romantische Pentalogie der tiefen Gefühle und fantastischen Abenteuer
Sternentanz
Band I – Flüstern der Nacht
Band II – Ruf der Schatten
Band III – Wispern der Dunkelheit
Band IV – Glühen der Finsternis
Band V (Finale) – noch nicht erschienen
Schattentanz
Band I - Windschatten
Band II - SchattenMeer
Band III - SchattenRiss (Finale)
Lichtertanz
Band I – Die Magie der Glanzlichter
Band II – Die Magie der Goldwinde
Band III – Die Magie der Lichtkristalle (Finale)
Flammentanz
Band I – Funken
Band II – Flammen
Band III – Feuer
Band IV – Brand
Band V – Glut (Finale)
Fabolon
Band I – FarbelFarben
Band II – Goldenes Glück
Band III – StaubNebelNacht
Band IV – RostRoter Rubin
Band V – SchneeFlockenBlüten
In der gleichen Welt: Romantasy
WandelTräume
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2025
Inhaltsverzeichnis
Gruselkuss
Slinga
Magischer Brief
Enthüllungen
Verzweifelter Ripro
Statue mit schwarzen Zöpfen
Mir55254
Ungebetene Gäste
Wiedersehen
Flüchtlinge
Gefangen
Ungerecht
Besuch auf zwei Parkbänken
Diebstahl
Altaron
Schlafblüten
Wolks
Glühen der Finsternis
Hungrige Freunde
Geplatzte Illusion
Rückkehr
Danksagung und Nachwort
Ode an meine Testleser
Lexikon
Impressum
Sternentanz
Glühen der Finsternis
Isabella Mey
Band IV
Iona, Fabolon, Faresia 1211, A 10
Dermaßen viel ist in letzter Zeit mal wieder passiert, dass mir von all den Ereignissen noch immer der Kopf schwirrt und das, obwohl ich gerade erst aufgewacht bin und mich in meinem behaglichen Bett rekele.
Wieder zu Hause.
Ich bin wirklich heilfroh, diesem schrecklichen Vampirplaneten Morkor entkommen zu sein. Und dass es am Ende doch noch gelang, sogar Lando, Alfred und Alexander mitzunehmen – unser Abenteuer hätte kaum besser ausgehen können. Sicher kehrt der Lumar nun zu seiner Schwester zurück, um sie mit neuer Energie zu versorgen. Wie gerne würde ich Lida einmal wiedersehen. Eine so liebe kleine Schwester kann man sich doch nur wünschen, wobei ich mich über meinen Bruder Finn keinesfalls beklagen möchte. Es grenzt ja schon fast an ein Wunder, dass ich ihn auf diesem Erde-Planeten überhaupt gefunden habe.
Noch ein wenig träge wasche ich mich und schlüpfe in ein frisches grünes Kleid, dann steige ich gut gelaunt in die Gaststube hinunter, um dort wie gewohnt die Tische abzuputzen. Als ich jedoch unten ankomme, treffe ich auf Slinga, die gerade einen feuchten Wischmopp über den Boden schiebt. Die Tische glänzen ebenfalls blitzblank und die Fenster sind so sauber, als habe jemand das Glas ausgebaut. Jedenfalls kann ich keinen einzigen Streifen in den hereinfallenden Farellastrahlen aufspüren.
»Ah, da warst du heute Morgen aber schon fleißig«, kommentiere ich ihren Aktionismus, wobei es mir nicht gänzlich gelingt, die ätzende Säure aus meiner Stimme fernzuhalten.
Einerseits ist es natürlich lobenswert, dass sie sich so engagiert, doch eine fiese kleine Stimme in meinem Inneren kann sich zu dieser positiven Sicht keinesfalls durchringen: Slinga will sich damit doch nur bei meinen Eltern einschleimen, sich so beliebt machen, dass Mama und Papa sie am Ende lieber mögen als mich.
»Hey, guten Morgen, Iona!«, antwortet sie übertrieben freundlich, was jedoch eindeutig bissig in meinen Eingeweiden zwickt. »Ja, ich dachte, ich mache hier mal so richtig sauber, bevor die Gäste kommen. Das war auch dringend nötig, wenn du mich fragst …«
Opis lautes Schnarchen aus Richtung seiner Pritsche unterbricht ihren Redeschwall, was ich sehr begrüße.
»Ja, da hast du wohl recht. Es war schrecklich schmutzig hier drin«, antworte ich nicht ohne Ironie in der Stimme. In diesem Moment tritt Mama begeistert strahlend aus der Küche. »Slinga, du bist wirklich ein Goldschatz! Ich kann mich nicht erinnern, wann die Töpfe schon einmal so sauber geglänzt haben. Da wird Handrich aber Augen machen. Wie viele Zykel hast du dafür nur geschuftet!?«
»Morgen, Mama«, grüße ich Meonore, die mich bislang völlig übersehen hatte.
»Ach, guten Morgen, Iona. Hoffentlich hast du gut ausgeschlafen, während Slinga die ganze Nacht durchgearbeitet hat.«
Das haut rein wie ein Hieb direkt in die Magengrube. »Ja, prima habe ich geschlafen. Nachdem ich auf einem Vampirplaneten ums Überleben kämpfte, hatte ich das auch dringend nötig«, zische ich gekränkt. »Und ist das nicht ein komischer Zufall, dass Slinga plötzlich so überaus fleißig wird, kaum dass ich wieder nach Hause zurückkehre?« Ich hole tief Luft, denn die falsche Schlange liegt mir auf der Zunge, aber so weit will ich dann doch nicht gehen. Schließlich fehlen mir die Beweise und das Putzen schien ihr tatsächlich Spaß zu machen. Ich würde mich schrecklich fühlen, wenn ich ihr mit meinen eifersüchtigen Anschuldigungen Unrecht täte.
»Klar, Vampire …«, lacht Slinga ungläubig auf. »Ich hoffe, du bist nicht einfach nur eifersüchtig. Das wollte ich damit wirklich nicht bezwecken und wenn es dich so stört, dass ich deine Arbeit übernehme, dann lasse ich das Putzen eben bleiben«, lenkt sie versöhnlich ein und doch sind die Misstöne nicht zu überhören. Damit hat sie mich völlig ins Aus befördert, was mich nun endgültig verstummen lässt.
»Also, soweit kommt’s noch!«, protestiert Mama aufgebracht, woraufhin ein weiterer lauter Schnarcher von Gravik durch den Saal schallt.
»Mehr von dem Wein! Nur noch ein kleines Schlückchen …«, bettelt mein Großvater im Halbschlaf.
»Iona, du solltest dich schämen, Slinga so anzugehen. Schließlich warst du es doch, die so unbedingt in die Welt hinauswollte. Und jetzt, wo wir einen wirklich guten Ersatz für dich gefunden haben, ist es dir auch wieder nicht recht. Du solltest dich schämen, Slingas Fleiß so schlechtzumachen.«
Heißer Zorn brodelt in mir und ich habe alle Mühe, ihn nicht in irgendeiner feurigen Magie entweichen zu lassen. Rein objektiv gesehen hat Meonore natürlich recht und doch fühle ich deutlich, dass hier etwas gewaltig schiefläuft. Wahrscheinlich sollte ich jetzt so etwas sagen wie: »Tut mir leid. Ich bin natürlich froh für die Hilfe und Slinga ist echt fleißig und lieb.« Aber dann käme ich mir einfach nur falsch und verlogen vor und das entspricht überhaupt nicht meiner Art.
Stattdessen entscheide ich mich für die ehrliche Variante dessen: »Vielleicht täusche ich mich ja in dir Slinga, dann würde es mir wirklich leidtun, aber ich werde das Gefühl einfach nicht los, dass du unehrlich bist.« Dabei schaue ich ihr tief in die Augen, wo ich für einen Moment tatsächlich Unbehagen aufblitzen sehe, was mit einem panischen Zucken in meinem Leib einhergeht.
Sie wendet den Blick ab, um den Mopp in den Putzeimer hineinzutunken. »Weißt du was: Lass mich doch einfach in Ruhe mit deinen Hirngespinsten. Die Arbeit hier ist das Beste, was mir je passieren konnte, das werde ich mir nicht verderben lassen.«
»So, da hast du’s gehört, Iona. Lass Slinga in Ruhe und hilf mir lieber dabei, das Frühmahl zuzubereiten. Handrich war gestern sehr lange auf den Beinen, da sollte er sich mal richtig ausschlafen.«
Slingas Blick folgt uns, als ich mit Meonore in der Küche verschwinde.
Ob ich Mama nicht doch von der gestohlenen Kette erzählen soll?
Aber dabei käme ich mir gerade ziemlich schäbig vor, schließlich bin ich tatsächlich eifersüchtig, wie sich die neue Bedienstete in das Herz meiner Mutter hineingeputzt hat. Eigentlich könnte ich damit doch zufrieden sein, so habe ich meine Freiheit und meine Eltern die optimale Hilfe, die sie im Restaurant benötigen. Es wäre einfach unfair, das aus teils egoistischen Gründen zu zerstören.
Als Meonore und ich wenig später beladen mit je einem Tablett mit Wattasbrot, Papfelbeerkompott und Schüsseln voller Früchte-Getreidebrei in die Gaststube zurückkehren, schiebt Handrich gerade einen Tisch vor den Sessel meines Großvaters und Slinga bringt die Stühle hinterher.
»Guten Morgen, Iona«, flötet Opi fröhlich wie gewohnt. »Wie habe ich mein Herzchen vermisst, die letzten Tage.«
Ich stelle das Tablett auf dem Tisch ab und grüße Gravik mit einem Kuss auf die Halbglatze. »Ich habe dich auch vermisst, Opi. Möchtest du etwas von dem Getreidebrei zum Frühstück?«
»Von dir immer, mein Täubchen.«
Während ich mich nun daran mache, meinen Großvater zu füttern, lassen sich Slinga und meine Eltern am Tisch nieder und beginnen ebenfalls mit dem Frühmahl. Dabei lobt Mama die neue Bedienstete so über alle Maßen, dass mir beinahe schlecht wird.
