Die Märchenwaldchronik - Lilyana Ravenheart - E-Book

Die Märchenwaldchronik E-Book

Lilyana Ravenheart

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Beschreibung

Es war einmal.... So beginnen die altbekannten Märchen. Aber wer kennt die wahren Geschichten hinter diesen alten Erzählungen? Ein Wesen, das Stroh zu Gold spinnt und als Gegenleistung das Erstgeborene der künftigen Königin verlangt. Eine grausame Forderung, hinter der mehr steckt, als es scheint. Die Hexe von Hänsel und Gretel. Alle sehen in ihr nur das Böse, aber niemand sieht den tiefen Schmerz im Inneren ihres Herzens. Ein wunderschönes Wesen mit einem Herzen, so kalt und dunkel wie der Grund des Meeres. Ist es möglich, dieses Herz zu erwärmen und mit Licht zu erfüllen? Taucht ein in die Welt der Märchenwald Chroniken und erfahrt, was es wirklich auf sich hat mit den Figuren der altbekannten Märchen.

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Lilyana Ravenheart, Linnea Bennett

Die Märchenwaldchronik

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

Märchenwaldchronik ebook

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Märchenwaldchronik

 

 

 

Eine Freundschaft aus Gold

Alice Valeré

 

 

In den Fängen der Hexe

Linnea Bennett

 

 

Selkieherz

Lilyana Ravenheart

Impressum

Impressum

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Copyright ©Yvonne Rose

©Stefanie Zainer

©Michelle Merker

Lektorat: Stefanie Zainer, Yvonne Rose

Coverdesign: ©Kristina Licht

Auflage 1 / 2020

 

© 2020

 

 

Impressum:

Lilyana Ravenheart

Stettinerstr. 22

24537 Neumünster

 

 

 

 

 

Eine Freundschaft aus Gold

Eine Freundschaft aus Gold

 

 

Ein Wesen, das Stroh zu Gold spinnt und als Gegenleistung das Erstgeborene der künftigen Königin verlangt. Eine grausame Forderung, hinter der mehr steckt als es scheint.

 

Alice Valeré

 

Eine Freundschaft aus Gold – Prolog

Eine Freundschaft aus Gold – Prolog

 

Leicht wie eine Feder schwebte ich über den Waldboden, tanzte zu den betörenden Klängen der Musik, die vom Gesang der Vögel begleitet wurden und genoss das Gefühl der Freiheit in jedem einzelnen Atemzug. Das Lachen meiner Schwestern trieb mich an, erfüllte mein Herz mit Glück und Geborgenheit.

Immer wieder drehte ich mich im Kreis, ohne darauf zu achten, wohin ich lief, während mein weißblondes Haar wild durch die Luft flog und mein rosafarbenes Kleid bei jeder Bewegung mitschwang. Meine Schwestern hatten es speziell für diesen Tag angefertigt.

Es unterschied sich stark von unseren ansonsten schlichten weißen Kleidern. Statt langer, enganliegender Ärmel besaß dieses ein paar kurze, transparente Schmetterlingsärmel, einen ausgestellten Schnitt und einen abgenähten Taillenbereich mit Ziernähten. Tagelang hatten sie daran gearbeitet und ein traumhaftes Hochzeitskleid gezaubert.

Als ich plötzlich auf einen Widerstand stieß, brauchte ich nicht einmal nachsehen, gegen wen ich da geprallt war. Überglücklich sah ich zu meinem Prinzen auf, während er seine starken Arme um mich legte.

»So stürmisch wie die See, so bezaubernd wie die Sterne«, flüsterte er mir sanft zu. So hatte er mich beschrieben, als wir uns das erste Mal getroffen hatten.

Ein leises Kichern entfuhr mir und ich stellte mich auf die Zehenspitzen, um besser an sein Gesicht zu gelangen. Vorsichtig legten sich meine Lippen auf seine und verschmolzen zu einem innigen Kuss. Leidenschaftlich legte er mir eine Hand in den Nacken und zog mich noch näher an sich heran. Eine Ewigkeit im Kreis meiner Schwestern und mit ihm an meiner Seite, konnte das Leben noch schöner sein?

»Ich will euch ja nicht stören, aber darf die große Schwester auch noch gratulieren?«

Etwas widerwillig lösten wir uns voneinander und ich nahm Tarissandra freudig in den Arm, während Phillip hinter uns stehen blieb.

»Ich gratuliere euch beiden herzlich zu eurer Hochzeit.«,

»Ich danke dir«, erwiderte ich liebevoll und drückte meine Schwester fest an mich.

Heute sollte der glücklichste Tag in meinem Leben werden, der gleichzeitig auch einen Neuanfang zwischen Feen und Menschen bedeutete. Noch nie hatte es ein Paar wie uns gegeben, doch mit unserer Hochzeit würde sich das vielleicht ändern. Wir hatten den Grundstein für eine neue Zeit gelegt.

Zu Beginn hatten meine Schwestern unsere Beziehung noch abgelehnt, doch als sie sahen, dass Phillip bereit war, unsere Gesetze zu achten und zu befolgen, fingen sie an, ihn zu akzeptieren und lernten ihn kennen. Vielleicht würde uns dies auch bei den anderen Menschen gelingen.

Noch immer fiel es mir schwer, zu glauben, dass es bereits ein Jahr her war, als wir uns das erste Mal getroffen hatten. Damals wollte ich ihn nur aus unserem Wald verjagen. Jetzt konnte ich mir keinen Tag mehr ohne ihn vorstellen.

Vorsichtig löste ich mich von Tarissandra, gab ihr noch einen Kuss auf die Wange und drehte mich wieder zu Phillip. Bereitwillig nahm er mich in seine Arme auf.

»Was glaubst du, wie dein Vater reagieren wird?«

Wir hatten keine Geheimnisse voreinander, weshalb ich auch wusste, dass sein Vater gegen unsere Verbindung war. Seit Generationen hatte das Königshaus die Feen gemieden, aus Angst, von ihnen gestürzt zu werden. Dass der Thronerbe ausgerechnet eine Fee geheiratet hatte, würde dem König einen gewaltigen Schock einjagen.

»Das spielt für mich keine Rolle. Alles, was für mich wichtig ist, halte ich hier in meinen Armen«, hauchte er mir liebevoll zu. Ich legte eine Hand an seine Wange und strich vorsichtig über sein Gesicht, wobei ich mich in seinen ozeanblauen Augen verlor. So sehr seine Worte mein Herz auch berührten, konnte ich nicht verdrängen, wie wichtig ihm doch trotz allem sein Vater war.

»Irgendwie werden wir ihn von uns überzeugen«, sprach ich mit aller Zuversicht. Ich glaubte fest daran, dass auch der König seine Vorurteile und diese engstirnigen Ansichten ablegen konnte, wenn er nur wollte.

Ich schenkte Phillip noch ein strahlendes Lächeln, ehe ich meine Aufmerksamkeit wieder auf meine Umgebung richtete. Mein Blick glitt zu den nahestehenden Bäumen und zu zwei meiner Schwestern, die besorgt zu den Baumkronen empor sahen. Erst da bemerkte ich, dass der Gesang der Vögel verklungen war. Kein einziges Geräusch war mehr zu hören, bis auf die sanfte Melodie der Flöte, die Cassandra spielte. Die seltsame Stille, die den Wald erfüllte, war mir zuvor nicht aufgefallen.

Als das leise, unheilvolle Flüstern einer Stimme durch den Wald drang, zuckte ich zusammen.

»Sie kommen!«

Die Worte legten sich wie ein enges Band um meinen Hals und schnürten mir die Luft ab. Sie durchfuhren mich wie ein Schlag und mit weit aufgerissenen Augen sah ich wieder zu Phillip.

»Was ist los?«, fragte er, da er die Warnung der Natur, anders als ich und meine Schwestern, nicht hören konnte.

Doch noch bevor ich ihm antworteten konnte, brach ein in Flammen stehender Pfeil durch die Baumkrone einer nahestehenden Eiche, landete im Gras vor Tarissandra und setzte einen kleinen Teil der Wiese in Brand.

