Julzauber - Lilyana Ravenheart - E-Book

Julzauber E-Book

Lilyana Ravenheart

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Beschreibung

Wenn der Schleier zwischen den Welten besonders dünn erscheint... Wenn die Wintersonnenwende unsere Lebensfackeln neu entzündet... ...dann ist der Zauber von Jul spürbar. Vier Autorinnen der nordischen Phantastik laden zu einer Reise in winterliche Welten ein. Ob über schneebedeckte Wipfel oder gemütliche Festlichkeiten, ob mit altbekannten Charakteren oder neuen Freunden - diese Anthologie erzählt knisternde Geschichten mit dem Herzschlag des nordischen Feuers. Mit Bonusteil: Rezepte und Traditionen des Nordens!

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Lilyana Ravenheart, Helena Faye

Julzauber

BookRix GmbH & Co. KG80331 München

Impressum etc

 

 

 

Helena Faye, Lilyana Ravenheart, Skadi Lange und Sarah Skitschak

 

 

 

 

 

Julzauber – Anthologie nordischer Phantastik-Autoren zum Julfest 2019

 

 

Impressum

 

„Winterjagd“ und „Sífs Julschinken“

Copyright © 2019 by Sarah Skitschak FMBW Weltentod-Saga Sarah Skitschak, Schmale Gasse 2, 09648 Mittweida Lektorat „Winterjagd“: Stephanie Kempin

„Schneefeuergold“ und „Zwischen Jul und Weihnachten“

Copyright © 2019 by Helena Faye Eileen Kuhrmann, Steinstraße 83, 45968 Gladbeck Lektorat: Sarah Skitschak

„Jul kommt zur Nordsee“ und "Die Trollfamilie"

Copyright © 2019 by Skadi Lange Skadi Lange, Oberer Lautrupweg 25, 24937 Flensburg Lektorat: Eileen Kuhrmann, Sarah Skitschak„Ein Wolf zum Julfest“ und "Jul(klapp)"

Copyright © 2019 by Lilyana Ravenheart Lilyana Ravenheart, Stettinerstr. 22, 24537 Neumünster Lektorat: Stefanie Zainer

Buchgestaltung: Sarah Skitschak Umschlaggestaltung: Sarah Skitschak Jeder Autor haftet für seine eigenen Inhalte. Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf in irgendeiner Form (auch auszugsweise) ohne die schriftliche Genehmigung des jeweiligen Autors reproduziert, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand, Norderstedt

ISBN: 9783750408197

Vorwort

HELENA FAYE & SARAH SKITSCHAK Wenn der Schleier zwischen den Welten besonders dünn erscheint ...

 

Wenn die Wintersonnenwende unsere Lebensfackeln neu entzündet ...

 

... dann ist der Zauber von Jul spürbar.

 

 

Liebe Freunde der nordischen Mythologie und fantastischer Abenteuer,

 

Liebe Wortwanderer, Zeilenzähmer und Weltenentdecker,

 

Tapferes Leservolk!

 

Die lange Dunkelheit der kalten Tage zieht mit der Wintersonnenwende vorüber, führt die Herzen der Menschen enger zusammen und lässt uns besinnliche Abende verbringen. Schon unsere Vorfahren erkannten die Magie dieser Stunden und feierten in jenen Tagen ein besonderes Fest. Manch einer nennt es Jul, manch einer nennt es Weihnachten – wieder andere feiern die Wiederkehr der Sonne mit anderen Bräuchen. Doch eines haben diese Feste alle gemein: Sie erzählen eine Geschichte.

Die Geschichte des Lebens.

Es ist die Geschichte langer Traditionen dieser Feierlichkeiten, die Geschichte eines Abends, der niemals derselbe ist und sich doch wiederholt, ja, zeitgleich die Geschichte, die wir alle als Leben schreiben.

 

Auch wir Autoren haben unsere Tintenkleckse auf das Pergament jener unendlichen Geschichte geschrieben und nun wollen wir sie mit euch teilen. Denn wie alle Geschichten leben auch diese Abenteuer und Legenden davon, unter Menschen und Freunden erzählt zu werden.

 

In dieser Anthologie nehmen wir euch mit auf eine spannende Reise und entführen euch in magische Welten voller Liebe, Freundschaft und Traditionen.

 

Begegnet gemeinsam mit dem jungen Frey in den winterlichen Wäldern Thrymheims dem prachtvollen Hirsch Kaldgrani, rettet mit der Lichtelfe Tia die Dunkelheit vor ihrer endgültigen Auslöschung, steht Kaarina und Zebe bei ihrem ersten Kennenlernen zur Seite und lernt mit Gideon und Adrian die Hintergründe des Julfestes kennen.

 

Vier Texte über Rituale zur Wintersonnenwende geben euch zusätzlich einen Einblick in den heidnischen Ursprung von Weihnachten.

 

Lehnt euch zurück, greift zu Tee und Keksen, entspannt euch und erlebt mit uns zusammen …

 

Den Zauber von Jul!

 

~Helena Faye und

Sarah Skitschak

 

 

 

 

 

 

 

»Unter jedem seiner eisigen

Hufe begann das Land im Schnee zu

vergehen, während seine Tränen im

Atemfrost seiner magischen Macht

erstarrten und eine Spur aus Eisperlen

hinter ihm formten.

