Die Marketenderin von Köln - Levin Schücking - E-Book

Die Marketenderin von Köln E-Book

Levin Schücking

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Beschreibung

Überarbeitete und kommentierte Fassung Ein historischer Roman aus dem alten Köln und dem gebirgigen Westfalen. Es treten auf: eine Marktfrau, ein fauler Student, ein schießwütiger Baron und lauter andere komische vom Autor wunderbar ausgemalte, wunderliche Figuren. "Glänzende Poesie in Gedanken und Stil nebst (einem liebenswürdigen, oft ironisch durchsetzten) Humor" [Annette von Droste-Hülshoff] Null Papier Verlag

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Seitenzahl: 451

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Levin Schücking

Die Marketenderin von Köln

Historischer Roman

Levin Schücking

Die Marketenderin von Köln

Historischer Roman

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2024Klosterstr. 34 · D-40211 Düsseldorf · [email protected] 2. Auflage, ISBN 978-3-954187-61-4

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Edi­to­ri­sche An­mer­kun­gen

Ers­tes Ka­pi­tel-- Ein Pro­fes­sor und ein Stu­dent der Uni­ver­si­tät Köln

Zwei­tes Ka­pi­tel -- Was der Stu­dent und das jun­ge Mäd­chen in dem al­ten Hau­se ent­deck­ten

Drit­tes Ka­pi­tel -- Jung­fer Traud

Vier­tes Ka­pi­tel -- Ein Op­fer der Ne­me­sis

Fünf­tes Ka­pi­tel -- Der Reichs­frei­herr von Aver­donk und sein Schloss Du­den­ro­de

Sechs­tes Ka­pi­tel -- Wo­rin dem Stu­den­ten Aus­sich­ten in die Zu­kunft er­öff­net wer­den

Sie­ben­tes Ka­pi­tel -- Frau Geb­har­de und ihr Nef­fe

Ach­tes Ka­pi­tel -- Der Vogt zu El­sen und sei­ne Häus­lich­keit

Neun­tes Ka­pi­tel -- Der Reichs­vor­fech­ter in säch­si­schen Lan­den

Zehn­tes Ka­pi­tel -- Un­ters Mi­li­tär!

Elf­tes Ka­pi­tel -- Ent­hül­lun­gen. Der Ös­ter­rei­cher weicht, der Fran­zo­se rückt ein, und der Preu­ße er­freut sich des Schau­spiels

Zwölf­tes Ka­pi­tel -- Der neue Jä­ger­meis­ter

Drei­zehn­tes Ka­pi­tel -- Die Ge­heim­nis­se von Schloss Rup­pen­stein

Vier­zehn­tes Ka­pi­tel -- Der Flucht­plan

Fünf­zehn­tes Ka­pi­tel -- Die bei­den Ret­ter und eine Ka­ta­stro­phe

Sech­zehn­tes Ka­pi­tel -- Die Frau ist zu dumm

Sieb­zehn­tes Ka­pi­tel -- Selt­sa­me Rei­se­ge­fähr­ten und eine selt­sa­me Her­ber­ge

Acht­zehn­tes Ka­pi­tel -- Die Er­zäh­lung des al­ten Barons

Neun­zehn­tes Ka­pi­tel -- Das Ge­richt

Zwan­zigs­tes Ka­pi­tel -- Die Mar­ke­ten­de­rin und ihr Korps

Ein­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel -- Bei­la­gen und Do­ku­men­te

Dan­ke

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Ihr Jür­gen Schul­ze

Klas­si­ker bei Null Pa­pier

Ali­ce im Wun­der­land

Anna Ka­re­ni­na

Der Graf von Mon­te Chri­sto

Die Schat­zin­sel

Ivan­hoe

Oli­ver Twist oder Der Weg ei­nes Für­sor­ge­zög­lings

Ro­bin­son Cru­soe

Das Got­tes­le­hen

Meis­ter­no­vel­len

Eine Weih­nachts­ge­schich­te

und wei­te­re …

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Editorische Anmerkungen

Ich habe den Text be­hut­sam in die ak­tu­el­le Deut­sche Recht­schrei­bung über­tra­gen, da­von un­be­rührt blie­ben na­tür­lich alle Pas­sa­gen in Köl­scher Mund­art.

Jür­gen Schul­ze, Ver­le­ger, 2016

Erstes Kapitel-- Ein Professor und ein Student der Universität Köln

In ei­ner der schma­len und düs­te­ren, aber da­zu­mal nicht wie heu­te von Le­ben und Be­we­gung er­füll­ten, son­dern sehr stil­len, gras­be­wach­se­nen und schmut­zi­gen Stra­ßen der al­ten frei­en Reichs­stadt, der hei­li­gen drei­ge­krön­ten Co­lo­nia -- an ei­ner Ecke, wel­che durch eine noch viel schmä­le­re, hier ein­mün­den­de Gas­se ge­bil­det wur­de, lag am Ende des 18. Jahr­hun­derts eins je­ner schö­nen ma­le­ri­schen al­ten Häu­ser, die heu­te das Ent­zücken ei­nes kul­tur­his­to­risch ge­bil­de­ten Men­schen von künst­le­ri­schem Ge­schmack und die Verzweif­lung des­sen bil­den, der ver­ur­teilt ist, in solch ei­nem en­gen, schief­win­ke­li­gen, dun­keln, zu­gi­gen, un­ge­müt­li­chen Kas­ten zu woh­nen. Wir ver­schwei­gen die Num­mer des Hau­ses, las­sen dem Le­ser die Wahl zwi­schen Hoch­stra­ße, Mi­no­ri­ten-, Bu­den- oder Recht­schul­stra­ße und deu­ten als wei­te­re Kenn­zei­chen nur an, dass be­sag­tes Haus, wie zu prak­ti­schem Ge­brau­che ein­ge­rich­te­te Häu­ser pfle­gen, un­ten eine Tür hat­te und da­ne­ben zwei Fens­ter. Das­je­ni­ge, wel­ches der Tür zu­nächst lag, zeig­te hin­ter Schei­ben von be­schei­de­ner Grö­ße eine Aus­s­tel­lung von sin­nig ge­ord­ne­ten Pro­duk­ten fer­ner Län­der und Völ­ker­schaf­ten, als da sind: ei­ni­ge Glas­scha­len voll grün­lich-grau­er Früch­te des be­rühm­ten ara­bi­schen Kaf­fee­strau­ches; gel­be Kist­chen, wor­auf für je­der­mann, der nur ei­ni­ger­ma­ßen in der chi­ne­si­schen Spra­che und Schrift­kun­de be­wan­dert war, mit großen Buch­sta­ben deut­lich zu le­sen stand, dass dar­in der al­le­rech­tes­te Kai­ser­tee ent­hal­ten; da­ne­ben Kör­be mit je­nen für ju­gend­li­che Phan­tasi­en ge­fähr­li­chen ge­trock­ne­ten Früch­ten, die un­ter dem Na­men Ko­rin­then, Ro­si­nen von Mála­ga und Fei­gen von Smyr­na in den Han­del kom­men, und fer­ner eine klei­ne Py­ra­mi­de der gol­dens­ten Äp­fel von Sie­na. Ne­ben die­sen la­chen­den Pro­duk­ten des Pflan­zen­reichs fer­ner Zo­nen zeig­ten sich die weit we­ni­ger idea­len Ge­stal­tun­gen, wo­mit das Tier­reich in solch ei­nem La­den ver­tre­ten zu sein pflegt, so na­ment­lich der un­poe­ti­sche He­ring, der häss­li­che La­ber­dan und der hol­län­di­sche Käse. Auch er­blick­te man sym­me­trisch in den Ecken auf­ge­stell­te Bün­del je­ner dün­nen ir­de­nen Pfei­fen, aus wel­chen der sanf­te und vor­sich­ti­ge Myn­heer zu rau­chen, ohne sie zu zer­bre­chen, das Ge­heim­nis be­sitzt, und dazu Ta­bak­pa­ke­te mit dem be­rühm­ten drei­fach be­kreuz­ten Wap­pen der Stadt Ams­ter­dam; wel­che drei Kreu­ze ohne Zwei­fel von ir­gend­ei­nem deut­schen Kai­ser oder Po­ten­ta­ten, der sich zu ir­gend­ei­ner Zeit in ir­gend­ei­nen Han­del mit Hol­län­dern ein­ließ, schließ­lich hin­ter ih­nen her ge­macht wor­den und als­dann zum ewi­gen An­den­ken in das Wap­pen der Haupt­stadt ge­setzt sind.

Alle die­se Ge­gen­stän­de deu­ten hin­rei­chend an, dass sich in un­serm Hau­se ein Spe­ze­rei­ge­schäft be­fand, und das Ge­klin­gel der Tür, wel­ches sich oft ge­nug, be­son­ders im Lau­fe der Vor­mit­tags­stun­den, dar­in hö­ren ließ, be­kun­de­te, dass der La­den ein ziem­lich be­such­ter war -- wie das denn auch nicht wohl an­ders sein konn­te bei der gu­ten Lage zwi­schen Gas­sen und Gäss­chen in­mit­ten der Stadt, und oben­drein ganz zu ebe­ner Erde, durch­aus gleich mit dem Stra­ßen­pflas­ter und ohne jede Trep­pe -- ein we­sent­li­cher Vor­teil, lie­ber Le­ser, bei al­len Spe­ze­rei­ge­schäf­ten, Bier­stu­ben und ähn­li­chen Lä­den, wie du viel­leicht, wenn du nicht selbst in et­was »machst«, noch nicht ge­wusst hast ... ein viel­ge­plag­tes Kü­chen­mäd­chen, das den Tag über ge­nug in und au­ßer dem Hau­se um­her­zu­ren­nen hat, liebt es nicht, aus­ge­tre­te­ne glat­te Trep­pen­stu­fen zu er­klim­men, um des He­rings hab­haft zu wer­den, nach wel­chem die Ge­bie­te­rin spät nach der Abend­sup­pe noch ein Ge­lüs­ten be­kommt, und noch we­ni­ger liebt es der in­tel­li­gen­te nach ei­nem Lot Kaf­fee aus­ge­sand­te Kna­be, der be­reits durch der­ar­ti­ge min­der wich­ti­ge Mis­sio­nen in der Haus­hal­tung nütz­lich ge­macht wird.

Es war um die­je­ni­ge Zeit des Jah­res, wann die Tage nach der Ver­si­che­rung des Ka­len­der­manns kür­zer zu wer­den be­gin­nen als die Näch­te, an ei­nem feuch­ten, ne­be­l­er­füll­ten Aben­de, als ein hoch und kräf­tig ge­bau­ter jun­ger Mann, in einen Man­tel gehüllt, mit sehr elas­ti­schem Schritt und doch läs­sig und lang­sam durch die Gas­se da­her­ging, zu de­ren nam­haf­tes­ten Se­hens­wür­dig­kei­ten un­ser eben be­schrie­be­nes Aus­s­tel­lungs­fens­ter ge­hör­te. Der jun­ge Mann küm­mer­te sich da­bei we­nig dar­um, an wel­chen Stel­len sei­ne Klap­pens­tie­feln den fes­ten Grund be­rühr­ten; die Pe­gel­hö­he des schlam­mi­gen, schwar­zen Sump­fes, der in­fol­ge vor­her­ge­gan­ge­ner Re­gen­ta­ge die Stra­ße füll­te, war über­all die­sel­be.