Ein Dutzend Pfeile folgte und lösten ein schreckliches Chaos aus. Schreiend liefen die achtzehn Feen wild umher, suchten Schutz, doch es gab kein Entkommen. Von allen Seiten stürmten Soldaten die Lichtung, begleitet von weiteren Pfeilen. Bereits jetzt brannten einige Teile der Wiese und das Feuer drohte auch auf den Wald überzugreifen.

Ich war wie erstarrt, nicht in der Lage, mich zu bewegen und so sah ich, wie sich ein Pfeil durch die Brust einer meiner jüngeren Schwestern bohrte. Mit einem angsterfüllten Schrei fiel sie zu Boden und blieb regungslos liegen. Ein Laut des Entsetzens entfuhr mir und ich schlug die Hände vor den Mund. Ich konnte nicht glauben, was ich sah.

Drei meiner mutigsten Schwestern stellten sich den Soldaten entgegen, angeführt von Tarissandra. Sie versuchten, die Soldaten abzulenken, indem sie die Kräfte der Erde beschworen. Dicke Wurzeln schlangen sich um die Beine der Eindringlinge und fesselten sie. Doch es war ausweglos, die Feen waren eindeutig in der Unterzahl.

Auch Phillip hatte das Grauen mit angesehen, doch anders als mich beherrschte ihn keine übermächtige Angst. Schnell griff er nach meinem Kinn und zwang mich, ihn anzusehen, den Blick von dem Unheil abzuwenden, das uns heimsuchte.

»Wir müssen sofort hier weg!«, wies er mich an, packte meine rechte Hand und wollte loslaufen. Aber wie konnte ich fliehen, wenn meine Schwestern um ihre Leben kämpften? Auch wenn wir keine Chance hatten, musste ich ihnen doch helfen. Ich schlug meine Fersen fest in den Boden.

»Ich kann nicht!«

Verzweifelt blickte ich zu Phillip, bevor ich ihm meine Hand entriss und zu Tarissandra rannte. Ich hörte seine besorgten Rufe, sah nochmals zu ihm und bemerkte, wie er mir folgen wollte. Doch die Bäume hatten mittlerweile Feuer gefangen und einige brennende Äste fielen direkt vor ihm zu Boden und versperrten ihm den Weg zu mir. Es tat mir in der Seele weh, ihn zu verlassen, aber mein Platz war hier und ich würde kämpfen.

Verzweifelt versuchte ich, zu meinen Schwestern zu gelangen, die inzwischen von fünf Soldaten eingekreist dastanden. Ich stieg über die am Boden liegenden Leichen der getroffenen Feen, während Tränen in meinen Augen brannten.

»Tarissandra!«, brüllte ich, bevor dicke Rauchschwaden mir die Sicht auf sie nahmen. Langsam umschloss mich das Feuer und schnitt mir meine Fluchtwege ab, bis nur noch ein einziger übrig war. Ich zwang mich, stark zu bleiben. Innerlich flehte ich die Natur an mir Kraft zu schenken und zog so viel Energie aus der Erde, wie ich nur konnte.

Ich rannte geradewegs auf eine Gruppe Soldaten zu, bereit, jedes Mittel zu ergreifen, das notwendig war. Ich konzentrierte mich so sehr auf mein Ziel, dass ich den brennenden Baum neben mir nicht bemerkte, der bedrohlich wankte und schließlich umstürzte.

Die Welt explodierte in einem Meer aus Feuer und verschlang alles um mich herum. Die Hand auf den Mund gepresst, versuchte ich einen aufkommenden Hustenanfall zu unterdrücken. Ich wollte nach einem Ausweg suchen, doch die Flammen hatten mich bereits eingeschlossen. Das Letzte, das ich wahrnahm, war eine alles verzehrende Hitze, der ich nicht entkommen konnte.

Eine Freundschaft aus Gold – Kapitel 1

Eine Freundschaft aus Gold – Kapitel 1

 

Das Spinnrad klackerte und knarzte, als ich es immer wieder mit den Händen zur Eile antrieb, um die vor mir liegenden Berge aus Stroh mithilfe von Magie in Gold zu verwandeln.

Ich spann Goldfaden für Goldfaden, mit dem erdrückenden Gefühl im Rücken, nicht schnell genug zu sein. Sie hatten Marissa gerade noch eine Nacht Zeit gegeben, um diese unmögliche Aufgabe zu bewältigen. Sie hielten sie für eine Hexe, mit der Gabe, Stroh zu Gold zu spinnen, dabei war es lediglich ihr Vater, der überall diese furchtbare Lüge verbreitet hatte. Seit einer Woche hielt der König sie hier unten in dem feuchten Verlies gefangen. Jeden Morgen kam er sie einmal besuchen, versprach, sie freizulassen, wenn sie das Stroh zu Gold spinnen würde und verschwand dann wieder.

Die ersten beiden Tage hatte Marissa noch versucht, zu erklären, dass sie dazu nicht in der Lage sei. Aber irgendwann hatte sie es aufgegeben. Mit jedem Morgen, der verging und an dem Marissa ihre Aufgabe nicht bewältigt hatte, wurde der König zorniger. Zwischenzeitlich bekam sie nicht einmal mehr etwas zu essen. Doch nach der heutigen Nacht würde ihr noch viel Schlimmeres als ein leerer Magen bevorstehen. Der König hatte gedroht, sie zur Mittagsstunde hinrichten zu lassen, wenn sie nicht tat, was er von ihr verlangte.

Zu Anfang hatte ich nur mit eigenen Augen sehen wollen, wer das arme Mädchen war, das man hier gefangen hielt. Doch ihr verzweifeltes Flehen und die bitteren Tränen hatten mich schließlich dazu gebracht, ihr zu helfen.

Die Geschichte über das geheimnisvolle Mädchen, das Stroh zu Gold spinnen konnte, verbreitete sich in Windeseile im ganzen Land. Sogar bei den Feen erzählte man sich bald ihre Geschichte. Natürlich hatten wir gewusst, dass es eine Lüge war, kein Mensch konnte dieses Wunder ohne Magie bewirken. Meine Schwestern hatten gelacht, während ich Mitleid mit diesem armen Mädchen empfunden hatte. Und trotz des Verbotes, sich einem Menschen ganz allein zu zeigen, saß ich nun hier und bewirkte das Wunder, zu dem sie nicht fähig war. Ich wollte ihr Leben retten und würde verschwinden, noch bevor der Morgen graute.

Doch Magie brauchte ihre Zeit und so tat ich was ich konnte, während Marissa friedlich neben mir schlief. Das arme Ding hatte seit Tagen kaum ein Auge zugemacht, aus Angst, der nächste Tag würde ihr Letzter sein. Nur mit viel Mühe und einem kleinen Schlafzauber hatte sie sich schließlich auf dem Boden niedergelassen und war bald darauf tief eingeschlafen.

Erschöpft fuhr ich mir mit der Hand über die Stirn. Noch zwei Ballen Stroh, dann war mein Werk vollbracht. Lächelnd betrachtete ich einen Augenblick lang Marissas schlafende Gestalt. Noch vor wenigen Stunden war ihr Gesicht von tiefer Verzweiflung gezeichnet gewesen, doch nun wirkten ihre Züge entspannt und friedlich. Sie war hübsch, auch wenn ihr Gesicht und ihre Kleidung mit Schmutz beschmiert waren, leuchtete ihr Haar so hell wie die Sonne. Und wenn sie einen ansah, dann lag eine gewisse Wärme in ihren kastanienbraunen Augen.

Sie hatte so ein Schicksal nicht verdient.

Die kleine Pause tat gut und schenkte mir die nötige Kraft, die ich noch für den verbleibenden Rest benötigte. Ich wollte gerade weitermachen, als plötzlich Stimmen hinter der schweren Holztür zu Marissas Verlies erklangen. Erschrocken sprang ich von dem kleinen Hocker, auf dem ich die ganze Zeit über gesessen hatte, eilte zu Marissa und rüttelte kräftig an ihrer Schulter.