Jede Welt, die er aufsuchte,

verging im Eishauch

des Winters.«

 

 

 

 

 

 

 

 

Im Reich Ásgard steht das Julfest ins Haus und Freys Familie plant gemeinsam mit Síf ein gemütliches Fest. Doch der Abend soll bald von düsteren Gestalten aus alten Geschichten der Heimat Skadis in gänzlich andere Bahnen gelenkt werden.

Neun Hirsche tragen das Schicksal der Welten.

Doch was geschieht, wenn einer der Brüder seine angestammte Heimat verlässt?

Ohne Vorwarnung sieht sich der junge Frey mit dem Tod konfrontiert … und es stellt sich die Frage, ob die Grenze zwischen Dunkel und Licht womöglich nicht derart eindeutig ist, wie sie gemeinhin erscheint.

 

Eine Kurzgeschichte von Sarah Skitschak. Enthält Charaktere der Weltentod-Saga.

 

 

 

Winterjagd

SARAH SKITSCHAK

 

 

 

Dunkel umgibt

die eherne Esche;

nachtblau erscheint

das schleierne Tor;

Balder zerbricht

das goldene Licht,

schickt seine Strahlen

gen Ásgard empor.

 

 

Sanft sickerten Stimmen durch die warme Luft vor dem Kamin, verkündeten mit getragenen Gesängen die Freude über das anstehende Fest und hüllten mich in den Schleier ihrer Vertrautheit ein. Die Waldhütte spannte zufrieden ihr schützendes Dach über unsere Häupter und knarzte im Wind den Takt jenes Winters.

 

Und Glanz erfüllt

die wackeren Herzen;

Liebe will schließen

das schleierne Tor;

und Skinfaxi fand

in Hrimfaxis Land

Heim seines Herren

und mächtiges Fort.

 

Die Frauenstimme erhob sich über die ihres Gatten, der nur mehr leise zu brummeln begann und den Text des asischen Julfestliedes längst zwischen den Zeilen verloren hatte. Ich spürte die erhitzten Bodendielen unter den Fellen und knautschte die Kissen, auf denen ich lag. Die Geborgenheit in all diesen verlorenen Dingen, die Intimität in den Stimmen der Eltern und die Wärme in den Gerüchen meiner liebsten Habseligkeiten, ließen mich schläfrig das Geschehen wahrnehmen.

Just in diesem Moment fühlte ich den Zauber von Jul.

Ich beobachtete meine Mutter bei der Zubereitung eines Julnachtstranks. Der schwere Duft von Zimt und Met haftete wie eine Klette an der Atmosphäre unserer kleinen Hütte bei Thrymheim und ließ mich in Erinnerungen an vergangene Julfeste schwelgen. Viele Winter zählte mein Leben in jenen Momenten noch nicht und ich vermochte weder die Schriften zu lesen noch sonst den Sinn jenes Fests zu verstehen, doch die Farbe der Freude, das Gefühl für die Nähe und die Tradition der Familie hatte ich bereits in meinem Herzen verankert. Es war der Tag, an dem wir uns nicht um Sorgen scherten. Der Tag, da nur die Gemeinschaft mehr zählte.

Der Gesang meiner Mutter wandelte sich bald in ein Summen, während sie meinem Vater wohlahnende Blicke zuwarf und sich mit dem textlosen Brummen auf eine Wellenlänge begab. Die harmonischen Klänge ließen meinen Brustkorb in der Magie ihrer Stimmen vibrieren, sodass sich mein Herz unwillkürlich mit ihrem Rhythmus verband. Wie durch Zauber verwoben schienen Seelen und Körper, wie durch Glück gebunden galten Geist und Herz.

»Würdest du mir den kleinen Lederbeutel aus der Truhe im Flur holen, Njörd?«, durchbrach meine Mutter schließlich den Gesang der beiden, als die Flüssigkeit im Kessel über dem Feuer zu kochen begann. »Dort müsste noch unser letzter Zimtvorrat sein.«

Das Lächeln der weißhaarigen Frau ließ die Sommersprossen auf ihren Zügen wie lebendige Wesen erscheinen, offenbarte den scharfzüngige Charakter der Dame und verlieh ihren eisblauen Augen ein spöttisches Funkeln.

Skadi blinzelte.

»Oder verzichtet der edle Herr aus Vanaheim heute auf körperliche Anstrengungen und lässt sein Weib aus Jötunnheim alle Vorbereitungen treffen? Du weißt, dass die Eisriesen nicht mit dem Alkohol sparen …«

Mein Vater schlich in einer eleganten Bewegung um meine Mutter herum und legte die Hand kaum merklich auf ihren Rücken, ehe er den Schalk zu erwidern gedachte. Njörd giggelte, als hegte er den besten Witz seiner vanischen Wurzeln. Das Gesicht des Mannes schob sich von hinten an Skadis Ohr und flüsterte die Antwort, die selbst ein Vane wie er sich nicht zu verkneifen vermochte.

»Und aus ebendiesem Grunde habe ich lieber ein Auge auf unsere Getränke, meine Liebe. Wer weiß, was du in der Nacht der Liebe sonst noch im Schilde führst – geschweige denn, welches Jotengift du in deinen Tränken und Träumen brodeln lässt, Riesin.«

Ein Topflappen traf den Vanen auf dem Fuße.