Er blick­te nicht ein­mal auf sei­nen Weg, son­dern trug das Haupt sorg­los er­ho­ben; viel­leicht er­freu­te sich sein leb­haf­tes und fröh­li­ches blau­es Auge an dem phan­tas­ti­schen Bil­de, wel­ches die Stra­ßen­per­spek­ti­ve vor ihm dar­bot, an die­sen merk­wür­di­gen al­ten Häu­sern zu bei­den Sei­ten, die mit ih­ren vor­sprin­gen­den obe­ren Stock­wer­ken und ih­ren Er­kern aus dem Ne­bel, der alle Um­ris­se ver­grö­ßer­te, höchst wun­der­bar­lich und mär­chen­haft her­vor­schau­ten; wäh­rend die an den Fron­ten an­ge­brach­ten Fi­gu­ren und Köp­fe, vor al­lem die ku­rio­sen Wahr­zei­chen von Köln, die al­ten Ge­sich­ter über den Tor­bo­gen und Ein­tritt­stü­ren, dem Da­hin­wan­deln­den ganz ei­gen­tüm­li­che Frat­zen zu ma­chen schie­nen, de­ren mi­mi­sche Be­deu­tung bei der Däm­me­rung je­doch schwer zu ent­rät­seln war.

Als der jun­ge Mann vor dem Hau­se mit dem Spe­ze­reila­den an­ge­kom­men war, schlug er den Man­tel aus­ein­an­der, trat ei­ni­ge mal stark mit den Stie­feln auf die Schwel­le, um sie des kle­ben­ge­blie­be­nen Schmut­zes zu ent­le­di­gen, und trat ein.

Der La­den­raum bot nicht über­flüs­sig viel Platz dar für eine kräf­tig aus­ge­bil­de­te Männer­ge­stalt, die, ih­ren Man­tel auf die Schul­tern zu­rück­ge­wor­fen, von dem drei­e­cki­gen kleid­sa­men Hüt­chen durch einen ke­cken Schwung die Feuch­tig­keit, wel­che sich dar­auf ge­sam­melt hat­te, ab­schüt­teln und dann mit ei­nem Tu­che das star­ke schwar­ze lo­cki­ge Haar von den Trop­fen be­frei­en woll­te, wo­mit der Ne­bel es leicht über­pu­dert hat­te. Die El­len­bo­gen des jun­gen Man­nes ka­men da­bei rechts in Berüh­rung mit al­ler­lei Mat­ten, Bürs­ten, Kuh­ket­ten, Stuhl­rohr, Stri­cken und der­glei­chen ma­le­ri­schen Dra­pe­ri­en ei­nes La­den­rau­mes; auf der an­dern Sei­te stie­ßen sie an die aus dunklem Ei­chen­holz ge­schrei­ner­te The­ke, über der eine Art von Tri­umph­bo­gen sich er­hob, ge­bil­det von zwei kühn ge­schweif­ten und in der Mit­te sich um­schlin­gen­den Schlan­gen und be­las­tet mit glän­zen­den Waag­scha­len und di­cken Pa­cken grau­er Tü­ten.

Um­schlos­sen von die­sem sin­nig er­fun­de­nen Rah­men stand hin­ter der The­ke eine sanf­te Männer­ge­stalt mit grau­em Haar und ei­nem mehr freund­li­chen und be­leb­ten als sorg­fäl­tig ra­sier­ten Ge­sicht, das, an den Schlä­fen stark ein­ge­drückt, eine sehr ge­wölb­te, hohe, kah­le, höchst ge­lehrt aus­se­hen­de Stirn zeig­te; ein Ge­sicht, das viel mehr das ei­nes gut­mü­ti­gen spe­ku­la­ti­ven Welt­wei­sen war als das ei­nes Man­nes, der ge­bo­ren, sich mit dem Ab­wä­gen von Pfef­fer, Kan­dis und Wasch­bläue zu be­schäf­ti­gen.

Es schi­en in der Tat, dass auch der ein­tre­ten­de jun­ge Mann die­se Be­mer­kung mach­te, denn nach­dem er dem Man­ne hin­ter der The­ke eine nicht un­ze­re­mo­ni­öse Ver­beu­gung ge­macht hat­te, sag­te er mit ei­ni­ger Über­ra­schung im Tone:

»Ei der Tau­send, mein Herr Pro­fes­sor, ist dero Ge­lahrt­heit wie­der ein­mal zwi­schen die Öl- und He­rings­fäs­ser ge­bannt, so­dass ein lern­be­gie­ri­ger Jün­ger, der kommt, zu den Fü­ßen sei­nes Leh­rers zu sit­zen, Ge­fahr läuft, da­bei in den Tran zu ge­ra­ten?«

»Was soll man ma­chen, Herr Ben­der, was soll man ma­chen! Die wer­te Ehe­liebs­te liegt an ei­ner klei­nen fe­bris in­ter­mit­tens1 rheu­ma­ti­schen Cha­rak­ters da­nie­der, die Magd ist mit den An­ge­le­gen­hei­ten der hil­fe­be­dürf­ti­gen Ju­gend in der Kin­der­stu­be be­schäf­tigt, und so muss denn der Haus­va­ter wohl vom Ko­thurn der Wis­sen­schaft auf den Soc­cus des Spe­ze­rei­ge­schäfts her­ab­stei­gen. Tre­ten Sie nä­her, Herr Ben­der, ich will nur noch ei­ni­ge Lot ge­mah­le­nen Kaf­fees in die re­spek­ti­ven Tü­ten ver­pa­cken, um die­sen vor­zugs­wei­se be­lieb­ten Ar­ti­kel bei vor­kom­men­der Nach­fra­ge so­fort fer­tig und ohne Zeit­ver­lust ver­ab­rei­chen zu kön­nen. Wir wol­len als­dann un­ver­weilt un­se­re Vor­le­sung be­gin­nen. Wir wa­ren ste­hen­ge­blie­ben bei ...«

»Neh­men Sie sich nur Zeit, Herr Pro­fes­sor;, die Uhr ist noch nicht sechs, und Ihre bei­den an­dern Zu­hö­rer sind ja auch noch nicht da.«

»Wer­den wohl wie­der das Kol­le­gi­um schwän­zen, die Her­ren Zan­der und El­le­schen; was uns aber nicht ab­hal­ten wird, heu­te zum Ab­schnitt von der spi­na dor­sa­lis über­zu­ge­hen.«

»Ist denn Jung­fer Traud­chen Gym­nich nicht zur Hand, um Ih­nen das Ge­schäft ab­zu­neh­men? Sie ist ja sonst die hil­fe­be­rei­te Haus­freun­din.«

»Jung­fer Traud«, ver­setz­te der Ge­lehr­te, »war heu­te noch nicht« -- sicht­bar, woll­te er hin­zu­fü­gen, als die Klin­gel der sich öff­nen­den Tür ihn un­ter­brach und der La­den durch das Er­schei­nen ei­ner Kund­schaft er­freut wur­de, die sich in Ge­stalt ei­nes etwa acht­jäh­ri­gen bar­häup­ti­gen Bu­ben prä­sen­tier­te und keck an die The­ke trat, auf de­ren Rand der freund­li­che Klei­ne sei­ne bei­den El­len­bo­gen lehn­te.

»Wat eß, Kind?«, sag­te der Pro­fes­sor.

»Gitt meer enß zwei Lut An­ge­nis!«

Der Pro­fes­sor wog zwei Lot Anis ab.

»Wat koß et?«

»Wat et koß ...«, sag­te der Pro­fes­sur sin­nend, »wat et koß ...«, er war of­fen­bar nicht ganz im kla­ren über den Markt­preis von zwei Lot Anis, aber er wuss­te sich zu hel­fen.

»Wies enß, Kö­bes­je, we vill hann se deer met­ge­gev­ve?«

»’nen Al­buss,« ver­setz­te der Jun­ge, eine sei­ner Hän­de öff­nend und eine Mün­ze von die­sem Wert zei­gend.

»Et eß rääch, zwei Lut An­ge­nis koß ’nen Al­bus,« sag­te der Pro­fes­sor und ließ das Geld durch eine Rit­ze in der The­ke in die dar­un­ter be­find­li­che Geld­la­de fal­len.

»För ’nen Al­bus Seif!«, sag­te der Jun­ge jetzt.

»För ’nen Al­bus Seif!«, wie­der­hol­te der Pro­fes­sor und zog aus ei­nem Fa­che des La­dens eine Stan­ge wei­ßer Sei­fe her­vor, die er in Lösch­pa­pier ein­wi­ckel­te.

Der Jun­ge öff­ne­te nun die an­de­re Hand und ließ ei­ni­ge Kup­fer­mün­zen dar­aus fal­len.

»Es dat ’nen Al­bus?«, sag­te der Ge­lehr­te ver­wei­send, »dat sin sechs Hel­ler.«

Der Kna­be schwieg einen Au­gen­blick be­trof­fen; dann sich sam­melnd ant­wor­te­te er mit der selbst­be­wuss­ten Geis­tes­ge­gen­wart ei­nes künf­ti­gen Reichs­stadt­bür­gers: »Dann sin de Hel­ler, för­de An­ge­nis, un der Al­bus eß för de Seif.«

»Jo, du Lot­ter­bov, wat sähß do dat nit glich! Nu eß et rääch, nu gang!«

Der Kna­be zog mit Anis und Sei­fe ab; der Stu­dent, der un­ter­des­sen sei­nen Man­tel und Hut an den­sel­ben Na­gel ge­hängt hat­te, wor­an die Kuh­ket­ten an der Mau­er nie­der­hin­gen, hat­te lä­chelnd die Art, wie der Pro­fes­sor Ge­schäf­te ab­schloss, be­ob­ach­tet und schritt jetzt durch den La­den, um auf ein paar Stu­fen zu tre­ten, wel­che aus dem­sel­ben in ein da­hin­ter­lie­gen­des Zim­mer führ­ten.

»Pro­fes­sor Bracht,« sag­te er da­bei, »Sie wer­den Ih­rer Frau Ehe­liebs­ten schö­ne Din­ge im La­den an­rich­ten! Wer ver­kauft denn zwei Lot Anis für einen Al­bus? Auch sehe ich an der Art, wie Sie jetzt den Kaf­fee ab­wä­gen, dass Sie mit den ei­gent­li­chen Fi­nes­sen des Ge­schäfts in be­kla­gens­wer­ter Wei­se un­be­kannt sind! Ist das die rech­te Art, wie man dem Züng­lein in der Wage einen klei­nen Schnel­ler nach der Sei­te hin gibt, wo die Ware hängt? Ich wet­te dar­auf, den ge­sto­ße­nen Zimt ver­kau­fen Sie, ohne in Ih­rer straf­ba­ren Un­be­son­nen­heit auch nur einen Blick dar­auf­zu­wer­fen, ob er den ge­hö­ri­gen Zu­satz von ge­ras­pel­tem Zi­gar­ren­käst­chen­holz hat, und ob er lan­ge ge­nug im Kel­ler lag, um durch die Feuch­tig­keit sein Ge­wicht zu ver­grö­ßern; und wenn Sie im un­ge­mah­le­nen Kaf­fee zu­fäl­lig das Vor­kom­men auf­fal­lend vie­ler Kir­schen­stei­ne be­mer­ken, so ah­nen Sie in Ih­rer leicht­sin­ni­gen Un­schuld wohl gar nicht, wel­che tiefe­re Be­deu­tung die­se be­fremd­li­chen Ge­gen­stän­de ha­ben. Ist Ih­nen je­mals ein­ge­fal­len, über das Ge­heim­nis nach­zu­sin­nen, wie man durch einen ein­fa­chen Kunst­griff dem Schwe­fel­holz­päck­chen zu Nach­kom­men­schaft auf dem Wege na­tür­li­cher Ver­meh­rung ver­hilft, in­dem man die Päck­chen un­merk­lich um ein­zel­ne Exem­pla­re be­maust? Ich be­haup­te, die gan­ze Kip­per- und Wip­per­schaft des Klein­han­dels ist Ih­nen fremd, und wenn man sagt: schi­cke kein Kind auf den Markt, so soll­te man hin­zu­set­zen: stell’ aber auch kei­nen Pro­fes­sor hin­ter die The­ke!«