»Wach auf«, flüsterte ich hastig und dennoch so leise, wie möglich. »Schnell, du musst aufwachen.«

Gehetzt sah ich immer wieder von der Holztür zu Marissa, die nur langsam die Augen aufschlug und mich verschlafen anblinzelte. Es war keine Zeit, ihr irgendetwas zu erklären.

Eilig ließ ich die zwei übrigen Strohballen mit einer Handbewegung verschwinden, ehe ich mich selbst mit einem Verwandlungszauber belegte. Ich bat die Natur um Kraft und rief mir die Gestalt eines Tieres vor Augen. Innerhalb weniger Sekunden strömte die Energie durch meinen Körper und meine Haut nahm einen gräulichen Ton an, ehe ich schrumpfte und mich verformte. Mir wuchsen kleine Schnurrhaare, sowie ein paar runde Ohren und ein langer Schwanz.

Marissa hatte sich zwischenzeitlich aufgerichtet und beobachtete gebannt, wie ich mich in eine kleine Maus verwandelte. Mit einem leisen Piepsen lief ich, so schnell meine kleinen Beinchen mich trugen, in eine der dunklen Ecken des Verlieses. Nur einen Augenblick später schwang auch schon die Tür auf und zwei Soldaten betraten Marissas Gefängnis, gefolgt von einem weiteren Mann. Ich vermutete, dass es sich um einen Edelmann handeln musste, denn er trug keine Rüstung, sondern mit Goldfäden bestickte Kleider aus Seide. Sein Haar war so schwarz wie die Nacht, doch seine Augen leuchteten in einem so hellen Blau, wie ich es nur von den Schmetterlingen unseres Waldes kannte.

Mit starken Schritten hielt er auf Marissa zu, während er mit vor Erstaunen geweiteten Augen die Goldfäden betrachtete, die einen kleinen Teil des Fußbodens bedeckten.

Kurz vor Marissa blieb er schließlich stehen. Erst jetzt sah ich, dass einer der Soldaten ein Tablett in den Händen hielt, auf dem ein Stück Brot, Käse und zwei Äpfel lagen.

Sichtlich bemüht, löste der fremde Edelmann seinen Blick von dem Gold und wandte sich an Marissa.

»Ich dachte, du hättest gern etwas zu essen«, versuchte er zu erklären und deutete auf den Soldaten mit den Speisen. Der Klang seiner Stimme verursachte bei mir schlagartig eine Gänsehaut. Ich hatte ihn noch nie zuvor gesehen und doch hatte ich das Gefühl, ihn bereits mein ganzes Leben zu kennen. Er strahlte eine solche Güte und Freundlichkeit aus, wie ich sie noch nie bei einem Menschen gesehen hatte.

Schon immer hatten mich die Menschen mit ihren Gebräuchen und Traditionen fasziniert, auch wenn meine Schwestern es nie verstanden hatten. In unserem Wald gab es alles, was man zum Leben brauchte. Wir lebten im Einklang mit der Natur, achteten jede Pflanze und jedes Tier. Harmonie war für uns mehr als ein zeitweiliger Zustand.

Die Menschen dagegen waren ganz anders. Sie lachten, weinten, liebten und stritten. Manchmal taten sie sogar alles auf einmal. Für die Liebe waren sie bereit, in den Krieg zu ziehen und wenn sie nicht zurückkehrten, dann trauerten ihre Liebsten um sie.

Bei uns gab es das nicht. Wir waren unsterblich, der Tod war etwas gänzlich Fremdes, genauso wie die Liebe. Es existieren ausschließlich weibliche Feen, keine Männer. Eine jede von uns war einst selbst ein Mensch gewesen, konnte sich an diese Zeit jedoch nicht erinnern. Wir waren allesamt noch Säuglinge gewesen, als die Göttin des Waldes uns segnete und zu Feenkindern werden ließ. Sie gab uns eine neue Familie, als unsere alte uns nicht mehr wollte und zum Sterben aussetzte. Ihre Güte war unsere Rettung, ohne die wir verloren gewesen wären.

Als ein verhaltenes Räuspern erklang, richtete ich meine Aufmerksamkeit wieder auf den fremden Mann, der Marissa noch immer abwartend musterte.

»Du musst keine Angst haben, dir wird nichts passieren«, sprach er beruhigend auf Marissa ein, welche ihn noch immer wortlos anstarrte. Doch ich bezweifelte, dass es Angst war, die sie kein Wort herausbringen ließ, sondern die gleiche Faszination, die auch meinen Blick an ihn heftete.

Unsicher fuhr er sich mit seiner rechten Hand durch sein Haar und blickte sich in der kleinen Zelle um. Bis auf die Goldfäden am Boden und zwei Fackeln an den gegenüberliegenden Wänden gab es hier nicht viel.

Für einen kleinen Augenblick sah er auch in meine Richtung und ich drängte mich noch tiefer in die dunkle Ecke. Natürlich bemerkte er mich nicht. Auch wenn ein kleiner Teil von mir sich etwas anderes wünschte, wusste ich doch, dass es so besser war. Es war schon riskant gewesen, mich Marissa zu zeigen. Doch zum Glück war sie froh über meine Hilfe gewesen, sodass sie zugestimmt hatte, auf Fragen zu verzichten, als ich ihr sagte, dass ich eine Fee sei.

Mit einer kleinen Handbewegung bedeutete der Fremde dem Soldaten Marissa das Tablett zu übergeben. Etwas unentschlossen griff sie danach.

»Danke«, hauchte sie schließlich.

»Gern. Seine Majestät, der König, wird bald hier sein und dann kannst du nach Hause gehen«, versicherte er und auf Marissas Gesicht zeichneten sich Dankbarkeit und Erleichterung ab. Sie durfte heimkehren und konnte dieses schreckliche Erlebnis vergessen.

»Ich muss jetzt leider gehen, aber du solltest trotzdem etwas davon essen«, sagte der Fremde und deutete auf das Tablett, welches Marissa noch immer in den Händen hielt.

Sie nickte zustimmend.

Mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen wandte er sich schließlich ab und ging zur Tür. Die beiden Soldaten folgten ihm und gemeinsam verließen sie den Raum.

Erleichtert atmete ich aus. Erst jetzt bemerkte ich, wie angespannt ich die ganze Zeit über gewesen war.

Marissa starrte noch immer auf die Tür, als ich mich zurückverwandelte und zu ihr ging. Kurz bevor ich sie erreichte, drehte sie sich zu mir um. In ihren Augen standen Tränen.

»Ich weiß nicht, wie ich dir danken soll«, sagte sie mit zitternder Stimme.

Ich schüttelte den Kopf.

»Du musst mir nicht danken.«

Ich war froh, ihr geholfen zu haben, weil es das einzig Richtige gewesen war. Allein die Freudentränen in ihren Augen waren Dank genug.

»Ich kann es immer noch nicht glauben, was für ein Glück ich hatte, dass du mir geholfen hast. Ich meine, du bist eine Fee und ich nur ein Mensch.«

Ich verstand die Frage, die in ihrer Aussage mitschwang. Warum half eine Fee einem Menschen?

»Es spielt keine Rolle, ob ich eine Fee bin und du ein Mensch. Du brauchtest meine Hilfe«, sprach ich schlicht meine Gedanken aus. Marissa runzelte die Stirn und betrachtete mich einen Moment genauer. Ich wusste, welche Wirkung wir Feen auf Menschen besaßen, wusste, wie seltsam ich in ihren Augen aussehen musste.

Anders als in den Geschichten trugen wir keine Flügel auf unseren Rücken oder schwangen bunte Zauberstäbe. Dennoch sah man uns die Verbindung zur Magie deutlich an. Unsere Haut war um einiges heller als die der Menschen, fast elfenbeinfarben und so makellos, wie es bei einem Sterblichen niemals vorkam. Doch das wohl Faszinierendste an uns waren die Augen, in denen sämtliche Farben des Regenbogens wild durcheinander tanzten. Ein nie enden wollender Strudel aus Farben.

»Sag mir, wie ich dir für deine Hilfe danken kann.«

Ich schüttelte den Kopf, sodass meine langen, weißblonden Locken bei jeder Bewegung mitschwangen.