»Lass mal, Meonore. Nicht, dass Iona noch eifersüchtiger wird«, unterbricht diese plötzlich Mamas Ausführungen. »Sie kann mich eh schon nicht leiden, dabei will ich doch nur dazugehören.«
»Dazugehören? Wie meinst du denn das?«, brause ich auf, wobei ich in meiner Erregung Opis Mund mit dem Löffel verfehle und stattdessen an der Wange entlangstreife. Er wackelt aber auch immer so schrecklich. Schuldbewusst wische ich ihm den Breiklecks weg und atme tief durch.
Nur ruhig, Iona. Lass dich bloß nicht provozieren.
»Na ja«, rückt Handrich schließlich zögerlich heraus. »Slinga hat keine Eltern mehr und wir wollen ihr ein neues Zuhause bieten.«
Da muss ich nun doch heftig schlucken.
»Das ist ja lieb von euch, aber ihr kennt sie doch kaum«, hauche ich ziemlich kleinlaut, weil mir der ganze Konflikt doch ziemlich zusetzt. Genaugenommen ist mir zum Heulen zumute und ich kann noch nicht mal sagen, weshalb genau.
»Ich habe genug Menschenkenntnis, um sie richtig einzuschätzen. Außerdem braucht jeder eine Familie und wir haben ja genug Platz im Haus«, antwortet Mama. »Da Gravik sein Zimmer nicht mehr nutzen kann, ist sie dort eingezogen.«
Mir bleibt doch glatt die Spucke weg, die ich gerade dringend gebraucht hätte, um heftig zu schlucken. Gegen meinen inneren Aufruhr ankämpfend füttere ich weiter eifrig meinen Großvater, wobei die Gedanken fieberhaft in meinem Hirn umherwirbeln, ohne dass dabei etwas Sinnvolles herauskäme.
Die Diebin wohnt jetzt hier. Und das auch noch in unserem privaten Familienstockwerk.
Zum wiederholten Male ringe ich mit mir, meine Eltern darüber aufzuklären, dass es Slinga war, die Sandrina die Kette gestohlen hat.
Wäre das fair?
Ich hatte versprochen zu schweigen und wenn sie sich wirklich hier zu Hause fühlt und sich dadurch ändert, wäre das ziemlich mies von mir. Diese Diskussion vor unserer Bediensteten – oder neuen Tochter? – weiterzuführen, die eher unbeteiligt den letzten Löffel ihres Getreidebreis in sich hineinstopft, missfällt mir dermaßen, dass ich lieber das Thema wechsle.
»Wollt ihr eigentlich gar nicht wissen, was ich in der letzten Zeit erlebt habe?«, erkundige ich mich schließlich resigniert.
»O ja! Mein Herzchen erlebt immer so viele Abenteuer.« Opi klatscht voller Vorfreude in die Hände.
»Natürlich interessiert uns dieser Mag …«, beginnt Handrich, doch ich fahre ihm ins Wort: »Das ist nicht für alle Ohren bestimmt, Papa. Slinga, ich denke, du hast heute Nacht genug gearbeitet und solltest dich jetzt etwas ausruhen.«
»Ich bin aber gar nicht müde.« Sie schüttelt den Kopf. Ihre Neugier brennt förmlich in meinem Bauch.
»Iona, du solltest dich daran gewöhnen, dass Slinga nun zu unserer Familie gehört. Sie kann ruhig wissen, dass du eine Magierin bist.« Das abfällig ausgesprochene Wort hallt in mir nach wie ein Steinschlag in einer engen Klamm.
»Mama!« Aufgebracht fahre ich vom Stuhl hoch. »Ich bestimme immer noch selbst, wem ich das erzähle!«
Dass sie dermaßen über meine Grenzen geht, gibt mir nun endgültig den Rest. »Ich frühstücke wo anders und da ich euch offenbar nichts anvertrauen kann, werde ich mich hüten, etwas von meinen Reisen zu berichten.« Mit diesen Worten steuere ich schnellen Schrittes die Tür an und noch bevor irgendjemand etwas einwenden kann, bin ich auch schon draußen, wo ich erst einmal tief nach Atemluft schnappe. Gerade tut es mir schon wieder leid, dass ich damit auch Papa und sogar Opi vor den Kopf gestoßen habe, der schließlich am allerwenigsten etwas dafür kann. Aber beim Gedanken, nochmal zurückzukehren, baut sich in mir ein immenser Widerstand auf.
Wie konnte Meonore nur?
Frust und Wut kochen in meinem Bauch, während es mich mal wieder Richtung Bibliothek zieht. Auf dem Weg fällt mir auf, dass ich Schinto bisher noch gar nicht begegnet bin. Als Gast müsste er doch an unserem Frühstück teilnehmen, aber wahrscheinlich schläft er noch etwas länger.
Oder ist er bereits wieder abgereist?
Normalerweise bleiben Sänger ja nie lange am selben Ort.
Eigentlich knurrt mein Magen schon beachtlich, als ich im Bibliothekspark ankomme, aber vor dem Frühmahl muss ich unbedingt noch ins Schicksalsbuch schauen, sonst bekomme ich vor Aufregung, die mit jedem Schritt weiter anschwillt, keinen Bissen hinunter. Ich kann allerdings nur hoffen, dass sich das Problem nach dem Blick hinein nicht noch verschlimmert.
Mit großen Schritten steige ich die Wellentreppe empor und trete durch die Pforte, um feststellen zu müssen, dass mal wieder dieser lüsterne Wachmann neben dem Eingang steht. Für den habe ich nun wirklich keinen Kopf, deshalb präsentiere ich ihm mechanisch die Anstecknadel, um dann hastig weiterzulaufen. Erstaunlicherweise verschont er mich heute mal mit dummen Sprüchen und nervigen Lustgefühlen – ob das an meiner veränderten Gemütslage oder an der seinigen liegen mag, lässt sich dabei kaum herausfinden. Meine Gedanken kehren rasch wieder zum Buch zurück, während ich die Stufen in die Höhe steige.
Was werde ich wohl heute darin finden?
Eine unerklärliche Angst breitet sich plötzlich in mir aus, dass sich vielleicht gar keine neuen Bilder zeigen mögen, oder noch schlimmer: dass das Schicksalsbuch unauffindbar verschwunden sein könnte. Ich beschleunige meinen Schritt und gleichzeitig schüttele ich den Kopf über mich selbst. Die Furcht vor schlimmen Bildern wäre ja noch verständlich gewesen, aber dass ich schon so abhängig von neuen Informationen bin, erscheint mir bedenklich. So gesehen hatte die Warnung auf der ersten Seite durchaus ihre Berechtigung. Ich befinde mich bereits im Bann des Buches und alleine die Vorstellung, nicht wieder darin zu blättern, verursacht Schweißausbrüche. In der Zeit davor habe ich mich Zykel-lang in einem Lesesessel verkrochen, um in verschiedenen Werken zu schmökern, jetzt richtet sich mein gesamtes Interesse nur noch auf dieses eine Buch.
Mit donnerndem Herzen marschiere ich durch die Flure und kaum erreiche ich die entsprechende Reihe, erspähe ich auch schon, was ich suche. Schwerlich bringe ich das Beben meines Leibes unter Kontrolle, als ich das Schicksalsbuch herausziehe und noch auf dem Weg zum Lesesessel aufschlage, um direkt bei einem neuen in Kohle gezeichneten Bild zu landen, das mich in wilden Aufruhr versetzt: Ein sich küssendes Paar. Aber ich will nicht sehen, was sich mir dort doch so klar und deutlich zeigt, nämlich, dass es Develor ist, der mich dabei im Arm hält.
»Nein«, hauche ich, wobei das Buch meinen kraftlosen Händen entgleitet. Es landet weich auf dem dicken Teppich, während ich selbst schier im Sessel abtauche. Heftig atmend richte ich mich wieder auf und balle die Fäuste.
»Nein! Nein! Nein! Das darf unmöglich passieren! Niemals werde ich diesen Develor küssen. Es muss doch eine Möglichkeit geben, das zu verhindern. Dieses Buch hat nicht immer recht, oder doch?«
Schwer atmend picke ich es vom Boden auf, um noch einmal die Seite mit dem Gruselkuss zu begutachten, aber ein Missverständnis ist ausgeschlossen. Dieser Lumar verfolgt mich manchmal sogar bis in meine Alpträume hinein und obwohl sich die Menschen dieses Volkes recht ähneln, würde ich ihn unter einer Millionen Lumaren wiedererkennen.
Nach einem Kuss wäre ich mit Develor verbunden, sodass er mich überall aufspüren könnte. Oder bedeutet dieses Bild etwa, er hat mich in dieser Szene bereits auf der Festung in seiner Gewalt? Das darf nicht passieren! Niemals!
Angewidert schlage ich die Seite um, wobei ich die Vorstellung dieses unvermeidlichen Schicksals zu verdrängen versuche. Wie ich befürchtet hatte, herrscht nach dieser Kohlezeichnung gähnende Leere im Buch, daher blättere ich nun zurück zum Anfang, um zu sehen, ob sich dort etwas verändert hat. Die ersten Seiten mit der Warnung und dem Strudelsymbol sind gleichgeblieben. Ich komme zu Landos Gesicht, an dem ich festhänge. Das farbige Gemälde wirkt so lebendig, als würde er leibhaftig vor mir stehen und mich mit traurigen Augen ansehen, wodurch ich mich förmlich in ihrem blauen Leuchten verliere. Mein Herz vollführt mehrere Saltos und für eine ganze Weile versinke ich in dem Bildnis, streichele zärtlich mit dem Finger über Landos gemalte Wange. Irrigerweise spüre ich dabei in meinem Inneren eine Resonanz: ein warmes Prickeln in der Herzgegend, so als könnte er meine Gefühle spüren und erwidern.