Herr Pro­fes­sor Ana­to­mi­ae D. Lau­ren­ti­us Bracht lä­chel­te still bei die­ser Vor­le­sung, wel­che ihm sein Schü­ler hielt, und nach­dem er sei­ne Kaf­fee­tü­ten zu­stan­de ge­bracht, ging er dazu über, eine in der Mit­te des Tri­umph­bo­gens von den Schlan­gen­hälsen nie­der­hän­gen­de Lam­pe zu ent­zün­den. »Was soll man ma­chen!«, sag­te er da­bei ach­sel­zu­ckend, »jede Han­tie­rung hat ihre klei­nen Kunst­grif­fe, die Über­lie­fe­rung der bie­dern und klu­gen Vor­vor­dern, die sich dann auf die pie­tät­vol­len En­kel ver­er­ben. Wenn man aber nun ein­mal kein En­kel, das heißt, nicht in­ner­halb sol­cher acht­ba­ren Tra­di­tio­nen auf­ge­wach­sen ist, son­dern so wie ich nur ein Ap­pen­dix des Ge­schäfts, aus Gna­den und ver­mit­telst ei­nes Ehe­bünd­nis­ses in rei­fe­ren Jah­ren auf­ge­nom­men, dann wird man im­mer ein hil­fe­be­dürf­ti­ger ti­ro blei­ben, man mag in lit­te­ris präs­tie­ret ha­ben, so viel und so Rühm­li­ches man will. Und nun, mein treues­ter Herr Scholar,« fuhr der Pro­fes­sor fort, in­dem er ein Talg­licht an der bren­nen­den Lam­pe an­zün­de­te, »da es scheint, als soll­ten wir eine Wei­le Ruhe ha­ben vor den Anis- und Sei­fe­be­dürf­nis­sen der lie­ben Nach­bar­schaft...«

»Und da die Her­ren Zan­der und El­le­schen ih­rer löb­li­chen Ge­wohn­heit, zu schwän­zen, ge­treu zu blei­ben schei­nen ...« fiel der Scholar ein --

»So kön­nen wir be­gin­nen,« sag­te der Pro­fes­sor Bracht und schritt mit sei­nem ent­zün­de­ten Licht in die Hin­te­re Stu­be hin­auf, an de­ren Schwel­le Ben­der bis­her Po­sto ge­fasst hat­te.

Das Zim­mer bot einen von dem da­vor­lie­gen­den Räu­me sehr ver­schie­de­nen An­blick dar. Es war un­sers Pro­fes­sors Doc­to­ris Me­di­ci­nae et Ar­tis obst­e­tri­ciae Bracht Au­di­to­ri­um für sei­ne öf­fent­li­chen und pri­va­ten Vor­trä­ge über Ana­to­mie des Men­schen, ver­glei­chen­de Ana­to­mie und Os­teo­lo­gie. Un­se­re Le­ser wis­sen, dass sol­che Vor­tra­ge ge­mein­hin auf ana­to­mi­schen Thea­tern ge­hal­ten zu wer­den pfle­gen. Es fehl­te auch an ei­nem sol­chen In­sti­tut der al­ten und be­rühm­ten Hoch­schu­le zu Köln nicht; aber lei­der war es ein düs­te­rer großer zu­gi­ger Saal, mög­lichst un­zweck­mä­ßig ein­ge­rich­tet, und im Win­ter gar nicht zu er­wär­men. Und da hin­zu­kam, dass Pro­fes­sor Bracht in sei­nen Vor­le­sun­gen auf der we­nig mehr be­such­ten Uni­ver­si­tät äu­ßerst we­nig Zu­hö­rer hat­te und sich ge­wöhn­lich mit ei­nem oder zwei­en die­ser wiss­be­gie­ri­gen Jüng­lin­ge in trau­li­chem Ge­gen­über be­fand, so zog er vor, die of­fi­zi­el­len Hilfs­mit­tel der Hoch­schu­le ih­ret­we­gen nicht in An­spruch zu neh­men. Die oh­ne­hin auf der Ana­to­mie neun Zehn­tel des Jah­res hin­durch feh­len­den Lei­chen hat­te er da­bei in aus­rei­chen­der Wei­se durch Ta­feln mit Ab­bil­dun­gen er­setzt, wel­che auf Pap­pe ge­zo­gen die Wän­de sei­nes klei­nen Hör­saals hin­ter sei­nem oder viel­mehr sei­ner Gat­tin La­den schmück­ten.

In der Mit­te des Zim­mers, wo­hin sich der Pro­fes­sor mit sei­nem Lich­te be­gab, stand ein Tisch mit ei­nem hal­b­en Dut­zend Stüh­le um­her. Die üb­ri­ge Ein­rich­tung war nicht ge­nau zu er­ken­nen, denn die Talg­ker­ze gab eine sehr un­zu­läng­li­che Be­leuch­tung; aber man sah von den Wän­den her die großen Ta­feln mit den Bil­dern hal­ber durch­schnit­te­ner Men­schen, die Ge­stal­ten von be­kla­gens­wer­ten Män­nern und Frau­en, de­nen die Brust oder die Bauch­höh­le aufs grau­sams­te bloß­ge­legt war, und de­ren Köp­fe den­noch in un­ge­beug­ter Hal­tung, mit rot il­lu­mi­nier­ten Wan­gen und fri­schen Au­gen her­über­blick­ten, als ob sie sich gar nichts dar­aus mach­ten, dass solch ein klei­ner Qu­er­schnitt sie von oben bis un­ten ge­spal­ten hat­te, wie der Schwert­hieb des schwä­bi­schen Rit­ters un­ter Kai­ser Rot­bart lo­be­sam2 den Tür­ken, und dass man ih­nen ins in­ners­te Herz bli­cken konn­te. Da­ne­ben hin­gen ganz ent­setz­li­che Ab­bil­dun­gen von Ar­men und Bei­nen, wor­an alle Seh­nen und Ner­ven bloß­la­gen, und al­ler­lei an­de­re bild­li­che me­men­to mori in Ge­stalt von Hei­zen, Lun­gen, Ge­hir­n­en und an­dern sen­si­ti­ven Or­ga­nen, die ein ar­mer Sterb­li­cher nun ein­mal ver­ur­teilt ist in dem künst­li­chen Or­ga­nis­mus, der sein leib­li­ches Kleid bil­det, mit sich her­um­zu­tra­gen. Als der Pro­fes­sor das Licht auf den Tisch ge­stellt hat­te, fiel der Schim­mer des­sel­ben so, dass man im Hin­ter­grun­de einen in der Mit­te ge­öff­ne­ten Vor­hang wahr­nahm, aus des­sen Fal­ten ein wei­ßes Et­was her­vor­leuch­te­te, das sich bei nä­he­rer Un­ter­su­chung, als ein noch un­heim­li­che­rer Ge­gen­stand wie alle vo­ri­gen dar­stell­te -- es war ein weiß­ge­bleich­tes Ge­rip­pe mit ei­nem großen grin­sen­den Schä­del. Ei­ni­ge an­de­re Schä­del stan­den auf ei­nem Bord da­ne­ben.

Der Pro­fes­sor nahm eine der Ta­feln, leg­te sie auf den Tisch, und nach­dem er aus der Schub­la­de des­sel­ben sei­ne Hef­te her­vor­ge­holt hat­te, setz­te er sich sei­nem Schü­ler ge­gen­über, der un­ter­des­sen die Schreib­map­pe of­fen­leg­te.

»Also wir stan­den bei dem Ka­pi­tel von den Hals­wir­beln,« be­gann der Pro­fes­sor. »Es gibt der­sel­ben sie­ben, und ihr Cha­rak­te­ris­ti­kon liegt in dem Lo­che ih­rer Qu­er­fort­sät­ze -- f­o­ra­men trans­ver­si­um. Durch­bohr­te Qu­er­fort­sät­ze zei­gen sich bei an­dern Wir­beln nicht. Ihre Ge­stalt« -- der Zei­ge­fin­ger des Pro­fes­sors fuhr deu­tend auf die Ta­fe­lab­bil­dung, wo sich die Ge­stalt prä­sen­tier­te -- »ihre Ge­stalt ist nied­rig aber breit, der ho­ri­zon­ta­le Dorn­fort­satz ist an sei­ner Spit­ze in zwei Za­cken ge­spal­ten. An den ge­lö­cher­ten Qu­er­fort­sät­zen fin­det sich ein vor­de­rer und hin­te­rer Hö­cker -- tu­ber­cu­lum...«

Drau­ßen klin­gel­te die Tür, und dann er­hob sich eine hel­le weib­li­che Stim­me mit dem stür­mi­schen Be­geh­ren: »Gitt meer enß ä Pund Lab­ber­dohn un en Ap­pel­taat.«

»Waat, ehr Lück, ich kum­me glich eru­us!«, schrie der aus sei­ner Ge­lehr­sam­keit auf­ge­schreck­te Do­zent, und nach­dem er sei­nem Zu­hö­rer wei­ter dik­tiert hat­te: tu­ber­cu­lum ge­nannt; der Dorn­fort­satz heißt pro­ces­sus spi­no­sus; die Qu­er­fort­sät­ze pro­ces­sus trans­ver­si -- wo­mit das nächs­te Ali­nea er­reicht war, sprang er auf und eil­te in den La­den, wo er eine klei­ne schwarz­äu­gi­ge Magd vor­fand, ih­res La­berdans har­rend.

»Wat brucht ehr Lück dann dis’en Ovend Fesch zo esse?«, sag­te der Pro­fes­sor ver­drieß­lich zu der klei­nen Magd, wäh­rend er nach der Wag­scha­le und dem Pfund­ge­wicht griff. »Künnt ehr nit Kaf­fee drin­ken -- ich hän ä Vee­del­pund av­ge­wog he lige!«

»Ich bru­che kei­ne Kaf­fee, ich bru­che Lab­ber­dohn,« ant­wor­te­te schnip­pisch die Magd.

Der Pro­fes­sor be­frie­dig­te ih­ren Wunsch; wäh­rend­des­sen tra­ten wie­der neue Kun­den ein, zwei zu­mal, und die Vor­le­sung schi­en von ei­ner lan­gen Un­ter­bre­chung be­droht. Da klin­gel­te es aufs neue, und bald dar­auf ließ sich ein lei­ser Tritt auf der Trep­pen­schwel­le vor dem Au­di­to­ri­um ver­neh­men; Ben­der aber sah durch die halb of­fen­ge­blie­be­ne Tür ein Paar sehr mun­te­re hell­blit­zen­de Mäd­chen­au­gen bli­cken.

