Die magische Krone von Lyoness (Lyoness 1) - Sandra Regnier - E-Book
SONDERANGEBOT

Die magische Krone von Lyoness (Lyoness 1) E-Book

Sandra Regnier

0,0
2,49 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 2,49 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Aus den Schatten der Drachen erwacht die Rebellenkriegerin. Wird sie den Frieden oder den Untergang bringen? Mythen und Magie waren schon immer Teil von Lyoness, Wahlheimat der sagenumwobenen Großen Drachen, die das Inselreich seit jeher beschützen. Doch seit der Machtübernahme der Druiden ist jegliche Zauberei verboten und nur der herrschenden Klasse erlaubt. Für die 20-jährige Sara und ihre magiebegabten Freunde ein schweres Schicksal, das sie dazu zwingt im Untergrund zu leben. Bis zu dem Tag, an dem alles anders kommt und die Macht der Druiden gekippt wird – und zwar ausgerechnet durch die selbstlose, unscheinbare Sara. Nun will das Volk sie zur Herrscherin und Sara ist alles andere als bereit. Dabei muss sie sich beeilen, denn der Schutz der Insel bröckelt. Doch sie ahnt nicht, dass noch eine viel größere Gefahr aufzieht … Tauch ein in eine royale Romantasy voller magischer Fähigkeiten und großer Gefühle! //Dies ist der erste Band der magischen Dilogie »Lyoness« von Sandra Regnier. Alle Bände der Fantasy-Liebesgeschichte: -- Die magische Krone von Lyoness (Lyoness 1) -- Das finstere Erbe von Lyoness (Lyoness 2) -- E-Box: Lyoness//

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



ImpressDie Macht der Gefühle

Impress ist ein Imprint des Carlsen Verlags und publiziert romantische und fantastische Romane für junge Erwachsene.

Wer nach Geschichten zum Mitverlieben in den beliebten Genres Romantasy, Coming-of-Age oder New Adult Romance sucht, ist bei uns genau richtig. Mit viel Gefühl, bittersüßer Stimmung und starken Heldinnen entführen wir unsere Leser*innen in die grenzenlosen Weiten fesselnder Buchwelten.

Tauch ab und lass die Realität weit hinter dir.

Jetzt anmelden!

Jetzt Fan werden!

Sandra Regnier

Die magische Krone von Lyoness (Lyoness 1)

Mythen und Magie waren schon immer Teil von Lyoness, Wahlheimat der sagenumwobenen Großen Drachen, die das Inselreich seit jeher beschützen. Doch seit der Machtübernahme der Druiden ist jegliche Zauberei verboten und nur der herrschenden Klasse erlaubt. Für die 20-jährige Sara und ihre magiebegabten Freunde ein schweres Schicksal, das sie dazu zwingt im Untergrund zu leben. Bis zu dem Tag, an dem alles anders kommt und die Macht der Druiden gekippt wird – und zwar ausgerechnet durch die selbstlose, unscheinbare Sara. Nun will das Volk sie zur Herrscherin und Sara ist alles andere als bereit. Dabei muss sie sich beeilen, denn der Schutz der Insel bröckelt. Doch sie ahnt nicht, dass noch eine viel größere Gefahr aufzieht …

WOHIN SOLL ES GEHEN?

Buch lesen

Vita

Glossar

© Claudia Toman Traumstoff

Sandra Regnier ist in der Vulkaneifel geboren und aufgewachsen. Nach der Schule und einer Ausbildung zur Beamtin wollte sie lange nach Frankreich auswandern. Stattdessen heiratete sie einen Mann mit französischem Nachnamen und blieb zu Hause. Nachdem sie acht Jahre lang im Tourismus tätig war, übernahm sie die Leitung einer Schulbibliothek und konnte sich wieder ganz ihrer Leidenschaft widmen: den Büchern. Heute schreibt sie hauptberuflich und ist nebenher viel mit dem Fahrrad unterwegs, um Ideen zu sammeln, oder träumt beim Wandern von fantastischen Welten.

FÜR PIA

PROLOG

Ausgerechnet heute sah das Meer um die Landzunge besonders hübsch aus. Das Wasser spiegelte azurblau unter dem wolken­losen Himmel bei ungewöhnlich warmem Sonnenschein. Wellen schwappten leise auf den kleinen Sandstrand am Fuß der hohen Klippen, die die kleine Halbinsel umrandeten und diesen Bereich für Menschen unerreichbar machten.

Diese Landzunge war sein Zufluchtsort – und nun ihre letzte Ruhestätte. Er wandte dem Wasser den Rücken zu und rollte mit lautem Knirschen den Stein vor das Grab in die vorgesehene Mulde. Augenblicklich brachen sich kleine Wellen daran. Die Flut würde bald kommen und den weißen Sand, der die gesamte Landzunge einfasste, unterspülen, doch im Grab wäre es trocken. Kein Wasser konnte mehr in die Höhle eindringen.

Der Stein sah aus, als wäre er Teil der Klippe. Nur er wusste, dass dahinter ein geliebtes Wesen zur letzten Ruhe gebettet lag, und mit seinem Tod fühlte sich die Welt brüchiger an.

Seine Schwester lag in diesem Grab. Seine quirlige, schöne, liebenswerte Zwillingsschwester, mit der er seit Anbeginn der Welt verbunden gewesen war. Als er sich über das Gesicht wischte, merkte er, dass es voller Tränen war.

Doch ihr Tod war nicht nur für ihn eine Tragödie. Er könnte für ganz Lyoness der Untergang sein. Das Land, das ihm und seiner Schwester so viel bedeutete.

Bedeutet hatte.

Das Meer stieg schnell, überschwemmte innerhalb von Minuten den kleinen Sandstrand. Er blieb stehen, obwohl ihm das Wasser bereits bis zur Hüfte reichte. Panik machte sich in ihm breit, als ihm ein Gedanke kam. Wo war die Brosche? Ihre Brosche?

Was, wenn er sie übersehen hatte? Was, wenn sie hier am Strand lag und das Wasser sie nun ins Meer sog? Er hoffte – wenn auch mit immer größer werdenden Zweifeln – dass sie sich oberhalb der Klippen auf der grasbewachsenen Ebene befand und er sie noch finden würde.

Dass Drachen seine Schwester ermordet hatten, lag auf der Hand. Niemand sonst hinterließ solche Spuren, nur ausgewachsene Drachen in ihrer wahren Form. Sollten diese jedoch von der Brosche gewusst und sie an sich genommen haben, wäre sein schlimmster Albtraum wahr geworden. Dann wäre ganz Lyoness in Gefahr.

Er musste nachdenken, eine Lösung finden, doch es fiel ihm schwer. Seine Schwester hätte die Wahrheit erspüren können, doch diese Gabe war ihm verwehrt worden. Der Gedanke an sie riss an seinem Inneren, schmerzte, als hätte ihm jemand ein Messer in den Leib gerammt. Er stieß einen lauten Schrei aus, der zwischen den Klippen widerhallte und das Wasser in Bewegung versetzte.

Was hatte seine Schwester ihm gesagt, als er sie das letzte Mal lebend gesehen hatte? Sie hatte von dieser jungen Frau gesprochen, wie schon so oft. Von einer jungen Frau, über die die ganze Welt einst reden würde. Dieser Frau namens Sara. Es war eine ihrer Prophezeiungen gewesen und doch anders als sonst, denn seine Schwester hatte nicht deuten können, ob diese Frau für Lyoness eine glorreiche Zukunft oder den Untergang bedeutete. Der Name Sara wäre für alle Ewigkeit im Gedächtnis aller Menschen, aber seine Schwester hatte nicht erkannt, ob er mit einem Segen oder einem Fluch ausgesprochen werden würde.

Ihm war bewusst, dass sein eigenes Artefakt, das so lange gemeinsam mit der Brosche den Schutz von Lyoness ausgemacht hatte, allein nicht ausreichte, um das Land zu sichern. Die dünne Aura war spürbar, die Luft kälter, die Strömung mächtiger.

Er musste seine Heimat retten. Er musste Lyoness erhalten.

Er musste diese Sara finden.

DAS URTEIL

Die Stille wog schwer.