Ach Lando, warum muss das mit uns nur so schwer und kompliziert sein? Hoffentlich geht es dir und Lida gut …
»Dich will ich küssen, nicht diesen schrecklichen Develor«, flüstere ich dem Portrait des Lumaren zu.
Am liebsten würde ich diese Seite heraustrennen und mit nach Hause nehmen, um immer ein Andenken an Lando bei mir zu tragen, aber so was ist in der Bibliothek natürlich strengstens verboten und wenn es herauskäme, wäre ich meinen Ausweis für immer los. Das darf ich natürlich nicht riskieren.
Nur schwer gelingt es mir, mich von seinem Anblick zu lösen, um weiterzublättern. Da ist diese Laterne in der Nachtlichtergasse, was die Szenen des unfreiwilligen Kusses in mir lebendig werden lässt, nur dass meine Gefühle dabei völlig andere sind als damals. Jetzt schmiege ich mich in meiner Vorstellung hingebungsvoll an ihn, gebe nicht nur seiner anziehenden Magie Raum, sich zu entfalten, sondern strebe ihm auch mit meinem ganzen Sein entgegen. Es fühlt sich an, als würde ich mit ihm in einem Strudel aus Nacht und Tag zu einer Einheit verschmelzen.
»Iona, du bist schon ziemlich irre.« Ich schüttele über mich selbst den Kopf, als mir bewusst wird, wie sehr sich unsere Beziehung gewandelt hat.
Ist das überhaupt noch gesund? Habe ich mich nicht total in etwas Unmögliches verrannt?
Widerstrebend blättere ich zu der Seite, wo Lando auf dem Boden liegt. Auch dieses Mal knie ich im Bild neben ihm und das Strudelsymbol leuchtet auf unseren Handrücken.
Was das wohl bedeutet?
Nachdenklich mustere ich die entsprechende Stelle meiner Haut, doch keinerlei Spuren des Symbols sind hier zurückgeblieben.
Die nächste Seite zeigt den Felsen, von dem Lando heruntergesprungen ist. Anders als beim letzten Mal fehlt er nun jedoch auf dem Bild, das sich in bunten Farben zeigt – genau wie alle anderen, die bereits der Vergangenheit angehören. Schließlich klappe ich das Buch zu. Der erste Schock über die neueste Enthüllung ist mittlerweile verraucht, sodass ich wieder einigermaßen klar denken kann.
Natürlich werde ich alles tun, um zu verhindern, dass Develor mich küsst, aber wenn es sich nicht vermeiden lässt, bedeutet auch das nicht das Ende. Noch immer habe ich irgendeinen Ausweg gefunden, selbst in Situationen, die ausweglos erschienen, wie beispielsweise meine Gefangenschaft auf Luno, der erste Besuch auf der Erde oder die Entführung durch die Vampire auf Morkor – ein Planet, von dem es scheinbar kein Entkommen gab. Immerhin gelangte ich durch all diese Erfahrungen zur festen Überzeugung, dass sich zu jedem Problem auch eine Lösung findet.
Tief durchatmend stopfe ich das Buch zurück ins Regal, um mich nun, dem Hungergefühl meines Magens folgend, zum Ausgang zu begeben. Viel zu sehr mit mir selbst beschäftigt, bekomme ich dort nicht einmal mit, ob mein »Lieblingswachmann« noch immer seinen Posten bezieht. Ich eile hinaus und biege nach rechts ab, spaziere am See vorbei, bis ich das Café erreicht habe. Dabei versuche ich, das Bild von mir und Develor abzuschütteln, welches sich mal wieder hartnäckig in meinem Hirn festgesetzt hat.
Soweit darf es auf keinen Fall kommen!
»Hey, Iona!«, höre ich plötzlich Sandrinas Stimme und blicke auf. In meinem Tran hatte ich zwar in ihre Richtung geschaut, aber wohl mehr durch sie hindurch, denn statt mich zu ihr und Schinto an den Tisch zu setzen, hatte ich den daneben angesteuert. »Komm doch zu uns rüber!«
»Ach, ihr seid auch hier …«, antworte ich perplex über den Zufall. »Wolltest du denn nicht bei uns im Restaurant frühstücken, Schinto? Dort bekommst du doch alles umsonst.«
»Guten Morgen, Iona«, grüßt er mich und versieht mich mit einem warmen Lächeln, während ich mich am runden, mit Früchten, Säften und Gebäcken ausgestatteten Tisch niederlasse. »Mir gefällt es sehr gut in eurem Restaurant – nicht, dass du was anderes denkst – aber dort war eure neue Aushilfe dermaßen eifrig am Putzen, dass es mir unangenehm gewesen wäre, irgendetwas dreckig zu machen. Deshalb kam mir die Idee, Sandrina hier zum Frühmahl einzuladen. Natürlich hätte ich dich ebenfalls gefragt, wenn ich geahnt hätte, dass du wieder da bist. Ich hoffe ja sehr, dass du spannende Geschichten von deiner Reise mitbringst. Sandrina und ich haben uns schon fantastische Szenarien ausgemalt, wie es auf diesem Magierplaneten aussehen könnte: schwebende Inseln, ein Regenbogen aus Glitzerstaub, geflügelte Reithunde …«
»Nein, nein, da liegt ihr komplett falsch«, entgegne ich lachend. »Und so lange war ich dort auch gar nicht, denn wir haben meinen Bruder auf der Erde besucht und dann bin ich in einer Welt voller Monster gelandet.« Ich unterbreche meinen Redeschwall, zum einen, um bei der heranrückenden Bedienung meine Bestellung abzugeben, zum anderen, weil es wohl mehr Sinn macht, die Geschichte von vorne zu erzählen. Dann aber hängen meine Freunde gebannt an meinen Lippen, ein Szenario, welches ich zu Hause schmerzlich vermisst habe. Während ich eine köstliche Papfelbeerpastete futtere, nippen meine Zuhörer nur hin und wieder an ihren Getränken.
»Lando, dein Bruder und die Magierin sind zusammen losgezogen, um dich und den Feuermagier vom Monsterplaneten zu retten???«, stößt Sandrina dermaßen fassungslos hervor, dass kaum ersichtlich ist, welcher Teil davon sie besonders erschüttert.
»Ja, ich war echt auch überrascht«, gebe ich zu und tupfe mir mit der Serviette den Überrest einer Papfelbeere vom Mund.
»Und wie haben sich die alle verstanden?«, erkundigt sich Schinto mit interessiert schief gelegtem Kopf.
»Lando und mein Bruder gehen erstaunlich freundschaftlich miteinander um, nur Anissa hatte vor allem am Anfang große Schwierigkeiten, ihren Hass auf den Lumaren abzulegen, aber das liegt daran, dass ihr Vater vor ihren Augen von Develor entführt wurde, als sie noch klein war.«
»Ach, echt! Das ist ja grausig«, stößt Sandrina hervor, wobei sie mit ihrer hastigen Handbewegung versehentlich eine reife Mondpflaume aus der Obstschale schupst. »Da bin ich fast froh, dass ich keine Magierin bin, sonst müsste ich ja ständig fürchten, entführt und gegen meinen Willen geküsst zu werden.« Sie pickt die verunglückte Mondpflaume von der Tischdecke und stopft sie sich in den Mund.
»Da sagst du was …«, seufze ich. »Und nach dem neuesten Bild im Schicksalsbuch habe ich auch echt Angst davor.«
»Dass Develor dich entführt?!«, stößt Sandrina erschüttert hervor.
»Vor allem dass er mich küsst«, korrigiere ich kopfschüttelnd.
»Ist das denn sicher, oder könnte sich dieses Buch auch mal irren?«, erkundigt sich Schinto betroffen.
»Das kann ich nur hoffen, aber bisher lag es immer richtig.«
»O Mann, an deiner Stelle würde ich mich gar nicht mehr aus dem Haus wagen.« Sandrina schüttelt sich.
»Aber so kann ich doch auch nicht leben und wenn es sich ohnehin nicht vermeiden lässt, dann muss ich wenigstens versuchen, mein Leben so normal wie möglich auf die Reihe zu kriegen.«
»Ja, stimmt auch wieder«, lenkt Sandrina ein und vergräbt ihre Zähne in einer weiteren Mondpflaume.
»Aber jetzt erzähle doch mal weiter. Konnten euch die Leute im Dorf zu einem Portal führen?« Schinto nimmt den Holzstab mit aufgespießten Beeren aus seinem Farella-Untergangs-Mixgetränk und gönnt sich einen großen Schluck davon.
Ich erzähle von der Verwandlung der Dorfbewohner zu Werwölfen und schließlich von der dramatischen Entführung durch die Vampire, wobei meine Freunde beinahe vergessen zu atmen und ihre Mahlzeit erst wieder fortsetzen, als ich die Befreiung schildere. Dann fasse ich unsere Rückkehr zur Erde zusammen und komme schließlich zum Portaldurchtritt nach Fabolon.
»Puhhh, das wirkt alles doch ziemlich gruselig-fantastisch«, meint Schinto kopfschüttelnd. »Du bist sicher, dass du das nicht alles nur geträumt hast?«, erkundigt er sich augenzwinkernd.