»Ach, scher dich doch weg!«, lachte meine Mutter und schüttelte das handgehäkelte Tuch verdächtig in Kopfhöhe ihres Gatten. »Was soll denn unser Sohn von mir denken?«

Der Blick des Vanen fiel unwillkürlich auf mich und seine Züge wurden weich, als er die offensichtlichen Fragen auf meiner Miene für sich deutete.

Gift? Aber Mutter braut doch kein Gift? Und was sollen diese Andeutungen über die Riesen und Vanen bedeuten?

Wir sind doch alle gleich. Das sind wir doch, oder?

Unter Njörds kurzem Kinnbart kräuselten sich die Grübchen seiner Erheiterung, formten Berge und Täler der augenscheinlichen Amüsanz und nahmen dem sonst kantigen Gesicht mit den streng zurückgebundenen Haaren die Schärfe der vanischen Tugend. Er lächelte mich an.

Ich lächelte zurück.

 

Weder hatte ich den Scherz meines Vaters verstanden – noch verstand ich in ebenjenen Augenblicken auch nur im Ansatz, weshalb meine Mutter glaubte, ich würde nun schlecht von ihr denken … aber ich lächelte und reckte meine Arme nach oben, um die frohen Gefühle des Vanenmannes gänzlich für mich beanspruchen zu können. Wie ein Mantel bedeckte mich nun ein Schwall seiner Liebe und ich selbst liebte die Glückseligkeit in seiner Brust. Meine erwartende Haltung wurde mit einem weiteren Kichern quittiert, während mein Vater auf mich zuzuschreiten begann und im Schalk einen Finger der Ermahnung erhob.

»Dass du unserer Síf später bloß nicht erzählst, ich würde mich von einem Topflappen beeindrucken lassen. Deine Mutter ist eine gefährliche Frau, Frey«, sprach Njörd mit gespitzten Lippen und tippte mir mit dem Finger ungeschickt auf die Nase.

Das Schiefergrau seiner Augen blitzte im flackernden Licht der Flammen und tanzte im Schein der zahlreichen Kerzen, die in der Hütte am frühen Julmorgen aufgestellt worden waren. Eine ganze Weile lang erwiderte ich die Intensität seines Blickes, ohne selbst für mich einen Gedanken fassen zu können – dann die Erkenntnis:

»Síf kommt uns besuchen?!«, purzelte der fröhliche Ausruf aus meinem Munde.

Viel zu schnell sackten meine Hände aus der angedeuteten Umarmung zu Boden, wuselten sich in das dichte Schaffell zu meinen Füßen und kneteten ungeduldig die dichte Struktur, während mein gesamter Körper im Takt eines mir unbekannten Liedes zu schaukeln begann.

»Sie kommt, ja?«

Aufregung brauste durch mein Nervensystem, als würde ein gewaltiger Wintersturm in meinen Adern wüten und mein junges Gefühlsleben durcheinanderwirbeln.

Ja, ich liebte den Zauber von Jul!

Noch mehr liebte ich meine Tante Síf aus Valhöll, die zumeist am Hofe der Asen an ihre Pflichten als Gattin des Königssohnes gebunden war … und uns zu meinem Unglück nur selten bei Thrymheim besuchte.

Ich liebte die Art, mit der sie den asischen Hof stets bedachte.

Ich liebte ihre Art, alle Regeln des Hofs zu verwerfen.

Regeln waren mir seit jeher ein Graus gewesen und meine selbsternannte Tante bot mir als Kriegerin Ásgards hierin ein hervorragendes Vorbild für Freiheit.

»Hätte ich bloß nichts gesagt«, scherzte Njörd theatralisch und strich sich den imaginären Schweiß von der Stirn, um schließlich in einer eleganten Bewegung zu mir auf den Boden zu sinken und mich dabei an den Schultern zu packen. »Frey, du zappelst.«

»Dann lass ihn zappeln«, rief Skadi hinter dem kochenden Kessel. »Es ist Jul. Da tanzen die Narren.«

Ich ignorierte gekonnt das Gewicht auf meinen Schultern, verlagerte mich wie aufs Stichwort zur Seite und wippte weiter auf meinen Knien über den Boden, als triebe mich ein niemals stockender Zauber. Skadis Anweisungen waren mir seit jeher die liebsten gewesen und wie sollte man seiner eigenen geliebten Mutter auch einen Wunsch abschlagen, den man ja selbst im Herzen hegte? Zudem noch einen, der den regelverliebten Vater aufzog?

»Regeln sind langweilige Konstrukte, die dem Erhalt der Gesellschaft dienen sollen und meines Erachtens die Asen und Vanen bloß dazu treiben, in ihrer Langeweile weitere Kriege zu führen«, argumentierte ich stolz mit den Historienstunden und verdrehte indessen den neu erworbenen Wortschatz, den mich mein Vater noch am Frühmorgen lehrte. »Aber … Vater … was sind eigentlich Narren und weshalb sagt Mutter, sie tanzen an Jul?«

»Offensichtlich bin ich einer«, grunzte Njörd beleidigt und vermochte in seiner Erkenntnis kaum, das schallende Gelächter meiner Mutter mit seinen Worten zu übertönen.

