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Isabella Mey

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Beschreibung

Fabolon ist anders Wie anders, das müssen Lisa, Felix, Maja und ihr Rektor schmerzlich feststellen, als sie völlig unvorbereitet aus ihrer Schule in eine fremde Welt katapultiert werden. Und Lisa muss erkennen, dass es alles andere als harmlos ist, von einem Stich in den Finger zu träumen …   Nachdem die beiden Lehrer das Geschenk auf dem Boden abgestellt hatten, befreite es der Rektor vom Papier und musterte mit gerunzelter Stirn den Inhalt: Das Gemälde im dicken Holzrahmen zeigte einen in helles Blau getauchten Brunnen, umgeben von Tropfsteinen. Leuchtende Wellen und Malereien von fantastisch anmutenden Wesen zierten die Szene. »Äußerst absonderlich«, bemerkte Herr Mayer. »Ich hoffe, wir haben ihren Geschmack getroffen.« Frau Kassandra streifte eine Haarsträhne hinters Ohr und lächelte unsicher ... Doktor Mayer rückte seine Brille zurecht und betrachtete das Bild eingehender. »Nun, sehr absonderlich«, wiederholte er stirnrunzelnd. Im selben Atemzug zeigte sich das Gemälde von seiner absonderlichsten Seite: Plötzlich begannen sich die Wesen darin zu bewegen ...

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Seitenzahl: 522

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Isabella Mey

FarbelFarben

Bunte All Age Fantasy, angereichert mit Magie und gewürzt mit Romantik, empfohlen ab zwölf Jahren. Fabolon 1. FarbelFarben 2. Goldenes Glück 3. StaubNebelNacht 4. RostRoter Rubin 5. SchneeFlockenBlüten 6. BlauVioletter Engel In der gleichen Welt: Romantasy BookRix GmbH & Co. KG81371 München

FABOLON

 

FarbelFarben

 

 

Isabella Mey

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Band I

 

 

Vorwort

Liebe Leser,

 

bevor ihr loslegt, um direkt ins Abenteuer von Fabolon einzutauchen, habt ihr die Möglichkeit, die Protagonisten in einem Interview kennenzulernen, das ich als Autorin mit ihnen führe. Ihr könnt aber auch direkt mit der Geschichte beginnen.

Wenn ihr etwas nicht ganz versteht oder euch mehr Informationen zur Welt von Fabolon und seinen Wesen wünscht, blättert einfach im Lexikonteil nach. Hier findet ihr auch Erklärungen zur Farbmagie sowie die Entstehungsgeschichte des Planeten.

 

Nun wünscht euch viel Spaß beim Lesen

 

Isabella Mey

 

Sehnsucht

Frankfurt, Sonntag, 25. November

 

Der Schmerz verflog genauso schnell, wie er gekommen war. Lisa hob ihre Fingerkuppe vor die Augen, wo ein einzelner Blutstropfen hervorquoll und in dieser Position verharrte. Vorsichtig verrieb sie ihn zwischen den Fingerspitzen. Es kam kein Blut mehr nach, doch ein winziger roter Punkt zeichnete sich auf ihrem linken Daumen ab, sah aus wie ein Insektenstich.

Verwirrt schaute sich Lisa um, doch weder kleine Tiere noch stachelige Büsche waren zu sehen. Der Wind hatte aufgefrischt und zerrte an ihrem grünen Kleid, wirbelte ihr das lange Haar ins Gesicht. Mit gespreizten Fingern kämmte sie es zurück, um einen Blick über die Düne hinweg zum Meer zu werfen. Unwillkürlich vollführte ihr Herz einen Hüpfer, als sie den hübschen jungen Mann zwischen den Felsen erspähte. Die Gischt umspülte seine nackten Füße, während er in Shorts gekleidet auf einem schroffen Stein hockte und mit einem Stock im losen Untergrund herumstocherte, der von den auslaufenden Wellen hin und her bewegt wurde, als spielte das Wasser mit den Kieseln.

Doch Lisas freudige Erregung erlosch ebenso schnell, wie sie entflammt war, denn sie spürte sofort, dass mit ihm etwas nicht stimmte. In Gedanken versunken, hatte er Lisa nicht bemerkt, aber selbst auf die Distanz konnte sie die tiefe Trauer spüren, die er ausstrahlte, eine Schwermut, die auch sie mitzureißen drohte.

Was ist passiert?

Lisa rührte sich nicht. Weder konnte sie sich von seinem Anblick lösen noch wollte sie ihn stören. Eine Weile stand sie reglos da, bis sie plötzlich eine Veränderung im Wasser erfasste: Ein graues Etwas trieb unaufhaltsam auf den jungen Mann zu. Es breitete sich aus und umzingelte ihn in einem weiten Bogen, als wollte es ihn verschlingen. Lisa wusste nicht, was es war, doch mit jeder Pore ihres Seins spürte sie die große Gefahr, die davon ausging. Sie wollte schreien, ihn warnen, doch der Schock schnürte ihre Kehle zu. Immerhin setzten sich ihre Beine wie von selbst in Bewegung und ein Keuchen entwich ihrer Kehle, welches jedoch vom Wind fortgetragen wurde, während sie durchs Dünengras preschte. Noch bevor die Düne in felsigen Untergrund überging, versanken ihre Füße so tief im Sand, dass sie stolperte und stürzte. Der Schwung ließ sie vorne überkippen. Noch im Fallen sah sie, wie das graue Verderben unaufhaltsam auf den jungen Mann zurollte.

Nein! Nein!

»Nein!«, schrie Lisa und richtete sich ruckartig in ihrem Bett auf.

Die Erkenntnis, dass alles nur ein böser Traum gewesen war, tröpfelte erst allmählich in ihr Bewusstsein. Noch immer donnerte ihr Herz wie wild, kalter Schweiß stand auf ihrer Stirn. Erschöpft ließ sie sich zurück ins Kissen sinken. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, dafür sandten die Scheinwerfer eines vorbeifahrenden Autos helle Streifen durch die Ritzen des Rollos.

Warum immer wieder dieser Traum?

Schon zum dritten Mal hatte sie immer dasselbe geträumt und alles hatte so echt gewirkt, der Wind, das Rauschen des Meeres, der Sand in ihren Schuhen … Das musste etwas zu bedeuten haben, doch Lisa hatte nicht die blasseste Ahnung, was es sein könnte. Weder kannte sie den jungen Mann noch war ihr diese Umgebung am Meer vertraut und für einen symbolhaften Traum hatte wiederum alles viel zu real gewirkt.

Das Verrückte jedoch war, dass Lisa dieser junge Mann nicht mehr aus dem Kopf ging, seit sie das erste Mal von ihm geträumt hatte. Gesichtsform und Haarschnitt erinnerten sie an den Prinzen aus »Drei Haselnüsse für Aschenbrödel«, allerdings hatte Lisas Prinz dunkelblondes, statt schwarzes Haar und eine blaue Iris. Das wusste sie ganz genau, obwohl sie seine Augen im Traum von der Düne aus gar nicht hatte erkennen können.

Wer ist das nur? Existiert er überhaupt in der Wirklichkeit?

Unruhig wälzte sie sich von einer auf die andere Seite, doch der Schlaf wollte einfach nicht mehr kommen. Schließlich schob Lisa ihre Füße aus dem Bett und tapste ins Bad. Nach dem Toilettengang streckte sie ihre Hände in den kalten Wasserstrahl überm Waschbecken. Da blieb ihr Blick plötzlich an ihrem linken Daumen hängen.

Ist das da tatsächlich ein Stich?

Lisa trocknete ihre Hände ab und betrachtete den roten Punkt auf der Fingerkuppe von allen Seiten.

Das kann doch nicht wahr sein? Ich träume von einem Stich in den Daumen und habe danach tatsächlich einen? Oder träume ich etwa noch immer?

Sie schloss die Augen und atmete tief durch.

Nein, ich bin wach, aber wahrscheinlich ist es so abgelaufen, dass ich mich irgendwo im Bett gepiekt habe und das in meinen Traum eingeflossen ist.

Lisa suchte gründlich ihr Bett ab, schüttelte Decke, Laken und Kissen aus, doch wenn dort etwas Spitzes gewesen sein sollte, so lag es jetzt mit Sicherheit irgendwo auf dem Teppich.

Da dieser Traum jedoch viel zu verrückt war, um sich darüber den Kopf zu zerbrechen, schob sie die Angelegenheit in die Schublade der unerklärlichen, aber unbedeutenden Zufälle.

Dennoch dauerte es eine Weile, bis es Lisa gelang, sich erneut zu entspannen und wieder einzudösen.

 

An diesem Sonntag hätte Lisa ausschlafen können, dennoch wollte sie rechtzeitig wach sein, denn es kam nicht allzu oft vor, dass ihr Vater Zeit fand, den Tag mit ihr zu verbringen. Nach der Scheidung ihrer Eltern wohnte er mit seiner neuen Partnerin in Mainz.

Die Leidenschaft für die Musik und das Talent hatte Lisa von ihren Eltern geerbt, denn sie spielte Querflöte, Klavier und Geige. Ihr Vater, Benjamin Fischer war ein gefragter Pianist und Dirigent und deshalb beruflich häufig unterwegs. Ihre Mutter dagegen spielte die zweite Geige in der Frankfurter Oper – in Festanstellung, sodass sie schon früher oft alleine mit ihrer Tochter zu Hause zurückgeblieben war. Zwar hatte Lisa ihren Vater auch in der Kindheit manchmal vermisst, doch seit der Trennung ihrer Eltern bekam sie ihn kaum noch zu Gesicht – vielleicht war es auch früher schon weniger geworden, aber das hatte sie nicht so richtig wahrgenommen. Wenn sie aber ehrlich war, hatten sich ihre Eltern auch schon vor seiner neuen Liebe voneinander entfernt. Für dieses Argument war ihre Mutter jedoch kaum zugänglich, denn für Tatjana trug einzig und alleine Cecilie Schuld daran, diese glückliche Familie zerstört zu haben.