»Absolut«, versichere ich. »Aber noch ist die Geschichte nicht zu Ende, denn zu Hause wartete eine ziemlich üble Überraschung auf mich. Ihr erinnert euch doch sicher noch an den Überfall durch die Grauen in der Singtadelle.«
»Klar, wie könnte ich den vergessen«, brummt meine Freundin missmutig. »Da habe ich mir schon mal eine Leuchtkette geleistet, aber lange hatte ich ja kein Vergnügen daran.«
Sandrinas Augen weiten sich unnatürlich, als ich ihre Kette aus meiner Tasche ziehe und sie vor ihrem Gesicht baumeln lasse. »Hier hast du sie wieder.«
»Wo-wo hast du die denn her?« Freudig strahlend greift meine Freundin nach dem Schmuck und legt ihn sich sogleich um den Hals.
»Du leuchtest wie die Farella, Sternchen«, schmeichelt Schinto grinsend.
Sandrina boxt ihn sanft in die Hüfte. »Keine Flirts vor dem Mittagsmahl, hatten wir doch verabredet.«
»Dieses Frühmahl reicht ja schon bis in den Mittag hinein, so langsam, wie wir heute essen«, feixt der Sänger.
»Ihr benehmt euch wie ein altes Pärchen«, stelle ich fest. »Seid ihr zwischenzeitlich etwa doch zusammen?«
Beide wedeln abwehrend mit den Händen. »Nein, wir sind nur gute Freunde. Die Sache mit der Romantik hat sich endgültig erledigt«, erklärt Sandrina, wobei auch Schinto nickend zustimmt.
»Aus euch werde ich echt nicht schlau, aber zu deiner Frage: Meine Eltern haben eine neue Bedienstete eingestellt und ratet mal, wer das ist.«
»Nein, oder? Die graue Kettendiebin?!«, entfährt es meiner Freundin prompt.
»Genau. Ich habe vielleicht Augen gemacht, als sie plötzlich in unserem Bad stand. Ihr Name ist Slinga und sie legt sich bei uns im Restaurant wirklich mächtig ins Zeug. Meine Eltern sind total begeistert.«
»Ich hätte echt mal öfter bei euch vorbeischauen müssen, als du nicht da warst, dann hätte ich ihnen schon erzählt, was die für eine ist«, meint Sandrina kopfschüttelnd.
»Hast du ihnen denn inzwischen von dem Diebstahl berichtet?«, erkundigt sich Schinto.
»Nein, Slinga wirkte in dem Moment so verzweifelt und ich wollte nicht nachtragend sein. Mir passt es zwar nicht, wie sie sich bei meinen Eltern einschmeichelt, aber vielleicht bin ich ja auch nur eifersüchtig. Es scheint ihr dort wirklich gut zu gefallen und außerdem bin ich froh darüber, dass Meonore und Handrich einen Ersatz für mich gefunden haben.«
»Na ja, ob der Ersatz wirklich so gut ist, wird sich noch herausstellen«, meint Sandrina bitter. »Also, ich traue dieser falschen Schlange nicht über den Weg.«
»Ja, stimmt schon. Auf jeden Fall werde ich wachsam bleiben, auch wegen Develor.« Beim Gedanken an den Lumaren schaue ich mich prompt in der Gegend um. Turtelschwärmchen schwimmen in Paaren auf dem See umher, wo eine Fontäne Wasser in den Himmel sprüht. In den feinen Tröpfchen schillert ein bunter Regenbogen. Lachende Kinder spielen Fangen zwischen den Büschen und turnen in den Ästen der hohen Parkbäume. Alles wirkt so friedlich, dass mir Lumaren-Fürst und die düsteren Welten jenseits meines geliebten Planeten Fabolon gerade fremd und unwirklich erscheinen. Da erspähe ich plötzlich ein bekanntes Gesicht zwischen den Spaziergängern.
»Schaut mal, ist das nicht schon wieder eine Neue, die Leonido da im Arm hält?«, rufe ich mit einem Nicken in die entsprechende Richtung aus.
»Tatsächlich. Die kenne ich, das ist doch Nigitte. Ob ich sie vor ihm warnen soll?«, überlegt Sandrina. Doch in diesem Moment hat uns mein Ex-Freund bereits erspäht und zieht seine neue Errungenschaft prompt in die entgegengesetzte Richtung davon.
»Ach, lass mal. Sie wird es schon noch merken, außerdem können wir ja nicht ausschließen, dass tatsächlich mal seine echte große Liebe dabei ist«, erwidere ich und muss dabei automatisch an Alexander denken, der sich ständig in Frauen zu verlieben scheint, die er für die Liebe seines Lebens hält.
Wie es Finn und Alex wohl auf Kastron ergeht?
Obwohl es gerade mal einen Tag her ist, dass ich meine Magier-Freunde gesehen habe, vermisse ich sie bereits. Es schweißt eben schon sehr zusammen, wenn man gemeinsam derart heftige Abenteuer erlebt.
»Vielleicht sollte ich tatsächlich nach Kastron zurückkehren. Da wäre ich wenigstens vor Develor sicher«, murmele ich vor mich hin.
»Du willst schon wieder abreisen?« Schinto lässt von den Resten seines Plombeerkuchens ab, die er gerade mit seinem Löffel einzusammeln versucht hatte, und blickt bedauernd zu mir auf. »Und ich dachte, nach deiner Rückkehr treten wir im Sternentanz endlich mal gemeinsam auf.«
»Wie kommst du darauf, dass sich an meinem Nein etwas geändert haben könnte?«, bringe ich verblüfft hervor. Unwillkürlich streiche ich mir bei dem Gedanken eine Haarsträhne hinters Ohr. Tief in meinem Inneren besteht eben schon noch der Drang, meinen Gefühlen durch den Gesang Ausdruck zu verleihen – wenn nur dieses Lampenfieber nicht wäre.
»Na, wer so viele Gefahren durchgestanden hat, sollte doch keine Angst mehr haben, vor ein paar Leuten zu singen.« Er zwinkert.
»Das kann man überhaupt nicht miteinander vergleichen. Und früher habe ich tatsächlich dort mal die Gäste besungen, aber der Reinfall in der Singtadelle hat bei mir wohl ein Trauma hinterlassen. Vielleicht bin ich ja irgendwann wieder bereit dazu, aber mit Slinga im Restaurant ist mir nun wirklich nicht nach Singen zumute.«
»Na gut, ich verstehe natürlich, dass du gerade mit ganz anderen Problemen zu kämpfen hast«, erklärt Schinto.
»Aber was ist eigentlich mit dir? Willst du nicht langsam mal zu den anderen deiner Morgentau-Gruppe nach Punto reisen?«
»Schinto bleibt in Faresia!«, kommt Sandrina dem Sänger freudestrahlend mit der Antwort zuvor.
»Tja, wie es aussieht, will Marino dauerhaft in Punto wohnen bleiben, um sich um seine angeschlagene Mutter zu kümmern«, beginnt der Sänger seine ausführliche Version der Erklärung. »Wie er schreibt, hat er für Auftritte derzeit keinen Kopf und auch Terzio geht mit seiner Musik jetzt ganz eigene Wege, deshalb sieht es so aus, als ob sich unsere Morgentau-Gruppe gerade auflöst.«
»Oh, das tut mir leid«, antworte ich, obwohl der Sänger nicht besonders traurig wirkt. Jedenfalls sprudeln die Gefühle meiner beiden Freunde permanent fröhlich durch meinen Leib.
»Dafür bleibt Schinto erst mal in Faresia«, erklärt Sandrina zum wiederholten Male. »Und mit seinem Gesang bringt er immer viele Gäste in euren Sternentanz.«
Kaum zu glauben, dass Sandrina angeblich nicht mehr verliebt sein soll, wo sie in seiner Gesellschaft immer so strahlt.
»Ja, ich habe mit deinen Eltern eine Abmachung getroffen, dass ich im Gegenzug dort kostenlos wohnen und essen kann«, ergänzt der Sänger schmunzelnd. »So schnell werdet ihr mich also nicht mehr los.«
»Als ob dich jemand loswerden wollte …«, entgegne ich kopfschüttelnd, obwohl ich natürlich merke, dass sein Spruch eher scherzhaft gemeint war.
In der Gesellschaft meiner Freunde fühle ich mich wohl, wogegen mein Bauch beim Gedanken an zu Hause unangenehm grummelt. Doch ewig kann ich hier ja wohl kaum sitzenbleiben, und als wir alle unser bis zum Mittag andauerndes Frühmahl bis auf den letzten Krümel verspeist haben, kehre ich gemeinsam mit Schinto in den Sternentanz zurück, wogegen meine Freundin die nahegelegene Schneiderei ihrer Eltern ansteuert. Die Wolken haben sich zwischenzeitlich zu einer geschlossenen, dunklen Decke verdichtet, als würden sie das nahende Unheil bereits ankündigen.
Hoffentlich haben sich die Gemüter inzwischen beruhigt.
Iona, Fabolon, Faresia 1211, A 10
Im Restaurant herrscht Hochbetrieb. Klapperndes Besteck, klirrende Gläser, redende, schmatzende und lachende Menschen füllen die Geräuschkulisse, als ich die Tür aufstoße.
»Wie schön, mein Herzchen tanzt zu uns herein«, flötet Opi. Gravik ist doch in jeder trüben Stimmung immer wieder ein Lichtblick. Ich versehe die Halbglatze meines Großvaters mit einem Kuss, während Schinto schon die Treppe zu den Gästezimmern ansteuert. Zuvor hatte er mir noch erklärt, dass er ein Bad nehmen möchte, was peinliche Bilder in mir hervorrief, als er mich einmal in der Wanne liegen sah. Das fühlt sich jetzt jedoch schon wieder so fern an, als wären Urzeiten vergangen.