Ich sah mich um und konnte vor lauter Menschen kaum etwas erkennen – außer dem leeren Podest, das zwei Reihen vor mir emporragte und auf dem der Folterpfahl prangte. In der heißen Sommerluft war die Beklemmung der Menge beinahe greifbar. Es mussten mehrere Hundert Menschen versammelt sein, die gemeinsam mit mir auf Grady und seine Strafverhandlung warteten. Auf Erbarmen und Freilassung hofften.

Zwischen der grauen Kleidung, die für unser Eisenviertel ­typisch war, stachen mir auch unzählige blau, rot und gelb gekleidete Menschen aus dem Holz-, Nahrungs- und Wollviertel ins Auge. Aber Grau überwog bei Weitem. Gefühlt hatte sich das ganze Eisenviertel von Yslion hier eingefunden.

Niemand sprach. Ernst und angespannt starrten die Anwesenden zum Podest, in der Erwartung, dass es endlich begann. Die Sonne brannte auf uns hernieder und ganze Wolken an Insekten tummelten sich über unseren Köpfen. Ich konnte ihr Summen nicht hören, vernahm nur mein pochendes Herz.

Mein Inneres war seit einer Woche in völligem Aufruhr. Ich war noch nie so lange von Grady getrennt gewesen. Eine unheilvolle Besorgnis schien seit seiner Festnahme meinen Magen zusammenzupressen. Von dreißig Peitschenhieben war die Rede, wegen unerlaubten Waffenbesitzes. Was für ein Irrsinn! Ich war dabei gewesen. Grady hatte die frisch angefertigte Lanze nur seinem neuen Besitzer überbringen wollen, und dann war dieser Druide aufgetaucht, hatte ihm unterstellt, sie gestohlen zu haben und Grady trotz aller Proteste verhaften lassen.

Wir alle befürchteten, dass dieses übermäßig drakonische Urteil in Wirklichkeit an Gradys aufrührerischen Reden lag. Der regierende Erzdruide und seine Anhänger beseitigten konsequent jeden, der deren Machtstellung auch nur ansatzweise infrage stellte. Die gesamte Bürgerschaft in Lyoness wusste, dass Gerichtsverhandlungen schon seit Beginn der Druidenherrschaft vor vierhunderteinunddreißig Jahren stets zu ihren Gunsten ausgingen.

Schon lange schwelte die Unzufriedenheit über die Willkür und gleichzeitig die Machtlosigkeit gegen die Flüche unserer Unter­drücker im Volk. Grady hatte uns aufgerüttelt. Obwohl er der Sohn eines Schmieds war, konnte er so mitreißende Reden halten und derart überzeugend argumentieren wie für gewöhnlich nur die studiertesten Druiden. Seine Visionen waren ansteckend. Grady träumte seit Jahren von einem freien Land. Einem Lyoness, das gerecht regiert wurde und in dem alle ihre Magie ausleben durften, statt sie zu verstecken. Einem Lyoness, in dem niemand verhaftet wurde, der eine andere Meinung vertrat als die Obrigkeit, und in dem Kinder mit magischen Fähigkeiten nicht geraubt und gewaltsam zu gefügigen Druiden erzogen wurden oder spurlos verschwanden. Diejenigen unter uns, die Kinder mit magischen Fähigkeiten aufzogen, lebten immer in Angst um sie. Von meiner Freundin Gwyned wusste ich, dass ihre Mutter und Großmutter geweint hatten, als sie die besonderen Kräfte ihrer kleinen Schwester entdeckten. Magie konnte etwas Wunderbares sein, aber nicht in Lyoness. Hier war sie streng verboten und Grady seit Jahren die Lichtfigur für alle Menschen, die diese Unterdrückung beendet sehen wollten.

Es machte nicht nur mich stutzig, dass die Druiden ihn nach all den Jahren, in denen er nie bei seinen Ansprachen erwischt worden war, wegen einer Nichtigkeit verhaftet und zu einer Bestrafung verurteilt hatten, die man sonst Dieben und Betrügern zuwies.

Hatten die Druiden tatsächlich von seinen Reden gegen sie gehört? Oder – noch schlimmer – hatte ihn jemand verraten?

Zwar konnte ich es mir nicht vorstellen, dennoch zog sich mir der Magen bei dem Gedanken noch enger zusammen. Dafür war Gradys Magie eigentlich zu stark, wenn auch nicht leicht einzuordnen. Zumindest nicht so offensichtlich wie bei Bran, der mit seiner Magie sein Erscheinungsbild verändern konnte, um nicht erkannt zu werden. Obwohl er genauso alt war wie Grady und ich, sah er heute wie ein vierzigjähriger Mann aus.

Ich blickte mich um und entdeckte Keenans blonden Schopf in der Menge hinter mir. Auch seine Magie lag auf der Hand, sofern er sie zeigte. Ich kannte niemanden, der schneller und stärker war als er. Wenngleich er das Aussehen eines schlaksigen Burschen besaß, konnte er ein Pferd heben oder einen Falken überholen, wenn er wollte.

Gradys Magie hingegen lag in seiner Fähigkeit zu begeistern, die Menschen an sich zu binden und sie zu loyalen Anhängern zu machen. Vielleicht waren es nicht einmal besondere Kräfte, sondern nur seine Persönlichkeit oder die Leidenschaft, mit der er für seine Überzeugungen eintrat.

Mit jeder Rede gegen die Druiden hätte Grady verhaftet und wegen Hochverrats hingerichtet werden können. Stattdessen war die Anzahl seiner Zuhörer stetig gewachsen. Ich sah hier in der Menge viele, die regelmäßig seinen Ansprachen gelauscht hatten. War einer darunter, der nicht dichtgehalten hatte? Doch dann hätte es kein Urteil auf Peitschenhiebe gegeben, sondern eine Hinrichtung wegen Hochverrats.

Mit einem Mal wurden die Menschen um mich herum unruhig. »Sie kommen!«, rief jemand und ich reckte den Kopf, um über die Menge hinwegschauen zu können. Tatsächlich, da kamen sie.

Ein Druide in einer langen weißen Kutte führte die Prozession an. Direkt hinter ihm marschierten vier Soldaten wie ein Kleeblatt formiert und in ihrer Mitte ging Grady.

Ich erstarrte. Er sah so anders aus. Seine Kleider waren fleckig, stellenweise zerrissen, und sein sonst so schimmerndes blondes Haar hing strähnig und stumpf hinab. Doch er selbst ging aufrecht. Sein Blick war so klar und sprühend wie eh und je. Ich drängte mich weiter nach vorn. Grady sollte wissen, dass ich da war, ihn nicht im Stich ließ und er – wie immer – auf mich zählen konnte.

Kurz vor dem Podest schweifte sein Blick suchend über die Menge. Ich brauchte nicht meine Hand zu heben, damit er mich fand. Grady und ich waren seit so vielen Jahren miteinander verbunden, dass er mich wohl auch im Stockfinstern finden würde. Unsere Blicke trafen sich und ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Ich hielt seinen Blick fest, versuchte ihn allein dadurch wissen zu lassen, dass wir alle hier waren, um ihm zu helfen und ihn zu beschützen. Er schien es zu verstehen, denn er zwinkerte mir aufmunternd zu. Ich versuchte sein Lächeln zu erwidern, was katastrophal misslang. Meine Sorge um ihn war viel zu groß und wuchs von Sekunde zu Sekunde. Er war der wichtigste Mensch in meinem Leben. Mein bester Freund, mein Vertrauter, der Bruder, den sich jeder wünschte. Ich hatte mehr Angst um ihn als um mich, hier mit meinen versteckten Waffen erwischt zu werden. Der weiche Gesichtsausdruck, mit dem er mich ansah, verriet mir ganz deutlich, dass er es wusste – und ebenso empfand. Für einen kurzen Moment löste sich der Knoten in meinem Magen. Das änderte sich schlagartig, als ein Soldat ihn schubste und unseren Blickkontakt damit unterbrach.

Würden wir es schaffen, seine Strafe zu verhindern?

Der Druide und vier Soldaten führten Grady auf das Podest. Erst jetzt sah ich, dass der Carnifex, der die Bestrafung durchführen würde, und einige weitere Soldaten hinzukamen. Es mussten ungefähr dreißig Männer sein, die sich wachsam in einer Reihe vor dem Podest aufstellten und die ersten Zuschauer zurückdrängten. Was war hier los? War es normal, derart viele vom Militär bei einer Auspeitschung zu postieren? Ich wusste es nicht, da ich diese Versammlungen bisher immer gemieden hatte. Ich schaute über die Schulter. Keenan stand mit versteinertem Gesicht vier Reihen hinter mir und beobachtete die Situation angespannt. Er nahm mich nicht wahr. Auch die anderen Anwesenden schienen über die Vielzahl der Soldaten nicht wirklich erstaunt. Als ich mich wieder umwandte, legte der Carnifex die Peitsche sorgfältig auf ein bereitgestelltes Fass. Mein Herz begann zu rasen.