»Du brauchst mir wirklich nicht zu danken«, gab ich ihr freundlich zu verstehen, doch Marissa ließ sich nicht davon abbringen.

»Ich bestehe darauf. Was kann ich dir als Gegenleitung anbieten?«

Ihr Blick war so entschlossen, dass mir bewusst wurde, wie aussichtslos diese Diskussion war. Ich überlegte einen kurzen Moment lang.

»Deine Freundschaft.«

Es gab nicht viel, um was ich Marissa hätte bitten können.

Doch hatte ich mir schon immer eine wahre Freundin gewünscht, der ich vertrauen konnte und die mir genauso half wie ich ihr. Bei den Feen gab es so etwas wie Freundschaft nicht. Wir waren Schwestern und damit eine einzige große Familie. Doch in dieser Familie brauchte niemand den anderen. Wir waren teilweise Wochen lang ganz auf uns allein gestellt, streiften durch die tiefen Wälder, halfen den Tieren und Pflanzen, ohne auch nur eine von uns zu Gesicht zu bekommen. Trotzdem wollte ich mich nicht beschweren, denn ich liebte meine Schwestern über alles.

Marissa blickte mich erstaunt an, als hätte ich etwas Unglaubliches gefordert.

»Du möchtest, dass wir Freunde sind?«, hakte sie nach und ich antwortete mit einem unsicheren Nicken. Vielleicht war mein Wunsch etwas zu forsch gewesen. Ich wusste, dass sich die Freundschaft zwischen zwei Menschen langsam über einen gewissen Zeitraum aufbaute und entwickelte. Dennoch hoffte ein kleiner Teil von mir, dass zwischen Marissa und mir eine solche Verbindung entstehen würde.

»Dann soll es so sein«, stimmte sie zu und lächelte mich freundlich an.

»Wirklich?«

»Ja, natürlich. Wer kann schon behaupten, eine Fee zur Freundin zu haben«, verkündete sie voller Stolz in der Stimme.

»Aber eine Bedingung habe ich noch«, fügte Marissa grinsend hinzu.

Fragend blickte ich sie an.

»Du musst mir deinen Namen verraten.«

In diesem Moment schwand das Lächeln aus meinem Gesicht. So einfach diese Bedingung auch erschien, so unmöglich war es für mich, diese Bitte zu erfüllen.

Ernst blickte ich sie an, während sich die Stille zwischen uns ausbreitete.

Auch Marissas Lächeln verschwand.

»Du siehst mich an, als hätte ich von dir verlangt, mir Flügel wachsen zu lassen.«

Verlegen wich ich ihrem irritierten Blick aus. Ich durfte ihr meinen Namen nicht verraten, so sehr ich es auch wollte.

»Ich kann dir meinen Namen leider nicht sagen.«

Marissa legte den Kopf schief und sah mich fragend an.

»Warum nicht?«

»Für uns Feen sind Namen mehr als nur die bloße Bezeichnung einer Person«, begann ich zu erklären. »Dein Name verrät, woher du kommst, welchem Volk du angehörst und wie es tief in deiner Seele aussieht. In dem Moment, in dem du jemandem deinen Namen verrätst, gibst du einen großen Teil von dir selbst Preis. Bei uns Feen ist das sogar so, dass sowohl unsere Magie als auch unsere Unsterblichkeit mit unserem wahren Namen verbunden sind.«

Die Göttin des Waldes hatte uns aufgetragen unsere wahren Namen um jeden Preis zu schützen.

Einen Augenblick lang betrachtete Marissa mich wortlos.

»Und wenn ich dich einfach bei einem anderen Namen nennen?« Im Grunde sprach nichts gegen ihren Vorschlag, einen falschen Namen zu verwenden. Ich war mir sicher, dass die Göttin des Waldes keine Einwände hegte und mir ihr Einverständnis erteilen würde.

»Gut«, antworte ich nach kurzer Überlegung.

»Mein Name ist Amy.«

Marissas Mundwinkel hoben sich und sie lächelte mir zu.

»Ich freue mich darauf deine Freundin zu sein, Amy.«

 

Eine Freundschaft aus Gold – Kapitel 2

Eine Freundschaft aus Gold – Kapitel 2

 

Tief atmete ich den frischen Duft der verschiedenen Baum- und Blumenarten ein, die im Wald wuchsen. Ebenso wie den vertrauten Geruch der vom Morgentau noch nassen Wiese und der feuchten Erde.

Als die einzelnen Sonnenstrahlen durch das dichte Blätterdach drangen und diesen Ort in ein goldenes Licht tauchten, erinnerte ich mich an die Worte der Göttin des Waldes: Sei vorsichtig, wem du dich offenbarst, denn eine falsche Entscheidung genügt, um dich in dein Verderben zu stürzen.

Ich war mit dem Segen der Göttin zu Marissa gegangen, doch hatte sie mich auch zur Vorsicht ermahnt.

Ein stolzes Lächeln stahl sich bei dem Gedanken daran, dass ich richtig gehandelt und ihr geholfen hatte, auf meine Lippen. Ich hatte nicht nur Marissas Leben gerettet, sondern auch eine Freundin dazu gewonnen.

Eine Weile lang hatte ich ihr noch Gesellschaft geleistet, bis erneut Schritte vor der Tür erklungen waren und es Zeit für mich gewesen war zu gehen. Wir hatten vereinbart, dass ich sie im Haus ihres Vaters besuchen kam, sobald man sie freigelassen hatte. Bis es so weit war, hatte ich beschlossen, in den Feenwald zurückzukehren und sie allein zulassen.

»Ich nehme aufgrund deines zufriedenen Lächelns an, dass dein kleiner Ausflug erfolgreich war«, erklang plötzlich eine ernste, weibliche Stimme hinter mir. Ich musste mich nicht umdrehen, um zu wissen, wer aufgetaucht war, tat es jedoch trotzdem. Daphne liebte es, aus dem Nichts zu erscheinen und wieder zu verschwinden. Niemand konnte ihrem Blick entgehen, kein Geheimnis lang vor ihr verborgen bleiben.

»Du hast also bereits davon gehört.«

Ein verächtliches Schnauben entfuhr ihr und sie blickte mich vielsagend an.

»Der ganze Wald spricht davon«, antwortete sie schlicht.

Sie hatte recht. Auch ich konnte das Rauschen der Blätter vernehmen, das die Botschaft durch den ganzen Wald trug.

Auch meine anderen Schwestern mussten bereits vernommen haben, was ich getan hatte. Ich wusste, dass viele von ihnen mein Handeln verachten und als leichtsinnig bezeichnen würden. Doch keine würde es so sehr ablehnen wie Daphne.

»Ich hoffe, dass du weißt, was du da getan hast«, sagte sie vorwurfsvoll.

Daphne war die Älteste von uns und auch die Mächtigste. Sie war für uns das, was einer Mutter am nächsten kam, obwohl sie keinen Tag älter aussah als ich selbst. Ihr weißblondes Haar fiel ihr in Locken bis zur Taille und betonte ihre weiblichen Rundungen. Sie besaß eine Anmut, die jede ihrer Bewegungen wie einen Tanz aussehen ließ. Ihre mandelförmigen Augen hatte sie zu Schlitzen verengt und doch wirkten ihre Gesichtszüge zart und weich. Sie hätte als das Ebenbild reiner Schönheit gegolten, wäre da nicht die lange, wulstige Brandnarbe, die sich von der Stirn ausgehend quer über ihr Gesicht zog.

»Es tut mir leid, wenn ich dich verärgert habe«, versuchte ich sie vorsichtig zu besänftigen, doch ohne Erfolg. Die noch eben zarten Gesichtszüge wurden mit einem Mal von Wut verzerrt.

»Lüg mich nicht an, Amythalis«, fauchte sie meinen Namen. »Ich sehe es dir an. Du bist stolz darauf und merkst nicht einmal, wie töricht dein Handeln war.«

Ich nahm Daphne ihre Reaktion nicht übel, denn keine von uns hatte mehr Leid durch die Menschen erfahren als sie. Daphne hatte einst den Menschen beigestanden, hatte ihnen fast täglich geholfen und dafür hatten sie Daphne geliebt. Doch diese Liebe war schnell in Hass umgeschlagen, als sie mehr und mehr von ihr gefordert hatten, ohne bereit zu sein, den Preis zu zahlen. Auch wenn die Menschen es nicht glaubten, waren unsere Fähigkeiten begrenzt und an bestimmte Regeln gebunden. Noch nie hat Daphne mir genau erzählt, was damals vorgefallen war und wieso sie fortan diese Narbe im Gesicht trug.