»Selbst schuld«, tönte ihr Spott hinter dem Feuer. »Du hast ihn diese Worte gelehrt.«

»Ich habe ihn nicht gelehrt, sie auf diese Weise zu verwenden!«

Das entsprach tatsächlich der Wahrheit, nur war ich seit jeher gewieft in meinen Argumentationen gewesen und hatte die Fähigkeit zur Diskussion höchstwahrscheinlich von meinem Vater geerbt. Sie war mir schlicht in die Wiege gelegt worden … und ich konnte nicht verstehen, weshalb dieser Umstand etwas Schlechtes verheißen, ja, weshalb mein Vater sich so in seine Reden hineinsteigern sollte, da ich doch bloß seine eigenen Worte verwandte. Ich – für meinen Teil – verspürte die größte Freude im Gespräch mit dem Vanen, der ja doch immer wieder über seine eigenen Regeln zu stolpern pflegte und mich daraufhin für meinen Witz im Geheimen verfluchte.

 

»Tanzt du mit mir?«

»Was?«

Die Miene des Vanen wandte sich abermals zu mir, als er meine Frage vernahm und deren Grundlage offenbar nicht verstand. Ich legte meine Arme um seinen Körper, scheiterte im lächerlichen Versuch, die Hände hinter dem Rücken zusammenzuführen, und presste mein Gesicht an seine lederne Rüstung, die in der Hitze des Feuers selbst die Temperatur der Flammen in sich zu tragen schien. Wie glühendes Eisen brannte das Leder auf meiner Haut, doch ich band mich mit unnachgiebigen Ketten an Njörd und suchte die Nähe hinter der Kleidung.

Lange sehnte ich mich nach dem Geräusch seines Herzschlags. Die Panzerung errichtete eine undurchdringliche Mauer zwischen unseren Körpern, sperrte mich vor eine eiserne Tür aus zwischenmenschlicher Distanz und ließ mich nicht hinter die Pforten blicken.

Oh, wie sehr ich diese Rüstung verabscheuen wollte! Wie sehr ich ihn an mich drücken wollte, ohne auf eine harte Mauer zu stoßen!

Mein Vater war ehemaliger Kommandant am Hof dieses Landes … und an Festen wie Jul hatte er im Zweifel der Gefahr in der goldenen Feste Valhöll seine Dienste zu leisten. Ein Umstand, dessen ich mir bereits in meinen ersten Jahren bewusst gewesen war.

»Ich hab dich lieb«, flüsterte ich, ohne an die Mauern zu denken.

Njörd schloss mich ebenfalls in seine Arme und drückte meinen kleinen Körper fester an sich, als wollte er mich mit seinen Soldatenkräften zerquetschen und auf diese Weise für sich vereinnahmen können. Er war ein Mann von drahtiger Statur und wahrlich kein Berg wie die Krieger der Asen – doch hinter dem kantigen Leib und den dürren Zügen in seiner Miene schlummerte eine Kraft, die für mich als unübertreffbar galt.

Er küsste mich auf die Stirn.

»Was ist los, Frey?«, fragte er und legte seine Züge in Falten der Besorgnis. »Bist du traurig?«

»Wenn an Jul die Narren tanzen und du einer bist – warum tanzen wir nicht?«

»Weil ich außerdem zwei linke Füße habe.«

Meine Augen nahmen die Größe von Wagenrädern, als ich mir sein Geständnis vor Augen führte und die unsäglichen Qualen seiner Füße in meinen Fantasien vorstellte. Die Schmerzen beim Aneinanderschlagen der Beine im Lauf oder die Schwierigkeiten beim bloßen Gehen … all die Dinge, die mir bisher nicht bewusst gewesen waren. Wie sollte man auch mit zwei linken Füßen leben? Welcher Schuhmacher fertigte ein solches Paar?

»Das tut mir sehr leid«, murmelte ich. »Das wusste ich gar nicht.«

 

 

 

 

 

 

 

 

Das Lachen meines Vaters hallte noch minutenlang durch die abendlichen Flure, als wir durch die Tür der Holzhütte ins Freie traten, und wurde selbst noch in jenen Momenten unterdrückt, da wir längst nach Tante Síf Ausschau hielten. Auf der Lichtung vor unserer gemütlichen Behausung war es bereits so dunkel geworden, als hätte die Julnacht mit ihren schneeschwangeren Wolken die Welt Ásgard mit ihrer Schwärze geküsst und jegliches Sternenlicht fortgenommen. Die Tannen zeichneten sich in dunkleren Schatten vor dem Dunkel des Himmels der Lande Thrymheims und muteten indessen wie scharfe Scherenschnitte eines asischen Hofkünstlers bei Festivitäten an.

Sanfte Flocken trieben und trudelten durch die Kühle, zogen verspielte Kreise umeinander und schienen einen getragenen Reigen zu tanzen.

Da waren sie also, die Narren von Jul!

Die Schneeflocken tanzten im Narrenspiel um unsere Häupter und verwandelten meinen schmollenden Blick erneut in eine Miene, die von Aufregung über den Julzauber zeugte und das Herz in Frohmut zum Stolpern brachte. Vergessen waren die beleidigten Gedanken, die mir ob des Missverständnisses und des Gelächters gekommen waren.

Wir traten auf die unberührte Schneefläche hinaus und blickten suchend in die schlanken Schatten der Bäume der Thrymwälder, blickten umher, suchten im Süden und fanden doch keine Zeichen von Síf. Die Aufregung trieb mich zum Ungestüm, schickte mich im Lauf über das Herz der Lichtung vor unserer Hütte und ließ mich die schwebenden Schneeflocken jagen.

In meinen Augen fühlte ich den Glanz der Vorfreude. In meinen Füßen bald schon die Winterkälte.