»Ah, Jung­fer Traud,« rief der Stu­dent, of­fen­bar er­freut über die­sen Wech­sel der De­ko­ra­ti­on, der ihm, nach­dem er so lan­ge ein ödes knö­cher­nes Hals­wir­bel­sys­tem an­ge­schaut, den An­blick ei­nes so hüb­schen lieb­li­chen Oku­lar­sys­tems ge­währ­te, »Jung­fer Traud -- kom­men Sie nur her­ein, es ist nie­mand da au­ßer mir!«

»War­ten Sie, Herr Ben­der,« ant­wor­te­te eine wohl­tö­nen­de, et­was tie­fe, aber sehr an­ge­neh­me Stim­me, »ich will erst hier dem ar­men Pro­fes­sor hel­fen, mit den Kun­den fer­tig zu wer­den.«

Da­mit ver­schwand Jung­fer Traud aus der Tür­öff­nung und schlüpf­te in den La­den, aus dem sie den Pro­fes­sor zu sei­ner un­säg­li­chen Ge­nug­tu­ung in sei­nen Hör­saal zu­rücksand­te, um die Theo­rie von den Wir­beln wie­der auf­zu­neh­men und jetzt zum At­las und zum Epistro­pheus über­zu­ge­hen, wah­rend Jung­fer Traud die Kun­den be­frie­dig­te. Als sie da­mit fer­tig war, kam sie lei­se und ge­räusch­los in das Zim­mer, setz­te sich auf einen ne­ben dem Ofen im Hin­ter­grun­de ste­hen­den Stuhl -- sie wand­te den Rücken dem un­fern hin­ter ihr aus­ge­stell­ten Ge­rip­pe zu -- und hol­te dann ein Strick­zeug her­vor, an dem sie em­sig ar­bei­te­te.

Die Stun­de der Vor­le­sung ver­ging nun ohne wei­te­re Stö­run­gen. Wenn drau­ßen die Haus­tür klin­gel­te, sprang Jung­fer Traud auf und be­frie­dig­te das Ver­lan­gen der Kin­der, Mäg­de, Hand­wer­ker­frau­en und Ma­da­men, wel­che vor und nach ein­tra­ten. Der Pro­fes­sor ana­ly­sier­te ru­hig sei­nen Epistro­pheus mit dem dar­an­sit­zen­den pro­ces­sus odon­toi­deus3 -- und der Stu­dent hör­te zu, wenn auch nicht mit un­ge­teil­ter Auf­merk­sam­keit. Denn sehr oft glit­ten sei­ne Bli­cke über sei­ne Schreib­map­pe und die Ta­feln fort auf das jun­ge Mäd­chen hin­über, wenn sie aus dem La­den zu­rück­kam und für eine Wei­le wie­der in dem Halb­dun­keln Hin­ter­grun­de saß, wo ihre Züge in ei­nem ei­gen­tüm­li­chen ro­si­gen Lich­te strahl­ten, so oft sie sich nie­der­beug­te, um eine ge­fal­le­ne Ma­sche beim Schein der Flam­me, der aus dem Ofen­tür­chen her­vor­drang, wie­der auf­zu­neh­men. Jung­fer Traud war frei­lich auch wohl da­nach ge­schaf­fen, die Bli­cke ei­nes Stu­den­ten zu fes­seln. Sie war ein schö­nes schlan­kes Kind von höchs­tens 20 bis 22 Jah­ren mit präch­ti­gen großen Au­gen, ei­nem ova­len Ge­sicht, des­sen Far­be mehr frisch und ge­sund als ge­ra­de ro­sig blü­hend zu nen­nen war, ei­nem sei­nen, et­was ge­bo­ge­nen Näs­chen und ei­nem klei­nen Mun­de mit keck auf­ge­wor­fe­nen Lip­pen. Ihr dich­tes schwar­zes Haar trug sie zu ei­nem Nest auf­ge­bun­den über dem Schei­tel, der schlan­ke Ober­kör­per war mit ei­nem eng ihn um­span­nen­den und hoch bis zum Hal­se hin­auf schlie­ßen­den Jäck­chen mit Schö­ßen be­klei­det, aus schwar­zem Stof­fe mit oben en­gen, an den El­len­bo­gen weit of­fe­nen Är­meln. Ein wei­ter Rock von grü­ner Ser­ge vollen­de­te das Ko­stüm ei­nes Köl­ner Bür­ger­kin­des aus den neun­zi­ger Jah­ren -- von der schau­der­haft ge­schmack­lo­sen Mo­de­tracht von da­mals war der ehr­sa­me Bür­ger­stand von Köln noch nicht ent­stellt.

Traud­chen Gym­nich hat­te ei­gent­lich ei­ni­ge Ähn­lich­keit mit dem ein­zi­gen Zu­hö­rer des Pro­fes­sors Bracht. Auch er hat­te solch eine of­fe­ne klu­ge Stirn, solch hel­le Au­gen, auch er hat­te einen Mund mit auf­ge­wor­fe­nen Lip­pen; die­ses war aber bei ihm so stark der Fall, und har­mo­nier­te so mit dem gan­zen ke­cken Aus­druck sei­ner Züge, dass in sei­nem von den dich­ten schwar­zen Lo­cken um­schat­te­ten Ge­sicht et­was Lei­den­schaft­li­ches, fast Wil­des lag, was aus den Zü­gen Traud­chens durch­aus nicht her­vor­trat. Dass er stark und kräf­tig ge­baut, ha­ben wir schon ge­sagt. Man wur­de da­durch ver­lei­tet, ihn für äl­ter zu hal­ten, als er in der Tat war. Auch er moch­te höchs­tens 22 bis 23 Jah­re ha­ben.

Der Pro­fes­sor spann sei­ne Vor­le­sung ab und schloss, als es auf der na­hen Kir­che von Groß-Sankt-Mar­tin halb acht Uhr schlug. Wäh­rend er ging, sei­ne Ta­feln an ih­ren al­ten Platz zu brin­gen, trat der Stu­dent so­fort zum Ofen, als ob er schon lan­ge da­nach ver­langt, sei­ne Füße an dem Un­ter­satz zu wär­men.

»Traud­chen, sind Sie denn gar nicht ängst­lich?«, frag­te Ben­der, in­dem er sei­ne Bli­cke über sie fort auf den Glie­der­mann hin­ter ihr warf.

Traud­chen blick­te nach­läs­sig nach rück­wärts.

»Vor dem?«, frag­te sie gleich­gül­tig.

»Und den Schä­deln, die da­ne­ben­ste­hen? Wis­sen Sie nicht, dass der eine, der große di­cke Schä­del dort, von ei­nem blut­dürs­ti­gen Räu­ber­haupt­mann her­stammt?«

»Ein Räu­ber­haupt­mann?«, frag­te Traud­chen -- jetzt et­was scheu sich um­bli­ckend. »Ich habe das al­les so oft hier ge­se­hen, dass ich gar nicht dar­an den­ke.«

»Sie ha­ben recht, Traud­chen, dass Sie sich nicht fürch­ten. Es ist sehr tö­richt, sich vor To­ten zu fürch­ten, die Le­ben­den sind viel schlim­mer. Vor Ge­s­pens­tern habe ich auch nie Angst ge­habt, aber wis­sen Sie, wann ich mich fürch­ten wür­de?«

»Nun?«

»Wenn ich sel­ber ein Geist wäre, und es be­geg­ne­te mir ein le­ben­der Mensch. Den­ken Sie sich ein­mal, Traud­chen, Sie wä­ren ein stil­ler, aus Duft und Luft ge­wo­be­ner, ir­gend­ei­ne ver­las­se­ne Berg­schlucht oder eine Klos­ter­mi­ne be­woh­nen­der Geist, der da ru­hig und von der Welt un­be­läs­tigt seit vie­len Jah­ren sein an­ge­neh­mes be­dürf­nis­lo­ses Da­sein wei­ter­spukt: und nun be­geg­ne­te Ih­nen ganz un­er­war­tet und plötz­lich ein le­ben­der Mensch, den Sie mit Ihren Geis­ter­au­gen na­tür­lich durch und durch schau­ten! Sie sä­hen die­ses schnau­ben­de Un­ge­tüm auf sich los­kom­men, um­ge­ben von ei­ner Wol­ke von Dunst, die aus sei­nem Kör­per auf­steigt; sä­hen, wie die Lun­gen keu­chend auf und ab ar­bei­ten, das Herz zi­schend und gur­gelnd die Blut­wel­len aus­stößt und wie­der auf­nimmt und dann aufs neue fort­stößt, wie da­bei eine Klap­pe sich schließt und die an­de­re Klap­pe auf­klafft, und wie der Ma­gen gärt und reibt und ar­bei­tet, und wie die Ner­ven sich schwin­gen und zit­tern und die Seh­nen sich span­nen und wie­der ab­span­nen, dass die Glie­der ruck­wei­se bald so, bald so sich rüh­ren und sprei­zen; und so den­ken Sie sich nun die Ma­schi­ne auf sich zu­schrei­ten, die Au­gen rol­lend, das Ge­hirn vi­brie­rend und ar­bei­tend, alle Mus­kel­fa­sern in vol­ler Be­we­gung, da­bei die zi­schen­den und gur­geln­den Töne, die durch die Stimm­rit­ze fah­ren -- sa­gen Sie, Traud­chen, könn­te ein ar­mes Ge­s­penst nicht ver­rückt wer­den vor Ent­set­zen und Ab­scheu bei ei­nem sol­chen An­blick?«

»Hö­ren Sie auf, Herr Ben­der, oder ich lau­fe Ih­nen fort,« sag­te Traud­chen sich schüt­telnd.

»Habe ich Ih­nen einen rech­ten Schau­er ge­macht?«, frag­te Hu­bert Ben­der ne­ckend.

Jung­fer Traud­chen schüt­tel­te aber­mals ihre schön ge­run­de­ten Schul­tern.

»Ab­scheu­lich!«, sag­te sie.

»Nun, das woll­te ich eben,« fuhr der Stu­dent fort. »Ich woll­te Sie ein we­nig in die Stim­mung brin­gen, wo man auf Spuk­ge­schich­ten kommt, und ich hof­fe, die Jung­fer wird uns dann ein­mal auch et­was von ih­rem ku­rio­sen al­ten Hau­se er­zäh­len, über das Jung­fer Traud sonst im­mer nur schnip­pi­sche Ant­wor­ten gibt, wenn man sie da­nach fragt.«

»Ver­geb­li­che Mühe, Mon­sieur Ben­der. Von dem al­ten Hau­se er­fah­ren Sie nun ge­ra­de nichts!«

»Was ist mit dem al­ten Hau­se?«, frag­te Pro­fes­sor Bracht.

»Ei, das wis­sen Sie nicht?«, rief der Stu­dent aus -- und Traud­chen Gym­nich dach­te im stil­len: man muss in der Tat solch ein Ge­lehr­ter sein, um nicht zu wis­sen, was je­des Kind weiß!

»Das Haus«, fuhr Hu­bert Ben­der fort, »ist das, in des­sen Vor­bau Traud­chen bei ih­rem Ohm wohnt, und zu wel­chem die­ser die Schlüs­sel hat, das große alte Haus hin­ter St. Ge­org...«

»Und die­ses Haus?«

»Steht öde und ver­las­sen,« ant­wor­te­te der jun­ge Mann, »man hat nie­mals ge­se­hen, dass ir­gend­ein Mensch hin­ein­ge­gan­gen, noch dass ei­ner her­aus­ge­kom­men wäre; auf der Trep­pe vor der Tür liegt ein Stein­hau­fen, der je­dem un­mög­lich macht, die Tür zu öff­nen. Und doch muss je­mand dar­in woh­nen, denn in der gest­ri­gen Nacht habe ich deut­lich Rauch­wol­ken über das Dach auf­stei­gen se­hen.«

»Nachts?«, warf der Ge­lehr­te wie zwei­felnd ein.