In ihrem Zimmer über der Haustür hielt Lisa bereits Ausschau nach ihrem Vater.

Kaum erspähte sie sein Auto, rannte sie auch schon nach unten und mit einem »Tschüss Mama!«, zur Tür hinaus. Benjamin hatte gerade eingeparkt, als seine Tochter die Tür aufriss und einstieg. Nachdem die letzten Zusammentreffen ihrer Eltern alles andere als angenehm verlaufen waren, hatte Lisa auf diese Weise einen erneuten Streit vermieden.

»Na, hoppla! Das ging aber schnell, heute«, staunte Benjamin. »Schön, dich zu sehen, Lisa. Was wollen wir unternehmen?«

 

Vater und Tochter verbrachten einen schönen Tag im Palmengarten, besuchten die verschiedenen Tropenhäuser und fuhren schließlich mit dem Tretboot über den kleinen See. Für November war es noch immer verhältnismäßig warm, sodass sie sogar ihre Mäntel ausgezogen und hinten im Boot verstaut hatten. Ein Geysir schickte seinen kräftigen Wasserstrahl in den Himmel, in den Nebeltröpfchen schillerte ein Regenbogen.

»Fahr nicht zu nah ran, sonst werden wir noch pitschnass!«, mahnte Benjamin seine Tochter, die das Steuer übernommen hatte. Die Entscheidung war Lisa nie ganz leichtgefallen, ob sie Papas Haar eher nussbraun oder dunkelblond bezeichnen sollte, dafür strahlte seine Iris umso eindeutiger in einem sanften Graublau. Neben der schlanken Statur konnte man an seinen feingliedrigen Fingern erahnen, dass er mehr Zeit am Klavier, statt mit Essen oder im Sportstudio verbrachte.

»Keine Sorge, ich will nur um die kleine Insel herumfahren«, erwiderte Lisa und lenkte nach links in den Kanal zwischen Ufer und Insel auf ein Entenpärchen zu.

Ihr stockte der Atem, als sie plötzlich auf dem Pfad, der das Ufer säumte, jemanden entdeckte, den sie nur allzu gut kannte: Felix. Noch hatte er Lisa nicht bemerkt, doch gemeinsam mit zwei Erwachsenen und einem jüngeren Mädchen kam er geradewegs auf sie zu. Unwillkürlich rutschte Lisa tiefer in ihren Sitz, während sie kräftig in die Pedale trat. Sie beobachtete, wie Felix mit säuerlicher Miene vorne weg marschierte. Sein Blick streifte das vorbeifahrende Tretboot, kehrte abrupt zu Lisa zurück und stoppte in ihrem Gesicht, wobei sich seine Miene merklich aufhellte. Hitze schoss in Lisas Wangen, denn sie schwärmte heimlich für ihren Mitschüler Felix, der das zurückhaltende Mädchen jedoch meistens übersah.

»Hi Lisa! Auch auf Familienausflug?«, erkundigte er sich.

Jetzt, wo sie nicht nur in seinen, sondern auch in den Fokus seiner Familie geraten war, spürte sie, wie sich die Farbe ihres Gesichts merklich intensivierte. Aber es half ja nichts, deshalb antwortete sie zaghaft: »Nur mit meinem Vater.« Benjamin nickte dem jungen Mann und seiner Familie am Ufer lächelnd zu. Seine Eltern grüßten freundlich zurück, nur das Mädchen (seine Schwester?) spitzte die Lippen. Unterdessen hatte Lisas Vater geistesgegenwärtig angefangen, rückwärts zu treten, damit das Boot während des Grußes nicht weitertrieb.

»Felix aus meiner Klasse«, raunte Lisa ihrem Vater zu und meinte dann verlegen zu ihrem Klassenkameraden: »Äh, wir müssen dann weiter.«

»Alles klar. Ich hab hier auch noch viele wichtige Dinge zu erledigen.« Felix winkte ihr lachend zu, aber Lisa schien es, als wollte er sich über sie lustig machen, weshalb sie sich maximal dämlich vorkam. Sie trat kräftig in die Pedale, wollte nur noch weg.

In diesem Augenblick sprang das blond gelockte Mädchen plötzlich von hinten vor ihren Bruder und rief »Buh!« Dabei wedelte sie mit den Händen vor seinem Gesicht herum. »Felix ist verliebt!« Lisa sah gerade noch, wie er entnervt ihre Hände wegschlug.

»Au!«, jaulte sie.

»Red nicht so einen Schwachsinn! Du weißt ganz genau, dass ich das nicht leiden kann, Lilli!«, schimpfte Felix.

»War doch nur Spaß!«, jammerte sie vorwurfsvoll.

»Warum streitet ihr schon wieder? Kann man nicht einmal einen Familienausflug in den Palmengarten machen, ohne dass ihr euch in die Haare kriegt?«, beschwerte sich die ältere Version von Felix.

Während sich das Tretboot zunehmend entfernte, warf Lisa noch einmal verstohlen einen Blick zurück: Die Geschwister standen sich grimmig gegenüber, während die Eltern vor allem Felix ins Visier nahmen.

»Du bist doch der Ältere, man sollte meinen, dass du vernünftig genug bist, um mit deiner Schwester nicht in Streit zu geraten«, schallt die Mutter.

»Was kann ich denn dafür, dass sie mich immer wieder ärgert? Und warum haltet ihr jedes Mal zu Lilli?«

Die Antwort konnte Lisa jetzt nicht mehr hören, weil sich das Boot und Felix’ Familie zu weit voneinander entfernt hatten.

»Netter junger Mann, dieser Felix«, bemerkte Papa schelmisch grinsend. »Und du magst ihn, stimmts?«

»Hm, ja, er ist ganz nett«, gab Lisa schulterzuckend zu und schon wieder kämpfte sie gegens Rotwerden.

»Naja, du bist ja schon in einem Alter, wo man sich fürs andere Geschlecht interessiert …«, begann Benjamin zaghaft. »Spricht deine Mutter denn mit dir über diese Dinge, wie … Verhütung?« Er schenkte ihr ein unsicheres Lächeln.

Offenbar sah es Benjamin als seine Pflicht an, Lisa darauf hinzuweisen, obwohl ihm das Thema sichtlich unangenehm war. Sie verdrehte die Augen.

»Papa, mit sechzehn weiß man darüber Bescheid, wie Kinder entstehen und wie man es verhindert. Wir lernen das auch in der Schule.«

»Ach so. Dann ist ja gut.« Sie fuhren eine Weile schweigend weiter, umrundeten die zweite größere Insel, bis Benjamin das Thema erneut aufgriff.

»Und gibt es denn da schon jemanden?«, erkundigte er sich neugierig. »Felix vielleicht?«

Lisa schüttelte wild den Kopf. Sie wollte einfach nicht, dass irgendjemand von ihrem Schwarm wusste, auch nicht ihr Vater. Und von dem Jungen aus ihren Träumen konnte sie ihm erst recht nichts erzählen, sonst würde er sich nur am Ende noch sorgen, dass sie sich in Fantasiewelten flüchtete.

»Was machst du denn sonst so in deiner Freizeit?«

»Das weißt du doch, Papa. Vor allem spiele ich Querflöte.«

»Ich sorge mich ein bisschen, dass du vereinsamen könntest, vor allem seit du nicht mehr fechtest. Unternimmst du denn manchmal was gemeinsam mit Freunden?«

»Ja, manchmal …«, wich Lisa aus. In Wahrheit war sie als empfindsamer Mensch generell eher introvertiert, doch seit der Trennung ihrer Eltern hatte sie sich noch mehr zurückgezogen. Auch das Fechttraining, bei dem sie in ihrer Freizeit noch etwas Gesellschaft gehabt hatte, hatte sie aufgegeben. »Wie geht’s Cecilie mit dem Baby? Wisst ihr schon, was es wird?«, lenkte Lisa ihren Vater auf ein anderes Thema.

»Nein, wir wollen uns überraschen lassen.«

»Ach so, verstehe …«

Die Tatsache, dass Papas Partnerin schwanger war, erfüllte Lisa mit Wehmut. Einerseits war es zwar aufregend, dass sie ein kleines Halbgeschwisterchen bekommen würde, doch da sie kein Teil dieser Familie war, fürchtete sie, durch das neue Kind noch mehr ausgeschlossen zu werden. Dieses Gefühl wollte sie sich jedoch nicht zugestehen, denn mit sechzehn war sie sowieso kein Kind mehr und könnte theoretisch auch schon ganz alleine leben.

Noch ein paar Minuten schipperten Vater und Tochter auf dem See herum, dann brachten sie das Tretboot wieder zur Anlegestelle. Benjamin wünschte sich, mit der Minieisenbahn durch den Park zu fahren, in Erinnerung an alte Zeiten, in denen Lisa deutlich mehr Enthusiasmus für solche Fahrten gezeigt hatte. Sie durchquerten noch zwei Tropenhäuser, dann wanderten sie zum Ausgang. Den Abschluss bildete ein Besuch im Café am Palmengarten.

Lisa war traurig, dass dieser Tag viel zu schnell wieder vorüber war, obwohl sie noch nicht ahnte, mit welchem Drama er enden sollte.

 

Benjamin hatte sich gerade im Vorraum des Reihenhauses von seiner Tochter verabschiedet und winkte Lisa noch einmal zu, als seine Exfrau eilig in den Vorraum trat und nach der Hand ihres Exmannes griff.

»Bleib doch noch, Benni«, flehte Tatjana inständig.