»Iona, da bist du ja endlich.« Meonore eilt mir missmutig entgegen, um mir die Schürze zuzuwerfen. Ihr vorwurfsvolles Grummeln drückt in meiner Magengrube. »Bei dem Andrang hätten wir deine Hilfe heute dringend benötigt.« Dabei schaut sie mich nicht mal an und außerdem summt eine seltsam befremdliche Vibration in meinem Körper. Ich spüre viele Gefühle verschiedenster Leute, daher bin ich mir unsicher, ob sie tatsächlich von Meonore stammt.
»Ach so, aber für mich sah es heute Morgen so aus, als würde Slinga jetzt alle meine Aufgaben übernehmen«, brumme ich gereizt, wobei ich widerwillig die dunkelgrüne Schürze mit der hellgrünen Tänzerin darauf um meinen Leib schnüre.
»Das arme Mädchen braucht dringend eine Pause, nachdem sie die ganze Nacht durchgearbeitet hat. Slinga ist ja fast schon im Stehen eingeschlafen.«
»Dann hätte sie nicht …« Statt den Satz zu beenden, steuere ich seufzend die Küche an, zum einen, weil mir natürlich klar ist, dass es schlecht ankommt, wenn ich Slinga für ihren Eifer kritisiere, zum anderen, weil Mama bereits auf einen ungeduldig fingerschnippenden Gast zueilt, um die Bestellung aufzunehmen.
In der Küche ist Papa eifrig damit beschäftigt, Gemüse zu zerkleinern. »Na, endlich kommst du auch mal vorbei, Iona. Du kannst gleich hier weitermachen.« Er verlässt das Schneidebrett, um etwas aus dem Ofen zu holen. »Vermoxt! Beinahe wäre mir der Auflauf angebrannt. Was ist das nur für ein Tag heute?«
»Wieso? Wenn er nur beinahe angebrannt ist, hast du doch Glück gehabt«, entgegne ich, wobei ich Papas Schnippelarbeit übernehme.
Darauf grummelt er nur etwas Unverständliches. Auch in der Gegenwart meines Vaters nehme ich eine unangenehme Distanz wahr, die ich mir nicht recht erklären kann. Da ich eine derart seltsame Stimmung nicht ertrage, ohne es anzusprechen, pfeffere ich das Messer auf die Umtschucken und wende mich Handrich zu, der den Auflauf auf der Ablage für die fertigen Gerichte platziert.
»Papa, was ist denn los? Seid ihr etwa noch immer sauer auf mich, dass ich Slinga nicht so toll finde wie ihr?«
»Also, Iona …« Mein Vater wendet sich mir zu und fährt sich stirnrunzelnd über die Glatze. »Weißt du, deine Eifersucht finde ich nicht gerade angebracht, schließlich warst du es doch, die uns verlassen hat, aber …«
In diesem Moment stürmt Meonore herein, um die Auflaufschale mitzunehmen. »Es ist wirklich unerhört, was du Slinga unterstellst!«, schimpft sie in meine Richtung und macht dann auf dem Absatz kehrt, um die Küche wieder zu verlassen.
»Was? Wovon redet ihr denn überhaupt?« Verdattert schüttele ich den Kopf. »Was soll ich ihr unterstellt haben?«
»Iona, das hätten wir wirklich nicht von dir gedacht«, brummt Papa enttäuscht. »Wir sind so froh über ihre Hilfe, aber heute Morgen ist sie weinend zusammengebrochen, wollte uns erst gar nicht erzählen, was los ist, um dich nicht in ein schlechtes Licht zu rücken.«
»Wie bitte?«, entfährt es mir aufgebracht. »Wovon redest du überhaupt, Papa?«
»Sag die Wahrheit, Iona! Hast du Slinga unterstellt, eine Diebin zu sein?«
Ich klappe meinen Mund auf und wieder zu, wie ein Fisch auf dem Trockenen. »Ja, natürlich, weil sie auch eine Diebin ist«, erkläre ich schließlich. »Sie hat Sandrina ihre Kette geklaut. Vielleicht erinnerst du dich daran: Ich hatte euch damals von dem Überfall der Grauen in der Singtadelle erzählt.«
Doch Handrich schüttelt nur traurig den Kopf. »Das kann Slinga unmöglich gewesen sein, denn sie ist erst seit Kurzem in Faresia und davor hat sie auf einem Schiff gearbeitet.«
»Ja, klar, das erzählt sie! Aber es ist eine Lüge. Ich habe sie erkannt und sie mich auch.«
Das Misstrauen meines Vaters brennt in meinem Herzen, während er stirnrunzelnd den Kopf schüttelt.
Wie kann er dieser fremden Grauen mehr Vertrauen schenken als mir, seiner Tochter?
»Ich kenne den Kapitän, er hat es bestätigt, Iona.«
»Wie? Das kann unmöglich wahr sein!«, schimpfe ich mit in die Hüften gestemmten Fäusten. »Diese falsche Schlange spielt ein ganz mieses Spiel.«
»Wo bleibt der Butterfisch?« Meonore stürmt abermals zur Küche herein, wobei sie mich aus zusammengekniffenen Augen flüchtig mustert.
Handrich eilt zur Pfanne, um den schon ziemlich kross gebratenen Fisch auf einen Teller zu schieben. »Porschott!«, flucht er, um daraufhin seiner Frau das Essen zu reichen.
»Steh doch nicht so untätig rum, Iona! Die Gäste warten auf das Gemüse«, fährt mich Mama an und stürmt schon wieder nach draußen, doch allmählich wird mir diese üble Stimmung und das Misstrauen meiner Eltern zu viel. Mit geballten Fäusten stehe ich einfach nur steif da.
»Es kann doch nicht sein, dass ihr dieser Slinga mehr glaubt als mir.« Ungläubig schüttele ich den Kopf.
»Na ja, was wundert es dich? Dass du eine von Meonores Ketten in Slingas Tasche stecken wolltest, um sie als Diebin darzustellen, das geht wirklich zu weit. Iona, ich bin sehr enttäuscht von dir.«
»Aber das ist eine Lüge!«, schreie ich, was Handrich dazu bringt, sorgenvoll Richtung Gastraum zu schielen. Außerdem spüre ich, wie sich meine Magie gerade zu verselbständigen droht. Flammen züngeln für einen Moment aus meinen Augen, was meinen Vater vor mir zurückweichen lässt. Ich fahre meine Emotionen sogleich herunter, dadurch tritt allerdings der Kummer umso stärker zutage, wodurch die Umgebung in meinen wässrigen Augen leicht verschwimmt. »Warum glaubst du dieser grauen Bediensteten mehr als mir, deiner Tochter?«, wispere ich erstickt. Immerhin erfährt Handrichs Gemüt dadurch nun auch einen Dämpfer.
»Seit du weg warst, hast du dich sehr verändert, Iona«, antwortet er mit belegter Stimme, wobei er sich gegen die Ablage in seinem Rücken presst, als müsste er Abstand zu mir halten. »Und Slinga wollte uns das eigentlich gar nicht erzählen, wir mussten es regelrecht aus dem heulenden Mädchen herauspressen. Außerdem hat man doch von Anfang an deine Eifersucht gespürt und die Beweise sprechen nun mal gegen dich. Der Kapitän Ulsek hat bestätigt, dass Slinga bis zum Sternenfest auf seinem Schiff mitgefahren ist. Als du in der Singtadelle warst, lagen sie gerade in Punto vor Anker.«
»Das ist alles nicht wahr.« Verletzt schüttele ich den Kopf. »Aber wenn ihr so was von mir glaubt, will ich auch nicht länger hierbleiben. Eigentlich ist es in Faresia sowieso zu gefährlich für mich.« Damit reiße ich mir die Schürze vom Leib und pfeffere sie auf die Gemüsekiste.
»Aber Iona! Wie soll ich das hier alleine schaffen?«
»Dann weck doch die liebe, fleißige Slinga«, zische ich und stapfe zornig aus der Küche und durchquere unter den neugierigen Blicken mehrerer Gäste den Saal.
Handrich und ich waren wohl so laut gewesen, dass die Leute Teile der Unterhaltung mitbekommen haben.
»Wo willst du denn hin, Iona?«, ruft Meonore, aber die Antwort spare ich mir, stattdessen flüchte ich über die Treppe nach oben. Mehrere Stufen auf einmal nehmend, komme ich wenig später im zweiten Stock an, wo ich heftig atmend in meinem Zimmer verschwinde. Noch wollen die Tränen nicht fließen, zu taub fühlt sich alles an, zu erschüttert bin ich über das Misstrauen meiner Eltern, die mich doch eigentlich gut genug kennen müssten, um zu wissen, dass ich niemals derartige Lügen verbreiten würde.
Da ich mein Gepäck noch nicht mal ausgepackt habe, brauche ich nicht lange, um mich reisefertig zu machen. Lediglich ein Kleid tausche ich aus und dann verlasse ich dieses Zimmer, das sich schon gar nicht mehr nach Zuhause anfühlt. Im Flur treffe ich prompt auf Slinga, die gerade verschlafen ihre Glieder reckt.
»Du verbreitest üble Lügen über mich!«, fahre ich sie an, woraufhin sie die Arme erschrocken runter nimmt und mich zornig anfunkelt.
»Tue ich gar nicht. Du bist die Lügnerin!«
»Gemeine Diebin! Spielst hier ein ganz mieses Spiel!« Zornig trete ich auf sie zu, wobei ich jedoch merke, wie die Magie mal wieder Feuer zu entfachen droht. So gerne ich in diesem Moment Slinga damit versengen würde, verletzen möchte ich damit natürlich niemanden und außerdem will ich ihr auf keinen Fall meine Magie demonstrieren. Schlimm genug, dass Meonore ihr davon erzählt hat. Ich versuche, die Feuerurenergie umzuleiten, um einen roten Ball zu produzieren, doch kann ich nicht verhindern, dass meine Pupillen trotz allem Widerstand ein rotglühendes Licht auf die Wangen meiner Widersacherin werfen. Slingas Augen weiten sich vor Schreck, während sie einen spitzen Schrei ausstößt. »Hilfe! Hilfe! Iona will mich verbrennen!«, brüllt sie, woraufhin die Graue in halsbrecherischem Tempo die Stufen hinunterstürzt.