»Ich habe schar­fe Au­gen, Pro­fes­sor, und bei rei­nem Ster­nen­him­mel ist es sehr wohl wahr­zu­neh­men, wenn eine Esse Rauch gibt. Die Fens­ter mei­nes Hin­ter­stüb­leins ge­hen auf einen Hau­fen von al­ler­lei klei­nen Häu­sern und Hin­ter­ge­bäu­den hin­aus; un­ser al­tes Haus aber ragt hoch dar­über weg, und ich sehe vor­treff­lich die Es­sen, das Dach und die obers­te Fens­ter­rei­he sei­ner Hin­ter­fron­te, an de­ren Ende ein ho­her stump­fer Turm sich er­hebt.«

»Und was sagt Traud­chens Ohm dazu?«, frag­te der Pro­fes­sor.

»Traud­chens Ohm«, ver­setz­te der Stu­dent, »sagt, wenn er nüch­tern ist, nichts, und wenn er ge­trun­ken hat, ver­flucht er sei­ne See­le dem Sa­tan und al­len Höl­len­geis­tern dar­auf, es habe seit mehr als zehn Jah­ren kei­nes Men­schen Fuß die Schwel­le über­schrit­ten, aber es spu­ke eine gan­ze Le­gi­on von Teu­feln dar­in.«

»So neh­me Sie doch die Schlüs­sel, Jung­fer Traud, und gehe mor­gen am Tag hin­ein, um nach­zu­se­hen, wer dar­in ist,« sag­te der Pro­fes­sor.

»Der Ohm hat die Schlüs­sel,« ant­wor­te­te Traud­chen, die des Stu­den­ten Er­zäh­lung von der rau­chen­den Esse über­rascht und mit großer Teil­nah­me an­ge­hört hat­te, »und«, fuhr sie fort, »ich glau­be, er er­würg­te mich, wenn ich da­von an­fin­ge und ihm die Schlüs­sel ab­ver­lang­te.«

»Ja, es gibt ei­ni­ge wun­der­li­che Häu­ser!«, hub der Pro­fes­sor nach ei­ner Pau­se wie­der an, »ei­ni­ge wun­der­li­che Häu­ser. Zu mei­ner Zeit war ein al­tes Haus am Ge­re­ons­driesch, das stand auch seit vie­len Jah­ren leer und ver­las­sen, denn nie­mand woll­te hin­ein­zie­hen; aber so oft in der nächs­ten Nach­bar­schaft je­mand ster­ben soll­te, sah man oben am Hau­se aus ei­nem klei­nen Trep­pen­turm­fens­ter einen grin­sen­den al­ten Bau­er her­aus­schau­en, mit lan­gem blon­den Bart, ei­ner ro­ten Wes­te und wei­ßen Hem­d­är­meln.«

Traud­chen Gym­nich hat­te bei die­ser Er­zäh­lung ihr Strick­zeug in den Schoß fal­len las­sen und sah ge­spannt, mit glän­zen­den Au­gen, den Pro­fes­sor an.

Hu­bert Ben­der fand es je­doch nicht für gut, das Ge­fühl des Ge­s­pens­ter­grau­ens in ihr zu mäch­tig wer­den zu las­sen.

»Wenn wir die Ge­schich­te ana­to­mie­ren könn­ten, wer­ter Herr Pro­fes­sor,« sag­te er, »so wür­de sich als Kern wohl ir­gend­ein harm­lo­ser Kap­pes­bau­er her­aus­schä­len las­sen, der ein­mal in das Haus ge­ra­ten und die Trep­pe hin­auf­ge­stie­gen ist ...«

Der Pro­fes­sor schüt­tel­te den Kopf. »Es ist nicht ein-, es ist zehn­mal wahr­ge­nom­men wor­den!«

»Traud­chen,« fuhr der Stu­dent fort, »las­sen Sie mich heu­te Abend in das Haus ein. Sie kön­nen ja die Schlüs­sel si­cher­lich be­kom­men. Ich möch­te gar zu gern her­aus­brin­gen, wer drin ist.«

Traud­chen Gym­nich schwieg eine Wei­le. Die Wahr­heit war, sie hät­te es auch gar zu gern ge­wusst, wer in dem ver­schlos­se­nen rät­sel­haf­ten Hau­se sein We­sen trei­ben kön­ne.

»Ich weiß Sie nicht hin­ein­zu­las­sen,« sag­te sie je­doch kurz ab­wei­send nach ei­ner Pau­se. »Und wenn ich’s auch wüss­te, der Ohm Gym­nich ...«

»Der Ohm Gym­nich stört uns nicht. Der op­fert sich abends von sie­ben bis zehn im Wirts­hau­se, wo er auf der har­ten Bank sit­zen und den eis­kal­ten Wein trin­ken muss, wie er sagt, dem öf­fent­li­chen Woh­le und der Ord­nung der städ­ti­schen An­ge­le­gen­hei­ten auf.«

»Wenn Ih­nen nun der Spuk ein Leids an­tä­te?«, warf lä­chelnd Jung­fer Traud ein.

»Dar­über wür­den Sie doch nicht trau­ern!«, ent­geg­ne­te ne­ckend Hu­bert Ben­der, »Ich bin auch be­reit, zur Vor­sicht un­sern wür­di­gen Pro­fes­sor als Dok­tor mit­zu­neh­men, um mir die Hals­wir­bel wie­der ein­zu­rich­ten, im Fall ich bei dem Aben­teu­er ein Un­glück hät­te und der Teu­fel mir das Ge­nick ein we­nig aus der Ord­nung bräch­te.«

»Al­lein las­se ich Sie je­den­falls nicht hin­ein!«, sag­te das jun­ge Mäd­chen nach­denk­lich.

»Wenn Sie also nicht etwa selbst Lust ha­ben ...«

»Und wer sagt Ih­nen, dass ich kei­ne Lust habe?«

»Dann de­sto bes­ser!«, rief Hu­bert fröh­lich aus. »Dann aber auch gleich und ohne Zeit­ver­lust!«

Traud­chen Gym­nich schi­en noch ei­ni­ge Un­schlüs­sig­keit zu he­gen. Dem Rät­sel auf die Spur ge­kom­men wäre sie frei­lich un­bän­dig gern. Was sie aber ab­hielt, sich mit dem ke­cken Stu­den­ten nachts al­lein in ein dunkles, un­heim­li­ches Haus zu wa­gen, das war am Ende wohl we­ni­ger Ge­s­pens­ter­furcht, denn Traud­chen war ein höchst re­so­lu­tes und »kurz an­ge­bun­de­nes« Kind; das be­wies schon ihre Gleich­gül­tig­keit ge­gen des Pro­fes­sors ge­lehr­ten os­teo­lo­gi­schen Ap­pa­rat in ih­rem Rücken. Nein, viel­leicht hat­te sie an­de­re Be­den­ken, die eine stum­me, Spra­che in dem großen, of­fe­nen, fra­gen­den Bli­cke fan­den, wel­chen sie jetzt auf Hu­bert Ben­der rich­te­te. Hu­bert Ben­der aber be­ant­wor­te­te die­sen Blick mit ei­nem an­dern, eben­so of­fe­nen, des­sen Spra­che Traud­chen ge­nü­gend schei­nen muss­te. Doch ent­hielt ihre Ant­wort nicht gleich eine Zu­sa­ge.

»Was in dem ver­schlos­se­nen al­ten Hau­se ei­gent­lich vor­geht, hät­te ich schon lan­ge gar zu gern ge­wusst«, sag­te sie nur. »Von dem Ohm Gym­nich bringt man nicht ein­mal her­aus, wem es denn ei­gent­lich zu­ge­hört. Ich den­ke mir aber, es muss eine große Herr­schaft sein, denn ei­ni­ge mal habe ich ge­se­hen, dass der Ohm Brie­fe mit großen ro­ten Wap­pen­sie­geln dar­auf be­kam. Und es war son­der­bar, dass der Ohm dann je­des Mal den Abend eine Stun­de frü­her ins Wirts­haus ging und spä­ter dar­aus heim­kehr­te wie ge­wöhn­lich, und je­des Mal mit ei­nem tüch­ti­gen Haar­beu­tel, als ob er ir­gend­ei­nen Är­ger ge­habt habe.«

»Vi­el­leicht auch eine be­son­de­re Freu­de!«, mein­te Hu­bert.

»Oder eine Geld­sen­dung!«, be­merk­te der Pro­fes­sor.

»Wie oft«, fuhr Traud­chen fort, »habe ich mich als Kind schon hin­ter ihn ge­schli­chen, wenn er ein­mal an ei­nem hel­len, war­men Tage das Spind in sei­ner Schlaf­kam­mer auf­schloss und die großen ros­ti­gen Schlüs­sel her­aus­nahm und dann durch un­sern Holz­stall auf die wurm­sti­chi­ge klei­ne Bo­gen­tür zu­schritt, die links zur Sei­te in das alte Haus führt! Aber so lei­se ich auf­tre­ten moch­te, er hör­te mich doch und mit ei­nem dro­hen­den: ›Maach dich fott, do neu­schee­ri­ge Krott!‹ wur­de ich fort­ge­jagt, und das Tür­chen schloss der Ohm, wenn er ein­ge­tre­ten, vor­sich­tig hin­ter sich zu ...«

»Er be­tritt also zu­wei­len das Haus, der Ohm Gym­nich?«, frag­te Hu­bert Ben­der.

»Ein- oder zwei­mal im Jah­re, an hei­tern Ta­gen; dann geht er um die Mit­tags­zeit hin­ein und öff­net ei­ni­ge Fens­ter im ers­ten und zwei­ten Stock, um zu lüf­ten.«

»Und seit Men­schen­ge­den­ken hat nie je­mand in dem Hau­se ge­wohnt?«, frag­te der Pro­fes­sor.

»We­nigs­tens nicht, seit ich bei dem Ohm bin,« ver­setz­te Traud­chen, »und das ist nun schon lan­ge her; denn ich war, ein ganz klei­nes Kind, als mei­ne El­tern star­ben und der Ohm mich zu sich nahm.«

»Aber jetzt wohnt je­mand dar­in, ver­las­sen Sie sich dar­auf, und wir wol­len es un­ter­su­chen, es mag kos­ten, was es wol­le. Bre­chen wir auf, Traud­chen, kom­men Sie,« sag­te der Stu­dent drän­gend. »Ich wet­te, Sie ken­nen sehr wohl ir­gend­ei­nen Schrank- oder Kis­ten­schlüs­sel, wo­mit wir des Ohms Spin­de los­ma­chen kön­nen und ...«

»Oh, um al­les in der Welt täte ich das nicht,« fiel Traud­chen ein. »Wenn der Ohm da­hin­ter­käme! ... Aber es ist noch eine Art Ein­gang in das Haus da ... und wenn der Mon­sieur Ben­der so gar groß Ver­lan­gen trägt, sei­nen Hals zu wa­gen ...«

»Nun se­hen Sie, dass ich recht hat­te, wenn ich sag­te, Sie wür­den schon ein Mit­tel wis­sen, hin­ein­zu­kom­men? Ich bit­te Sie um al­les, Traud­chen, kom­men Sie!«

»Gehe Sie in Got­tes Na­men, Jung­fer Traud,« sag­te der Pro­fes­sor, »die Ge­fahr wird so arg Nicht sein; es gibt der ver­las­se­nen und leer ste­hen­den Häu­ser lei­der mehr in un­se­rer durch schlim­me Zeit­läu­fe ent­völ­ker­ten Stadt, und wenn Sie Ihrem al­ten Bau nichts Schlim­me­res nach­sa­gen kann, als ich nun bis­her an­ge­hört, so wird der Mon­sieur Ben­der den Hals nicht dar­in bre­chen. Mor­gen in der Früh’, hof­fe ich, kommt un­se­re lie­be Haus­freun­din und stillt un­se­re nicht un­be­trächt­li­che Neu­gier, was aus dem ke­cken Mon­sieur Ben­der und sei­ner Ent­de­ckungs­fahrt in die nächt­li­chen und ge­heim­nis­vol­len Re­gio­nen des al­ten Hau­ses ge­wor­den!«