»Sei vorsichtig, Frey!«, hörte ich Vater noch rufen, als ich mich in Richtung des Brunnens begab und zwischen den Schneehügeln nach den Eisbahnen suchte. »Es ist glatt dort hinten!«

Ich ignorierte den Ruf.

Ich schlidderte.

Dann spürte ich den Schnee im Gesicht.

Abertausende kleine Nadeln gruben sich kalt in meine Züge, ließen mich nur mit Mühe die Tränen halten und das Blut knallrot in meine Miene schießen. Verdutzt ob des plötzlichen Positionswechsels blieb ich eine Weile an Ort und Stelle, als hätte mich der Winter Ásgards zu einer Eisskulptur erstarren lassen und jeglicher meiner Regungen beraubt.

»Er hat dir gesagt, dass es hier glatt ist«, tönte eine rauchige Frauenstimme über der Schneedecke.

Síf?

Noch ehe ich eine zufriedenstellende Theorie in Gedanken zu finden vermochte, bohrte sich eine Hand von oben in meinen Mantel und befreite mich aus meiner misslichen Lage. Schon baumelte ich wie ein nasser Sack in den Armen einer kleinwüchsigen Dame aus Ásgard, deren blonde Locken unter einer Kapuze versteckt waren … doch deren Erscheinungsbild so unverwechselbar war wie die Farbe der Stimme: einmalig, individuell oder gar spitzbübisch provozierend.

Eine Stimme, die unter Tausenden ihresgleichen suchte.

Asengrüne Augen blitzten mir spöttisch entgegen und ließen kleine Fältchen über den Wimpern erscheinen, während ein süffisantes Lächeln den Mund umspielte.

»Hallo, Kleiner«, knarzte sie.

Die Kriegerin neigte den Kopf.

»Hallo, Síf!«, jauchzte ich und umarmte in meiner unglücklichen Position nur ihr Gesicht. »Hast du mir etwas mitgebracht?«

Meine goldenen Augen musterten die Dame von oben bis unten, versuchten die Reglosigkeit ihrer Lippen zu deuten und schlossen sich in Bedauern, als ich schon nicht mehr an ein Mitbringsel glaubte. Seit jeher hatte mir Síf Geschenke aus dem Königshaus mitgebracht und nicht ein einziges Mal meine Neugier enttäuscht. Nun … sollte es ausgerechnet an Jul so weit sein?

»Etwa nicht?« – Die Ernüchterung war unüberhörbar.

Der gütige Blick der Kriegerin Ásgards umspülte mich wie warmer Bienenhonig und hüllte mich in eine tröstende Decke des Mitleids, die mich in gewohnter Manier wie ein Mantel umschlang. Síf setzte mich in den Schnee und begann in scheinbarer Bestürzung der Erkenntnis die Taschen ihres Gewands zu durchwühlen, als hätte sie den Schlüssel zur Rüstkammer verlegt.

Ihr gespieltes Entsetzen verflog jedoch bald. Die nach oben wandernden Mundwinkel kräuselten die rotgefrorenen Backen.

»Du glaubst doch nicht, ich hätte dich tatsächlich vergessen, Frey, oder?«, lachte mir ihre Stimme entgegen. »Du kennst mich doch. Natürlich habe ich ein Geschenk für dich.«

 

Aus einem Fellbeutel an ihrem Waffengürtel zog die Frau ein sorgsam verschnürtes Päckchen aus Ahornblättern und legte es mir in die Hände, die sofort an der Verpackung herumzunesteln begannen. Die orangefarbene Färbung der Blätter hatte mein Interesse geweckt und ließ mich bereits beim ersten Besehen vermuten, dass es sich um eine eigens angefertigte Verpackung der Handwerker Nidavellirs handeln musste.

Wie Adern zogen sich die roten Gefäße des Baumes durch die fleischigen Blattfinger, wie ein Relief hoben und senkten sich die Strukturen auf dem Paket und ließen mich über die ungewöhnliche Formgebung staunen. Heller Blutahorn aus der Welt der Zwergenmänner … aus der Welt der Schmiede und Schmiedekünstler!

»Ist es ein Schwert?«, fragte ich. »Ist es ein Schwert? Bitte, sag mir, dass es ein Schwert ist!«

Die Asenfrau schmunzelte.

»Es wäre reichlich klein für ein Schwert, denkst du nicht?«

»Ein … Kinderschwert?«, tat ich meine sterbende Hoffnung kund und gab nichts auf taktvolles Lügenspiel.

»Mach es auf.«

Das Nicken der Frau aus den Mittellanden des Reiches drängte mich, doch die Fragerei für einen Moment einzustellen, endlich die letzten Blätter der Verpackung zu entfernen und den geschwungenen Gegenstand im Herzen des Pakets zu enthüllen.

In den Fingern des Ahorns lag es nun: Wie aus dem Licht der Sterne Alfheims geformt und den fähigsten Schmieden der Dvergar gefertigt, ergoss sich die Silhouette eines Messers zwischen den bunten Blättern, als hätte man das Metall unter Hitze verflüssigt. Die Kurven der Schneide zogen die Form derart sanft, dass man nicht an die kalte Härte einer Klinge zu glauben wagte und doch bei sanfter Berührung des Eisens die Materialbeständigkeit wahrnehmen sollte.

Scharf war die Schneide. Kunstvoll der hölzerne Griff.