Lisa stand erschüttert im Wohnzimmer und hielt es für einen ziemlich schlechten Film, was sich da direkt vor ihren Augen abspielte. Bekleidet mit seinem langen, beigen Mantel gab Benjamin ein entnervtes Keuchen von sich, während er sich mit gesenktem Blick die Stirn rieb.

»Bitte, Tatjana! Nicht vor unserer Tochter …«

Doch ihre Furcht vor Verlust war zu groß. Statt loszulassen, schlang sie haltsuchend beide Arme um ihn.

»Bitte bleib …«, keuchte sie.

Da es dem sanften Gemüt des Musikers nicht entsprach, Gewalt anzuwenden, versuchte Benjamin zu halbherzig, sich aus ihrer Umklammerung zu befreien. Auf diese Weise konnte er ihrer Umarmung allerdings nicht entgehen, dafür wandte er mit gesenkten Mundwinkeln resigniert den Kopf zur Seite.

Wie versteinert verharrte Lisa im Wohnzimmer und starrte durch die offene Tür zum Vorraum hinüber. Sie wollte das nicht mitansehen und doch brachte sie es nicht fertig, sich von diesem leidvollen Szenario zu lösen. Ihr blasser Leib fror fest, während sie das Gefühl überkam, irgendwie neben sich zu stehen.

»Du willst uns doch nicht wirklich verlassen …«, schluchzte Lisas Mutter, wobei sich nun Tränen aus ihren Augen lösten.

»Das bringt doch alles nichts«, keuchte Benjamin. »Lass mich los!« Allmählich mischte sich Wut in seine Stimme. Er packte ihre Finger, um sie von seinem Rücken zu lösen, während er sich aus ihrer Umarmung herauswand. Sie wollte erneut nachfassen, doch Lisas Vater packte ihre Handgelenke und hielt sie auf Abstand.

Da verlor Tatjana nun völlig die Fassung. In die Tränen des Schmerzes mischten sich nun auch Tränen der Wut hinein. »Was findest du nur an dieser Cecilie?«, rief sie heulend. »Ist sie besser als ich, ja?«

»Hör doch auf mit dem Unsinn«, schnaubte Benjamin entnervt. »Du hast doch selbst gemerkt, dass es einfach nicht mehr passt zwischen uns.«

»Gar nichts merke ich davon. Und hast du eigentlich auch mal an unsere Tochter gedacht? Ist sie dir jetzt völlig egal geworden?«

In diesem Moment hätte Lisa ihre Mutter am liebsten auf den Messeturm geschossen. Sie hasste es, wenn Tatjana sie dafür benutzte, ihrem Vater ein schlechtes Gewissen einzureden.

»Nein, natürlich nicht«, schnaubte Benjamin. Sein unglücklicher Blick wanderte an Tatjana vorbei zu Lisa. Mit zusammengepressten Lippen sah er sie traurig an, dann ließ er die Handgelenke seiner Exfrau los, wandte sich abrupt um, öffnete die Tür und flüchtete aus dem Haus.

Tatjanas verletzter Zorn brach jetzt mit voller Wucht hervor.

»Dann hau doch ab!«, schrie sie ihm hinterher. »Geh doch zu deinem Flittchen! Und lass dich nie wieder blicken!«

Sie knallte die Tür ins Schloss, dann krümmte sie sich, brach erneut in Tränen aus. Im nächsten Augenblick erinnerte sie sich jedoch wieder an ihre Tochter, schaute schluchzend zu ihr auf, als würde sie in dieser leidvollen Lage von ihr Unterstützung erhoffen. Aber Lisa ertrug den Anblick ihrer Mutter nicht länger. Sie wandte sich ab, rannte die Wendeltreppe hinauf und in ihr Zimmer hinein. Sie schloss die Tür und drehte den Schlüssel herum. Was sie jetzt am allerwenigsten gebrauchen konnte, war eine Mutter, die bei ihr Trost suchen wollte. Lisa lief zum Fenster, um vielleicht einen letzten Blick auf ihren Vater zu erhaschen, aber alles, was sie sah, war sein Wagen, wie er gerade aus der Parkbucht scherte und davonbrauste.

Niedergeschlagen warf sie sich auf ihr Bett, blieb dort liegen und starrte zur weißen Decke hinauf, doch es wollten keine Tränen kommen. Sie fühlte sich wie betäubt, dachte betrübt an längst vergangene schöne Zeiten: Da hatte Papa am Flügel gespielt, Tatjana hatte ihn auf der Violine und Lisa auf der Querflöte begleitet. Manchmal hatten sie auch alle zusammen gesungen.

Lisa hatte den Sonntag gemeinsam mit ihrem Vater sehr genossen, doch dummerweise hatte er den Fehler begangen, sie ins Haus zu begleiten, sodass es zu diesem Drama zwischen ihren Eltern gekommen war.

Warum können sich Eltern nicht einfach vertragen?

Allmählich lösten sich doch ein paar Tränen aus Lisas Augen und verschafften ihrem Schmerz Erleichterung. Sie wusste, dass es kein Zurück gab und doch sehnte sie sich nach der Unbeschwertheit ihrer jungen Jahre. Wie sie so dalag, schweiften ihre Gedanken unwillkürlich zu ihrem nicht existenten Traumprinzen ab. Er war wie eine fantastische Insel, auf die sie sich flüchten konnte, wenn ihr das Meer der Realität zu unerträglich wurde. Und wie jedes Mal, wenn sie an ihn dachte, spürte sie ein sehnsuchtsvolles Ziehen in ihrer Brust.

Kann man sich in jemanden verlieben, der nur in der eigenen Fantasie existiert?

Die Frage rotierte in ihrem Geist, bis sie in einen dämmrigen Zustand abtauchte.

Schutzgeld

Frankfurt, Mittwoch, 28. November

 

»Her mit dem Geld, oder es setzt Prügel!«, drohte Rick dem Fünftklässler, dessen Namen er vergessen hatte.

»Ich hab doch gesagt, ich habe keines«, jammerte der Junge und versuchte wegzulaufen, doch Rick war schneller. Er packte ihn am Kragen und schleuderte ihn ins Gebüsch.

»Dann besorg nächstes Mal welches!« Rick riss dem Jungen den Ranzen vom Rücken und wühlte darin herum.

»Hör auf, oder ich sag’s meiner Mama!«, wimmerte der Fünftklässler.

»Ich sag’s meiner Mama«, äffte Rick den Jungen nach. »Wie jämmerlich ist das denn?« Er holte das Mäppchen aus dem Ranzen und hielt es dem Fünftklässler vor die Nase. »Das behalte ich als Pfand, bis wieder ordentlich Kohle fließt.«

Die ängstlichen Augen des Jungen wanderten zwischen der Trophäe und seinem Peiniger hin und her, fixierten dann etwas hinter Ricks Rücken. Noch bevor dieser den Grund dafür begriff, schoss plötzlich eine Hand von hinten an ihm vorbei, entriss ihm das Mäppchen und stieß ihn seitwärts, sodass er neben dem Fünftklässler im Gebüsch landete. Wütend rappelte sich Rick auf und fuhr herum. Maja?! Es war kein muskulöser Halbstarker gewesen, der ihn angegriffen hatte, sondern ein Mädchen aus der Parallelklasse. Zudem kannte er Maja noch aus dem Kindergarten, auch wenn er sich damals nie mit ihr abgegeben hatte. Aber jetzt war sie definitiv zu weit gegangen. Das konnte er unmöglich auf sich sitzenlassen. Er rappelte sich auf und trat auf sie zu.

»Blöde Zicke!«, schimpfte er und holte aus, um ihr einen Kinnhaken zu verpassen.

Doch Maja wich geschickt zur Seite, packte seinen Arm und zog ihn in Schlagrichtung. Rick stolperte vorwärts, da ihm diese blöde Kuh jedoch ein Bein stellte, schlug er hart auf dem Asphalt auf. Kinn, Hände und Knie schmerzten höllisch, er verkniff sich jedoch den Aufschrei. Der Fünftklässler kicherte, was Ricks Wut schier überkochen ließ. Er rollte zur Seite und zwang sich trotz schmerzender Glieder wieder auf die Beine. Zu seinem Ärger trabte eine weitere Zeugin direkt auf ihn zu – er kannte Lisa ebenfalls aus der Parallelklasse, aber von diesem schüchternen Hühnchen hatte Rick nichts zu befürchten. Maja half dem Baby-Fünftklässler gerade, seinen Schulranzen aufzusetzen und drehte ihm dabei den Rücken zu. Wahrscheinlich hatte sie nicht erwartet, dass er so schnell wieder auf die Füße kommen würde. Er zog sein Messer aus der Tasche und ließ es aufschnappen, während er auf Maja zusteuerte und die freie Hand ausstreckte, um sie an den Haaren zu packen. Eine dicke Strähne davon wäre eine angemessene Trophäe für die erlittene Demütigung. Doch in diesem Moment schrie Lisa laut auf – Rick hatte nicht geglaubt, dass sie tatsächlich Töne hervorbringen konnte. Doch nicht nur das, das Mädchen stürzte todesmutig auf ihn zu. Er fuhr herum und streckte seine Klinge nun in ihre Richtung. Im selben Moment trat ihm jemand so kräftig in die Kniekehle, dass er zusammensackte. Maja packte seinen Arm und ein Schlag auf sein Handgelenk brachte das Messer zu Fall.

»Du greifst uns mit einem Messer an! Sag mal, bist du total bescheuert?«, schrie sie.

Dabei zog sie den Messerarm auf seinen Rücken und hielt ihn im Polizeigriff gefangen. Rick hätte sie umbringen können, so sehr kochte er vor Wut. Auf dem Boden kniend versuchte er, sich aus dem Griff zu winden. Und diese dumme Pute Lisa stand zitternd neben ihm und sah auf ihn herab.