Oje, das wird meine Pflegeeltern nur noch mehr gegen mich aufbringen.
»Porschott!«, fluche ich und steige ebenfalls nach unten. Dieses Mal sind sämtliche Augen der Gäste auf mich gerichtet, als ich den Saal betrete. Meonore schüttelt missbilligend den Kopf, während sich Slinga hinter ihrem Rücken versteckt.
Gerade kann ich mich kaum zwischen unbändigem Zorn und Kummer entscheiden. Außerdem ist da auch noch eine Scham über das, was die Leute jetzt wohl von mir denken mögen, ein Gefühl, das ich eigentlich von mir weisen sollte.
»Was glotzt ihr denn alle so?«, rüffele ich die Starrenden. »Ich habe nichts verbrochen.«
Mit meiner Reisetasche über dem Rücken steuere ich den Ausgang an. Trotz der voll besetzten Tische herrscht Stille im Saal, die von einem lauten Schnarcher meines Großvaters durchbrochen wird. Zwischenzeitlich ist er in seinem gepolsterten Hochstuhl eingeschlafen.
Besser so.
Wenn ich mich jetzt von Opi verabschieden müsste, würde ich bestimmt in Tränen ausbrechen, deshalb bin ich froh über seinen Schlummer. Ich hatte irgendeine Reaktion meiner Eltern erwartet, doch bleiben sie stumm zurück. Umso dumpfer fällt das Gefühl aus, welches mich nach diesem Streit begleitet.
Kann ich sie jetzt überhaupt noch als meine Eltern bezeichnen, wo uns weder das Blut noch sonst eine Beziehung miteinander verbindet?
Ein kühler, von Nieselregen geschwängerter Wind schlägt mir entgegen, als ich auf die Straße trete. Jetzt passt das Wetter zur Abwechslung mal zu meiner Stimmung. Und schon rinnen die ersten Tränen über meine Wangen, vermengen sich mit der Feuchtigkeit, die meine Haut benetzt.
Wie können mich Handrich und Meonore für so hinterhältig halten?
Gebeugt, um Regen und Wind möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten, haste ich über das nasse Kringelsteinpflaster durchs Nobelviertel bis zum Brunnen, wobei ich von Zeit zu Zeit kummervoll schluchze. Bei diesem Wetter sind hier nur wenige Leute unterwegs, sodass niemand Notiz von mir nimmt.
Da ich sowieso schon feucht bin, fällt der Unterschied gering aus, als ich ins Brunnenbecken steige und mich das kühle Nass umhüllt. Ich bemühe mich gar nicht erst, durch den Wasserfallvorhang zu treten, sondern tauche gleich bis zum Grund, um mich zu entspannen. Das ist jedoch leichter gedacht als getan, da ich von unserem Streit noch immer viel zu aufgewühlt bin. Außerdem fröstele ich im kühlen Wasser. So muss ich noch einmal auftauchen, um tief Luft zu holen. Beim zweiten Versuch klappt es dann endlich. Mit dem intensiven Gedanken an Kastron werde ich durch einen Lichtschlauch gezogen, passiere problemlos die magische Barriere, um im Brunnen des Magierplaneten wieder aufzutauchen. Kaum steige ich aus dem Wasser, trocknet mich ein warmer Wirbelwind, was ich als äußerst wohltuend empfinde. Dabei lässt der grandiose Ausblick ins Tal meine Sorgen allmählich verblassen. Die im strahlenden Farellaschein glänzenden Gebäude, welche aus dem Strom herausragen, scheinen mich freudig willkommen zu heißen.
Und doch streift mich eine unangenehme Vorahnung, dass dieser Friede trügerisch sein könnte.
Iona, Kastron, 1211, A 10 (Fabolonzeit)
Bevor ich mich an den Abstieg wage, blinzele ich benommen. Dieser plötzliche Wechsel in eine völlig andere Welt überfordert mich ein wenig.
Also wieder zurück auf Kastron. Tatsächlich bin ich jetzt auf diesem Magierplaneten gelandet, bei Finn, Alexander und Anissa.
Mit der Vorfreude auf meine Freunde im Herzen atme ich nun tief durch und steige die Stufen hinab, wobei ich Schritt für Schritt tiefer in diese Welt eintauche und Fabolon samt all dem Unfrieden in weite Ferne rückt.
Der Weg über die lange Treppe hilft mir ganz gut, hier erst mal richtig anzukommen. Wäre ich sofort im Allversum gelandet, würden mich die vielen neuen Eindrücke vermutlich erschlagen.
Unten angekommen atme ich schließlich frei durch. Ein fremder Magier in goldenem Gewand nickt mir freundlich zu und ich nicke mindestens ebenso freundlich zurück. Von hier aus setze ich meinen Weg durch Pavillonhäuser und über Brücken Richtung Allversum fort.
»Iona?!«, fliegt mir plötzlich Finns überraschter Ausruf zu.
Er steht in einer Gruppe von jugendlichen Magiern, in der ich jetzt auch Anissa, Alex und das Leamor-Schwarm-Duo erspähe – die Namen der Mädels sind mir allerdings entfallen. Freudig kommen mir meine Freunde entgegen, wobei mich Finn als erster in die Arme schließt. Dabei lasse ich die Reisetasche von der Schulter gleiten, um meinen Bruder ebenfalls an mich zu drücken.
»Hey, so schön, dass du da bist.« Er weicht von mir, um mich zu mustern. »Du, wenn ich gewusst hätte, wie cool es hier ist, wäre ich schon eher hergekommen.«
»Na, hattest du doch Sehnsucht nach mir, Schatzi? Oder warum bist du so schnell wieder da?«, erkundigt sich Alexander, wobei er mich ebenfalls in seine Arme zieht – eine Geste, die von meiner Seite her allerdings eher holzig ausfällt.
»Ähm, nicht direkt, Schatzi.« Ich schiebe Alex von mir fort, was er mit fröhlichem Lachen quittiert.
»Nimm’s mir nicht übel. War nur n’ kleiner Scherz. Ich weiß doch, dass du diesem blassen Typen verfallen bist.«
Daran will ich jetzt jedoch absolut nicht erinnert werden, denn auch so schon ist es schwer genug, meine Sehnsucht und Sorge um Lando im Zaum zu halten, deshalb antworte ich darauf lediglich mit einem unwilligen Brummen und wende mich Anissa zu. Sie umarmt mich so herzlich, als hätten wir uns schon ewig nicht mehr gesehen.
Ist seither wirklich nur ein einzelner Tag vergangen?
»Wir wollten gerade in den Speisesaal aufbrechen. Bist du auch hungrig?«, erkundigt sich meine Freundin.
»Ja, schon. Ich bringe nur eben meine Reisetasche aufs Zimmer. Ist das vom letzten Mal denn noch frei?«
»Natürlich. Es bleibt für dich reserviert, bis du offiziell ausziehst. Wir haben wesentlich mehr Zimmer als registrierte Magier, daher herrscht niemals Platzmangel.«
»Sehr praktisch.« Gemeinsam mit meinen Freunden steige ich die Portaltreppe empor.
»Ein guter Punkt«, mischt sich nun Alexander in das Gespräch, »wir haben noch gar nicht über das Finanzielle gesprochen. Der Unterhalt und die Verpflegung hier müssen doch ein kleines Vermögen kosten und ich bezweifele, dass ich in der hiesigen Währung bezahlen kann.«
Da muss ich ebenfalls schlucken, weil mir derartige Gedanken noch nicht einmal in den Sinn kamen. Anissa lacht jedoch hell auf. »Wir haben überhaupt keine eigene Währung. Jeder macht bei uns nur das, wozu er Lust hat, deshalb bist du auch niemandem etwas schuldig.«
»Echt? Und das funktioniert?«, staunt Alex. »Die Leute arbeiten hier alle freiwillig?«
»Man kann wohl kaum von Arbeit sprechen, wenn man genau das macht, wozu man Lust hat. Meine Mutter und mich zum Beispiel erfüllt es einfach, die Neulinge in der Emotionskontrolle zu begleiten und freuen uns über jeden ihrer Fortschritte. Andere haben Spaß daran, leckere Speisen zu kreieren oder neue Gebäude zu gestalten. Durch die Magie haben wir ja alles hier im Überfluss, deshalb benötigen wir auch kein Tausch- oder Geldsystem.«
»Und wer putzt die Zimmer?« Mit verschmitzter Miene legt Alexander den Kopf schief.
»Das macht natürlich jeder selbst, aber wir haben auch einen leicht anzuwendenden Reinigungszauber mit einem Wort verknüpft: Schlisch.« Kaum verlässt der Zischlaut Anissas Lippen, da fegt ein kniehoher Wirbelwind den Flur entlang und saugt dabei sämtliche Staubteilchen in sich ein, um damit durchs offene Fenster am Flurende zu verschwinden.
»Wow! Das ist fast genauso gut wie mein eigener Putzzauber«, lobt Finn.
Inzwischen haben wir die Tür zu meinem Zimmer erreicht. Drinnen sieht es noch genauso aus, wie ich es verlassen habe, außer, dass jemand stapelweise fabolonische Goldmünzen auf meinem Nachttisch deponiert hat.