Feuergeschwärzte Runen zierten das Material aus den Minen der Zwerge und schienen leise eine Zaubermelodie anzustimmen, deren Sprache mir unbekannt war. Ich fühlte das Vibrieren im Schaft jener Waffe – die unverfälschte Musik der Magie und den Puls der jahrhundertealten Erfahrung des Schmieds, der ebendieses Stück für mich angefertigt hatte.

»Das ist …«

Meine Augen leuchteten, als ich das Messer in den Händen wog.

»Das ist so wunderschön! Danke, Síf! Danke, danke, danke!«, japste ich glücklich.

»Es gefällt dir also, ja?«, knarzte die Asin augenzwinkernd. »Obwohl es kein Schwert ist.«

Ohne weitere Worte fiel ich der Frau um die Beine und drückte sie an mich, als könnte ich die letzten Luftmoleküle zwischen uns mit meiner eher mageren Kraft entschwinden lassen. Eine Hand an meinem Hinterkopf zupfte die Wollmütze wieder in Position, die sich in der Hast um ein Haar ebenfalls in den schmutzigen Schnee nahe des Brunnens begeben hätte … und deren Verlust mir Mutter Skadi ewig vorhalten würde.

Es war mir gleich.

Ein Gefühl der Wonne breitete sich in meiner Magengegend aus und füllte meine Adern mit dem flüssigen Gold der Glücksgefühle, die mir allein bei dem Gedanken an meine neueste Errungenschaft durch den Körper jagten.

Hei, das ist ein frohes Fest!

 

Hinter mir knirschten die Schritte des Vanen im Schnee und trugen seine Eile durch die Winterluft, während er den Gruß an meine Tante bereits im Näherkommen ausrief. Vor mir begannen sich die steifgefrorenen Beine der Dame zu regen und das Geräusch ihrer Stimme übertrug sich zwischen unseren Körpern wie ein Lied unter Wasser. Ich spürte die Wellen der Laute wie die Wellen der stürmischen See Vanaheims – als würde ich die Stimme mehr fühlen denn hören und die Umwelt mit der nächsten Bewegung der Dame hinter Sífs schweren Umhang zurückdrängen können.

Dumpf klangen die Worte. Doch die Freude klang hell.

»Freut mich, dich wiederzusehen, alter Freund«, scherzte Síf und gedachte in zunehmend verzweifelter werdenden Versuchen, die Klette an ihrem Bein mit den Händen zu lösen.

»Zeig deinem Vater, was du geschenkt bekommen hast, Frey«, ermutigte sie.

Dann wurde es hell.

Der Mantel hatte den Schnee für einen Moment abgedunkelt und ließ mich nun gegen eine weiße Kältefront blinzeln, aus der mir das Gesicht eines Vanen wie ein Unheil verkündender Schatten auf Höhe des Kopfes entgegenlinste. Aus der Nähe betrachtet mutete die Stirnfalte des Mannes viel größer an – so dachte ich heimlich bei mir und reckte meinem Vater das Messer entgegen.

»Das hast du bekommen?«, fragte er skeptisch.

Obgleich ich mich die geringe Distanz zu ignorieren bemühte: Sein Mund erinnerte plötzlich an die Lippen eines luftblubbernden Hechts an Land, während seine Stirn mir bisher unbekannte Wellenformen warf und sich in der Mitte zu einem schiefen Dach kräuselte. Das Gesicht erhob sich rasch in die Höhe und wandte sich Síf zu, die sich verstohlen auf die eigenen Lippen biss.

»Ist das ein Schnitzmesser, Síf?« – die ungläubige Frage.

»Überraschung!«, rumpelte es nur aus der Kehle der Asin.

Just in diesem Moment ahnte ich den drohenden Konflikt zwischen den beiden, der in den unterschiedlichen Ansichten ihrer Wurzeln begründet war und dem es meist schnell zu entgehen galt … wäre da nicht Sífs Hand an meinem Mantel gewesen.

»Du kannst ihm nicht einfach eine Waffe in die Hand drücken und glauben, es wäre ein Kinderspielzeug, Síf!«, polterte Njörd. »Der Krieg ist kein Spiel. Als ich in seinem Alter war, hatte man mich längst in der Schwertkunst ausgebildet und in die Straßenkriege zwischen Gullveig und den Demokraten geschickt.«

Sífs Hände stemmten sich sogleich in die Hüften, als sie den rüden Tonfall vernahm und sich in ihrer Position infrage gestellt sah. Ich duckte mich unter ihren Ellenbogen, klammerte mich an ihren Ärmel und harrte im Stillen auf eine Rettung durch Mutter.

»Und? Hast du dich versehentlich mit einem Langschwert aufgespießt?«, seufzte Síf sarkastisch.

»Nein? Natürlich nicht!«, rief Njörd da schon aus.