Für einen Augenblick wurde die Menge wieder unruhig und schob sich leicht in Richtung Podest. Hoffentlich sahen die Soldaten die Waffen nicht, die wir alle unter unseren Kleidern trugen. Das würde unseren Plan zunichtemachen, Grady vor der Auspeitschung zu retten.

Ich blickte mich schnell nach den anderen um. Zuerst fand ich Bran ein wenig weiter links. Er stand direkt neben Sive und starrte wie sie stur geradeaus. Sive musste genauso schlecht sein wie mir – immerhin war sie Gradys Schwester. Riona und Gwyned konnte ich nicht ausmachen, wusste aber, dass sie irgendwo rechts von mir standen. Auch die anderen Umstehenden warfen immer wieder Blicke in unsere Richtung. Aber weder Keenan noch ich oder die anderen vier von uns gaben das verabredete Zeichen. Es war noch nicht so weit. Wir sollten warten.

Auch jetzt, wo Grady zerlumpt neben dem Druiden in dem leuchtend weißen Gewand stand, wirkte er wie der strahlende Held eines Epos, der künftige Retter von Lyoness – so wie ihn all die Menschen, die hier zu seiner Unterstützung eingetroffen waren, seit Jahren sahen.

»Ihr alle hier versammelten Menschen«, sprach nun der Drui­de mit einer hohen, nasalen Stimme, die mich an das Geräusch von schleifendem Eisen erinnerte, »heute vollziehen wir die Strafe über den hier anwesenden Grady, Sohn des Schmieds Aodh, der unerlaubt eine Waffe getragen hat. Diese Art von Zuwiderhandlungen werden mit –«

»Ich habe sie ausgeliefert«, unterbrach ihn Grady. Er war gut einen Kopf größer als der Weißgewandete und sah ihn von oben herab durchdringend an. Dann sprach er zu der Menge vor sich, ohne dass der Druide auch nur die Chance hatte weiterzureden. »Ihr alle kennt mich. Ihr kennt meinen Vater, den Schmied Aodh, und wisst, dass ich bei ihm arbeite und gegen keine Regeln verstoße, wenn ich Ware auslie–«

Wir alle keuchten auf.

Der Soldat hinter Grady hatte ihm so brutal in den Rücken geboxt, dass er sich vor Schmerzen zusammenkrümmte.

Plötzlich wurden erste Stimmen aus der Menge laut.

»Lasst ihn frei!«

»Ungerecht!«

»Willkür!«, erschallte es vereinzelt. Die Soldaten richteten ihre Waffen aus und einer setzte dem Mann direkt vor mir eine Lanze auf die Brust.

Doch dieses Mal gab die Menge nicht nach. Sie wurde unruhiger, schubste energischer. Einer aus der ersten Reihe spuckte dem drohenden Soldaten vor die Füße. Ich erstarrte und auch der Mann und die Frau an meinen Seiten sogen scharf die Luft ein. Niemals zuvor hatte jemand so offen gewagt seinen Unmut zu zeigen.

Murmelnd hob der Druide auf dem Podest seine rechte Hand, streckte einen Finger und wies auf den Spucker. Der Mann schrie und krümmte sich augenblicklich vor Schmerzen. Der Druide drehte die Hand, sodass sich im nächsten Moment der Mund des Leidenden verschloss und das Schreien verebbte. Er ging mit einem gequälten Gesichtsausdruck zu Boden, während seine Hände an den Brustkorb gepresst waren, unfähig seine Schmerzen noch einmal laut werden zu lassen. Ein paar Frauen und Männer um ihn herum versuchten ihn zu stützen, sprachen ihm gut zu, aber wir alle wussten, dass er verloren war. Der Fluch des Druiden hatte ihn getroffen.

Wieder legte sich Stille über den Platz. Dieses Mal war sie noch angespannter als zuvor. In mir wechselte sich Wut mit Angst ab. Wut, weil der Druide seine Macht der Flüche missbrauchte, und Angst, weil er sich nun wieder Grady zuwandte.

Jener hatte sich inzwischen erholt. Aufrecht stand er da und sah sein Gegenüber missbilligend an. Er wirkte plötzlich größer, imposanter. Der Druide hingegen schien ein paar Zentimeter geschrumpft zu sein. Übel gelaunt blickte er in die Menge, als wüsste er, dass er dabei war, ein unausgesprochenes Machtduell zu verlieren. Dennoch schwieg er, wandte sich zu dem vor­tretenden Carnifex und nickte ihm zu. Mein Herz begann augenblicklich heftig zu pochen. Kalter Schweiß bildete sich an meinen Handflächen.

Wieder spürte ich, wie sich die Augen der Umstehenden auf mich und meine Freunde hefteten.

Noch nicht. Noch ein klein wenig länger.

Als mich jemand von der Seite anrempelte, sah ich, dass der Mann neben mir unter sein Hemd griff und die Hand dort ruhen ließ. Es war offensichtlich, dass er etwas festhielt. Die Menschen neben ihm machten es ihm nach. Bei einem konnte ich eine Klinge unter der Kleidung erkennen. Sie wappneten sich. Unsere Rettungsaktion würde jeden Moment beginnen.

Mit zittrigen Fingern tastete ich nach dem Bogen und dem Köcher mit Pfeilen unter meiner grauen Tunika und streifte bei der Bewegung das Kurzschwert, das in meine Hüfte pikste. Gleich sollte Grady ausgepeitscht werden. Ich machte mich innerlich bereit, den Druiden, den Carnifex und hoffentlich auch ein paar Soldaten mit einem Pfeil so weit abzulenken, dass sie überwältigt werden konnten. Erst dann würden wir das Zeichen geben. Noch ein bisschen Geduld.

Der Druide ignorierte die aufgeladene Stimmung mit der für sie so typischen Überheblichkeit. Ein kleines Lächeln umspielte seine Lippen.

»Grady, Sohn des Aodh, du hast gegen das Gesetz verstoßen. Ganz offensichtlich erkennst du dein Vergehen nicht an und sorgst bei der Bevölkerung für Aufruhr. Im Namen des Erz­druiden wird eine solche Respektlosigkeit nicht geduldet und bedarf eines gesonderten Verfahrens«, verkündete er laut. »Vollstrecke das Urteil.«

Nach einem vielsagenden Blick des Druiden setzte sich der Carnifex in Bewegung.

Es war plötzlich unheimlich still, selbst mein Herz schien stumm. Dafür nahm ich nun das Summen der Insekten über uns wahr, die sich auf einmal anhörten wie ein wütender Gewittersturm. Was hatte er gemeint mit gesondertem Verfahren? Ich umklammerte den Bogen unter meinem Umhang. Der Carnifex riss Grady das schmutzige graue Hemd auf. Sein von der Arbeit in der Schmiede und unseren geheimen Kampfübungen gestählter Brustkorb glänzte in der untergehenden Sonne, während ich erbleichte. Uns blieb keine Zeit mehr.

Jetzt!, dachte ich. Jetzt müssen wir eingreifen! Ich drehte mich zu Keenan um, wollte wissen, ob er das geheime Zeichen des Angriffs geben würde, wie es verabredet war. Zwar lag seine Hand bereits auf der unter seinem Hemd versteckten Waffe, allerdings erwiderte er meinen Blick nicht. Die Soldaten umschlossen derweil ihre Lanzen fester und lehnten sich vor, um der nach vorne drängenden Menge standzuhalten. Doch dieses Mal ließ sich die erste Reihe nicht einschüchtern. Bei den Großen Drachen, wenn weiter so geschubst wird, werden die Ersten aufgespießt werden, dachte ich. Es würde unschuldige Tote geben, dabei wollten wir nur ein Chaos auslösen, um Grady zu retten. Mein Atem wurde immer kürzer, weil mein ganzer Brustkorb so angespannt war.

Ich richtete meine Augen wieder aufs Podest, bereit loszustürmen, sobald Keenan oder Bran oder sonst einer meiner Freunde dazu aufrief. Und dann geschah etwas, das mich verwirrte:

Der Carnifex zog unter der Peitsche etwas hervor, das kurz im Sonnenlicht aufblitzte.