»Wo kommt das denn her?«, erkundige ich mich an Anissa gewandt. »Hast du das hierhergelegt?«
»Klar, davon haben wir mehr als genug vorrätig und es erleichtert doch erheblich das Reisen, wenn man sich um die Bezahlung nicht sorgen muss.«
Ich erinnere mich daran, dass die Magier auch auf der Erde immer genug Geld bei sich hatten. Aber da man das Gold nicht essen kann, lege ich meine Reisetasche auf dem Sessel ab, um dann gemeinsam mit meinen Freunden den Weg zum Speisesaal anzutreten.
»Eigentlich kein schlechtes System, doch kann ich mir nicht vorstellen, dass so etwas bei uns funktionieren würde«, greift Alexander das Thema wieder auf. »Da würden doch alle nur noch faul auf dem Rücken liegen und warten, dass andere etwas für sie tun.«
»Aber bestimmt nur so lange, bis ihnen langweilig wird und sie sich automatisch nach einer Aufgabe umsehen«, entgegnet Finn. Dafür schenkt ihm Anissa ein Lächeln, das Steine zum Schmelzen bringen könnte.
Also doch!
»Läuft da eigentlich was zwischen euch?«, kann ich mal wieder meinen Mund nicht halten und dementsprechend ertappte Blicke schnellen sogleich in meine Richtung.
»Nein, natürlich nicht«, wehrt Anissa mit hochroten Wangen und wedelnden Händen ab, während Finn energisch den Kopf schüttelt.
»Schade, ich finde, ihr würdet ganz gut zusammenpassen«, bemerke ich, wobei ich mir mein breites Grinsen über die beiden beschämten Gesichter nicht verkneifen kann.
»Mmm, das duftet ja schon lecker«, antwortet meine Freundin in merklich erhöhter Tonfrequenz, wobei sie mich mit vorwurfsvollen Blicken straft.
»Ich rieche nichts«, meint Alexander schnuppernd, während er als erster durch den Eingang des Speisesaals tritt. »Ach ja, jetzt … Aber – hm, ich finde es duftet überaus eigenartig.«
»Wahrscheinlich hat sich Leamor mal wieder an einem neuen Rezept versucht.« Anissa verzieht nun ebenfalls das Gesicht.
»Du meinst den Frauenschwarm und Lehrer für Portale?«, hake ich nach. Schließlich könnte man sich bei den vielen Namen auch mal vertun. »Der kocht das Essen hier?«
»Nicht oft, nur manchmal probiert er etwas Neues aus, aber bisher hat mir noch keines dieser exotischen Gewürze geschmeckt, die er dafür verwendet.«
Während wir aufs Buffet zusteuern, halte ich schon mal Ausschau nach etwas, das nicht so aussieht, als würde es derart eigenartig duften. »Leamors Kochkünste wären dann schon mal ein Minuspunkt für den Herzensbrecher«, bemerke ich, doch dieser Kommentar bringt mir Anissas Augenrollen ein.
»Eine Disziplin, in der ich wiederum hervorragend punkten könnte«, rühmt Alex sich selbst.
»Finn kocht auch super«, preise ich meinen Bruder an. »Seine französische Zwiebelsuppe hat echt lecker geschmeckt.« Vorsichtshalber lege ich mir lediglich zwei Wattasbrote auf den Teller, die kenne ich wenigstens.
»Schwesterchen, jetzt lass das mal sein.« Finn schüttelt tadelnd den Kopf. »Wenn ich Hilfe beim Flirten benötigen sollte, werde ich mich schon bei dir melden, okay?«
»Jaja, ist gut.« Ich lasse meinen Blick durch den Saal schweifen und entdecke dabei zwei der Ratsmitglieder an einem etwas entfernter gelegenen Tisch: Kreigu Rendrock und Isodar Krodstall. Beide nicken mir freundlich zu und ich nicke verhalten zurück.
Innerlich anfreunden konnte ich mich mit diesen beiden Gestalten bisher noch nicht. Alleine, dass sie so pauschal gegen alle Lumaren eingestellt sind, schafft bei mir eine kaum überwindbare Distanz.
Wir steuern gerade gemeinschaftlich einen freien Tisch an, da tritt plötzlich Leamor Leinstel mit einem Teller in der Hand auf uns zu. Darauf dampft ein undefinierbarer violetter Kringel, über den sich eine giftig gelbe Soße ergießt. Intensiver Duft von leicht verrottetem Fisch, gemischt mit dem abgestandenen Wasser aus einem Tümpel, strömt mir entgegen. »Na, ihr Lieben, habt ihr schon meine Oktopustörtchen auf Sinaisoße probiert?« Er zwinkert vor allem Anissa und mir gönnerhaft zu, während er sich gemeinsam mit uns niederlässt. Dabei spüre ich eine gewisse in der Luft liegende Nervosität, die sich in einem flatterhaften Pochen in meiner Brust äußert. Der Frauenschwarm hat tatsächlich etwas Anziehendes, wobei ich noch nicht recht greifen kann, was außer seinem guten Aussehen dahintersteckt. Niemand von uns ist gewillt, seine Frage zu beantworten, doch die Grimassen meiner Freunde lassen auf Magen-Darm-Probleme schließen. Nachdem die erhoffte positive Resonanz ausbleibt, wendet sich das Ratsmitglied, welches nun zu meiner Linken sitzt, mir zu: »Nun, meine Liebe, ich hörte bereits von euren unfassbaren Abenteuern. Aber das kann doch kaum alles der Wahrheit entsprungen sein, oder? Ich denke, bei der Sache mit dem Lumaren, der euch gerettet haben soll, hat Anissa sicher allzu dick aufgetragen.«
Deutlich spüre ich unbändigen Zorn in mir aufwallen, wodurch sich jegliche Affinität, die ich bis dahin für ihn empfunden hatte, augenblicklich ins Gegenteil verkehrt. »Es ist die reine Wahrheit«, blaffe ich ihn unwirsch an, wobei ich das Wattasbrot, welches ich eben noch zum Mund führen wollte, wieder zurück auf den Teller pfeffere. »Dieser Lumar heißt Lando und ist eben nicht wie die, die euch überfallen. Er hat uns mehrfach gerettet und auf seinem Planeten gibt es noch andere liebenswerte Lumaren, die ihr hier aber noch nie zu Gesicht bekommen habt, weil dieser Fürst Develor alleine die Portale kontrolliert.«
»Na, na, nur ruhig Blut, meine Liebe.« Leamor reckt sich und vollführt eine beschwichtigende Geste über seinem Oktopustörtchen, als wollte er es streicheln. »Nun gut, mag sein, mag sein – wenn auch schwer vorstellbar. Dann wollen wir mal nicht länger in schlechter Stimmung verweilen, sondern lasst uns lieber speisen.«
Mit dem Portaltrainer am Tisch verläuft unser Essen jedoch relativ schweigsam. Dabei beobachte ich, wie ihn Anissa, die neben Finn sitzt, immer wieder beäugt und ich wünschte, ich könnte ihre Gedanken lesen, um zu erfahren, was in meiner Freundin vorgeht.
Ob sie immer noch Gefühle für ihn hegt? Oder ist sie jetzt eher hinter meinem Bruder her?
Doch diese Fragen müssen wohl warten, bis wir wieder unter uns sind.
Auch nach dem Essen findet sich erst einmal keine Gelegenheit dazu, denn ich begleite meine Freunde zum Kuppelsaal unter dem Fluss. Hier trainieren wir alle gemeinsam die Kontrolle unserer Magie und ich staune mal wieder über Alex, wie geschickt und angstfrei er inzwischen mit seinem Feuer umgeht. Wenn ich das mit der Panik vergleiche, die er zu Beginn unserer Bekanntschaft schon bei einem winzigen Flämmchen zeigte, dann liegen nun ganze Welten dazwischen. Finn gelingen ein paar Lichtzauber und eine kleine Flamme kann er ebenfalls entzünden, doch seine Spezialität ist und bleibt die Telekinese. Anissa beherrscht alle Elementarkräfte gleichermaßen, lediglich die Luft liegt ihr nicht besonders gut – ganz im Gegensatz zu Finn.
Während unserer Zauberübungen können die beiden kaum aufhören, sich gegenseitig zu necken.
»Ich weiß, du denkst dasselbe wie ich: Zwischen denen läuft doch etwas«, bemerkt Alex meinen Blick und stößt mich mit dem Ellenbogen in die Hüfte.
»Sieht fast so aus. Ein schönes Paar wären sie doch, oder?«, bestätige ich nickend.
»Na, ich würde Anissa jedenfalls nicht von der Bettkante stoßen. Aber da ich bei euch beiden ja keine Chance habe, muss ich nachher mal nach hübschen Magierinnen Ausschau halten.«
»Ach, ist dir hier etwa noch keine Traumfrau begegnet?«, erkundige ich mich, wobei meine Lippen ein spöttisches Grinsen formen.
»Ich seh’ schon, du machst dich mal wieder über mich lustig. Aber das war nicht gespielt, ich hatte mich echt in dich verliebt. Mittlerweile bin ich zwar darüber hinweg, aber auch dich würde ich nicht verschmähen, wenn du diesen Lumaren doch noch vergessen könntest, Iona.« Er zaubert für mich ein flammendes Herz aus seinen Händen.
Kichernd schüttele ich den Kopf. »Damit wirst du sicher einige Jolinas beeindrucken können, mich aber leider nicht.«
»Jolinas? Was ist denn das?«
»Hm, das Wort gibt’s auf der Erde wohl nicht. Es ist ein Überbegriff für alle weiblichen Wesen, egal welchen Alters.«
»Also, egal ist mir das Alter auf keinen Fall«, grunzt Alex. »Ein oder zwei Jahre jünger wäre optimal, dazu rotblondes Haar, blassrosa Wangen, keine angewachsenen Ohrläppchen – dann kann man besser dran knabbern und …«
»Sooo genau will ich das nun wirklich nicht wissen«, wehre ich ab und wedele mit den Händen. Dabei beobachte ich, wie Finn Anissa wie zufällig über den Handrücken streicht. Sie tut jedoch, als hätte sie nichts bemerkt und steuert auf mich zu.