»Daphne, ich verspreche dir, dass es eine Ausnahme bleibt. Marissa ist frei und braucht meine Hilfe nicht mehr.«

Für mich war der Zauber zu Marissas Rettung wirklich eine Ausnahme gewesen. Ich wollte mit ihr befreundet sein, aber ich würde ihr nicht mehr mit Magie helfen.

Langsam hob Daphne eine Hand und legte sie behutsam an ihr eigenes Gesicht, genau dorthin, wo sich die Narbe befand. Ihr Blick wurde glasig und sie presste die Lippen fest aufeinander.

»Das hoffe ich sehr. Ich weiß, dass du nach wahrer Freundschaft zwischen Feen und Menschen strebst. Diesen Wunsch habe ich einst auch gehegt.« Die Strenge wich aus ihrem Gesicht und eine unendliche Traurigkeit nahm ihren Platz ein.

»Lass mein Schicksal dir eine Lehre sein«, fügte sie noch hinzu.

Ich nickte.

»Ich werde vorsichtig sein, so wie es mir die Göttin des Waldes geraten hat«, versprach ich Daphne und meinte es ernst.

Einen Moment lang betrachtete sie mich noch, bis sie sich wortlos abwandte und davon schritt. Bevor sie gänzlich verschwand, drehte sie sich jedoch noch ein letztes Mal zu mir um.

»Du solltest die Göttin des Waldes aufsuchen und ihr Bericht erstatten«, bemerkte sie, ehe sie sich ganz von mir entfernte.

 

Ich folgte Daphnes Rat, schloss die Augen und stellte mir die große Wiese, deren vielfarbige Blütenpracht und die große alte Weide vor. Als ich die Augen wieder öffnete, befand ich mich genau an diesem Ort.

Feen besaßen die Gabe überall hinzureisen, wohin sie nur wollten. Die einzige Bedingung bestanden darin, dass sie schon einmal dort gewesen sein mussten, um vor ihrem inneren Auge ein Bild des Ortes erschaffen zu können.

Ich landete genau vor der riesigen alten Weide, die inmitten einer großen Wiese thronte, umringt von unzähligen kleineren Bäumen. Die Göttin des Waldes war überwältigend.

Eine Aura der Sicherheit umgab diesen Ort, an dem Mensch und Tier gleichgestellt in Harmonie miteinander lebten.

Ich ließ mich auf die Knie sinken, legte meine Hand auf mein Herz und verneigte mich vor der Göttin. Für die Menschen mochte dies nichts weiter als ein sehr alter Baum sein, doch wir Feen, die verbunden mit der Natur lebten, erkannten die Wahrheit. Wir hörten die sanfte Stimme der Göttin, spürten ihren festen Herzschlag und ihren ruhigen Atem in jedem Windhauch.

»Willkommen zurück, mein Kind«, erklang ihre liebliche Stimme in meinem Kopf und verursachte mir sofort eine Gänsehaut. »Wie ich hörte, warst du erfolgreich.«

Mit einem fröhlichen Lächeln hob ich den Kopf und sank im Schneidersitz in das noch feuchte Gras.

»Ja, das war ich«, antwortete ich laut und voller Zufriedenheit.

»Gab es irgendwelche Schwierigkeiten?«

Für einen Moment überlegte ich, ob ich ihr davon berichten sollte, dass drei Männer den Raum betreten hatten, kurz bevor ich mein Werk hatte vollenden können. Sicher wäre sie nicht begeistert zu hören, dass ich beinahe entdeckt worden wäre.

»Nein«, entschied ich mich schließlich für eine kleine Lüge, um sie nicht unnötig zu beunruhigen.

»Und das Mädchen?«, sprach sie weiter, ohne sich anmerken zu lassen, ob sie meine Lüge erkannt hatte. »Hat sie irgendwelche Fragen gestellt?«

Ich wusste, worauf die Göttin des Waldes anspielte. Sie wollte wissen, ob Marissa nach meinem Namen gefragt hatte, woher ich kam, was ich war und wie meine Fähigkeiten funktionierten.

Ich erinnerte mich gut an Marissas Gesichtsausdruck, als ich plötzlich neben der Kerkertür erschienen war. Einige Stunden hatte ich sie schweigend beobachtet, ehe ich mich dazu entschieden hatte, mich ihr zu zeigen. Ich sagte ihr, dass alles gut werden und ich ihr helfen würde. Tatsächlich hatte sie mich mit Fragen überhäuft, die ich jedoch allesamt ignoriert hatte.

»Sie hat viele Fragen gestellt, aber ich habe ihr gesagt, dass ich ihr nur helfen werde, wenn sie auf Antworten verzichtet.«

Ein sanfter Wind kam auf, fuhr durch die Zweige der alten Weide und wirbelte einige am Boden liegende Blätter auf.

»Und hast du einen Handel mit ihr abgeschlossen?«, fragte die Göttin in einem sehr viel ernsteren Tonfall.

»Nein, das war nicht nötig«, antworte ich kopfschüttelnd, während mich ein erdrückendes Gefühl beschlich. »Ich hatte genug Zeit und benötigte für diese Menge an Stroh nicht allzu viel Energie.«

Keine Reaktion.

Ich ahnte, dass ihr meine Antwort nicht gefallen hatte und wurde unruhig. Wir Feen konnten fast jedes Wunder vollbringen, doch dazu benötigten wir eine gewisse Menge an Energie. Je nach Zauber variierte diese Menge, sodass wir sie nicht einfach so aufbringen konnten.

Wir schlossen einen Handel mit denjenigen, die unserer Hilfe bedurften und erhielten so eine gewisse Gegenleistung. Hierbei ging es nicht darum, uns selbst zu bereichern, sondern vielmehr der Natur für ihr Geschenk etwas zurückzugeben.

Die Feen kanalisierten ihre Magie aus der Erde, immer darauf bedacht, ihr damit keinen Schaden zuzufügen. Wir nahmen von ihr, was wir brauchten und gaben ihr dafür etwas zurück. Je nach Wunsch konnte diese Gegenleistung darin bestehen, einen neuen Baum zu pflanzen, ein elternloses Jungtier aufzunehmen, ein Jahr lang auf die Jagd zu verzichten oder eine andere gute Tat zu vollbringen.

Natürlich hätte ich für Marissas Wunsch eine Gegenleistung fordern müssen, aber das war mir in diesem Moment falsch vorgekommen. Uns stand es frei einige wenige kleinere Wünsche auch ohne eine Gegenleistung zu erfüllen und ich hatte keine bessere Gelegenheit als diese gesehen, um meinen Überschuss an Kraft zu nutzen.

»Das war sehr großzügig von dir«, sprach die Göttin nach einigen quälenden Minuten. Ich hatte das Gefühl, den Tadel in ihrer Stimme herauszuhören, sagte jedoch nichts dazu.

»Obwohl das nicht gänzlich der Wahrheit entspricht. Du hast eine Gegenleistung von ihr gefordert.«

Ich zuckte leicht zusammen. Sie hatte recht. Ich hatte mir Marissas Freundschaft gewünscht. Auch wenn diese Gegenleistung mehr eine Bitte als eine Forderung darstellte, gab es für die Göttin keinen Unterschied. Ich hätte wissen müssen, dass sie mich beobachtete, egal wohin ich auch ging, egal wem ich auch half.

»Sie hat darauf bestanden, mir etwas zu geben«, versuchte ich mich zu verteidigen.

»Du hättest ablehnen oder etwas im Namen der Natur fordern können.«

Betreten senkte ich den Blick. Dieser Gedanke war mir in diesem Moment nicht gekommen. Ich hatte ablehnen wollen, aber etwas für die Natur zu fordern, hatte ich nicht einmal versucht. Ich hatte selbstsüchtig gehandelt, eine Eigenschaft, die sich für eine Fee nicht geziemte.