»Was gibt’s da zu glotzen?«, schnauzte Rick sie an.

»Lisa, heb das Messer auf und steck es ein!«, wies Maja sie an.

Trotz seiner misslichen Lage bereitete es Rick eine gewisse Genugtuung zu sehen, wie sich Lisa zierte, ihn ängstlich beäugte, als sei er ein wilder Löwe kurz vor dem Sprung. Das Messer zitterte in ihrer Hand, als sie es an sich nahm und in ihre Schultasche stopfte. Daran würde sie keine Freude haben, denn er würde es sich auf jeden Fall zurückholen, und wenn er sie dafür zu Tode erschrecken musste.

Das Übel hatte jedoch noch immer nicht seinen Zenit erreicht, denn in diesem Moment schlenderten Ricks Kumpel, Florian und Diego, die Straße entlang.

Was für ein bescheuerter Tag! Können sich die heute nicht verspäten, wie sonst auch?

Obendrein stierten seine Freunde ihn an, als sei er ein Alien.

»Glotzt nicht so blöd! Haut die Zicken lieber zu Brei!«, schnauzte er seine Freunde an.

Doch den Jungen war es unheimlich, ihren Anführer überwältigt zu sehen, obendrein von zwei Mädchen und einem Fünftklässler. Sie wandten die Blicke ab und setzten ihren Weg fort, als hätten sie Rick weder gehört noch gesehen.

»Du schwörst hier vor allen Zeugen, dass du niemanden mehr bedrohst, ansonsten werde ich den Vorfall dem Schulrektor melden. Das gleiche gilt, wenn du noch einmal jemanden angreifen solltest«, betonte Maja streng, während sie Ricks Arm schmerzhaft Richtung Kopf drückte.

»Du kannst mich mal!«, keuchte dieser wütend.

»Schwöre es!«, beharrte sie.

Immer mehr Schüler sammelten sich und beobachteten die seltsame Szene.

Verdammt! Geht’s noch peinlicher?

Rick tobte vor Wut, aber es half nichts, Maja ließ nicht locker und egal wie sehr er sich wand, er kam nicht frei. Seine Schürfwunden brannten höllisch und die Schmerzen im Arm waren kaum auszuhalten.

»Ja gut!«, stöhnte er schließlich entnervt. »Ich schwöre es.«

Ob er sich daran halten würde, war ohnehin eine andere Sache.

»Wenn ich noch einmal höre, dass du wieder jemanden angegriffen oder bedroht hast, weiß der Rektor über alles Bescheid und erhält das Messer, das wir natürlich an einem sicheren Ort verwahren werden. Nicht, dass du auf dumme Gedanken kommen solltest …« Mit diesen Worten ließ Maja ihn los und sprang zurück.

Rick stemmte sich auf die Füße, was mehr jämmerlich als elegant wirkte und sich wie eine weitere Demütigung anfühlte. Dann packte er seinen Rucksack, der ihm bei der Aktion von der Schulter gerutscht war, und stapfte so dicht an Lisa vorbei, dass diese erschrocken zur Seite wich. Nicht einmal seine Freunde, die etwas abseits stehengeblieben waren, würdigte er eines Blickes. Gut ein Dutzend Schüler beobachteten Ricks Abgang, dann war er um die nächste Hausecke verschwunden.

»Alles klar?«, fragte Maja den Fünftklässler.

»Ja, danke. Hoffentlich lässt er mich jetzt in Ruhe …«

»Dem hast du’s aber gegeben«, bemerkte ein anderer Junge, der hinzugekommen war. »Von mir wollte er auch schon oft Geld haben.«

Lisa stand noch immer unbeholfen herum, wusste nicht, was sie sagen oder tun sollte. Maja trat auf ihre Klassenkameradin zu und legte ihr anerkennend die Hand auf den Arm.

»Danke, das war echt mutig von dir. Ich hätte gar nicht gedacht, dass du so laut schreien kannst.«

»Ich auch nicht«, antwortete Lisa leise und lächelte.

»Komm, gehen wir zusammen in die Klasse«, schlug Maja vor.

Lisa nickte. Aufgrund ihrer Schüchternheit war sie es gewohnt, von allen übersehen zu werden. Doch die Einsamkeit war durch die Angst begründet, nicht, weil sie es sich so wünschte. Daher freute sie sich über Majas Gesellschaft.

»Es steckt ja wesentlich mehr in dir, als man denkt«, sagte Maja anerkennend.

Lisa nickte verlegen. Bisher hatte Maja die schüchterne Klassenkameradin mehr oder weniger übersehen, doch nun betrachtete sie sie mit ganz neuen Augen. Das rehbraune Haar wogte in sanften Wellen bis zur Hüfte. Stupsnase und Mäuschengesicht täuschten darüber hinweg, dass sich hinter der Fassade eine kleine Raubkatze verbarg.

Maja steckte meistens mit ihrer besten Freundin Phoebe zusammen. Gemeinsam besuchten sie zwei Mal die Woche das Hapkido-Training, den Rettungsschwimmkurs und das Klettern. Ansonsten ging sie zusammen mit Sina und Helen Rollerbladen oder Mountainbike fahren. Da passte die zart besaitete Lisa so gar nicht in Majas Freundinnenschema hinein. Auch äußerlich unterschieden sich die beiden deutlich. Während Maja hellblondes, glattes Haar bis zum Kinn trug, und ihre Iris in hellem Blau strahlte, verloren sich Lisas Pupillen inmitten der dunkelbraunen Iris in unergründlicher Tiefe.

»Komm, gib mir das Messer, ich weiß ein gutes Versteck«, sagte Maja.

Dieser Bitte kam Lisa gerne nach. Sie zog das Messer aus ihrer Tasche und reichte es Maja. Die öffnete ihre Jacke und stopfte es in eine Innentasche, die so gut getarnt war, dass man sie nicht ohne weiteres erkennen konnte.

»Sammelst du zufällig Briefmarken?«, fragte Maja. Bisher hatte sie niemanden gefunden, mit dem sie dieses mehr oder weniger geheime Hobby teilen konnte, wenn man von den Internetbekanntschaften im Briefmarkentauschforum absah, und dort tummelten sich kaum Jugendliche und noch seltener welche mit weiblichem Geschlecht. Bei Maja hatte die Begeisterung mit einer Erbschaft begonnen. Großonkel Hendrik hatte sein antikes Briefmarkenalbum ausgerechnet an seine Großnichte vermacht, als ob er geahnt hätte, dass sie an den kleinen Papierchen Freude finden würde. Vor allem auf seltene Marken aus fremden Ländern hatte es Maja abgesehen. Da gab es so einen Sonderdruck mit dem Motiv eines chilenischen Malers. Die Marke trug den melodischen Titel: Die Königin der Fabelländer. Danach durchkämmte Maja regelmäßig das Internet, aber die wunderschöne Marke war einfach nirgends zu bekommen.

Auch bei Lisa hatte sie kein Glück, denn sie schüttelte den Kopf.

»Nein, sammelst du etwa?«, fragte sie verwundert.

»Ja, ein bisschen«, antwortete Maja schulterzuckend, was natürlich eine Untertreibung war.

Sie erreichten das Schulgebäude und betraten zusammen das Klassenzimmer, wo Phoebe sogleich auf ihre Freundin zustürmte und Maja über die neuesten Sportergebnisse informierte.

»Hast du schon gehört, die erste Liga der Schwimmer hat Gold geholt …«

Lisa wollte nicht weiter hinhören. Kaum waren Maja und Phoebe zusammen, ging es nur noch um Sport und sie fühlte sich plötzlich wie vom anderen Stern, denn Lisa konnte sich dafür nicht begeistern. Ihre Leidenschaft galt der Musik und damit wanderten ihre Gedanken wieder zu ihrem Vater und dem tragischen Ende des vergangenen Wochenendes.

Die Lehrerin betrat das Zimmer und die Schüler kehrten mehr oder weniger geordnet zu ihren Plätzen zurück. Lisa hörte noch, wie Maja ihrer Freundin von der Begegnung mit Rick erzählte, dann mahnte die Klassenlehrerin Frau Kassandra zur Ruhe.

»… vor allem die freche kleine Biene Maja sollte jetzt aufpassen«, wie sie zu scherzen pflegte.

»Ja, Fräulein Kassandra«, antwortete Maja. Anfänglich hatte sie noch gekichert bei diesen Kabbeleien mit der Lehrerin, doch mittlerweile hatte sich der Scherz mit der Kinderserie so abgenutzt, dass in ihrer Antwort jetzt eher Langeweile mitschwang.

Statt auf die Tafel, die die Lehrerin nun mit Formeln vollkritzelte, schielte Maja zu Felix, der schräg vor ihr saß. Der Junge mit den dunkelblonden Wuschelhaaren hatte es ihr angetan. Daran waren nicht so sehr seine schönen graublauen Augen oder die verschmitzten Lachfältchen schuld, sondern vor allem sein fröhlicher Humor. Sie verstanden sich gut, aber zu Majas Leidwesen hatte er bisher keinerlei Flirt begonnen und sie war zu stolz, um den ersten Schritt zu wagen. Felix streifte versehentlich mit dem Ellenbogen das Lineal und beförderte es dabei zu Boden. Als er sich bückte, um es aufzuheben, schweifte sein Blick dabei unwillkürlich zu Maja. Er zwinkerte ihr zu und wandte sich wieder um.

War das ein kleiner Flirt? Ob das ein Zeichen ist, das mehr als Freundschaft bedeutet?, fragte sie sich und ihr Herz hüpfte dabei.