Ehe ich erkennen konnte, was er in der Hand hielt, hatte er damit eine blitzschnelle Bewegung an Gradys Hals entlang ausgeführt.

Augenblicklich spritzte Blut hervor – tiefrot und einer Fontäne gleich.

Sein geschockter Blick suchte mich, und zum ersten Mal in all den Jahren, die ich ihn kannte, sah ich Furcht darin. Er fasste sich an den Hals, als wollte er das Blut stoppen, das wie Wasser durch seine Finger strömte. Der Carnifex hingegen übergab den Dolch dem Druiden, der ihn triumphierend nach oben hob, um ihn der Menge zu zeigen.

Niemand regte sich. Wir waren alle wie erstarrt.

Dann sackte Grady zusammen, versuchte krampfhaft den Blickkontakt zu mir aufrechtzuerhalten, doch bald konnte ich ihn durch die Menschen vor mir nicht mehr ausmachen. Dabei wollte, musste ich ihn sehen, musste ihm helfen.

Ich hatte das Gefühl, der Dolch hätte mich ins Herz getroffen. Mein Kopf war auf einmal ganz leer und gleichzeitig erschien mir alles zu laut. Jemand schrie so hoch und schrill, dass es mir in den Ohren gellte. Panik und Angst vermischten sich darin, während das Echo in der unheilvollen Stille über den Platz fegte.

Erst da wurde mir bewusst, dass ich es war, die so schrie. Es war, als wäre ich nicht mehr eins mit mir selbst.

»GRADY!«, brüllte ich seinen Namen und drängte mich nach vorn, alle Lanzen außer Acht lassend. Da endlich erhaschte ich wieder einen Blick auf ihn.

Er lag leblos mit wachsweißer Hautfarbe in einer Blutlache. Seine Augen waren offen, doch sie sahen mich nicht mehr.

»Verräter! Nieder mit den Druiden!«, schrie ich außer mir und wiederholte dann Gradys Parole: »Freiheit für Lyoness!«

Ich holte den Bogen unter meinem Umhang hervor, spannte in einer tausendfach geübten Bewegung einen Pfeil ein und traf den Druiden auf dem Podest mitten in die Brust. Das schneeweiße Gewand färbte sich augenblicklich rot.

Es war nicht das vereinbarte Zeichen gewesen. Aber nun fuhr ein Ruck durch die Menge.

»Freiheit für Lyoness!«, erklang es von überall her. Alle zückten ihre verborgenen Waffen.

Im nächsten Moment stürmte die Menschenmasse das Podest und trampelte die Soldaten sowie den Henker nieder. Ein heftiger Kampf entbrannte. Die über Jahrzehnte oder eher Jahrhunderte aufgestaute Wut entlud sich im Hier und Jetzt. Ich hatte mein Kurzschwert gezogen und schlug gezielt um mich. All die Stunden geheimen Trainings bewährten sich nun.

Wir kämpften verbissen und gnadenlos. Bald lagen die meisten unserer Widersacher überwältigt auf dem Boden, doch als hätten wir in ein Ameisennest gestochen, kamen von allen Seiten weitere Soldaten und auch Druiden auf den Platz.

Ich erspähte die fliegenden schwarzen Haare Rionas, die ihr Schwert schwang und sich umwandte, noch während ihr Gegner zu Boden ging, um einen Angriff von hinten abzuhalten. Gwyned hatte ihre blitzenden grünen Augen zusammengekniffen und stach mit einer Lanze in der Hand um sich. Gradys kleine Schwester Sive sah leichenblass aus und ihr Gesicht war tränenüberströmt, trotzdem schwang sie mit äußerster Präzision einen Morgenstern gegen ihre Feinde. Auch Brans dunkelroten Schopf konnte ich in dem Gewühl entdecken. Er hatte sein ursprüngliches, zwanzigjähriges Ich angenommen und focht zwei Soldaten auf einmal nieder.

Jetzt näherten sich weitere Druiden in weißen Kitteln, brüllten etwas und fuchtelten mit den Händen. Über das Geschrei hinweg hörte ich sie Flüche ausstoßen, doch sie konnten kaum jemanden zu Fall bringen. Die Menge war zu aufgebracht und schlug sie einfach nieder. Die meisten hatten zu den Lanzen der toten Soldaten gegriffen, andere kämpften mit primitiven Werkzeugen wie Eisenstangen und Hämmern.

Als die ersten Druiden die Flucht ergriffen, stieg eine fast ohnmächtige Wut in mir auf. Sie durften nicht entkommen. Nicht einem sollte es gelingen. Sie mussten büßen!

»Schnappen wir sie uns«, zischte Keenan, während er vorbei­stob. Ohne länger zu zögern, rannte ich ihm hinterher, mit Riona an meiner Seite. Gemeinsam kämpften wir uns durch die Straßen.

DAS ENDE

Ich sah rot. Vor meinen Augen war alles rot. Wohin musste ich? Was kam als Nächstes? Was sollte ich tun? Was würde Grady tun? Wie lange kämpften wir schon? Wo waren Bran, Gwyned und Sive? Als Keenan, Riona und ich den Druiden hinterhergeeilt waren, hatte ich sie aus den Augen verloren.

Plötzlich krachte es gewaltig und Sekunden später vibrierte der Boden. Steine, Staub und Holzsplitter flogen durch die Luft, weswegen ich mich Schutz suchend hinter einen nahe gelegenen Marktkarren warf, der vor einer hohen Mauer stand.

Hatten wir uns etwa schon bis zum Palastplatz vorgekämpft? Benommen blinzelnd strich ich mir meine langen, strähnigen Haare aus dem Gesicht und sah den Kampf, der um mich herum tobte, zum ersten Mal seit Langem wieder klar. Männer und Frauen gegen Streitkräfte, gegen Druiden und Druidinnen. Ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Die Sonne färbte sich bereits orange und senkte sich in Richtung des Palasts, doch niemand von uns hatte aufgehört zu kämpfen. Noch immer drängten wir unsere Gegner gewaltsam und entschlossen zurück. Sie sollten büßen. Sie sollten wissen, dass wir uns das alles nicht länger gefallen ließen.

Die Druidenschaft hatte vor Kurzem sogar das Schlingen­katapult eingesetzt und als ich mich umsah, erkannte ich, dass der letzte vom Katapult geschossene Felsbrocken die Straße hinunter in ein Haus gedonnert war. Ich ließ den Blick schweifen und entdeckte viele Druiden, die zu Boden gingen, während sich die ehemals weißen Druidengewänder rot färbten und die ledernen Harnische der Soldaten durchstochen wurden wie Stoff. Aber ich sah auch graue, rote, gelbe und blaue Kleidungsfetzen am Straßenrand liegen und Menschen aus allen Vierteln ihr Leben verlieren. Mein Herz krampfte sich zusammen.

Stahl blitzte in der Sonne, Pfeile regneten unablässig, Lanzen, Speere und Steine flogen durch die Luft, Streitäxte hieben, Morgensterne schwangen und Keulen schlugen zu. Es war ein einziges Inferno.

Ich atmete hektisch ein und aus, blickte mich weiter um, suchte … Mein Blick blieb an einem jungen Mann hängen, der etwa in meinem Alter war. Ein Druide rammte ihm soeben einen Dolch zwischen die Finger. Der Mann ließ die Keule fallen, die er in der anderen Hand gehalten hatte, und griff nach der Wunde, da holte der Druide erneut aus, um ihm den Dolch ins Herz zu stoßen.

Ich rannte los, warf mich dazwischen und den Druiden mit voller Kraft um. Er fiel unter meinem Gewicht und wir rutschten beide ein paar Meter über den Boden. Ich wollte ihn entwaffnen, doch ein Soldat kam von der Seite und ließ seine Klinge durch die Luft fahren. Sofort duckte ich mich unter seinem Schwerthieb, ergriff sein Handgelenk und verdrehte es, woraufhin die Waffe zu Boden fiel.

Schnelligkeit war die einzige Fähigkeit, mit der ich mich in einer direkten Auseinandersetzung gegen diese kampferprobten Männer behaupten konnte. Schnelligkeit und Entschlossenheit.

Mit einem Mal wusste ich wieder, was Grady tun würde: Er würde weiterkämpfen. Bis zum Sieg oder zur Niederlage. Auf keinen Fall würde er aufgeben.