»Na siehst du. Zudem ist es nur ein Schnitzmesser und kein Langschwert, Vane.«

»Ein Messer ist eine Waffe.«

»Nornendreck noch eins! Bei Thrymheim gibt es weit gefährlichere Dinge als dieses kleine Messerchen. Ist es nicht besser, wenn er sich selbst verteidigen kann?«

»Ich dachte, es sei nur ein Schnitzmesser, Síf! Nein. Er bekommt eine Waffe, wenn er verstehen kann, was der Tod wirklich bedeutet. Ich verweigere es ihm weder aus Böswilligkeit noch, weil ich nicht an seinen korrekten Umgang damit glauben würde. Er hilft bei der Jagd. Ich weiß, was er versteht. Und ich sage dir, ein Messer ist kein Spielzeug.«

 

Abermals neigte sich der Kopf des Mannes, während sich sein Körper in die Hocke begab und somit die fehlenden Meter zwischen uns überbrückte. Seine Augen verharrten auf der Höhe meiner Augen, seine Handfläche zeigte zum Himmel wie die sockelförmige Auflage eines Opferaltars und seine Gestik signalisierte mir, mein Geschenk in seine Hände zu legen.

Ich wollte das Schnitzmesser nicht wieder verlieren. Ich wollte es behalten. Kein schöneres hatte ich jemals gesehen.

Doch der Blick des alten Vanen war so unnachgiebig wie die Unumstößlichkeit des soeben genannten Todes, dessen Bedeutung ich vor Langem über seine Erzählungen verinnerlicht hatte.

Der Tod – ein steter Begleiter des Lebens – war uns ein gut bekannter Freund aus fernen Landen, der die Lebenden so manches Mal unangekündigt besuchte und meist einen der Ihren mit sich in die Ferne zu führen pflegte. Wer mit dem Tod ging, kehrte nicht wieder. Wer mit dem Tod ging, tafelte bei der Hel. Die Alten hatten viele Geschichten über seine Schatten geschrieben, viele Legenden aus Faltenmündern oder mit jungen Stimmen kundgetan und mir die Angst vor seinen Besuchen genommen; denn sonst wäre er ganz alleine dort draußen, der gute Freund, der einsame Tod.

Aber das Julfest mit seinen flackernden Feuernächten, den rauen Wintern und warmen Stuben der liebenden Eltern – das Julfest war doch ein Fest der Freude und den Erzählungen nach auch ein Tag des Lebens!

»Frey, lass uns bitte heute nicht streiten. Du bekommst es wieder, das verspreche ich dir.«

Die Stimme meines Vaters riss mich aus den Gedanken.

Mit brennenden Augen und bebenden Händen hob ich den lieb gewonnenen Schatz in die Höhe, legte ihn schniefend auf die Handfläche des Vanen und blinzelte Tropfen der Trauer über die Wangen. Die salzigen Perlen bahnten sich einen Weg zu meinem Kinn und sammelten sich dort im Schal meiner Mutter, den sie mir trotz der unleugbaren Übergröße des Stoffes vor einem Jahr zu Jul vermacht hatte.

Einen kurzen Moment blickte ich Njörd still in die Augen.

Ich wusste um seine Sorgen und die Liebe zur Regel.

Ja, ich hätte in diesem Augenblick auch gehorcht …

… wäre da nicht sein eigener Blick weich geworden und der Fluch ob seiner eigenen Gefühlswelt in Form eines Brummens von innen gegen die Lippen des Mannes geprallt.

»Nun gut, eigentlich ist es kein großes Messer und du weißt ja, wie man den Griff richtig hält«, brummte er. »Gib gut darauf acht und hüte dich vor der Klinge. Das ist eine große Verantwortung, die Síf dir heute vermacht.«

 

 

 

 

 

Das Knistern des Feuers erfüllte die Luft in der Hütte mit dem Klang dieser Julnacht und jagte den Zauber Ásgards in britzelnden Blitzen über meinen Rücken, den ich noch immer fröstelnd den Flammen zugewandt hatte. Die nasse Kleidung hatte man längst gegen trockene eingetauscht, die Schuhe vor den Ofen auf ein Holzbrett gestellt und Mütze wie Schal direkt daneben auf einem Schemel platziert. Dennoch haderte mein kleiner Körper noch mit der Hitze des Hauses und schien wie eine Skulptur aus Eis bloß langsam an den prasselnden Lohen zu tauen.

Die Entspannung kam mit dem Bewusstsein: Alles wie immer.

Zimt und Nelken schwebten in geistergleichen Noten durch den Raum, als hätte man den Winter Ásgards in eine Wolke aus Düften gefasst und ebendiese Wolke über unseren Köpfen platziert, um uns in regelmäßigen Abständen mit ihrem magischen Aroma zu fesseln. Auch mich hatte der Duft des Winters im Griff und ließ mich die Diskussion um das Messer vollkommen hinter einen Schleier aus Metdüften drängen.

Eine Fessel aus Erinnerungen an die vergangenen Feste?

Nein, ich fühlte mich gern in der Freude gefangen und als Fessel empfand ich das Vergessen des Streits keineswegs.

Warum auch sollte man an traurige Dinge denken?

Man saß in einer gemütlichen Runde bei Tisch, erzählte Geschichten aus den fernen Reichen der Höll, erzählte und erzählte und erzählte weiter, sodass man am Ende der Erzählungen glaubte, die Alten seien nie getrennt voneinander gewesen und hätten jedes Detail der Geschichten mit eigenen Augen gesehen, jedes Scherzwort und jeden ernsten Vorfall bei den Toren der Höll mit eigenen Ohren vernommen. Njörd, Síf und Skadi plauderten heiter, während ich bloß am Rande den politischen Ereignissen lauschte und mich stattdessen auf die zahlreichen Speisen auf dem Tisch fokussierte.

Die Familie war beisammen.

Das Julbord hatte begonnen.