Unterdessen versuchte Lisa krampfhaft, ihre Aufmerksamkeit auf den Unterricht zu lenken. Viel zu oft geschah es, dass sie sich in ihre Traumwelt flüchtete, außerdem hatte sie der Vorfall heute dermaßen aufgewühlt, dass sich die Szenen in Endlosschleife in ihrem Geist abspulten. Zu erleben, wie dieser Rick mit dem Messer auf Maja losgehen wollte, das war einfach zu viel für sie gewesen, sodass der Schrei unwillkürlich aus ihr herausgebrochen war. Noch immer bebte sie innerlich allein bei der Erinnerung an das Erlebnis. Die Angst um ihre Mitschülerin war in dem Moment größer gewesen als ihre Schüchternheit. Doch dieser ungewohnte und irgendwie peinliche Vorstoß hatte zur Folge, dass sie jetzt umso mehr das Bedürfnis verspürte, sich zurückzuziehen. Gedanken wirbelten wie Strudel durch ihren Kopf: die Szenen von heute Morgen, die Sehnsucht nach einer heilen Familie, die Angst davor, sich zu zeigen, der Junge aus ihren Träumen, die Musik und hin und wieder auch die Matheaufgaben, die sie eigentlich lösen sollte.

In der Klasse hatten sich zwei Pärchen gebildet, was auch bei Lisa den Wunsch nach einem Freund weckte und es gab da zwei Jungen, für die sie heimlich schwärmte: Tim und Felix. Aber da sie sich nicht traute, einen von ihnen anzusprechen, würde wohl auch dieser Wunsch unerfüllt bleiben. Selbst wenn der Junge aus ihren Träumen existierte, hätte sie mit ihm sicher dasselbe Problem. Das wäre weitaus schlimmer, denn beim Gedanken an ihn fühlte sie diese Sehnsucht nach seiner Liebe um ein Vielfaches intensiver. So entschwand sie mal wieder in ihren Tagträumen, der einzige Ort, an dem alles möglich war. Hier stand sie eng umschlungen mit ihm auf einer Düne, während der Sonnenuntergang den Himmel in tiefes Rot tauchte …

 

Nach zwei Stunden Mathe läutete der Schulgong die große Pause ein und die Schüler stürmten aus dem Klassenzimmer. Maja und Phoebe steckten wie immer die Köpfe zusammen und Lisa schien mal wieder nicht existent für die anderen. Sie trat aus dem Klassenzimmer und folgte der Schülerkolonne den Flur entlang. Tim und sein Freund Felix unterhielten sich angeregt und Lisa beobachtete, wie Maja Felix verstohlen nachschaute.

Gegen Maja habe ich ohnehin keine Chance und bei Tim müsste ich mich erst einmal trauen zu reden …, dachte Lisa wehmütig.

»Bei deiner Freundin bist du abgeschrieben, was?« Lisa schrak zusammen, denn es war Rick, der plötzlich hinter ihr aufgetaucht war und ihr diese Worte zugeflüstert hatte. Sie beschleunigte ihre Schritte, um ihn abzuschütteln. Zum Glück verfolgte er sie nicht weiter, dennoch donnerte ihr Herz noch immer bis zum Hals. Diesem Rick war nicht zu trauen. Lisa besuchte zunächst die Toiletten und wanderte dann ziellos über den Pausenhof, damit nicht auffiel, wie einsam sie war. Hin und wieder schlenderte sie an Felix und Tim vorbei, die sich über exotische Tiere unterhielten.

»In das neue Terrarium kommt eine Vogelspinne. Am Wochenende ist ein Tiermarkt in Darmstadt. Ich muss nur meinen Vater bequatschen, dass er mich hinbringt. Vielleicht ist ein leistbares Exemplar für mich dabei.«

»Also, ich find deine Tiere klasse, aber mit solchen Viechern in einem Zimmer schlafen, könnte ich nicht. Hast du da keine Angst, dass eines ausbüxt und dir übers Gesicht läuft, wenn du pennst?«

»Ist schon passiert«, grinste Felix. »Ich hab den Deckel nicht richtig zugemacht und da ist Aphrodite rausgekrochen und hat es sich unter meiner Decke gemütlich gemacht. Sie verkriecht sich nämlich gerne in warmen Löchern.«

»Was war noch mal Aphrodite?«, fragte Tim und verzog das Gesicht zu einer Grimasse.

»Meine Boa natürlich. Du hast sie doch schon gestreichelt.«

Lisa hatte genug gehört und entfernte sich wieder. Dieses Gespräch hatte ihre Sympathien deutlich in Richtung Tim verschoben. Wenn es überhaupt jemals so weit kommen würde, dass sie bei einem Jungen übernachtete, hätte sie wenig Lust, diese Nacht im gleichen Zimmer wie Aphrodite zu verbringen.

Nach Ende der Pause wartete eine Überraschung auf Maja: Ihre Schultasche duftete penetrant nach Parfüm und eine rote Rose lag oben drauf. Der Stängel war ausgefranst, was darauf hindeutete, dass sie einem Vorgartenbeet entwendet worden war.

Was soll das und vor allem, von wem stammt die Rose? Ein heimlicher Verehrer?

Ein roter Briefumschlag steckte zwischen ihren Schulsachen, der dieses intensive Parfüm verströmte.

»Ihhh, was stinkt denn hier so?«, zischte Phoebe. »Sag jetzt nicht, dass das dein neues Parfüm ist.«

»Bist du irre? Ich benutz doch kein Moschus«, brummte Maja und zog einen Brief aus dem Umschlag.

»Ein Liebesbrief?« Phoebe quetschte neugierig ihren Kopf an den ihrer Freundin, um mitlesen zu können.

Maja war nicht wohl dabei, doch sie wollte Phoebe auch nicht zurückweisen, schließlich teilten sie alle Geheimnisse miteinander. Sie entfaltete den Brief und las:

Hab mich total in dich verknallt.

Wenn du Interesse hast und wissen willst,

wer auf dich steht, komm in der Mittagspause zum runden Denkmal.

Anonymus

»Oh, ist das spannend! Ein anonymer Verehrer«, jubelte Phoebe. »Du bist echt zu beneiden. Ich hätte auch gerne mal so einen Brief.«

»Ach, wer weiß, ob das nicht nur ein blöder Gag ist …«, entgegnete Maja, faltete den Brief wieder zusammen und steckte ihn in den Umschlag zurück, um ihn dann im Papierkorb neben dem Pult zu entsorgen. Da noch kein Lehrer im Raum war, und sich einige Schüler einen Spaß daraus machten, sich mit Papierkugeln zu beschießen, fiel ihre Aktion nicht weiter auf.

»Bist du verrückt, den Brief einfach wegzuwerfen? Vielleicht ist es ein super genialer Typ, der auf dich steht«, protestierte Phoebe.

»Ein super genialer Typ würde nicht so ein Parfüm verwenden. Widerlich, wie meine ganze Tasche jetzt stinkt. Hoffentlich bekomme ich diesen Geruch da jemals wieder raus.«

Maja kräuselte die Nase und hustete, als müsste sie sich übergeben.

»So schlimm finde ich es gar nicht«, erwiderte Phoebe.

»Doch! Mir ist schon ganz schlecht davon. Ich geh besser noch mal auf die Toilette.«

Maja stapfte eilig davon, während das Chaos in der Klasse weiter eskalierte. Es hatten sich vier Parteien gebildet, die sich mit Kugeln beschossen, über Tische und Stühle rannten, um dann wieder Deckung zu suchen. Nur Lisa beteiligte sich nicht, sondern schaute lediglich zu, was die anderen so trieben. In Phoebe hatte unterdessen eine Idee gekeimt, und es juckte ihr in den Fingern, diese in die Tat umzusetzen. So eine günstige Gelegenheit würde nie wiederkehren. Sie eilte zum Papierkorb, fischte den Brief heraus und stopfte ihn im Vorbeigehen flink in die Tasche der Jacke, die Felix über seinen Stuhl gehängt hatte. Auch wenn das ein Thema war, das Maja generell mied, war es ihrer besten Freundin natürlich aufgefallen, dass sich die beiden mochten und es konnte ja nicht schaden, da ein wenig nachzuhelfen.

Unschuldig saß sie auf ihrem Platz, als Maja gemeinsam mit Rektor Mayer das Klassenzimmer betrat.

»Was ist denn hier los?«, donnerte er.

Wie vom Blitz getroffen hielten die Schüler inne und rannten zu ihren Plätzen, wo sie sich brav hinsetzten.

»Bedauerlicherweise ist Herr Schreiner erkrankt, deshalb übernehme ich heute die Vertretung«, kündigte er an. »Es melde sich, wer mir sagen kann, was ihr in der letzten Stunde durchgenommen habt.«

»Der redet noch wie im letzten Jahrhundert«, flüsterte Phoebe Maja zu.

»Kein Wunder, er sieht immerhin schon aus wie fünfundfünfzig.«

»Ich bin sicher, selbst vor siebzig Jahren hat man nicht so dermaßen altbacken geredet. Nicht mal meine Großeltern tun das.«

»Ja, schon, aber …«

»Miriam, hätten Sie bitte die Güte, dem Unterricht Ihre volle Aufmerksamkeit zu schenken?!« Entgegen seiner höflichen Worte richtete Herr Mayer seinen strengen Blick auf Maja.

»Sehr wohl, Herr Mayer«, erwiderte sie und nickte ergeben. »Aber hätten Sie wohl die Güte, mich beim richtigen Namen zu nennen? Ich heiße Maja.«

Die Klasse lachte – zum letzten Mal, bevor sich der Unterricht quälend in die Länge zog. Dabei beobachtete Maja immer wieder besorgt, wie Felix irritiert in der Luft herumschnüffelte.

Bestimmt riecht er das schreckliche Parfüm von dem Brief!