»Freiheit für Lyoness!«, stieß ich aus, um mir selbst Mut zu machen, und mein Schrei pflanzte sich fort, wurde aufgegriffen, weitergegeben.

»Freiheit!«

»Für Lyoness!«

»Freiheit!«

Es gellte in meinen Ohren, während sich Keenan direkt neben mir der Menge anschloss. Und als würde dieser Schrei noch einmal ihre Lebensgeister beflügeln, sah ich, wie die Menschen, die um mich herum kämpften, nun energischer dreinschlugen als noch vor ein paar Sekunden. Der riesige Platz wimmelte vor Einwohnern mit Schwertern, Mistgabeln, Dolchen, Pfeilen und Bögen und überhaupt allem, was man als Waffe verwenden konnte.

Die Zahl der Soldaten hatte sich bereits deutlich verringert, so langsam hatten sie kaum noch eine Chance gegen die aufgebrachten Einwohner in all den unterschiedlichen Farben, die das jeweilige Stadtviertel von Lyoness verrieten. Und das trotz ihrer militärischen Ausbildung und hochwertigen Waffen.

Inzwischen waren auch unzählige Druiden und Druidinnen in der Menge. Ihre weißen, langen Roben waren dreck- und blutbeschmiert und ich hörte sie immer verzweifelter Flüche schreien. Nur wenige besaßen die nötige Konzentration, um sie auch wirken zu lassen, wodurch es den Bewohnern nach und nach gelang, sie unschädlich zu machen. Überall auf dem Boden lagen leblose oder zuckende Leiber. So viele Tote! Hatte Grady je geahnt, wie blutig die Befreiung sein würde? Gesprochen hatte er darüber nie. In mir zog sich wieder alles zusammen, genau wie in dem Moment, als er …

»Sara, pass auf!«, rief Keenan und ich wandte mich um.

Von rechts griff mich ein Druide an. Schnell sprang ich einen Schritt zurück und stieß den Angreifer in die Seite, sodass er strauchelte. Um ihm keine Gelegenheit zu geben, sich aufzurichten, trat ich ihm kraftvoll in den Rücken. Er fiel zu Boden, und jemand, der vorbeirannte, rammte ihm eine Mistgabel zwischen die Schultern.

Mir blieb kaum Zeit, nach Atem zu ringen, denn im nächsten Moment musste ich mich mit meinem Kurzschwert vor dem nächsten Angreifer schützen – Metall prallte auf Metall. Mein Arm zitterte unter dem harten Schlag. Ich war zu schwach, um dem stämmigen Soldaten standhalten zu können. Also rollte ich mich weg und Keenan sprang an meine Seite, so wie wir es unzählige Male in den vergangenen Jahren geübt hatten. Er erledigte den Mann.

Als ich aufstand, bemerkte ich im Schlachtgetümmel, wie ein weiterer Feind seine Lanze hob, bereit zum Wurf. Auf Riona, wie ich schockiert feststellte. Ich hatte sie erst nicht erkannt, denn ihr aufwendig besticktes Oberteil war zerrissen, und der mit feinen Ziselierungen verzierte Brustharnisch, den sie zum Schutz da­runter trug, schimmerte in der Sonne. Sie sah den hinterhältigen Angreifer nicht, kämpfte gerade gegen einen jungen Druiden im weißen Gewand.

»Gib mir Deckung!«, schrie ich Keenan zu, nahm meinen Bogen und einen Pfeil aus dem Köcher über meiner Schulter, legte blitzschnell an und ließ die Sehne los. Mein Pfeil traf den Soldaten direkt ins Herz. Er hielt die Lanze noch immer umklammert, als er zu Boden fiel. Zum Glück war Riona nichts geschehen. Sie besiegte in diesem Moment den Druiden und stellte sich einem neuen Angreifer.

Um mich herum fielen weitere Gegner. Keenans übernatürliche Schnelligkeit war für sie nicht fassbar. Er wirbelte umher, schlug zu, ehe sie ihn richtig ausmachen konnten. Selbst ich, die ihn kannte und wusste, welche Fähigkeiten er besaß, war überrascht, wie viel Tempo er im Ernstfall noch zulegen konnte.

Ich blieb einen Moment in der mich schützenden Menge grau gekleideter Kämpfer stehen, um mich zu orientieren. Wo sollte ich hin? Seit der Hinrichtung waren so viele Stunden vergangen und ich bemerkte die Erschöpfung in meinen Gliedern. Der Kampf hatte sich auf die gesamte Stadt ausgeweitet, doch nun sah ich, dass sich ein großer Teil der Kämpfenden auf dem Platz vor dem Palast und Tempel befand. Wir hatten uns zum Regierungsviertel vorgearbeitet.

Ich erkannte die edlen Steinhäuser mit den schön verzierten Fassaden und die Mauer, die den Palast von der Stadt trennte. Dann bemerkte ich die weißen Gewänder von Druiden und Drui­dinnen, die durch die Gassen in Richtung Fluss rannten. Sie flohen! Sie flohen zum Stadttor.

»Duck dich!«, schrie in diesem Moment Keenan und warf sich über mich.

Wir fielen zu Boden, ich schluckte dabei etwas aufwirbelnden Staub und fühlte schließlich, wie der Boden unter mir vibrierte. Keenan legte seine Arme schützend um mich, während ich die Augen zusammenpresste.

Eine weitere Erschütterung erfasste den Boden.

»Sie schießen schon wieder«, zischte er mir ins Ohr. »Das wievielte Mal? Das sechste oder siebte?«

»Feuer!«, hörte ich jemanden schreien. »Es brennt!«

Wo? Ich wand mich unter Keenans langem Körper und wollte sehen, ob das Feuer auf uns zusteuerte. Er begriff, sprang auf und reichte mir die Hand. Der ganze Palastplatz war voller Staub. Ich erkannte kaum noch die hellgrauen Steinhäuser rundum und nur dunkle Löcher dazwischen verrieten die Straßen. Der Stein des Katapults musste in unmittelbarer Nähe in ein Gebäude eingeschlagen sein, denn die schwarze Brandwolke kam aus einem anderen Viertel.

»Der Palast«, rief Keenan, und tatsächlich! Als ich mich umdrehte, entdeckte ich, dass die riesige Kuppel in einer Staubwolke verschwunden war.

»Der Schuss ihres Katapults ging dieses Mal nach hinten los. Sie hatten den Stein nicht richtig in die Schlinge gelegt«, jauchzte eine Frau in Blau neben mir. Ich folgte ihrem Blick. Eine der goldenen Flügeltüren des Palastes stand offen, Soldaten hatten das Katapult in die Toröffnung geschoben. Die Schlinge, die das Wurfgeschoss beinhaltet hatte, zappelte noch so aggressiv wie eine Schlange, die man am Schwanz festhielt. Eine Eingebung überfiel mich.

»Das Katapult«, rief ich. »Keenan, Riona, wir nehmen das Katapult ein!«

Ich stürmte los.

Sie hatten mich anscheinend nicht gehört, doch zu meiner Erleichterung kamen mir andere hinterher, sodass wir schnell zu einer großen Traube Menschen anwuchsen. Wir stürmten auf das offene Palasttor zu und sahen das Entsetzen in den Gesichtern der Soldaten, die gerade dabei waren, die lange Schlinge mit einem weiteren schweren Stein zu beladen. Sie hielten inne, ließen das Geschoss fallen und wollten schnell den Eingang verschließen, doch das Katapult stand ihnen im Weg.

Nun hatte auch Keenan uns erreicht. Er rannte unsere Widersacher einfach über den Haufen, ehe sie das drachengroße Gefährt auch nur einen Meter bewegt hatten.

Die vielen Männer und Frauen, die mit mir in dieselbe Richtung gerannt waren, agierten schnell. Sie öffneten den zweiten Torflügel und schoben das Katapult weiter nach vorn, auf den Platz hinaus.

»Ist hier jemand, der es bedienen kann?«, rief ich, als ein paar Männer den von den Soldaten zurückgelassenen Stein in die Schlinge legen wollten. »Wer kann es bedienen?«

Ich wollte keinesfalls, dass wahllos in die Stadt geschleudert wurde und es womöglich die Häuser der Einwohner traf.

»Ich kann es bedienen«, sagte ein Mann, der neben mir erschien.