»Iona, was für einen Zauber willst du denn eigentlich lernen?«, erkundigt sich meine Freundin.
»Mich faszinieren vor allem verschiedene Putzzauber. Gibt es da auch einen für die Fenster oder um den Boden zu wischen?«, erkundige ich mich nicht ohne Hintergedanken. Eigentlich ist es ja dumm, wenn ich anfange, mich mit Slinga in Putzfähigkeiten zu messen, das weiß ich ganz genau. Die Wunde, die der Konflikt bei mir gerissen hat, lässt sich jedoch nicht so leicht davon überzeugen, die Sache auf sich beruhen zu lassen.
So bringt mir Anissa einen Spruch der Wasserurkraft bei, welcher mit dem Zauberwort Lillisch verknüpft ist. Er funktioniert am leichtesten, wenn man einen gefüllten Putzeimer vor sich hat. Das Wasser darin dreht sich dann in einem Strudel, hebt sich heraus und wirbelt über den Boden und die Wände hinauf, um alle kleineren Anhaftungen abzulösen. Am Ende kehrt das ziemlich schmutzige Wasser in den Eimer zurück.
»Vorher sollte man allerdings alles wegräumen, was Wasser nicht verträgt. Mit diesem Spruch meidet es zwar automatisch Haut und Textilien, doch wenn irgendwo Kleinteile herumliegen, nimmt sie der Wasserwirbel womöglich auch mit«, warnt Anissa. »Meine Mutter hatte mal aus Sand eine Skulptur geformt, die war nach dem Wischzauber nur noch ein unförmiger Klumpen.«
»Das muss ich echt auch lernen. Die Mädels werden begeistert sein, wenn bei mir nicht mal mehr geputzt werden muss«, ruft Alex freudig aus.
»Für dich könnte Lillisch schwerer anzuwenden sein. Deine Feuerurkraft ist so übermächtig, dass sie dem Wasserurkraftzauber womöglich im Wege steht. Aber versuch’s doch einfach mal.«
»Lillisch!«, ruft Alex aus, wobei er mit den Händen einen imaginären Wirbel über dem Wassereimer dreht. Feuerfunken sprühen heraus, vermengen sich mit dem schmutzigen Nass im Eimer zu einer explosiven Mischung. Ein mächtiger Strudel aus Feuer und Wasserdampf schießt bis zum Zenit der Kuppel. Wenn die ganze Energie nicht in dem Wirbel gefangen gewesen wäre und wir uns nicht in einem magisch geschützten Saal befunden hätten, wäre das Experiment für uns sicher schlimm ausgegangen. So weichen wir nur alle erschrocken zurück und Alex lässt erschüttert die Hände sinken, als der Strudel wieder in sich zusammenfällt und eine schmutzige Lache auf dem Boden hinterlässt. »Okaaaay«, sagt er mit zittriger Stimme. »Dann muss bei mir wohl doch noch von Hand geputzt werden. Oder ich brenne den Dreck einfach weg.«
»Gibt’s denn eigentlich auch einen Feuerputzzauber?«, erkundigt sich Finn, was Alex interessiert aufhorchen lässt.
»Nicht, dass ich wüsste. Wäre wahrscheinlich zu gefährlich. Aber du kannst ja mal damit experimentieren und wenn es gut klappt, sprichst du dabei jedes Mal dasselbe Wort, mit dem du den Zauber verknüpfen willst. Aber pass auf, dass es kein Wort ist, das du aus Versehen auch mal im Alltag verwenden könntest.« Mit einem Lillisch befördert Anissa Schmutz und verspritztes Wasser zurück in den Eimer.
»Ist ja echt cool! So kann man Zauberwörter also selbst erschaffen?!«, ruft Finn begeistert aus.
»Aber könnte man das nicht auch missbrauchen? Ich meine, wenn ich ein böser Mensch wäre und zum Beispiel eine negative Verknüpfung mit dem Wort Glück erschaffen würde, hätte das dann auch bei allen anderen Magiern eine Auswirkung, wenn sie es verwenden?«
»Also, zunächst erschaffst du den Kanal, der das Wort mit dem Zauber verbindet, nur für dich selbst. Erst, wenn mehrere Menschen den gleichen Kanal verwenden, wird der Strom breiter und auch andere können das Zauberwort benutzen. Außerdem schwingt mit dem Wort Glück ja auch immer ein positives Gefühl. Wenn man aber absichtlich etwas Negatives damit zaubern will, müsste man ein negatives Gefühl dort hineinlegen und da das Gefühl der meisten Menschen ja entgegengesetzt läuft, wird es auf diese Weise kaum funktionieren. Leichter wäre das schon mit Wörtern, die tatsächlich auch etwas Negatives ausdrücken, wie beispielsweise Pech.«
»Dann könnte man aber aus jedem Wort ein persönliches Zauberwort kreieren, und es auch anwenden, ohne dass andere davon etwas bemerken, wenn ich das richtig verstehe«, erkennt Finn nachdenklich.
»Theoretisch wäre das möglich, aber bei Alltagsworten auch ziemlich problematisch, weil man dann ja jedes Mal zaubert, selbst wenn man sie versehentlich verwendet.«
»Ich finde ja, alle Worte haben an sich schon etwas bezauberndes«, meint Alex.
»Irgendwie schon«, stimme ich zu, »mit jedem Wort schwingt ganz automatisch ein anderes Gefühl mit und ich kann mir vorstellen, dass auch ohne Magie dieses Gefühl im Wort gespeichert ist, wenn es viele Menschen so verwenden.«
»Na, ich denke mal, bei der fabolonischen Sprachmagie wird exakt dieses Gefühl angesteuert, und wahrscheinlich auch die Bilder dazu, denn mal ehrlich, wir verstehen doch nicht mal, wie genau diese Sprachmagie überhaupt funktioniert. Wir alle sprechen verschiedene Sprachen und hören trotzdem unsere eigene. Theoretisch könnte dabei der größte Unsinn an Tönen herauskommen und trotzdem würden sich verständliche Worte formen«, wendet Anissa ein.
»Stimmt. Schon verrückt, diese Vorstellung.« Während wir noch reden, bewegen wir uns bereits zur Wendeltreppe, die uns wieder nach oben führt.
Wir unterhalten uns noch eine Weile über verschiedene Zauber, dann steuern wir unsere Zimmer an. Gerne hätte ich noch mit Anissa unter vier Augen über Finn und Leamor gesprochen, doch inzwischen bin ich schon ziemlich müde. In meinem Zimmer angekommen krame ich mein Nachtkleid aus der Reisetasche. Auch Lidas Lomolithen habe ich dort drin verstaut. Dabei denke ich schuldbewusst an ihr Schwert, welches ich im Dorf der Werwölfe zurückgelassen habe. Aber das lässt sich nicht mehr ändern, daher sollte ich es einfach loslassen und vergessen. Ein großer Mond ist über dem Horizont aufgegangen und wirft sein goldenes Licht durchs Fenster herein. Müde schlage ich die Decke zurück, um mich darunterzukuscheln, doch plötzlich erstarre ich, denn da knistert etwas unter meiner Hüfte. Im Bett sitzend fahre ich wieder hoch und blinzele verwundert, weil dort ein Briefumschlag aus dickem Pergament liegt, verschlossen mit einem roten Siegel. Als ich den Brief hochhebe, leuchtet ein goldener Schriftzug darauf: »Für Iona aus der Familie Sternentanz persönlich.«
»Was kann das denn sein?«, rufe ich aufgeregt. »Wer legt mir so einen Brief ins Bett?«
Sämtliche Müdigkeit ist auf einmal wie weggeblasen, als ich mit zittrigen Fingern das Siegel betaste, das sich unter meiner Berührung einfach auflöst.
»Magisch …«, hauche ich, öffne vorsichtig den Umschlag und ziehe einen Brief heraus.
Ich klappe ihn auf und starre enttäuscht auf ein vollkommen leeres Pergament. Irritiert streiche ich mit den Fingern über die Oberfläche. Da leuchtet plötzlich ein Text in heller, fabolonischer Schrift auf, sodass ich ihn nicht einmal mit Losan entziffern muss.
Werte Iona aus der Familie Sternentanz,
dieser Brief enthält äußerst wichtige Informationen, doch du darfst niemandem davon erzählen. Kastron wird von Mächten beherrscht, die zu große Opfer fordern, um ihre Ziele zu erreichen. Um die Seelen der fünf Kinder zu schützen, wurden sie einst von ihren Eltern getrennt und auf verschiedene Planeten gebracht. Bei jedem von ihnen kannst du einen magischen Splitter finden, doch diese dürfen auf keinen Fall in die falschen Hände geraten, daher hüte dich davor, jemandem davon zu erzählen. Um in ihrer Welt nicht aufzufallen, wurde die Magie mittels eines Zaubers bis zum zwanzigsten Lebensjahr gebannt. Wider Erwarten wurde dieser Schutzzauber unzureichend ausgeführt, sodass einige Kinder anhand ihrer magischen Energie nun von den Lumaren leicht geortet werden könnten.
Offenbar bist du mit dem Talent gesegnet, verlorene Kinder aufzuspüren, daher wurdest du für diese wichtige Mission erwählt, nun auch die restlichen drei aufzusuchen. Bringe sie auf Kastron in Sicherheit, wo sie die Kontrolle ihrer Magie erlernen können. Vertraue niemandem, gehe alleine und finde ein rothaariges Mädchen auf Altaron, einen dunkelblonden Jungen auf Tekto und ein rotblondes Mädchen auf Aquarin.