Auch Majas Tasche müffelte fürchterlich danach. Nach der Stunde sollte sie ihn aufklären, woher der Gestank stammte, nicht dass er falsche Schlüsse zog. Doch dazu kam es nicht, denn Phoebe hatte sich zur Aufgabe gemacht, Maja um jeden Preis zum runden Denkmal zu lotsen. Kaum läutete die Pausenglocke, zog sie ihre Freundin förmlich mit sich fort.

»Schau doch wenigstens mal, wer dort auftaucht. Vielleicht ist es ja tatsächlich dein Traummann. Diese Chance würde ich mir an deiner Stelle nicht entgehen lassen«, redete sie auf Maja ein.

»Mann, das muss dir ja furchtbar wichtig sein«, maulte sie. »Na, gut, damit ich meine Ruhe habe, schaue ich kurz mal nach.«

Während die anderen zum Mittagessen in die Mensa strömten, trat Maja in den Schulhof, auf dem um diese Zeit nur wenige Schüler waren. Es waren diejenigen, die ihre Brotzeit in Tupperware mitgebracht oder Süßigkeiten für das Mittagessen besorgt hatten, statt in der Mensa zu essen.

Auf der anderen Seite des Schulhofes lag die Sporthalle und neben dieser gab es ein rundes Denkmal. So wies es zumindest das Schild davor aus, aber eigentlich war es einfach nur ein riesiger runder Stein, das Werk eines modernen Künstlers. Im Zenit des Steins sprudelte Wasser hervor und ergoss sich in den darunterliegenden kreisförmigen Brunnen. Das Denkmal war von einer Buxbaumhecke umgeben, sodass man vor neugierigen Blicken geschützt war. Außerdem gab es Bänke, deshalb war dies ein beliebter Platz für Pärchen. Eigentlich passte er nicht zu einer Schule, aber beim Bau des Gebäudes hatte man einen öffentlichen Park kurzerhand zum Schulhof umfunktioniert.

 

Schleimsumpf und Riesengamotten

Fabolon, Dorf Fedo, 1213 Omajan 32

 

»Es sieht aus wie tot …« Nio erschauderte.

Die Drillinge standen um das Beet herum und starrten dorthin, wo gestern noch violette Knollenrüben aus der Erde geragt hatten. Statt des Gemüses schwammen nun schleimige Kugeln aus grauschwarzem Morast in einer schlierigen Brühe.

»Tot ist gar kein Ausdruck … Einfach widerlich … und wie das stinkt …« Valía rümpfte die Nase und verfiel in Schnappatmung.

»Was ist da nur passiert?« Nio strich eine Strähne des halblangen Haars hinters Ohr und lehnte sich über den Gartenzaun, um das Desaster eingehend zu begutachten. »So was hab ich noch nie gesehen. Ein widerlicher schwarzer Faulschlamm …«

»Wenigstens hat es nur die Knollenrüben erwischt. Ich konnte das Zeug ja noch nie leiden.« Pipp zuckte mit den Schultern, doch die grünen Sprenkel in seiner hellblau leuchtenden Iris vollführten einen lebhaften Tanz ˗ ein klares Zeichen dafür, dass ihn die Sache mehr aufwühlte, als er zugeben wollte.

»Ach, sei doch still!«, fuhr ihn seine Schwester an. »Schließlich war ich es, die das Gemüse gepflanzt, gegossen und gepflegt hat. Du hast dich ja immer davor gedrückt.«

»Und wie man hier sieht, hatte ich vollkommen Recht damit. Die Mühe wäre völlig umsonst gewesen.«

»Hört auf zu streiten und lasst uns lieber herausfinden, was da passiert ist«, schlug Nio vor, was Valía augenblicklich verstummen ließ. Seit ihre Mutter wegen der Schlafkrankheit häufig im Bett lag, hatte sie die Rolle der Vernünftigen übernommen. Dass es dieses Mal Nio war, der einen kühlen Kopf bewahrte, passte ihr überhaupt nicht.

Die ersten hellen Strahlen blinzelten zwischen den Bäumen des Hügelwaldes hindurch und malten leuchtende Streifen in den Morgendunst. Noch war es ruhig auf den mit Kringelstein gepflasterten Wegen, die meisten Bewohner schliefen um diese Zeit, lediglich die Drillinge waren heute früh aufgestanden, um den Fischfang entgegenzunehmen und fürs Frühstück zu sorgen. Weiße Schwaden umhüllten die Häuser des kleinen Dorfes und legten sich über die Gärten. So war es den Drillingen noch nicht möglich, das gesamte Ausmaß der Katastrophe zu erfassen, das weit über das Knollenrübenbeet der Familie Tanúka hinausging.

»Also, ich koche jetzt einen Brei und ihr solltet euch beeilen. Bestimmt wartet Papa schon«, mahnte Valía.

»Mensch Schwesterchen, kannst du mal aufhören, die Mami zu spielen!? Früher warst du echt besser drauf«, beschwerte sich Pipp. Daraufhin imitierte er den Ruf der Scheineule: Der schrille Laut nahm in Tonhöhe und Volumen kontinuierlich ab – ein bewährtes Mittel, um nervige Schwestern aus der Fassung zu bringen. Tatsächlich fühlte es sich für Valía an, als zöge man ihr die Fußnägel heraus. Sie presste ihre Handflächen auf die Ohren, während sie ihren Bruder wütend anblitzte.

Schon als kleines Kind hatte sich Pipp darin geübt, Geräusche nachzuahmen und inzwischen war er nicht nur meisterhafter Imitator von Rufen verschiedener Tierarten, er konnte sogar mechanische Geräusche, wie zum Beispiel das Deichselknarren der Karren, täuschend echt nachahmen.

»Lern lieber mal etwas Sinnvolles!« Valía zog eine schmerzerfüllte Grimasse, drehte sich auf dem Absatz um und marschierte zum Haus.

Hinter ihrem Rücken ahmte Pipp mit der Hand ein Schnattermaul nach, bis seine Schwester im Dunst und in der Tür verschwunden war, dann stieß er seinen Bruder in die Seite. »He, was brütest du noch immer über dem schwarzen Stinkezeug? Suchst du nach essbaren Resten, oder was?«

»Nein, aber wir müssen doch herausfinden, was es ist und wo das herkommt«, antwortete Nio. Er nahm einen Stock und steckte ihn in den schleimigen Morast.

»Vielleicht stammt das bloß von irgendeinem Schädling, der Knollenrüben lieb …« Pipp brach in dem Moment ab, als Nio den Stock aus dem Sumpf herauszog. Der Teil des Holzes, der darin gesteckt hatte, hatte sich zu einem schleimigen zischenden Brei verwandelt und tropfte in die schwarze Brühe herab. »O Sch-schmauche! Ein echt übler Schädling, der so was hinterlässt … Komm bloß nicht in meine Nähe mit dem Zeug!«

Nio warf den Stock vollends in die schwarze Pfütze, wo er sich blubbernd und zischend im Milieu auflöste.

»Wenn sich das ausbreitet, haben wir ein dickes Problem.« Nio presste die Lippen zusammen.

»Dann schau dich mal um, das Problem haben wir jetzt schon.« Pipp legte die Hand auf Nios Schulter, zog ihn vom Gartenzaun weg und deutete auf dunkle Flecken, die sich aus dem Dunst schälten. Die Rankwinde des Nachbarn war einem Gebilde gewichen, das sich schleimig an die Hauswand schmiegte. Schwarzer Gelee tropfte in eine Glibberpfütze, die sich darunter gebildet hatte. Etwas weiter weg hatte sich der Marmorbeerstrauch in ein Knäuel verwandelt, das den verknoteten Gliedmaßen eines zwölfarmigen Schleimkraken glich. Nio und Pipp sahen sich voller Entsetzen um und je klarer sich die Umgebung aus dem Dunst hob, desto mehr solcher von schwarzem Schleim verseuchter Stellen entdeckten sie.

»Was, vermoxt nochmal, ist hier passiert?«

»Wahrscheinlich leidet unser fetter Wirt mal wieder unter Durchfall. Geruchsmäßig würde es zumindest hinkommen. Aber seine Haufen überall in die Landschaft zu setzen, gehört echt verboten«, beschwerte sich Pipp kopfschüttelnd. Er konnte es nicht lassen, seine dummen Scherze darüber zu reißen, obwohl in seinem tiefsten Inneren auch ihn die Sache nicht unberührt ließ.

»Igitt, diese Art von Scherzen finde ich überhaupt nicht witzig«, entgegnete Nio. »Wir sollten lieber Warnschilder anbringen und die anderen wecken. Nicht, dass jemand versehentlich reintritt oder etwas berührt.«

»Glaubst du wirklich, da steckt jemand freiwillig seine Finger rein?«, blaffte Pipp ihn an. »Und ich hab echt keine Lust auf das Gezeter der Frauen. Lass sie doch schlafen. Die merken noch früh genug, was passiert ist, aber Papa wartet sicher schon.«

Außer Tono, dem Vater der Drillinge, gab es noch zwei weitere Fischer im Dorf. Wenn sie gegen Morgen am Steg anlegten, die Netze von Algen und Unrat befreiten und die Fässer mit den gefangenen Fischen abluden, fiel Pipp und Nio häufig die Aufgabe zu, ihnen beim Transport der Fässer zu helfen.

Widerwillig folgte Nio seinem Bruder über die Straße am Gartenzaun entlang. Sie bogen in einen Trampelpfad ein, der rechts und links von Hecken gesäumt war. Man hatte die Büsche gepflanzt, um die Winde zu bremsen, die zeitweise recht kräftig vom Meer herüberwehten. Auf dem Weg hielten die Jungen Ausschau nach weiteren schwarzen Flecken, doch hier schien alles in Ordnung zu sein.