»Woher?«, wollte ich wissen. Ich wollte kein Risiko eingehen. Immerhin hatten unsere Gegner gerade selbst einen fatalen Fehler begangen.

»Ich habe es vor zwei Jahren repariert und dann ausprobiert. Ich habe auf die Berge hinter dem Palast geschossen und jedes Mal mein anvisiertes Ziel getroffen.«

»Dann zerstöre das Stadttor. Die Trümmer werden die Druiden zumindest ausbremsen.«

Mein Gegenüber zögerte nicht und lief zu Keenan, der die Schlinge ganz allein mit einem Stein, so groß wie ein Kalb, belud. Verblüfft blinzelte der Mann.

»Das Katapult muss ein bisschen weiter nach rechts«, wandte er sich an Keenan und der richtete mühelos das riesige Gefährt aus. Der Mann zog bedacht, aber so kraftvoll am Hebel, dass der Felsbrocken mit Schwung in die Luft geschleudert wurde und das Gerüst des Katapultes ein paar Zentimeter vom Boden abhob.

Ich fühlte den Aufprall in meinem Rückgrat und musste mein Gewicht ausgleichen, um nicht hinzufallen. Der Stein war genau dorthin verschwunden, wo das Stadttor lag.

Eine dichte Rauchwolke stieg auf. Hatte er getroffen?

Im nächsten Moment hörte ich ein röchelndes Geräusch in der Nähe und sah mich um.

Der Mann, der Keenan angeleitet hatte, sank in die Knie. Sein Gesicht war schmerzverzerrt und kreidebleich, die Augen vor Schreck geweitet, und noch ehe er den Boden berührte, wurden sie blicklos.

Hinter ihm stand mit ausgestreckter Hand der Erzdruide, der Oberste aller Druiden, der Regent von Lyoness.

Er trug die Robe aus Goldfäden, in der er sich sonst nur am allerheiligsten Fest der Großen Drachen zeigte.

Langsam drehte er sich um und stand mir plötzlich genau gegenüber. Den Arm noch immer erhoben, deutete er mit seinem ausgestreckten Finger nun auf mich. Ich wusste, er würde mich jetzt verfluchen. Ich würde sterben. Mir wurde heiß, und gleichzeitig fühlte es sich an, als würde alles Blut aus meinem Körper weichen. Doch ehe er einen Fluch aussprechen konnte, gellte wieder ein lautes »Freiheit für Lyoness!« über den Platz. Jäh wandte er sich ab und schritt grimmig auf die Männer und Frauen zu, die den Ruf ausgestoßen hatten.

Wortlos und ohne dass er eine Waffe benutzte, setzte er drei von unseren Mitkämpfern außer Gefecht. Sie kippten um wie Marionetten, denen man die Fäden durchtrennt hatte.

Der Erzdruide schritt in seinem Goldgewand weiter auf den Platz hinaus. Er schien überhaupt keine Angst zu haben. Links und rechts sackten Männer und Frauen in grauen, roten, blauen und gelben Gewändern leblos zu Boden. Es war beängstigend. Keiner der anderen Druiden schaffte es, mehr als einen Menschen auf einmal zu verfluchen, das kostete zu viel Kraft. Aber die Magie des Erzdruiden schien so viel stärker zu sein und ihm keinerlei Anstrengung zu bereiten.

»Keenan, was sollen wir tun?«, fragte ich und mir wurde speiübel. Das konnte alles ändern. Das konnte alles zunichtemachen! Den ganzen Kampf, Gradys Tod … alles, wenn wir ihn nicht aufhielten.

Keenan antwortete nicht, also drehte ich mich zu ihm um und sog überrascht die Luft ein. Er kniete am Boden und blickte entsetzt zu mir hoch.

»Der Erzdruide, Sara«, sagte er tonlos. »Ich kann es nicht glauben. Der Erzdruide höchstselbst. Hast du seine Macht gesehen?«

Keenan wirkte wie festgefroren und seine Augen waren riesig. Er starrte dem goldenen Gewand hinterher. Der Wirbelwind, der vorhin noch so tapfer und selbstbewusst gekämpft hatte, schien allen Mut verloren zu haben. Hatte der Erzdruide einen Fluch gegen ihn gewirkt?

Da! Ich konnte es genau sehen! Ein einziger Fingerzeig genügte, um vier weitere Menschen in seiner Nähe zu töten.

Der jetzige Herrscher war für uns so unerreichbar wie die Götter, deren Stellung er hier verkörperte. Und seine Macht schien nach wie vor unbegrenzt. Wenn er sich weiter persönlich in diesen Kampf einmischte, würde das seinen Soldaten neuen Mut geben, die geflohenen Druiden würden zurückkommen und erneut ihre gefährlichen Flüche aussprechen.

Sobald sich seine Gegenwart herumgesprochen hatte, würden zudem unsere Mitkämpfer in kürzester Zeit genauso reagieren wie Keenan.

Wie konnten wir ihn aufhalten?

Ich wandte mich um und suchte die goldene Robe. Trotz des Staubs leuchtete und funkelte sie, und da, wo der Erzdruide entlangschritt, pflasterten Leichen den Boden.

Plötzlich erkannte ich, dass er auf Riona zusteuerte, die mit dem Rücken zu ihm mit einem Soldaten kämpfte. Er hob langsam den Arm.

Ich reagierte, ohne nachzudenken, und griff nach meinem Bogen und einem Pfeil. Riona durfte nichts geschehen. Ihr nicht und auch sonst keinem von meinen Freunden.

Ich legte an, zielte kurz und wusste schon, als der Pfeil durch die Luft sirrte, dass er sein Ziel treffen würde.

Mein Pfeil bohrte sich mit voller Wucht in sein Genick.

Der Erzdruide hielt abrupt inne. Einen Augenblick lang fürchtete ich, er könnte den Pfeil herausziehen, doch dann sah ich, wie Blut aus der Einschussstelle hervorquoll. Er ging in die Knie und fiel vornüber auf den staubigen Boden.

Dort blieb er liegen und rührte sich nicht mehr.

Blut bedeckte das Gold seiner Robe und die Kämpfer rundum ließen nach und nach ihre Waffen sinken. Ich beobachtete, wie alle zu dem regungslosen Erzdruiden blickten. Für einen Moment sah es so aus, als wären alle erstarrt. Niemand bewegte sich, während sich die Staubschicht in der Luft auf uns herabsenkte.

Die Kampfgeräusche aus den anderen Stadtteilen klangen, als kämen sie aus einem fernen Land, aus einer anderen Welt. Auf dem Palastplatz war es erschreckend still nach all dem Lärm. Nicht einmal das Stöhnen der Verletzten war zu vernehmen.

Endlich bewegte sich jemand. Es war Riona, die in ihrem knöchellangen gelben Rock vorsichtig auf den ehemals mächtigsten Mann von Lyoness zuging.

Als sie ihn erreichte, stieß sie ihn zaghaft mit der Stiefelspitze an. Er rührte sich nicht. Vorsichtig beugte sie sich über ihn, legte ihre Hand an sein Gesicht. Dann richtete sie sich wieder auf.

»Er ist tot«, sagte sie fassungslos. Weil es so still war, konnte ich es ganz deutlich über die Entfernung hinweg hören.

Der Pfeil in seinem Rücken war für jedermann sichtbar, und nun drehten sich alle in die Richtung, aus der der Pfeil gekommen war. Die rebellischen Einwohner in ihren roten, blauen, grauen und gelben Gewändern, die Druiden in Weiß, die Soldaten in Schwarz-Braun. Alle Augen richteten sich auf mich.

Ich ließ meinen Bogen langsam sinken und griff nach dem Schwert an meinem Gürtel, bereit, den übrigen Anhängern des Erzdruiden entgegenzutreten. Ich würde bis zum letzten Atemzug kämpfen und niemals aufgeben. Ich glaubte an das, wofür wir hier unser Leben riskierten, und ich wollte nie wieder in einer unterdrückten und korrupten Welt leben. Das leise Klacken des zu Boden fallenden Bogens hallte so laut über den Platz, als hätte erneut ein Stein des Katapults eingeschlagen.

Und dann trat etwas ein, wovon ich schon nicht mehr zu träumen gewagt hatte: Die Soldaten und Druiden ließen ihre Waffen sinken und warfen sich zu Boden.