»Ja, bis mor­gen, Herr Pro­fes­sor!«, rief Traud­chen Gym­nich aus, in­dem sie ih­ren Re­gen­man­tel um­schlug und die La­den­tür öff­ne­te; und nach­dem der Scholar sich von sei­nem Leh­rer ver­ab­schie­det, folg­te er dem jun­gen Mäd­chen mit sei­ner La­ter­ne.

in Ab­stän­den auf­tre­ten­des Fie­ber, Wech­sel­fie­ber  <<<

ver­dienst­voll  <<<

obe­ren Hals­wir­bel­säu­le  <<<

Zweites Kapitel -- Was der Student und das junge Mädchen in dem alten Hause entdeckten

Es schlug acht Uhr in dem ver­wit­ter­ten al­ten Dom­tur­me, es schlug acht Uhr auf Groß- und auf Klein-St.-Mar­tin, und acht Schlä­ge hall­ten in ver­schie­de­nen Pau­sen, bald dumpf, bald hell, bald nahe, bald fern, von al­len den zahl­lo­sen Tür­men, die zwi­schen St.-Ku­ni­bert und St.-Se­ve­rin la­gen. Es war ein selt­sa­mes Kon­zert, das durch den dich­ten Ne­bel schwir­rend bis in die kleins­ten Sack­gas­sen, Durch­gän­ge und Höfe drang. Acht Uhr! Es wäre ge­nug ge­we­sen, wenn es die große Dom­glo­cke mit ih­rem mäch­tig da­hin­rol­len­den Klan­ge ge­sagt hät­te; denn je­der­mann, der hö­ren woll­te, konn­te nicht den ge­rings­ten Zwei­fel dar­über he­gen, dass die großen Glo­cken­häm­mer in dem Tur­me der Ka­the­dra­le acht­mal aus­ho­ben und acht­mal nie­der­fie­len. Aber die an­dern woll­ten es auch sa­gen. St.-Ma­ria im Ka­pi­tol, St.-Ma­ria zu den Staf­feln, St.-Ma­ria in der Kup­fer -- und die in der Schnur­gas­se woll­ten es auch ver­kün­den; und was St.-Ma­ria be­haup­te­te, da­mit wa­ren St.-Ku­ni­bert, St.-An­dre­as, St.-Ge­re­on, St.-Ur­su­la und St.-Pan­ta­le­on so sehr ein­ver­stan­den, dass sie es aus­drück­lich laut wie­der­hol­ten; und dann ka­men die klei­nem Hei­li­gen: St.-Al­ban, St.-Mau­ri­ti­us und St.-Co­lum­ba; sie mach­ten sich ein wah­res Ver­gnü­gen dar­aus, ihre voll­stän­di­ge Über­ein­stim­mung mit den großen an den Tag zu le­gen und ihr Stimm­recht zu wah­ren, und so ver­kün­de­ten sie alle, dass nun aber­mals eine Stun­de ins Meer der Ewig­keit ver­sun­ken.

»Bit­te, ge­hen Sie vor­aus, Herr Ben­der,« sag­te das jun­ge Mäd­chen zu ih­rem Beglei­ter, als sie den La­den des Pro­fes­sors ver­las­sen hat­ten, »leuch­ten Sie mir.«

Der Stu­dent schritt vor­aus und ließ das Licht sei­ner La­ter­ne auf den Bo­den der Stra­ße fal­len. Jung­fer Traud fass­te herz­haft ih­ren Man­tel und ihr Ser­geröck­lein hin­ter sich zu­sam­men, und auf ihre fes­ten Schnürs­tie­fel­chen ver­trau­end, er­gab sie sich, dem ra­schen Schrit­te Ben­ders fol­gend, in das Un­ver­meid­li­che.

Ihr Weg mün­de­te in eine Stra­ße, wo der Schmutz noch un­er­gründ­li­cher war. Die bei­den jun­gen Leu­te aber wa­ren zu voll von ih­rem Vor­ha­ben, um sich viel dar­an zu keh­ren. Sie gin­gen der Hoch­p­for­te zu, über den Welt­markt, dann links ab und eine Wei­le ne­ben der düs­te­ren, nie­de­ren Ge­orgs­kir­che her, de­ren ge­wal­ti­ger Turm noch mas­sen­haf­ter und brei­ter als bei Tage jetzt durch Nacht und Ne­bel dräu­te. Wäh­rend in den Stra­ßen, durch wel­che sie ge­kom­men, hier und dort aus den Lä­den und aus den of­fe­nen Tü­ren der Wein­häu­ser hel­ler Licht­schein auf den Weg ge­fal­len war, lag die gan­ze Ge­gend, in wel­che sie jetzt ge­lang­ten, durch­aus in Dun­kel und Fins­ter­nis. Doch glitt der enge Licht­kreis, den Hu­berts La­ter­ne auf den Bo­den warf, rasch da­hin, und in­ner­halb die­ser Licht­sphä­re be­weg­ten sich eben­so rasch zwei männ­li­che, mit Klap­pens­tie­feln be­waff­ne­te Bei­ne und der un­te­re Teil ei­ner weib­li­chen Ge­stalt -- denn von den Ober­kör­pern wa­ren nur höchst un­si­che­re zer­flos­se­ne Um­ris­se zu un­ter­schei­den. Ent­schlos­sen schrit­ten sie vor­wärts. Als sie die Kir­che hin­ter sich hat­ten, ge­lang­ten sie auf einen klei­nen vier­e­cki­gen Platz, der al­ler­dings vor dem un­er­gründ­li­chen Schmutz der Stra­ßen den Vor­teil dar­bot, dass man hier fes­ten Bo­den un­ter den Fü­ßen fühl­te. Da­für aber war er durch Hau­fen von Keh­richt und Schutt, die hier mit oder ohne ob­rig­keit­li­che Er­laub­nis ab­ge­la­gert wa­ren, un­weg­sam ge­macht, und die lie­be Ju­gend, die, aus dem Zwin­ger der Bil­dungs­an­stalt ent­las­sen, täg­lich hier ihre kind­li­chen Spie­le auf­zu­füh­ren Pfleg­te, hat­te über­all tie­fe Lö­cher, wah­re Schacht­baue an­ge­legt, so­dass Hu­bert Mühe hat­te, in Schlan­gen­li­ni­en sei­nen Weg durch die­ses schwie­ri­ge Ter­rain zu fin­den. End­lich stand man am Zie­le. Es war ein klei­ner ein­stö­cki­ger Vor­bau, mit ei­nem großen Ein­fahrts­to­re, über dem ein vor­sprin­gen­des Schutz­dach die Fi­gur ir­gend­ei­nes nicht recht er­kenn­ba­ren Hei­li­gen schirm­te. Traud­chen zog einen Schlüs­sel her­vor, um eine klei­ne­re in das Tor ein­ge­schnit­te­ne Ein­lass­tür zu öff­nen.

»Wenn je­mand sähe, dass ich Sie mit her­ein­näh­me, was wür­den die Leu­te den­ken!«, sag­te sie da­bei ängst­lich flüs­ternd, »ver­de­cken Sie ja die La­ter­ne!«

»Dann, Traud­chen, hei­ra­te ich Sie,« gab Hu­bert la­chend zur Ant­wort, »und was ist dann da­bei?«

»Oh, ich dan­ke schön,« ver­setz­te das jun­ge Mäd­chen, »da wär’ die Me­di­zin schlim­mer als die Krank­heit!«

Sie stan­den jetzt un­ter ei­nem ge­wölb­ten Tor­bo­gen; links lag der Ein­gang zur Woh­nung Traud­chens und des Ohms Gym­nich, vor ih­nen aber ein Hof, des­sen hin­te­re Sei­te ein ho­hes, in der Dun­kel­heit un­be­schreib­lich düs­ter aus­se­hen­des Ge­bäu­de bil­de­te; die lin­ke Sei­te die­ses Ho­fes schloss ein auf Holz­stän­dern ru­hen­des of­fe­nes Bau­werk, der Holz­schup­pen, von dem Traud­chen ge­re­det hat­te, ab, von dem Vor­bau bis an das Haupt­ge­bäu­de rei­chend und bei­de ver­bin­dend. Rechts schloss eine hohe Mau­er den Hof.

Traud­chen hieß den Stu­den­ten un­ter dem Durch­gang des Vor­baus war­ten und ver­schwand dann im In­nern ih­rer Woh­nung. Nach ei­ner Pau­se kehr­te sie zu­rück. Sie fand ih­ren Beglei­ter jetzt auf der Mit­te des Ho­fes ste­hend und die La­ter­ne noch im­mer un­ter dem Man­tel ver­bor­gen hal­tend, aber an­ge­streng­ten Blickes an dem al­len Her­ren­hau­se hin­auf­spä­hend.

»Von Rauch sehe ich nichts,« sag­te er lei­se, als er Traud­chens Schrit­te hin­ter sich hör­te, »ich kann heu­te nicht ein­mal die Es­sen se­hen, so dun­kel ist es; aber bli­cken Sie ein­mal auf das drit­te Fens­ter von links in der obe­ren Rei­he -- das, wel­ches sich ge­ra­de über dem Er­ker be­fin­det -- schim­mert da nicht in der Mit­te et­was wie ein ganz schma­ler Licht­strei­fen hin­durch?«

»In der Tat,« ver­setz­te Traud­chen, »es muss da oben Licht sein.«

»Was ha­ben Sie da, Jung­fer Traud?«, frag­te Hu­bert, auf einen Ge­gen­stand deu­tend, den das jun­ge Mäd­chen in der Hand trug.

»Ein paar alte Filz­schu­he vom Ohm,« sag­te sie. »Zie­hen Sie das über die Stie­fel an, da­mit Sie auf den Trep­pen kein Geräusch ma­chen.«

»Jung­fer Traud denkt an al­les!«, ver­setz­te Hu­bert, in­dem er die Filz­schu­he nahm, sie auf den Bo­den setz­te und in die wei­ten Fuß­ge­häu­se des Ohms Gym­nich mit Leich­tig­keit sei­ne Stie­fel schob.

Das jun­ge Mäd­chen, das ih­ren Man­tel in ih­rer Woh­nung zu­rück­ge­las­sen hat­te, be­mäch­tig­te sich jetzt der La­ter­ne und schritt vor­auf. Sie wand­te sich zur rech­ten Sei­te des Ho­fes. Die Mau­er, wel­che hier ab­schloss, stieß nicht un­mit­tel­bar an das Her­ren­haus, in des­sen In­ne­res die bei­den jun­gen Leu­te eine Ent­de­ckungs­fahrt un­ter­neh­men woll­ten. Sie lief etwa vier oder fünf Fuß von der Sei­ten­wand des Hau­ses ab­ste­hend mit die­ser par­al­lel fort, einen schma­len Durch­gang bil­dend, der auf einen hin­tern Ho­fraum führ­te -- im tiefs­ten Hin­ter­grun­de schie­nen da Stal­lun­gen oder ähn­li­che Ne­ben­ge­bäu­de an­ge­bracht, und in der Mit­te des Rau­mes streck­te ein ur­al­ter ho­her Birn­baum sei­ne Äste in den feuch­ten Nacht­him­mel auf.