Plötzlich ertönte ein gellender Schrei. Die Jungs fuhren erschrocken herum. Eine Frau rannte kreischend mit wehendem Haar die Straße entlang. Die Rufe waren kaum verständlich, aber man konnte die Worte »Schleim« und »schwarzes Farbelwesen« heraushören.

»Ach, diese Weiber«, lästerte Pipp »Alles müssen sie dramatisieren. So ein Aufruhr wegen ein bisschen schwarzem Schleim.« Er zog seinen Bruder fort, Richtung Strand.

»Woher willst du das wissen? Es könnte sich doch tatsächlich um ein übles dunkles Wesen handeln, von dem dieser Schleim stammt.«

»Von seinem Durchfall, oder was?«

»Kannst du auch mal ernst bleiben? Wenn sich dieses Zeug ausbreitet, wird uns nichts anderes übrigbleiben, als das Dorf zu verlassen. Willst du das etwa?«

»Wer sagt denn, dass ich das will? Außerdem ist das noch lange nicht raus. Es könnte doch sein, dass es sich genauso schnell wieder auflöst, wie es gekommen ist.«

»Das kann ich mir kaum vorstellen.«

»Na gut, vielleicht sollten wir mal im großen Buch der Farbelwesen nachschauen, welches Wesen dahintersteckt«, überlegte Pipp laut.

Unter Farbelwesen versteht man auf Fabolon alles, was die Farbmagie besitzt. Das können Gegenstände, Landschaften, Pflanzen, Tiere oder auch menschliche Wesen sein.

»Bist du verrückt? Du weißt genau, dass das nicht ohne Grund verboten ist. Die schlimmsten schwarzen Wesen werden davon angezogen, dass man an sie denkt. Und versuch mal, erst über sie zu lesen und danach nicht über sie nachzudenken. Das schaffst du nicht.«

»Jaja, blabla.« Pipp trällerte wie ein Schmettervogel durch die Zähne. »Wer weiß, ob das überhaupt stimmt. Der Weise Alte redet uns das doch nur ein, damit er seine Geheimnisse für sich behält.«

Nio schüttelte nur ungläubig den Kopf, wollte aber nicht weiter darüber diskutieren.

Als die Brüder zwischen den Sanddünen hindurchwanderten, vernahmen sie schon das gleichmäßige Schlagen der Wellen. Lange Schatten zeichneten sich in den Sand. Ein sanfter Wind streichelte über das Dünengras.

Noch einmal ging es bergauf, dann standen sie auf der letzten Kuppe vor dem langen Sandstrand. Verwundert hielten die Brüder inne. Von hier aus konnte man die breite, von Dünen gesäumte Bucht überblicken. Um ins offene Meer zu gelangen, musste man zwischen felsigen Klippen hindurch. Über den Sandstrand hinweg führte ein langer, hölzerner Steg bis ins Meer hinein. Hier hätte das Fischerboot schon längst anlegen müssen, doch heute war niemand da. Die Jungen schauten übers Meer, das friedlich in der Morgenröte leuchtete, doch nicht einmal der Segelmast des Bootes war in Sicht.

»Was zum …«, begann Pipp.

»Hier sind keine schwarzen Schleimflecken. Also kann es damit nichts zu tun haben«, überlegte Nio.

Die Jungen wanderten auf den Steg zu und sahen sich dabei wachsam um. Schon der Beginn des Tages war unheimlich gewesen, dass jetzt auch noch die Fischer fortblieben, beunruhigte selbst Pipp, obwohl er das nicht zugeben wollte.

»Na, wer weiß, vielleicht war es ein fliegendes, schwarzes Ungeheuer, das widerlichen Schleim spuckt. Und auf seinem Weg hat es das Schiff mit den langen, spitzen Krallen gepackt und mitgenommen«, mutmaßte er – das war nun mal seine Art, mit Sorgen und Ängsten umzugehen.

»Sei doch nicht albern«, brummte Nio. »Du hast doch keine Ahnung …«

Gerade in solchen Momenten ging Nio die Art seines Bruders ziemlich auf die Nerven.

Die Jungen hatten das Ende des Stegs erreicht, doch weder das Fischerboot noch irgendwelche Spuren deuteten darauf hin, was geschehen war. Nios Blick verlor sich in den sanften Wellen, die um die Pfosten wogten. Das grünliche Blau des Wassers zog ihn jedes Mal an wie ein Magnet.

»Wir könnten zum Grund schwimmen und dort unten nach Spuren suchen …«, schlug er vor.

»Schmauche! Was sollte das bringen? Aber bitte, mach doch, wenn du dich traust!«

»Natürlich traue ich mich, aber …« Nio brach ab, beinahe hätte er sein Geheimnis verraten. »Ach, ist doch egal. Es bringt wahrscheinlich eh nichts.«

Auf keinen Fall durfte er das Wasser berühren, nicht wenn sein Bruder dabei war. Brennende Sehnsucht stieg in ihm auf und nur mit Mühe kämpfte er sie nieder. Sein Blick wanderte wieder zum Horizont, dorthin, wo sich die Bucht zu den Weiten des Meeres öffnete.

Was ist nur passiert? Warum sind die Fischer noch nicht zurück?

»Und jetzt?« Auch wenn es sich Nio nicht anmerken lassen wollte, er hatte Angst. Große Angst. Auf Fabolon gab es einige bösartige schwarze Wesen. Allein die wenigen, von denen er eine vage Ahnung hatte, konnten einen derart plagen, dass man den Tod seinem Leben vorzog. Und schon musste er wieder an Friedolin denken – man hatte dem schwarzen Dieb absichtlich einen lustigen Namen gegeben, um ihm ein wenig den Schrecken zu nehmen. Wenn sich Friedolin in ein Dorf einnistet, stiehlt er Nahrung und jeglichen Besitz der Einwohner. Damit stürzt er sie in immerwährende Armut, der man auch dann nicht entkommen kann, wenn man fortzieht.

Vor etwa einem Jahr war Nio im Wald einer alten Frau begegnet. Sie hatte ihm von dem schwarzen Wesen Friedolin erzählt. Bestimmt war sie eine Hexe gewesen, die ihm das angetan hatte, denn seither plagte er sich immer wieder damit, seine Gedanken zu kontrollieren. Besonders schlimm war, dass er dieses Geheimnis mit niemandem teilen durfte, denn je mehr Menschen an ein dunkles Wesen dachten, desto wahrscheinlicher war es, dass man es anlockte, vor allem, wenn die Gedanken von Angst begleitet waren.

An diesem Tag fiel es Nio besonders schwer, seine Gedanken auf etwas Lustiges zu lenken. Selbst das Bild von rosa gepunkteten Liebesblümchen im Haar des fetten Wirtes konnte das schale Gefühl der Angst und Sorge nicht vertreiben.

Im Inneren von Pipp sah es zwar nicht besser aus, doch wie gewohnt, verbarg er seine negativen Gefühle hinter Scherzen und albernem Getue. Anders als sein Bruder trug er das dunkelblonde Haar nicht halblang, stattdessen hatte er sich einen kürzeren Schnitt zugelegt, bei dem die Haare wie vom Wind gekämmt nach hinten ragten. Der vergorene Saft des Knollenrübenkrauts diente ihm dabei als Festiger und gleichzeitig verlieh er dem Haar einen aufregend violett glitzernden Schimmer. Wegen des schwarz verschlammten Beetes würde Pipp nun eine andere Quelle für Knollenrübensaft finden müssen, das war auch für ihn ärgerlich, selbst wenn ihm Knollenrüben nicht besonders schmeckten. Doch dieser Umstand war nichts, was Pipp in diesem Moment beschäftigte, als er neben seinem Bruder auf dem Steg stand und nach dem Fischerboot Ausschau hielt.

»Lass uns zurückkehren«, sagte Nio schließlich resigniert.

»Bestimmt halten sie im Dorf schon großen Rat ab, was es mit dem Schleim auf sich hat«, mutmaßte Pipp. »Aber da wir ja eh zu jung sind, um dabei sein zu dürfen, hab ichʼs nicht eilig.«

»Ardo weiß aber vielleicht mehr darüber und kann uns etwas dazu sagen. Bist du nicht neugierig?«

»Schon. Also, na gut.«

Die Jungen hielten noch ein letztes Mal vergeblich Ausschau nach dem Schiff, dann trabten sie zurück zum Dorf.

 

Schon aus der Ferne hörten Pipp und Nio Laute des Entsetzens, Schreie und das Stimmengewirr erregter Diskussionen. Die Straßen waren voller Menschen, die aufgeregt umherliefen und die schwarzen Flecken begutachteten. Mütter stießen hysterische Schreie aus, um ihre Kinder vor dem Schleimtod zu bewahren. Da das Dorf namens Fedo kaum mehr als hundert Einwohner zählte, kannten die Jungen jedes Gesicht und jeden Namen. Anders als sonst, wenn man sich auf den Straßen freundlich grüßte, beachtete heute niemand die Brüder. Es gab einen Weg, der ringförmig die Wohnhäuser miteinander verband, alle anderen Straßen verliefen strahlenförmig und endeten auf dem Marplatz – so wurde der zentrale Platz mit dem Marnussbaum in der Mitte genannt. Ringsum befanden sich die Gemeinschaftsgebäude, Geschäfte und Fettes Wirtshaus. Nio und Pipp gingen zur Mitte des Dorfes, denn hier trafen sich die Leute, die etwas zu sagen hatten.

Und tatsächlich traten sie gerade aus dem Gemeinschaftshaus, als sich die Brüder näherten. Auf diesem Platz wurde nicht nur regelmäßig Markt abgehalten, auch die Feste feierte man hier. An einem normalen Tag wären die Drillinge jetzt nach Hause gegangen, hätten dort gemeinsam gegessen und dann die Schule besucht, aber heute war überhaupt nichts normal und ganz sicher wäre der Weise Alte, der sie sonst unterrichtete, als Lehrer nicht verfügbar.