Ich sah durch den immer dünner werdenden Staubnebel hindurch die verdutzten Gesichter unserer Mitstreiter, die das Schauspiel offenbar genauso wenig fassen konnten wie ich.

Bevor einer von ihnen reagierte, wurde ich von hinten gepackt.

»Sara, du Unglaubliche! Du hast den Erzdruiden besiegt. Wir haben gewonnen!« Keenan hatte seine Starre offenbar abgelegt. Den letzten Satz schrie er mir regelrecht ins Ohr, hob mich hoch und wirbelte mich durch die Luft.

»Freiheit für Lyoness! Wir haben gewonnen!«, rief er und sein Schrei hallte über den Platz. »Wir haben gesiegt! Der Erzdruide ist tot!«

»Der Erzdruide ist tot«, wiederholten die Ersten seine Worte. Es klang unsicher und so, als könnte es niemand glauben. Weil Keenan mich so umherschwang, wurde mir schwindelig und alles erschien noch unwirklicher. Ich sah den Platz, die Häuser und den Palast in Schlieren durch die gelösten Strähnen meiner Haare hindurch.

Die Rufe schallten fort und fort, wurden lauter und lauter.

Wir hatten gesiegt!

Der Erzdruide war tot!

Als Keenan mich absetzte, mussten wir uns hinsetzen, weil uns beiden so schwindelig war. Im nächsten Augenblick stand Riona auch schon vor uns und fiel erst mir, dann Keenan um den Hals.

»Riona, Schatz, ist das ein berauschendes Gefühl!«, rief Kee­nan. »Ich fühle mich, als hätte ich fünf Liter Wein getrunken. Ich höre sogar schon die Glocken läuten.«

»Das tun sie ja auch«, sagte Riona und ich lauschte. Über das Rauschen in meinen Ohren hinweg konnte auch ich die Klänge ausmachen.

Trotz ihrer Tränen lachte Riona losgelöst.

»Sara, du bist die Heldin des Tages. Warum weinst du?«, fragte sie mich.

Ich fuhr mit den Fingerspitzen über meine Wangen und fühlte tatsächlich Tränen.

»Dasselbe wollte ich dich fragen«, sagte ich und wir lachten beide. Langsam drang die Botschaft zu mir durch, doch ich konnte noch nicht wirklich daran glauben. Das sollte es gewesen sein? Wir hatten wahrhaft gesiegt!

Das Geläut wurde lauter, bis wenig später alle Glocken in der ganzen Stadt ertönten. Jubelrufe mischten sich darunter.

Der Erzdruide ist tot! Die Druiden sind besiegt! Die Schreckensherrschaft hat ein Ende.

»O Drachen, da sind Bran und Sive!«, rief Riona auf einmal.

Ich konnte die beiden nicht richtig sehen. Meine Haare, die mir ins Gesicht hingen, und der helle Staub, der noch immer wie ein leichter Schleier über uns hing, vernebelte mir die Sicht. Vermutlich auch die Tränen, dachte ich.

Ich rappelte mich mühsam auf, denn meine Knie waren noch immer so weich wie Milchbrötchen. Dann endlich sah ich sie.

Sive stützte Bran, der sein Bein hinter sich herzog. Ich wankte ihnen entgegen, mein Gang genauso unsicher wie bei Bran. Über seinem Knie prangte eine extrem tiefe Wunde, bei der man die Fasern sehen konnte und die den Rest seiner Hose samt Lederstiefel vollblutete.

»Drachen, es ist tatsächlich vollbracht!« Bran strahlte über das ganze Gesicht. Er schien nicht zu merken, wie stark er verletzt war.

»Sara hat den Erzdruiden erschossen!«, verkündete Keenan stolz.

Sive löste sich von Bran und fiel mir um den Hals.

»Grady wäre so stolz auf dich«, flüsterte sie mir ins Ohr.

DER ANFANG

Grady … In meinem Inneren ballte sich etwas zusammen, das noch größer und bedrohlicher war als der Anblick des Erzdruiden auf dem Weg zu Riona. Fast einen ganzen Tag lang hatten wir gekämpft. Fast ein Tag war seit dem hinterhältigen Mord an Grady vergangen. Ich löste mich aus Sives Umarmung, um mich Bran zuzuwenden. Er hatte sich auf den Boden gesetzt, augenscheinlich trug sein Bein ihn nicht mehr.

Er tätschelte mir den Arm und ich fühlte, dass ihn die Kraft langsam verließ.

»Was ist geschehen?«, fragte ich ihn.

»Er hat mit vier Soldaten auf einmal gekämpft und sie besiegt«, antwortete Sive für ihn. Bran grinste so breit, als hätte es ihm einen Höllenspaß bereitet. Das kannte ich sonst nur von Keenan.

»Ich habe ihn ein wenig betäubt«, erklärte Sive leise. »Er sollte die Schmerzen nicht so spüren.«

»Das ist dir wohl gelungen«, meinte Keenan und kniete sich neben Bran. »Vier auf einmal, ich bin beeindruckt.«

»Jetscht würde isch sogar disch besiegen«, nuschelte Bran.

»Er fantasiert. Du hast ihn zu stark betäubt«, sagte Keenan grinsend.

»Nisch kamisch sschoppen.«

»Was redet er da?«, fragte ich verwirrt. »So stelle ich es mir vor, wenn einer der Großen Drachen reden würde.«

»Die würden ihn garantiert verstehen.« Keenan zwinkerte Bran zu. »Viel Wasser im Hirn und den Mund voll mit Koboldfäden.«

»Phhfff«, machte Bran. »Seemannsgarn, Duwischtel.«

Keenan zog seine Augenbrauen hoch. »Ich habe dich nicht verstanden, mein Freund.«

Bran gickelte wie ein zehnjähriges Mädchen.

»Hoffentlich bekommst du das wieder hin«, murmelte Riona zu Sive, und wir alle sahen besorgt zu Bran, der sein Kampfmanöver nuschelnd mit Keenan durchging.

»Ganz bestimmt«, sagte ich zuversichtlich. Wir wussten alle, wie stark Sives Heilkräfte sein konnten. Ich wohnte schon seit meiner Kindheit mit ihr und Grady bei deren Vater und hatte ihr viele Male beim Versorgen der Kranken und Verletzten unseres Viertels geholfen. Es gab niemanden im Eisernen Viertel, der Sives magische Heilkräfte nicht kannte, und ich bewunderte sie sehr dafür. Sie war das, was mir einer Schwester am nächsten kam. Doch es fehlte noch jemand aus unserem Kreis. Ihr würde doch nichts geschehen sein?

»Wo ist Gwyned? Wo habt ihr sie zuletzt gesehen? Wie lange ist es her?«

Der Kampf war so hart gewesen. So brutal. Ich hatte viele sterben sehen, Unzählige waren verwundet worden. Angst ergriff mich.

»Da kommt sie«, beruhigte mich Riona und deutete auf die Straße, die zur Brücke führte.

Ich blinzelte. Da waren viele Menschen, die zurück zum Palastplatz kamen. Ich konnte unsere Freundin allerdings nicht zwischen ihnen ausmachen, alle sahen aus dieser Entfernung wie Schemen aus. Ich erinnerte mich, dass sie den roten Rock aus dem Nahrungsviertel getragen hatte und eine braune Bluse, doch ich konnte keine einzelne Person in dieser Aufmachung erkennen. Zumal immer noch ein leichter Staubschleier in der Luft lag.

»Dahinten, Sara«, sagte Keenan. »Schau genau hin, du hast doch die Adleraugen von uns!«

Da entdeckte ich Gwyned. Kein Wunder, dass ich sie nicht sofort erkannt hatte, sie war nicht allein. Sie führte eine besiegte Druidin neben sich, deren Hände auf dem Rücken gefesselt und deren Mund geknebelt war. Das ehemals weiße Kleid der Druidin war schmutzig und hatte damit beinahe die gleiche Farbe wie mein grauer Rock. Sie versuchte nicht, sich zu befreien. Sie ging einfach stumm und starr neben Gwyned her.

»Wen bringt sie da mit?«, fragte ich verwundert.

Doch Gwyned war nicht die Einzige mit einer Gefangenen im Schlepptau. Alle Druiden, Druidinnen und Soldaten wurden nun von unseren Mitstreitern zusammengetrieben wie eine Herde Schafe.