»Meine Selbstsucht tut mir leid«, hauchte ich schuldbewusst und sah betreten zu Boden.

Der Wind nahm weiter zu, doch streifte mich eine warme Brise am Arm, statt eines eisigen Hauches.

»Ich wollte dir keinen Vorwurf machen, mein Kind. Du solltest nur wissen, dass die Menschen deine Großzügigkeit nicht immer schätzen werden. Manche werden sie ausnutzen, wenn du nicht vorsichtig bist.«

Die aufmunternden Worte der Göttin waren eine liebe Geste, die mir eigentlich ein wohliges Gefühl vermitteln sollten. Sie machte sich Sorgen um mich, war lediglich auf meine Sicherheit bedacht und wollte mich beschützen.

Doch in Wahrheit trafen mich ihre Worte wie ein Pfeil mitten in mein Herz. Ich hatte gewusst, dass mein Handeln auf Unverständnis treffen würde, doch gerade von der Göttin des Waldes hatte ich Verständnis erwartet. Ich hatte kein Verbrechen begangen, sondern eine gute Tat vollbracht.

Immer wieder hörte ich, dass man mich ausnutzen würde, die Menschen schlecht seien und ich vorsichtig sein solle. Ich fühlte mich wie ein kleines Kind, dem man vorwarf, nicht zu verstehen, dass sein Handeln falsch war.

»Wenn die Menschen doch nicht zu schätzen wissen, was wir für sie tun, warum helfen wir ihnen dann? Warum erfüllen wir ihnen ihre Wünsche?«, fragte ich direkt, ohne die Frustration zu verbergen, die zunehmend von mir Besitz ergriff.

»Weil ihr damit das Gleichgewicht bewahrt«, lautete die schlichte und einfache Antwort. »Die Feen sind die Hüter der Natur und ihres Gleichgewichts. Ohne euch würden die Menschen alles von ihr nehmen, was sie glauben zu brauchen und nichts im Gegenzug dafür geben. Ihr schenkt ihnen Wunder, die sie selbst nicht vollbringen können und fordert dafür einen entsprechenden Preis.«

Eine Gegenleistung, auf die ich verzichtet hatte, weil ich selbstsüchtig gehandelt hatte. Wieder dieser versteckte Vorwurf.

Langsam erhob ich mich, bog den Rücken durch und blickte mit erhobenem Kopf der Weide entgegen. Manchmal war es schwer, keine Person vor sich zu sehen, sondern nur eine Stimme zu hören, die kein Gesicht zu besitzen schien, außer das des alten Baumes.

»Ich verstehe, was du mir damit sagen willst. Das nächste Mal werde ich eine angemessene Gegenleistung fordern«, gab ich zähneknirschend von mir. Die Göttin des Waldes war ähnlich wie Daphne eine Mutter für die Feen und gerade deshalb traf mich ihr unterschwelliger Tadel umso mehr. Nie würde sie mir meinen Fehler direkt vorwerfen. Doch das brauchte sie auch nicht.

»Ich weiß, dass Enttäuschung und verletzter Stolz die Wut in deinem Herzen verursacht haben. Doch bedenke, diese nicht gegen deinesgleichen zu richten.«

Wie recht sie doch hatte. Ich war enttäuscht, dass gerade sie mich nicht verstand. Ich war verletzt, weil ich selbst so stolz auf den Ausgang meines kleinen Abenteuers war und sie nicht mehr als eine versäumte Gelegenheit darin sah. Und auch wenn es kindisch sein mochte, empfand ich es als richtig wütend zu sein.

Wie sehr ich es hasste, dass die Göttin nach Belieben meine Gefühle zu lesen vermochte und ich dagegen nicht einmal eine Ahnung von den ihren hatte.

Nur mit sehr viel Mühe gelang es mir, meinen verletzten Stolz und die Frustration beiseitezuschieben. Es hatte keinen Sinn, mit der Göttin des Waldes zu streiten.

Ich versuchte, mich darauf zu konzentrieren, Marissa bald wiederzusehen. Bei diesem Gedanken wurde es leichter und voller Demut senkte ich den Kopf, legte die Hand auf mein Herz und sank wieder auf die Knie.

»Ich werde deinen Rat befolgen.«

Eine Freundschaft aus Gold – Kapitel 3

Eine Freundschaft aus Gold – Kapitel 3

 

Die Kapuze tief in mein Gesicht gezogen und mit gesenktem Blick ging ich den staubigen Weg zu Marissas Haus entlang. Es sah alles genauso aus, wie sie es mir beschrieben hatte. Ein alter Trampelpfad, der entlang eines kleinen Waldes lag, weit weg vom nächsten Dorf.

Ich war froh darüber, dass sie so abgelegen lebte und somit die Gefahr, einem anderen Menschen über den Weg zu laufen, eher gering ausfiel. Dennoch wollte ich kein Risiko eingehen und hatte meinen dunkelblauen Umhang eng um mich geschlungen, mein langes, weißblondes Haar unter die Kapuze geschoben und akribisch darauf geachtet, niemandem direkt in die Augen zu sehen.

Was auch nicht sonderlich schwer war, da bis auf einen kleinen Jungen mit seinen Schafen bislang niemand meinen Weg gekreuzt hatte.

Schon von Weitem erkannte ich das Strohdach des kleinen Holzhäuschens. Es hatte bereits bessere Tage gesehen. Schon aus der Entfernung erkannte ich die Löcher, die das Dach durchzogen, als sei es ein Stück Käse. Auch der Rest des Hauses war in einem schlechten Zustand. Das Holz der Wände war marode und an einige Stellen bereits weggebrochen.

Wie konnten die Menschen nur glauben, dass ein Mädchen, das in einem so ärmlichen Haus lebte, Stroh zu Gold spann?

Wenn sie wirklich diese Fähigkeit besessen hätte, dann würde sie doch in einem Palast leben, wo ihr jeder erdenkliche Luxus zur Verfügung stünde.

Je näher ich dem Haus kam, desto mulmiger wurde mir zumute. Was wäre, wenn die Göttin des Waldes recht behielt und Marissa mich nicht mehr sehen wollte, jetzt, wo sie frei war und mich nicht mehr brauchte? Vielleicht war es wirklich naiv zu glauben, dass ein Mensch mir ohne weiteres seine Freundschaft schenkte.

Wie angewurzelt blieb ich nur wenige Schritte von meinem Ziel entfernt stehen.

Selbstverständlich war mir bewusst, dass eine solche Beziehung Zeit brauchte und ich Marissas Freundschaft nicht erzwingen konnte. Doch war es zumindest nicht den Versuch wert?

Ich sammelte all meinen Mut und zwang meine Füße weiter zu gehen, als sich die Tür des kleinen Hauses öffnete und ein alter Mann heraustrat. Er ging gebeugt und humpelte mehr, als das er lief. Seine Kleidung hing in Fetzen an ihm herab und betonte seine hagere Gestalt noch zusätzlich. Er wirkte so zerbrechlich und abgemagert, dass ich sofort Mitleid für ihn empfand.

Etwas irritiert sah er sich um, so als hätte er vergessen, warum er das Haus verlassen hatte. Als er mich entdeckte, erschien ein überschwängliches Lächeln auf seinem Gesicht. Panisch wandte ich den Blick von ihm ab, in der Hoffnung, dass er mich nicht erkannt hatte.

»Marissa?«, fragte er mit brüchiger Stimme.

Ich schüttelte vorsichtig den Kopf und zog die Kapuze noch etwas tiefer in mein Gesicht.

»Nein. Ich bin nicht Marissa.«

Meiner Stimme fehlte die Kraft, wodurch ich unsicher und fast etwas ängstlich klang.

»Sie haben meine Marissa weggebracht. An den Haaren haben sie mein Kind aus dem Haus gezerrt«, sinnierte er. Ich hatte meinen Blick auf seine Beine geheftet, darauf bedacht ihn nicht direkt anzusehen. Doch das war auch nicht nötig, um zu erkennen, dass von diesem Mann keine Gefahr ausging. Er war alt und konnte sich nur noch mit Mühe auf den Beinen halten. Selbst im Stehen zitterten seine Glieder so heftig, dass ich Angst hatte, er würde gleich zu Boden stürzen.