Traud­chen, auf die­sem Hof­plat­ze an­ge­kom­men, führ­te ih­ren Beglei­ter an der hin­tern Front des al­ten Hau­ses ent­lang. Hu­bert späh­te da­bei zu den Fens­tern em­por, ohne hier eine Spur von Licht­schim­mer zu ent­de­cken; sein Auge traf nur auf dunkle, dicht­ver­schlos­se­ne Lä­den. Am Ende der hin­tern Front sprang ein acht­e­cki­ger Turm in den Ho­fraum vor; als sie den­sel­ben er­reicht hat­ten, wur­de eine nie­de­re Tür, die hin­ein­führ­te, sicht­bar.

Traud­chen leg­te ihre Hand auf den Arm ih­res Beglei­ters.

»Neh­men Sie sich hier in acht,« sag­te sie, »es füh­ren drei Stu­fen hin­ab, an die Tür­schwel­le.« Zu­gleich hielt sie die La­ter­ne dicht an den Bo­den, so­dass die Stu­fen sicht­bar wur­den.

»Also hier kön­nen wir hin­ein?«, frag­te Ben­der, die Stu­fen hin­ab­schrei­tend. »In der Tat, die Tür ist nur an­ge­lehnt!«

Er schob die Tür be­hut­sam auf; es führ­ten un­ter ihr noch ei­ni­ge Stu­fen in einen dun­keln ge­wölb­ten Raum, der, als Traud­chen mit ih­rer La­ter­ne un­ten an­ge­kom­men war und ihn be­leuch­te­te, sich als eine Art von Kel­ler oder Rum­pel­kam­mer er­wies, worin alte Fäs­ser, Kis­ten und Kör­be, Kar­tof­fel- und Rü­ben­vor­rä­te und eine Men­ge von Gar­ten­ge­rät­schaf­ten un­ter­ge­bracht wa­ren, wel­che letz­te­re in ei­ner Ecke lehn­ten.

»Der Ohm braucht die­ses Ge­lass, wie Sie se­hen,« sag­te Traud­chen, »und er ver­schließt es ge­wöhn­lich nicht; jetzt müs­sen wir in den Win­kel dort links, und das wird Mühe kos­ten.«

Es kos­te­te al­ler­dings ei­ni­ge Mühe, na­ment­lich über einen großen Hau­fen von Kar­tof­feln weg­zu­kom­men, die un­ter den Fü­ßen nicht stand­hiel­ten, son­dern tückisch fort­kol­ler­ten, so­dass Jung­fer Traud ein­mal in die Knie sank und ein an­der­mal, um nicht zu fal­len, ihre Hand auf Hu­berts Schul­ter leg­te. Der Stu­dent schlang rasch und wie freund­lich be­sorgt, sie im Gleich­ge­wicht zu er­hal­ten, sei­nen Arm um ihre Tail­le und drück­te sie sanft an sich, in­dem er zu­gleich auf et­was ver­däch­ti­ge Wei­se sein Ge­sicht ih­rer Wan­ge nahe brach­te.

»Mon­sieur Ben­der!«, rief Traud­chen, sich ihm ent­zie­hend, aus, »wenn Sie un­ar­tig wer­den, lau­fe ich mit der La­ter­ne da­von und las­se Sie hier im Dun­kel zu­rück. Sie mö­gen dann se­hen, wie Sie wie­der her­aus­kom­men!«

»Un­ar­tig, Traud­chen? Ich woll­te Sie nur auf un­serm ge­fähr­li­chen Wege vor dem Fal­len be­wah­ren!«

»Ich be­wah­re mich schon sel­ber. Las­sen Sie sich das ge­sagt sein, Mon­sieur Ben­der.«

»Gut. Dann las­sen Sie uns jetzt mit bie­de­rem Hand­schlä­ge und ei­nem herz­haf­ten Kuss Frie­den schlie­ßen.«

Sie mach­te eine sehr ent­schlos­sen ab­weh­ren­de Be­we­gung mit der Hand.

»Glau­ben Sie, ich wäre mit Ih­nen ge­gan­gen,« sag­te sie schmol­lend, »wenn ich nicht ge­wusst hät­te, dass ich je­den Au­gen­blick mich da­von­ma­chen und Sie in ei­ner ver­zwei­fel­ten Lage in dem al­ten Bau, wo Sie nicht ein noch aus wis­sen, zu­rück­las­sen kann?«

»Ich dach­te, Sie wä­ren mit­ge­gan­gen, weil Sie auf mein über­aus red­li­ches und lamm­from­mes Ge­müt ver­trau­ten.«

»Was solch ein Stu­dent sich ein­bil­den! Jetzt klet­tern Sie nur vor­wärts; dort in die Ecke müs­sen wir hin­ein, und da müs­sen Sie die lee­re Ton­ne bei­sei­te­schie­ben und die al­ten Spa­ten und Re­chen fort­stel­len.«

Hu­bert folg­te ih­rer Wei­sung und ar­bei­te­te mög­lichst rasch und mög­lichst ge­räusch­los, die Ecke frei­zu­schaf­fen, wel­che Traud­chen ihm an­deu­te­te. Als dies ge­sche­hen, zeig­te sich bei dem Schim­mer der La­ter­ne eine in die Mau­er ein­ge­las­se­ne, wie die­se Mau­er selbst mit Kalk über­weiß­te Tür.

»Hier kön­nen wir hin­ein«, sag­te Traud­chen.

Die Klin­ke im In­nern ließ sich in der Tat mit Leich­tig­keit he­ben, und lei­se in ih­ren ros­ti­gen An­geln knir­schend, klaff­te die Tür auf, wäh­rend Staub und Spinn­we­ben von oben auf den Rücken des has­tig vor­wärts schrei­ten­den Stu­den­ten rie­sel­ten. Die bei­den jun­gen Leu­te, Hu­bert, dem Traud­chen die La­ter­ne über­ge­ben, vor­an, schrit­ten jetzt eine stei­le Wen­del­trep­pe em­por. Als sie die Höhe des eis­ten Stockes er­reicht hat­ten, zeig­te sich ih­nen zur Lin­ken eine of­fe­ne Bo­gen­wöl­bung. Als Hu­bert den Schein der La­ter­ne hin­durch­fal­len ließ, wur­de ein wei­ter Raum, ein Vor­platz, sicht­bar, an des­sen Wän­den al­ters­ge­schwärz­te Bil­der in dun­keln Rah­men hin­gen. Der Stu­dent drang lei­sen Schrit­tes in die­sen Raum vor, wäh­rend Traud­chen auf der Schwel­le der Bo­gen­öff­nung ste­hen blieb. Tief im Hin­ter­grun­de des Rau­mes wur­de, als Hu­bert die La­ter­ne er­hob, eine brei­te Trep­pe mit dunklem Holz­ge­län­der sicht­bar, wahr­schein­lich die Haupt­trep­pe des Hau­ses, die zu dem Por­tal in der Vor­der­front führ­te. In der Wand rechts zeig­te sich eine brei­te Flü­gel­tür, de­ren Ein­fas­sung aus reich­ge­schnitz­tem Holz­werk be­stand. Hu­bert wink­te Traud­chen her­an, die­se trat schüch­ter­nen Fu­ßes lei­se zu ihm.

»Soll­ten wir die Tür öff­nen kön­nen, ohne Geräusch zu ma­chen?«, sag­te er. »Ver­su­chen wir’s«, ver­setz­te sie, in­dem sie leicht die Hand auf den Drücker des al­ter­tüm­lich zi­se­lier­ten Schlos­ses leg­te. Der Drücker wich, die Tür be­gann sich zu öff­nen, aber sie knarr­te sehr ver­nehm­lich in den An­geln.

»Pst, Traud­chen, las­sen Sie mich das tun«, sag­te der Stu­dent, und in­dem er den Türflü­gel fass­te, stieß er ihn mit ei­nem schnel­len kräf­ti­gen Ruck auf.

Die Tür stand jetzt weit of­fen, ohne auch nur einen Laut von sich ge­ge­ben zu ha­ben.

»So muss man das ma­chen!«, flüs­ter­te Hu­bert, »und wenn wir an Stu­fen kom­men, wo es hin­ab­ge­ht, so den­ken Sie dar­an, im­mer nur mit den Fer­sen auf den äu­ßers­ten Rand zu tre­ten, dann bleibt al­les still.«

»Der Mon­sieur Ben­der scheint Übung dar­in zu ha­ben«, sag­te Traud­chen spöt­tisch.

»Oh, es lernt sich man­ches!«, er­wi­der­te Hu­bert lä­chelnd.

Un­ter­des­sen wa­ren sie in einen großen Saal ge­tre­ten. Der Schein der La­ter­ne fiel auf alte Ses­sel mit zer­ris­se­nen Über­zü­gen, die an den Wän­den ge­reiht stan­den, auf brau­ne Le­der­ta­pe­ten, auf einen mäch­ti­gen Ka­min mit schö­nem, weit in den Raum vor­sprin­gen­den Rauch­fang, den als Kar­na­ti­den1 zwei Stein­fi­gu­ren tru­gen, wel­che den köl­ni­schen Bau­er und die köl­ni­sche Jung­frau, die Schild­hal­ter des reichs­städ­ti­schen Drei­kro­nen­wap­pens, dar­stell­ten. Um die Stirn des Rauch­fan­ges lief eine Rei­he zier­lich ge­ar­bei­te­ter klei­ner Wap­pen, al­les dick mit wei­ßer Tün­che über­zo­gen. Ein grö­ßer ova­ler Tisch stand in der Mit­te des Saa­l­es, und über dem­sel­ben hing ein mäch­ti­ger alt­frän­ki­scher Kris­tall­lüs­ter. Dem Ein­gang ge­ra­de ge­gen­über ver­lor sich der Blick in die dunkle Tie­fe ei­nes von dem La­ter­nen­licht nicht er­reich­ten Er­kers.

»Es riecht hier bran­dig,« sag­te Hu­bert, der bis an den Tisch vor­ge­schrit­ten war, wäh­rend Traud­chen an der Tür ste­hen­ge­blie­ben »spü­ren Sie das nicht auch? Und da hier kei­ne Spur von Koh­len öder Asche vor­han­den,« fuhr Hu­bert fort, »so muss der Ruß im obe­ren Stock­wer­ke durch ein Feu­er ent­zün­det und den wei­ten Schlot hin­ab bis hier­her nie­der­ge­fal­len sein.«.

»Es muss also im obe­ren Stock ein Feu­er bren­nen«, fiel Traud­chen ein.

»Da, wo wir un­ten vom Hofe aus einen Licht­schein wahr­zu­neh­men glaub­ten,« fuhr Hu­bert fort, »kom­men Sie hin­auf!«

Jung­fer Traud schi­en nicht mehr ganz den Mut zu ha­ben, den sie an­fäng­lich zu der Ent­de­ckungs­fahrt mit­ge­bracht. Sie zö­ger­te.

»Nun, kom­men Sie!«, sag­te Hu­bert.