»Das Stadttor scheint zerstört«, murmelte Keenan. »Alle vorhin Geflüchteten sind wieder da.«

Als Gwyned nahe genug war, konnten wir sehen, dass nicht nur die von ihr in Gewahrsam genommene Druidin bleich war. Gwyned selbst war so aschfahl, dass man meinen konnte, sie sei tödlich verletzt. Bei ihrer dunklen Haut fiel das noch extremer auf als bei anderen. »Sie wollen die besiegten Druiden und Druidinnen umbringen«, keuchte sie.

»Umbringen?«, hakte Riona nach. »Was meinst du damit?«

»Dahinten, seht ihr?«, Gwyned drehte sich um und deutete auf die versammelte Menschenmenge. »Sie wollen sie allesamt abstechen.«

»Aber … sie haben sich ergeben!«, sagte ich perplex.

Doch dann hörte ich einen Schrei. Als ich mich der Menge zuwandte, sah ich, wie sie auf die eingekesselte Druidenschaft einschlug. Auf Frauen, sogar auf Kinder – ich konnte Blut spritzen sehen. Deren Hände waren auf den Rücken gebunden, sie konnten sich nicht wehren, nicht schützen und ihre Münder waren geknebelt. Garantiert, damit sie keine Flüche ausstoßen konnten.

Nicht noch mehr Tote!, dachte ich. Nicht weitermorden!

»Riona, das ist eine Aufgabe für dich«, zischte ich und ergriff Rionas Hand, zog sie hinter mir her auf die Menschenmenge zu.

»AUFHÖREN!«, schrie ich und rannte schneller.

Je näher wir kamen, desto deutlicher wurden die Schemen, die Gesichter nahmen Konturen an.

Wir erreichten die Menge und blieben stehen. Die Augen der Menschen waren hassverzerrt und voller Wut. Niemand schien mich zu hören, alle prügelten auf die weißen Gestalten in der Mitte ein. Ich warf Riona einen warnenden Blick zu, doch ihr entschlossener Gesichtsausdruck zeigte mir, dass sie bereits wusste, was zu tun war. Auch wenn Grady von uns allen immer der Wortgewaltigste und Charismatischste gewesen war, schickten wir stets Riona vor, wenn es etwas wirklich Schwerwiegendes zu klären gab. Das lag zum einen daran, dass sie als Tochter einer reichen Kaufmannsfamilie unheimlich diplomatisch und geradezu fabelhaft im Schlichten war, zum anderen aber auch daran, dass sie die magische Gabe besaß, jedwede Folgen von Entscheidungen einsehen zu können. Was ihr nicht selten dabei half, genau die richtigen Worte zu finden.

Sie mischte sich unter die Menge, schubste Männer und Frauen zur Seite und begann zu sprechen. Doch die aufgebrachten Menschen hörten sie nicht. Jemand schlug ihr sogar mit einem Knüppel auf die Schulter. Sie knickte ein und schrie gleichzeitig: »Hört auf! Es reicht!«

Ich sah eine Mistgabel auf mich zukommen und reagierte blitzschnell. Einen Schritt zur Seite tretend packte ich den Stiel direkt über den Zacken und zog ihn mit voller Kraft zu mir, wodurch der Halter der Mistgabel vornüberfiel. Ich setzte mich kurzerhand auf ihn und verschränkte seine Hände unsanft auf dem Rücken, sodass er sich nicht mehr wehren konnte. Er schrie auf.

Riona stemmte sich hoch. Dieses Mal wurde sie wahrgenommen.

Die Menschen hielten inne und drehten sich dann nacheinander zu uns um. Bald bildete sich ein Kreis um uns und den Mann, auf dem ich saß.

»Was soll das?«, fragte jemand. »Ihr seid keine Druidinnen. Seid ihr ihre Spitzel?«

»Nein, das sind wir nicht«, antwortete Riona vehement. »Lass ihn los, Sara.«

»Hörst du auf zu schlagen? Dann stehe ich jetzt auf«, wandte ich mich an den Mann, auf dessen Rücken ich kniete. Als der Mann unter mir versuchte, sich zu rollen, um mich loszuwerden, zog ich seinen Arm stärker zu mir, bis ich ihn vor Schmerzen jammern hörte und er schließlich Ruhe gab.

»Hörst du jetzt auf?«, hakte ich nach.

Er wimmerte und nickte dann.

Leichtfüßig sprang ich auf und stellte mich mit etwas Abstand zu ihm aufrecht hin.

Die Druiden, deren ehemals weiße Gewänder nun grau verstaubt und vor allem blutverschmiert waren, standen allesamt gekrümmt, angstvoll zitternd und geknebelt beisammen. Ein junges Mädchen blieb auf dem Boden sitzen. Ihr Knebel hing am Kinn und sie wimmerte. Niemand von ihnen war in der Lage, auch nur einen Fluch zu wirken, da war ich mir sicher.

Riona stellte sich vor die Druidenschar, um in die Gesichter ihrer Mitstreiter sehen zu können.

»Das ist nicht, wofür ich in dieser Schlacht gekämpft habe. Und es ist nicht, wofür ihr gekämpft habt«, sagte sie laut. »Wir haben den Tyrannen und seine Helfer besiegt. Wir können Lyoness die Freiheit zurückgeben. Freiheit bedeutet allerdings auch Verantwortung. Und ein Sieg bedeutet, dass das Morden ein Ende hat. Ihr habt nicht gekämpft, um die Freiheit von Lyoness mit neuem Blut zu beginnen. Ihr habt gekämpft, um dem Terror ein Ende zu setzen. Wir alle haben gekämpft, um Frieden zu erlangen. Und den erreicht man nicht, indem man die Besiegten tötet. Damit würden wir die alte Ordnung nur wieder aufleben lassen.«

Ich hörte Gradys Worte in meinem Kopf und wiederholte sie laut für alle. »Eine Ordnung, die wir von Kindheit an verabscheuen. Gesetze, die wir alle nicht mehr ertragen konnten. Wir alle kämpfen, um Lyoness wieder zu dem zu machen, was uns aus alten Legenden bekannt ist: ein Land der Zuversicht, der Hoffnung, der Blüte. Wir alle sehnen uns nach Freiheit und Gerechtigkeit. Wir alle haben den Wunsch, dass fortan niemand mehr Angst wegen seiner Magie haben muss und wer ihn verraten könnte.«

Ich hielt einen Moment inne.

Sie hörten mir zu.

Mir.

Dabei war ich es überhaupt nicht gewohnt, vor Menschen zu sprechen. Das übernahmen immer Grady oder Riona. Ganz still und aufmerksam lauschend standen sie da. Niemand rührte sich. Nicht einmal die drangsalierten Druiden und Druidinnen versuchten sich aus dem Griff ihrer Häscher zu befreien. Mir wurde heiß. Doch dann warf mir Riona einen Seitenblick zu und lächelte aufmunternd. Das gab mir die Kraft weiterzureden, auch wenn meine Stimme nun leicht zitterte.

»Ich kann euren Wunsch nach Rache verstehen. Ich habe meine Mutter an sie verloren.« Nun kam ein wenig Bewegung in die Menge. Ich sah Mitgefühl, Trauer und bei ein paar Druiden sogar Schuldgefühle in die Augen treten. Ich setzte erneut an. Kämpferischer, energischer, aber nicht mehr so beherrscht wie vorhin. Ich war nun mal nicht Grady.

»Und doch habe ich nicht gekämpft, um meine Mutter zu rächen. Ich habe gekämpft, um Gewalt und Unterdrückung zu unterbinden. So wie wir alle. Und wir haben gesiegt – aber nicht, um ein neues Lyoness auf dem Blut von Gefangenen zu gründen.«

Alle starrten mich an. Ich blickte entschlossen zurück.

»Willst du sie einfach laufen lassen?«, rief jemand aus der Menge.

»Nein, natürlich nicht«, antwortete ich spontan.

Der Mann, den ich umgehauen hatte, schaltete sich ein: »Sie werden ihre Kräfte wieder bündeln, und dann kann niemand mehr was gegen ihre Flüche ausrichten. Es wird noch schlimmer werden als vorher.«

Zustimmendes Gemurmel, das schnell anschwoll.

»Sag was«, raunte Riona mir zu. »Lass sie nicht wieder laut werden.« Sie wusste, wozu sie riet, denn sie sah die Konsequenz, die sich ergab, wenn ich das jetzt nicht unterband.

Ich hob eine Hand und sofort wurde es still.

Ende der Leseprobe