»Sie haben mir mein Kind weggenommen«, wiederholte er, eher er sich erneut in Bewegung setzte und auf mich zu humpelte.

»Marissa? Bist du zu mir zurückgekommen?«, fragte er mit trauriger Stimme.

Es zerriss mir fast das Herz. Dieser alte gebrechliche Mann konnte nur Marissas Vater sein. Wie hatten die Männer des Königs ihn allein zurücklassen können? Wie hatte er bislang überhaupt überleben können?

»Es tut mir leid, aber ich bin nicht Marissa.«

Er stoppte.

»Nicht Marissa«, krächzte er mit erstickter Stimme. »Sie hat mich für immer verlassen.«

Immer stärker begannen seine Beine zu zittern, bis sie ihn schließlich nicht mehr trugen und er zu Boden sank.

In diesem Augenblick rührte ich mich wieder, sprang nach vorne und packte den alten Mann am Arm, um ihn zu stützen. Dabei rutschte meine Kapuze herunter, doch das war mir egal.

Mit Tränen in den Augen blickte der alte Mann mich an, sah direkt in meine regenbogenfarbenen Augen.

»Weißt du, wo meine Marissa ist?«, fragte er mich, ohne von meinem Anblick erschrocken zurückzuweichen.

Meine Kehle war wie zugeschnürt. Wenn Marissa hier wäre, dann hätte sie uns längst hören und aus dem Haus kommen müssen.

»Ist Marissa nicht nach Hause gekommen?«, hauchte ich voller Sorge um sie.

Der alte Mann schüttelte den Kopf.

»Böse Männer haben sie mir weggenommen.«

Eine schreckliche Ahnung beschlich mich. Wenn der König sie nicht freigelassen hatte, dann musste sie noch immer in diesem feuchten Verlies sein.

Ich musste sofort zu ihr.

Doch was sollte ich nur mit ihrem Vater tun?

Verzweifelte suchte ich nach einer Lösung, ohne, dass mir eine einfiel. Ich konnte ihn unmöglich allein hierlassen, mitnehmen konnte ich ihn jedoch auch nicht. Noch bevor ich weiter nach einer Lösung suchen konnte, erklang hinter mir eine tiefe, brummige Stimme.

»Eine Fee!«

Ruckartig drehte ich den Kopf in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Mein Blick traf den eines muskulösen Fremden mit blonden Haaren und stechend grünen Augen.

»Hilfe!«, schrie er, so laut er konnte. »Eine schwarze Fee hat den alten Moris gefangen!«

Panik durchfuhr mich. Dieser Mann schien zu glauben, dass ich Marissas Vater etwas Böses wollte.

»Ich bin keine schwarze Fee«, verteidigte ich mich. Doch ehe ich mich versah, hatte der Mann ein Messer hervorgeholt und richtete dessen Klinge auf mich.

»Komm mir nicht zu nah, du Monster. Und lass den alten Moris los!«

Völlig unsicher, was ich tun sollte, nahm ich meine stützenden Hände von dem alten Mann, der augenblicklich neben mir zu Boden sackte.

Voller Hass in den Augen verfolgte der Fremde jede meiner Bewegungen und sah mit an, wie der alte Mann neben mir völlig kraftlos am Boden hockte.

»Du hast ihm seine Lebensenergie gestohlen«, beschuldigte er mich.

»Nein, das habe ich nicht!«

Seine Anschuldigung traf mich schwer.

Es gab tatsächlich Feen, die vom richtigen Weg abgekommen waren und entgegen der Regeln die Energie der Menschen kanalisierten. Dieses schwere Vergehen schloss eine Fee für immer aus unserer Familie aus und machte sie zu einer Ausgestoßenen, einer schwarzen Fee.

»Ich wollte ihm nur helfen«, versuchte ich es erneut, doch der Mann ließ nicht mit sich reden.

Ich wollte Magie nutzen und von diesem Ort verschwinden, aber nach den Anstrengungen der vergangenen Nacht fehlte mir dazu die nötige Energie.

Damit blieb mir nur noch die Flucht in Richtung des Waldes. Doch auch das würde mir nicht helfen, denn nach dem Körperbau des Mannes zu urteilen, würde er mich schnell einholen. Innerlich betete ich zur Göttin des Waldes in der Hoffnung, dass ein Wunder geschehen würde und mich aus dieser misslichen Lage befreite. Doch als in der Ferne weitere Stimmen erklangen, sah ich mich bereits auf dem nächsten Scheiterhaufen stehen, umringt von dutzenden Fremden, die alle meinem Tod entgegenfieberten.

Verzweifelte blickte ich mich um, suchte nach einem Ausweg, als der alte Mann plötzlich am Saum meines weißen Kleides zog.

»Lauf weg«, flüsterte er mir zu. »Ich werde ihn ablenken, mein Kind.«

Zum ersten Mal klärte sich sein Blick und er sah mich entschlossen an.

Im nächsten Moment geschah alles so schnell, dass ich es kaum begreifen konnte. Marissas Vater stand auf und schob mich hinter sich, gerade als der Fremde mit seinem erhobenen Messer auf mich zukam. Ich wurde geschubst und ehe ich mich versah, rannte ich.

Hinter mir erklang die Stimme des alten Mannes.

»Du wirst meine Tochter nicht anfassen!«, spie er dem Mann entgegen.

»Das ist nicht deine Tochter, Moris!«, rief dieser noch, während ich bereits etwas Abstand zu dem kleinen Haus gewann. Nur noch ein paar Meter und ich hatte den Waldrand erreicht.

Doch was sollte ich dann tun?

Fieberhaft überlegte ich, bis mir ein Gedanke durch den Kopf schoss. Mein Atem ging rasselnd und schwer, doch ich musste durchhalten und den Wald erreichen. Daphne hatte mir einmal gezeigt, dass man die vorhandene Energie verdoppeln konnte, wenn man eine ganz bestimmte Pflanze zu sich nahm. Aber die Wahrscheinlichkeit diese Pflanze unter den gegebenen Umständen zu finden, war gering. Dennoch musste ich es versuchen.

Zu gern hätte ich mich umgesehen, doch die Angst vor dem, was dort vielleicht geschah, hinderte mich daran. Ich hörte keine Stimmen mehr, weder die des Fremden noch die von Marissas Vater.

Endlich am Waldesrand angekommen, wagte ich es doch, mich umzudrehen. Doch was ich sah, war ein Bild des Schreckens. Das kleine Haus stand in Flammen.

Wie hatte das passieren können? Es waren doch nur wenige Minuten vergangen.

Das viel Erschreckendere jedoch war der Fremde, der auf mich zu gerannt kam. Sein Hemd war blutverschmiert und nur noch wenige Meter trennten uns.

Ich verfiel in Panik und suchte hektisch meine Umgebung ab. Es war aussichtslos. Nirgends konnte ich die besagte Pflanze entdecken.

Ein letztes Mal flehte ich die Natur an, mir zu helfen, doch mein Ruf blieb unerhört.

Gerade als ich aufgeben und mich meinem Schicksal stellen wollte, spürte ich einen kleinen Energiestoß, der durch meinen Körper fuhr.

Es war weder die Göttin des Waldes noch die Natur, die mir halfen. Diese Energie kam von mir, aus einem tief verborgenen Winkel meines Geistes. Ich griff innerlich danach und hätte beinahe aufgeschrien, als eine unerwartet große Kraft durch meine Adern strömte.

Ohne lange nachzudenken schloss ich die Augen und stellte mir Marissas Verlies vor. Den kalten Steinboden, die kahlen, feuchten Wände und die massive Holztür.

Mein Verfolger fluchte laut und ich spürte, wie eine Hand meinen Arm streifte, während ich mich auflöste und verschwand.

Als ich die Augen erneut öffnete, befand ich mich im Kerker des Schlosses. Geschockt schnappte ich nach Luft, glitt zu Boden und umschlang meine Beine.