»Porschott! Sogar den Marnussbaum hat es erwischt!«, fluchte Pipp. Der Anblick des mächtigen Baumes, dessen Wipfel beinahe den gesamten Platz überspannte, verleidete selbst ihm die Lust auf alberne Scherze. Die Seite des Stammes, an der für gewöhnlich die Triebe der gelben Flickenblume emporrankten, hatte sich in einen schleimig schwarzen Matsch verwandelt.

»Es breitet sich aus!«, rief in diesem Moment Wecke, der Bäcker, und deutete auf die Stelle des Baumes, die auch Pipp, Nio sowie der fette Wirt und weitere Einwohner Fedos anstarrten.

Im Hintergrund wiegelte der Jäger Mirek die Leute auf: »So etwas hätte nicht passieren dürfen. Seit Jahren fordere ich, dass wir eine Mauer um Fedo ziehen, aber dieser alte Greis steht uns noch immer im Weg.«

Es folgte undefinierbares Gemurmel. Der Weise Alte bahnte sich einen Weg zwischen den Leuten hindurch. Entgegen seiner Gewohnheit drängte er sich grußlos an Pipp und Nio vorbei, um das Malheur am Marnussbaum zu begutachten.

»Wenn wir es nicht stoppen können, wird uns nichts anderes übrigbleiben, als den Baum zu fällen.« Er atmete tief durch, legte die Hand auf einen noch gesunden Teil des Stammes und senkte den Blick. Die Brüder hatten sich ebenfalls dem Baum genähert.

»Was ist das für ein mieses Zeug?«, platzte Pipp hervor.

Der Weise Alte hob den Blick und schüttelte traurig den Kopf.

»Ich weiß es nicht«, seufzte er.

»Kann doch gar nicht sein. Du weißt doch sonst immer alles«, entgegnete Pipp herausfordernd.

»Dieses Mal nicht. Ich habe keine Ahnung, womit wir es hier zu tun haben. Es sieht nach dem Werk eines dunklen Farbelwesens aus, doch es handelt sich um keines, das mir bekannt ist.«

Pipp ballte die Fäuste. Auch seine Beherrschung hatte Grenzen.

»Und was ist mit unserem Vater und dem Fischerboot? Wurden die auch von dem dunklen Farbelwesen verschluckt?«

Der Alte horchte auf.

»Was sagst du? Das Fischerboot ist heute Morgen nicht zurückgekehrt?«

»Nein, ist es nicht. Keine Spur davon«, schimpfte Pipp, als wäre alles die Schuld des Weisen Alten.

In diesem Moment näherten sich Simma und Josi, die Frauen der anderen beiden Fischer. Simma schlug sich entsetzt die Hände vors Gesicht und Josi stöhnte auf. »Wir warten auch schon eine Ewigkeit auf unsere Männer. O Farella, was mag nur passiert sein?«

»Es wird sich alles klären«, versuchte Ardo, auch genannt der Weise Alte, die beiden Frauen zu beruhigen.

»Wir müssen den Baum fällen«, rief Fette, der dicke Wirt. »Sonst kracht er noch aufs Gasthaus!«

Ardo blickte in die Wipfel des Baumes empor und schüttelte abermals seufzend den Kopf. Auch Nio wurde ganz anders zumute. Dieser Baum war tausende von Jahren alt, spendete jedes Jahr so viele große nahrhafte Nüsse, dass sich das gesamte Dorf allein davon fast einen Monat lang ernähren könnte. Bei Festen wurde er mit Lampions und Girlanden behängt. Zahlreiche Winkelmarder lebten in seinen Wipfeln, die Hauptfeinde der vorräteplündernden Nageschratten. An heißen Tagen spendete er Schatten und an heftigen Regentagen schirmte er die Marktstände und Kunden weitgehend vor den Niederschlägen ab.

»Den Baum fällen!«, schrie Mirek aufgebracht. »Habt ihr das gehört, Leute? So weit ist es jetzt schon gekommen. Es wird Zeit, dass ihr mir vertraut, statt einem altersschwachen Greis.«

Ardo, der Weise Alte, reagierte lediglich mit einem Kopfschütteln auf die Provokation des Jägers.

»Wir werden versuchen, das schadhafte Stück herauszuschlagen«, rief der Holzfäller. »Kannst du nicht einen Trunk brauen«, fragte er Ardo, »der es nachwachsen lässt?«

Der Weise Alte schloss die Augen und fuhr sich mit den Händen übers Gesicht. »Ich könnte vielleicht etwas herstellen, um die Wunde zu schließen, aber ihr dürft keine Wunder von mir erwarten.« Der Kummer stand ihm ins Gesicht geschrieben.

»Ich hole die Äxte. Wer hilft mit?«, rief der Holzfäller in die Menge. Seine Frau und der Baumeister meldeten sich, dann rannte er davon. Inzwischen hatte sich beinahe das gesamte Dorf auf dem zentralen Platz versammelt, auch Valía drängelte sich jetzt zwischen den Leuten hindurch, um zu Pipp und Nio zu gelangen.

»Da seid ihr ja. Was macht ihr denn hier und wo ist Papa?«, stieß sie atemlos hervor.

Pipp ignorierte seine Schwester, sah dem Holzfäller zu, wie er mit drei Äxten zurückkehrte und je eine seiner Frau und dem Baumeister reichte. Nio versuchte, nicht ganz so betreten dreinzuschauen, als er seiner Schwester antwortete:

»Das Boot ist noch nicht zurück.«

»Was? Das kann doch nicht sein«, presste Valía ungläubig hervor.

Ein schreckliches Rumpeln ging durch ihren Körper. Seit einem Jahr litt die ganze Familie unter der Schlafkrankheit ihrer Mutter, die es gerade mal für drei Stunden am Tag fertigbrachte, wach zu bleiben und in dieser Zeit konnte sie nur unter Kraftanstrengung das Nötigste erledigen. So hatten die Drillinge weitgehend ihre Aufgaben übernommen, nicht selten blieb jedoch alles an Valía hängen, zumindest empfand sie es so, die Jungs waren jedoch anderer Meinung. Das Desaster mit dem schwarzen Sumpf im Knollenrübenbeet ließ erahnen, dass sich zudem eine mittelschwere Katastrophe anbahnte. Aber dass jetzt auch noch das Fischerboot fort war, zog dem Mädchen beinahe das Kringelsteinpflaster unter den Füßen weg. Valía schwankte bedenklich. Nio legte beschwichtigend den Arm um ihre Schulter.

»Hey, sie haben sich heute bestimmt nur verspätet.«

Valía schüttelte den Kopf und runzelte die Stirn.

»Wenn du das wirklich glauben würdest, dann wärst du jetzt nicht hier, sondern unten am Steg«, warf sie bitter ein.

»Wir können doch nicht den ganzen Tag auf dem Steg hocken und faulenzen. Außerdem wollten wir nachsehen, was mit dem schwarzen Glibberzeug passiert und ob Ardo eine Ahnung hat, was das sein könnte«, widersprach Nio, obwohl er insgeheim zugeben musste, dass seine Schwester nicht ganz falsch lag mit ihrer Vermutung.

Er konnte sich nicht erinnern, dass sich das Fischerboot jemals verspätet hätte, und es hatte keinen Sturm gegeben, nichts, was es hätte aufhalten können, warum also sollte das Boot verschollen bleiben? Nio wagte kaum, diesen Gedanken zu Ende zu denken, doch es sah alles danach aus, als wäre das Fischerboot irgendwo aufgelaufen oder untergegangen. Im Meer lauerten viele Gefahren, nicht nur von gefräßigen Fischen, Riesenkraken oder Schlingalgen, auch hier lebten magische Wesen, wie zum Beispiel der Meerkönig, der recht ungemütlich werden konnte, wenn man in sein Reich eindrang.

»Hey, alles klar?«

Nio rüttelte seine Schwester ein wenig durch, weil sie allzu bleich und weggetreten dreinblickte.

»Ja, geht schon wieder …«, antwortete sie leise.

Sie hasste es, dass ihr Bruder sie so schwach erlebte, sonst war sie doch immer diejenige, die die Jungs im Griff hatte.

Reiß dich zusammen, Valía, ermahnte sie sich und straffte die Schultern.

Unterdessen hatten die drei Leute mit ihren Äxten begonnen, um die schwarz-glibberige Stelle des Stammes herumzuhacken. Seit Pipp auf dem Platz stand, hatte er beobachtet, wie sich das Zeug allmählich tiefer ins gesunde Holz hineinfraß. In dieser Zeit hatte es sich etwa um eine Fingerlänge verbreitert. Man hatte mehrere dicke Lagen an Segeltuch vor der befallenen Stelle ausgebreitet, damit man damit später das herausfallende Stück wegziehen konnte.

Die Holzfäller mussten sich beeilen, das merkten sie selbst, und hieben daher wie irre auf das noch gesunde Holz ein. In seiner Eile wurde der Baumeister jedoch unachtsam und so geschah es, dass seine Axtklinge ins schwarze Glibberzeug abrutschte. Sie zischte fürchterlich und als er sie wieder herauszog, war das Metall zu einem unförmigen Klumpen geschmolzen. Frauen kreischten, die Leute wichen zurück und keuchten vor Entsetzen.

»Schmauche!«, fluchte der Baumeister und warf das Beil zu Boden, als wäre es eine giftige Schlange.

»Meine Axt!«, schimpfte der Holzfäller unter Keuchen. »Pass doch besser auf!«

Er und seine kräftige Frau, die es beim Armdrücken mit jedem Mann im Dorf aufnehmen konnte, stellten sich nun rechts und links vom Baum auf und hieben wie wild auf den Stamm ein.