Traditionell tafelte man im Hauptraum der Stube an einem schiefen Tisch aus Eschenholz, reichte den gewürzten Met in großen Bechern von Händen zu Händen und teilte sich mit den Frohgemütern Juls sowohl die Worte als auch den heiß geliebten Honigwein Skadis. Auf der Tischplatte türmten sich selbst gebackene Kräuterbrote wie skurrile Skulpturen oder gar Steinkunstwerke. Fremde Gewürze aus fernen Welten versetzten den Dampf der Teiglinge mit dem Geschmack der kreisenden Abenteuer, die jedes Jahr von Mund zu Mund getragen und so manches Mal von Njörd besungen wurden. Gesprungene Schüsseln mit Apfelkompott zeugten von der mangelnden Feinmotorik meiner Mutter, ließen Erinnerungen wie reale Dampfwolken aufsteigen und tauchten einige Blicke in die Farbe des Lächelns.

Wurst und Hering machten die Runde. Allerlei Gerüche zogen vorbei.

Doch ein jeder schielte zur Mitte des Tisches, auf der unser König des Julfestes thronte: Sífs Julschinken lag auf einer gläsernen Platte zwischen Pflaumen, Rotkraut und Karamell-Zimt-Äpfeln, und mutete mit der goldgesprenkelten Salzkruste tatsächlich wie eine gekrönte Mahlzeit an.

 

»Darf man eigentlich fragen«, begann Skadi kauend, »wo du den diesjährigen Braten geklaut hast? Die Vorratskammern Valhölls dürften nach den Jahren der Plünderung durch deine Wenigkeit längst an ihre Grenzen gelangt sein, wenn mich die Erinnerung der letzten Jahre nicht trügt.«

Ihr eisblauer Blick bohrte sich in die Augen der Asin und blitzte spöttisch auf, als diese den scherzhaften Seitenhieb in Empörung vernahm.

»Ich habe nicht geklaut!«, behauptete sie wahrheitsgemäß. »Ich habe nur nicht gefragt. Das ist ein Unterschied.«

Das Entsetzen ihrer Stimmfarbe löste auch in mir eine Welle der Erheiterung aus und so begann ich zu kichern, noch ehe man mir die Ohren zuzuhalten vermochte. Ich sah die trockene Ernüchterung in der Miene des Vanen und prustete: »Danke für die Bestätigung, Síf!«

Wenngleich mir viele Andeutungen der Alten noch nichts sagen wollten, so hatte ich doch die List der Dame verstanden und erkannte meine eigenen Strategien darin. Womöglich war sie in meinen ersten Jahren sogar Lehrmeisterin und Vorbild in all diesen Dingen gewesen, denn meine Fähigkeiten im Drehen und Wenden der Regeln, im Biegen und Brechen – nun, die grenzten an Perfektion.

Wer bezeichnete es schon als Diebstahl, das Nehmen in eigenem Hause?

Im Hause der Höll galt Síf als Mitglied der königlichen und höchsten Familie des Asenvolkes, die in ihrer akademischen Versessenheit und ihren blaublütigen Theorien die Regeln und Rangfolgereihen derart hochschätzten, dass eine Bestrafung des eben genannten Verhaltens wohl dem Verhöhnen des asischen Codex gleichgekommen wäre.

»Hör da bloß nicht hin, mein Sohn«, mahnte Njörd nun beschwörend.

Seine Augenbrauen berührten sich indessen unter den Stirnrunzelfalten, während die Pupillen wie Splitter eines Quecksilberspiegels von unten aus dem Schatten linsten.

»Síf hat das niemals gesagt.«

Doch, das hatte sie. Und wie sie das hatte!

»Man biegt keine Regeln.«

Ha! Und ob man das tut!

Das verschwörerische Zwinkern der Damen des Hauses nahm wie die Kometen in Himmelsfallnächten auf eine beinahe unnatürlich hohe Anzahl zu, doch wurden die wohlmeinenden Aussagen des Vanen mit gestelltem Lächeln und Nicken bestätigt. Schlau genug war ich, die Lüge hinter den Fassaden vor dem Kinde zu sehen. Gewitzt genug war ich, mir meinen Teil stumm zu denken und Komplizen nur in den Reihen der Frauen zu suchen.

 

Wie von den Dielenkobolden des Hauses gezwickt erhob sich die kleine Asin von ihrem Platze, fischte nach einem Ausbeinmesser am Rande des Tisches und machte sich grinsend an ihrem Schinken zu schaffen. Scheibe um Scheibe schnitt die scharfe Klinge das saftige Fleisch auseinander und ließ kleine Wölkchen aus der Fettkruste steigen.

Von Gier, von Lust und purer Vorfreude getrieben, fixierte man nun das traditionelle Gericht aus Valhöll, fuhr sich ungeduldig über die Lippen und beobachtete das alljährliche Schauspiel mit Wonne.

Oh ja, ich liebte den Schinken an Jul!

Wenngleich die Kriegerin Síf niemals die Fähigkeit des Kochens erworben hatte, so war dies ein Gericht von ungewöhnlicher Klasse und führte stets zu Sehnsüchten nach diesem Gut – war zudem das einzige Gericht, welches die Dame beherrschte. Selbst Njörd, der nach vanischer Kochkunst auf eine fisch- und gemüselastige Küche baute und bitteren Geschmack den Süßspeisen vorzog … ja, selbst Njörd konnte am Julfest kaum an sich halten.