Nur knapp war ich entkommen. Anders als Marissas Vater. Der Fremde hatte ihn getötet, da war ich mir sicher.

Im Glauben, seine Tochter zu beschützen, hatte er sein Leben für mich gegeben.

Wie hatte das nur passieren können?

Auch wenn ich den alten Mann nicht gekannt hatte, traf mich sein Ableben schwer. Besonders da ich an dem Schicksal des Mannes schuld war. Ich kannte den Tod, dennoch hatte ich nie gelernt, ihn so leichtfertig hinzunehmen, wie meine Schwestern.

»Wie hatte der Mann das nur tun können?«, schluchzte ich erschüttert in die Dunkelheit. Und noch eine weitere Frage blieb.

Woher war diese Energie gekommen?

Nie zuvor hatte ich über meine Grenzen hinaus Magie verwenden können. Wenn meine Kraft erst einmal erschöpft war, dann dauerte es immer mehrere Stunden, wenn nicht sogar Tage, bis ich erneut einen Zauber wirken konnte. Ich überlegte, ob meine aussichtslose Situation und die Angst es mir ermöglicht hatten, die ungeahnte Kraftreserve freizusetzen. Doch das war nicht der richtige Ort, um mich damit zu befassen.

Noch immer schlug mein Herz wie wild in meiner Brust, während das Blut durch meine Ohren rauschte.

Ich brauchte einige Minuten, ehe ich mich halbwegs beruhigt hatte. Minuten in denen es völlig still in dem Verlies war.

Noch immer etwas zittrig sah ich mich um. Marissa war nirgends zu entdecken. Sie war tatsächlich nicht mehr hier.

Doch wo war sie dann?

Ich schob die Frage in den Vordergrund und versuchte, die schrecklichen Erlebnisse zu verdrängen.

Bevor ich auch nur weiter darüber nachdenken konnte, erklangen Schritte vor der Tür. Schnell schob ich mich in eine dunkle Ecke. Zu gern hätte ich mich wieder in eine Maus verwandelt, doch dazu war ich zu schwach. Die verborgene Kraftreserve war versiegt.

Ein Mann betrat das Verlies, derselbe, der Marissa das Essen gebracht hatte. Er blieb in der Tür stehen und sah sich suchend im Raum um, während ich mich so nah wie möglich gegen die Steinwand presste. Den Atem hatte ich angehalten und auch sonst versuchte ich möglichst kein Geräusch von mir zu geben.

Ich sah, wie seine Gesichtszüge sich skeptisch verzogen, er dann jedoch die Tür wieder schloss.

Erleichtert atmete ich tief aus.

Ich hätte nach Hause zurückkehren sollen und die Suche nach Marissa aufgeben müssen, doch das konnte ich einfach nicht. Irgendetwas war mit ihr passiert und ich wollte herausfinden, was es war.

Zudem musste ich ihr von ihrem Vater berichten. Sie hatte nun weder eine Familie noch ein Haus, in das sie zurückkehren konnte. Das einzige was ihr blieb, war ich und ich würde sie nicht im Stich lassen.

So leise wie nur möglich schlich ich zu der Holztür und versuchte sie zu öffnen. Zu meinem Glück war sie nicht verschlossen. Ganz behutsam drückte ich die Tür ein Stück weit auf und linste durch einen kleinen Spalt in den Gang dahinter. Ich konnte keinen einzigen Menschen entdecken, blieb zur Sicherheit jedoch noch einen Moment lang wo ich war, bevor ich die Tür schließlich weiter öffnete und hindurchschlüpfte.

Der schmale Gang wurde nur von einigen Fackeln an den Wänden beleuchtet, ähnlich wie in dem Verlies, aus dem ich gekommen war. Es gab zwei Wege, die ich einschlagen konnte. Einen links und einen rechts vor mir.

Angestrengt lauschte ich, ob irgendwoher Geräusche erklangen.

»Ich hatte doch gewusst, dass ich etwas oder besser jemanden gehört hatte«, sagte eine tiefe Stimme hinter mir.

Hastig wirbelte ich herum und erkannte den Edelmann aus dem Verlies. Aufrecht und mit erhobenem Schwert stand er vor mir, während ich ihn mit großen Augen ansah.

Seltsamerweise empfand ich keine Angst vor ihm.

»Was hattest du im Verlies verloren?«

Von Nahem wirkten seine Augen sogar noch blauer, als ich sie in Erinnerung hatte. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich ihm direkt in die Augen sah. Sein Blick war fest auf mich gerichtet, doch keine einzige Regung verriet mir, dass er mich als Fee erkannt hatte.

Ich hob meine Hände, um ihm zu zeigen, dass ich unbewaffnet war.

»Ich suche eine Freundin«, antwortete ich ehrlich.

Er runzelte fragend die Stirn, während er kurz mein langes, weißes Kleid und den dunkelblauen Umhang musterte.

»Du suchst deine Freundin in einem Verlies?«, hakte er nach und ich nickte.

»Wie heißt deine Freundin?«

»Ihr Name ist Marissa.«

Langsam ließ er sein Schwert sinken.

»Das Bauernmädchen, das Stroh zu Gold spinnen kann?«

Einen Moment lang zögerte ich, dieser Lüge zuzustimmen.

»Sie kann kein Stroh zu Gold spinnen«, korrigierte ich ihn.

»Ich habe es selbst gesehen.«

Er schien sich sicher zu sein, dass er die Wahrheit kannte. Doch ich wusste, dass es nur ein Trugbild war. Ich verzog abschätzig das Gesicht. Ich konnte mir den herausfordernden Tonfall nicht verkneifen.

»Was hast du gesehen? Goldfäden, wo vorher Stroh lag? Und ein Mädchen, das vor Angst sprachlos daneben stand?«

Irritiert blickte er mich an.

»Woher weißt du das?«

Ich schüttelte abwehrend den Kopf.

»Das spielt keine Rolle.« Ich wollte nur meine Freundin finden und von diesem Ort verschwinden. »Weißt du, wo Marissa jetzt ist?«

Langsam wurde ich ungeduldig. Ich wusste nicht, was mich diesem Mann gegenüber so forsch werden ließ, aber aus irgendeinem Grund war mir klar, dass er mir nichts tun würde. Seine Freundlichkeit gegenüber Marissa war ehrlich gewesen und ich hoffte, dass er immer noch bereit war, ihr zu helfen.

»Ich weiß, wo sie ist.«

Mein Herz machte einen Sprung. Er wusste, wo Marissa sich aufhielt und mit seiner Hilfe konnte ich sie hier herausholen.

»Aber ich kann dich nicht zu ihr bringen.«

Dieser eine Satz genügte, um meine aufkeimende Hoffnung wieder zunichtezumachen.

»Warum nicht?«

Skeptisch betrachtete er mich einmal von oben bis unten. Unter seinem intensiven Blick begann ich mich unwohl zu fühlen.

»Du bist eine Fee«, antwortete er schlicht, als wäre damit die Frage beantwortet.

»Na und?«

Er strich sich einmal mit der rechten Hand durch das schwarze Haar und seufzte.

»Feen sind im Schloss verboten. Der König fürchtet sich vor ihnen«, erklärte er.

Ich wusste, dass es Menschen gab, die sich vor unseren Kräften fürchteten und uns verachteten, obwohl sie dazu keinen Grund hatten. Das Bild meines Verfolgers tauchte vor meinen Augen auf, das Blut auf seinem Hemd.

»Wo ist Marissa?«, fragte ich nochmals energischer und versuchte mich erneut auf Marissa zu konzentrieren.

Kopfschüttelnd betrachtete der Mann mich und ein kleines Lächeln erschien auf seinen Lippen.

»Du wirst nicht aufgeben, egal was ich sage, oder?«

Fest entschlossen nickte ich.

»Gut. Ich werde dich zu ihr bringen, aber unter einer Bedingung«, sagte er mit einem breiten Grinsen. Unsicher darüber, was ich von seiner plötzlichen Hilfe halten sollte, sah ich ihn fragend an.

»Und die wäre?«

»Ich will einen Kuss von dir.«