»Mir graut,« ver­setz­te sie. »Las­sen Sie uns ma­chen, dass wir fort­kom­men.«

»Woran den­ken Sie! Jetzt bin ich erst recht ver­ses­sen auf die Ent­de­ckung, was da oben, vor­ge­hen kann.«

»Mir fällt eine, gräu­li­che Ge­schich­te ein,« flüs­ter­te Jung­fer Traud, in­dem sich ihr glän­zen­des Auge er­wei­ter­te und aus ih­ren Wan­gen die Far­be wich, »eine Ge­schich­te von ei­nem, der nachts in ein al­tes Schloss ge­kom­men ist, und da ist er in einen hel­ler­leuch­te­ten Saal ge­ra­ten, in wel­chem Her­ren und Da­men in alt­mo­di­scher Tracht stumm um einen Tisch ge­ses­sen ha­ben, es­send und trin­kend, und wenn sie ge­trun­ken ha­ben, dann ist eine blaue Flam­me aus dem Be­cher ge­schla­gen, und es sind lau­ter längst, längst tote Men­schen ge­we­sen.«

»Hö­ren Sie auf mit Ihren Spuk­ge­schich­ten, Jung­fer Traud, mir graut schon so, dass ich aus lau­ter Angst mich dicht an Sie schmie­gen wer­de, wie ein furcht­sa­mes Kind an sei­ne Mut­ter«, sag­te schel­misch Hu­bert, in­dem er noch ein­mal ver­such­te, Traud­chen zu um­schlin­gen. Sie ent­schlüpf­te ihm lei­se la­chend. Hu­bert fuhr fort: »Jetzt kom­men Sie vor­wärts, hin­auf; nun müs­sen Sie schon mit mir aus­hal­ten bis ans Ende; ich gebe Ih­nen die La­ter­ne nicht zu­rück!«

Mit die­sen Wor­ten ver­ließ Hu­bert den Saal, schritt has­tig über den Vor­platz vor dem­sel­ben, und als er sich wie­der auf der Wen­del­stie­ge be­fand, auf der er bis hier­her vor­ge­drun­gen, be­gann er mit ver­dop­pel­ter Vor­sicht em­por­zu­stei­gen. Jung­fer Traud, wel­che sich Wohl hü­te­te, im Dun­kel al­lein zu­rück­zu­blei­ben, hielt sich ihm dicht auf den Fer­sen.

So ka­men sie lei­se stei­gend bis an eine ganz ähn­li­che Bo­gen­öff­nung wie die, durch wel­che sie eben auf den Vor­platz im eis­ten Stock ge­schrit­ten -- nur mit dem Un­ter­schie­de, dass die­se hier mit ei­ner Tür, die aber we­der Schloss noch Rie­gel zeig­te, ver­schlos­sen war. Hu­bert drück­te erst lei­se, dann stär­ker dar­an -- aber sie gab nicht nach; stär­ke­re Kraft­an­stren­gun­gen da­ge­gen zu ver­su­chen, war nicht rät­lich. Vi­el­leicht war sie von in­nen fest ver­rie­gelt.

Hu­bert stand einen Au­gen­blick, wie sich be­sin­nend, was zu tun. Dann leg­te er plötz­lich den Fin­ger auf den Mund und flüs­ter­te, zu Traud­chen sich nie­der­beu­gend: »Mir ist, als hör­te ich re­den ... Pst ... hö­ren Sie nichts?«

Traud­chen ant­wor­te­te nicht -- aber sie wies mit ih­rem Zei­ge­fin­ger über Hu­berts Kopf fort in die Höhe.

Hu­bert folg­te mit den Au­gen der Rich­tung, in wel­cher sie deu­te­te, die Trep­pe hin­auf. Dann schlug er rasch einen Man­tel­zip­fel um die La­ter­ne, und nun wur­de bei der um die jun­gen Leu­te ent­ste­hen­den Dun­kel­heit dop­pelt sicht­bar, was Traud­chen eben be­merkt und wor­auf sie ge­deu­tet hat­te.

Es drang ein schwa­cher Licht­schim­mer von oben her die Wen­del­stie­ge her­ab. Der Schim­mer lag bleich und däm­me­rig auf der Mau­er­flä­che, die über der nächs­ten Wen­dung der Trep­pe sicht­bar war.

Hu­bert drang jetzt, ohne sich lan­ge zu be­sin­nen, keck vor­wärts, wei­ter hin­auf, Traud­chen aber über­kam eine un­will­kür­li­che Angst. Sie blieb wie ge­fes­selt ste­hen.

Nach ei­ner Pau­se, wäh­rend de­ren das jun­ge Mäd­chen die Schlä­ge ih­res ei­ge­nen Her­zens hat­te ver­neh­men kön­nen, er­schi­en Hu­bert zu­rück­kom­mend, oben auf der Trep­pe wie­der -- er wink­te hef­tig mit der Hand. »Fol­gen Sie mir doch, kom­men Sie, Traud­chen -- nur kühn vor­wärts -- kom­men Sie rasch!«, flüs­ter­te er hin­ab.

Traud­chen er­mann­te sich und stieg em­por. Nach­dem die Trep­pe noch eine Wen­dung ge­macht, zeig­te sich dem jun­gen Mäd­chen eine klei­ne Fens­ter­öff­nung, die etwa an­dert­halb Fuß im Ge­vier­te ha­ben moch­te und durch wel­che hel­ler Licht­schein fiel. Das Fens­ter gin­gen das In­ne­re des Hau­ses hin­ein.

Hu­bert deu­te­te Traud­chen an, ihr Ge­sicht dem Fens­ter nahe zu brin­gen, und in­dem die letz­te­re sich auf den Ze­hen er­hob, ge­lang es ihr, in den Raum zu bli­cken, aus wel­chen der Licht­schein her­vor­drang. Sie zog so­gleich das Ge­sicht wie­der von den Schei­ben zu­rück, um mit der Mie­ne der äu­ßers­ten Über­ra­schung Hu­bert an­zu­bli­cken.

Die­ser leg­te den Fin­ger auf den Mund und brach­te zu glei­cher Zeit sein Ohr der De­cke des Fens­ter­chens nahe, wo eine der klei­nen blei­ge­fass­ten Schei­ben zer­bro­chen und aus­ge­fal­len war.

Jung­fer Traud da­ge­gen war noch ganz Auge. Sie blick­te mit weit auf­ge­ris­se­nen Li­dern in ein Ge­mach von mitt­ler­er Grö­ße, das viel wohn­li­cher ein­ge­rich­tet war, als der Zu­stand des üb­ri­gen Ge­bäu­des es er­war­ten ließ. Den Bo­den be­deck­te ein Tep­pich, die Wän­de, bis zur hal­b­en Höhe mit Holz ge­tä­felt, zeig­ten oben blan­ken wei­ßen Estrich, mit dem sie bis an das Ge­sim­se be­legt wa­ren, und am obe­ren Ende, wo ein klei­ner fran­zö­si­scher Ka­min sich be­fand, fla­cker­te ein lus­ti­ges Holz­feu­er, das einen hel­len Schein in den Raum warf. Auf ei­nem run­den, dem Ka­min na­he­ge­rück­ten Ti­sche stan­den au­ßer­dem zwei alt­frän­ki­sche ge­wun­de­ne Leuch­ter mit bren­nen­den Wachs­lich­tern. Auf den Stüh­len mit ho­hen Rücken­leh­nen von Rohr­ge­flecht, die sich an den Wan­den zeig­ten, la­gen Klei­dungs­stücke und al­ler­lei Ge­gen­stän­de, wie sie Per­so­nen um sich ver­brei­ten, die eben von ei­ner Rei­se ein­keh­ren und nun mit Män­teln, Hü­ten, Fuß­sä­cken und Etu­is die Räu­me fül­len, wel­che sie be­tre­ten.

Vor den tie­fen Fens­ter­ni­schen zeig­ten sich dicht zu­sam­men­ge­zo­ge­ne Vor­hän­ge von schwe­rem Stof­fe.

Vor dem flam­men­den Ka­min aber sa­ßen zwei Ge­stal­ten, in leb­haf­ter Un­ter­re­dung be­grif­fen.

Die eine der bei­den Ge­stat­ten war eine Dame, die nach­läs­sig auf der Hälf­te ei­nes Kana­pees ruh­te, wel­ches, um einen feh­len­den be­que­men Fau­teuil zu er­set­zen, zwi­schen dem run­den Ti­sche und der Kam­me­cke dem Feu­er na­he­ge­rückt war.

Ihr ge­gen­über an der an­dern Sei­te des Feu­ers, auf ei­nem der Stüh­le mit den ho­hen Rücken­leh­nen, saß ein Mann, der sei­ne Füße in be­que­mer Lage dem wär­me­n­den Schei­ne der Flam­men ent­ge­gen­streck­te.

Die Dame stand in rei­fe­rem Al­ter; ihr Ge­sicht hat­te erns­te, scharf aus­ge­präg­te Züge, in de­nen sich mehr Klug­heit und Ent­schlos­sen­heit als Wohl­wol­len und weib­li­che Mil­de spie­gel­ten. Die hohe Stirn war stark ge­run­det, die Nase ge­bo­gen, und so bil­de­te das Pro­fil eine Li­nie, die dem Seg­ment ei­nes Krei­ses zu nahe kam, als dass die­se Frau je hat­te von großer Schön­heit sein kön­nen. Und doch hat­te ihr Ant­litz et­was Ed­les, Vor­neh­mes, und ihre ru­hi­ge, selbst­be­wuss­te Hal­tung, ihre Be­we­gun­gen er­höh­ten die­sen Ein­druck. Ob­wohl, ihr Ge­sicht und ihre Hal­tung nichts von Spu­ren des Al­ters ver­rie­ten, zeig­ten doch ein paar grau­schim­mern­de Lo­cken, wel­che un­ter ei­ner klei­nen, mit Spit­zen be­setz­ten Hau­be her­vor­tra­ten, dass sie über die Mit­tags­hö­he des Le­bens weit hin­aus sei und an der Schwel­le des Al­ters ste­he.

Sie war in eine Robe von schwar­zer Sei­de ge­klei­det, über wel­cher sie einen dun­keln, mit brau­nem Pelz be­säum­ten Über­wurf trug, des­sen wei­te Är­mel von den El­len­bo­gen an den Un­ter­arm freilie­ßen.

Der Herr ihr ge­gen­über wand­te den lau­schen­den jun­gen Leu­ten den Rücken zu. Sie konn­ten nur aus sei­ner kräf­ti­gen und in den Schul­tern brei­ten Ge­stalt schlie­ßen, dass auch er in rei­fem Jah­ren ste­he. Er trug ein dun­kel­grü­nes Kleid, über des­sen Kra­gen ein star­ker Zopf nie­der­hing; zu sei­ner Rech­ten auf dem Ti­sche lag ein Hirsch­fän­ger mit brei­ter Kop­pel und ein drei­e­cki­ger, mit schma­ler Gold­b­or­te be­setz­ter Hut.

Wäh­rend Jung­fer Traud mit ih­ren weit auf­ge­ris­se­nen Au­gen die­se Beo­b­ach­tun­gen mach­te, horch­te Hu­bert Ben­der voll Span­nung auf die Wor­te, wel­che die bei­den frem­den Men­schen vor dem Ka­min mit­ein­an­der spra­chen.

»Da­von kein Wort mehr, Geb­har­de!«, sag­te der Mann vor dem Ka­min mit ei­ner voll­tö­nen­den, et­was rau­en Stim­me, die durch An­stren­gun­gen in Wind und Wet­ter von ih­rem ur­sprüng­li­chen Me­tall ver­lo­ren zu ha­ben schi­en, und mit ei­nem et­was fremd­län­disch klin­gen­den Ak­zent. »Da­von kein Wort mehr! Als Ca­pi­taine des chas­ses zu Chan­til­ly konn­te ich die­ses ver­ma­le­dei­te Frank­reich er­träg­lich fin­den. Seit­dem aber der Her­zog von Con­dé zum Teu­fel ge­jagt, Chan­til­ly ge­plün­dert und mei­ne Ka­pi­ta­ne­rie wie jede an­de­re ver­nünf­ti­ge Ein­rich­tung, die den Pö­bel in sei­nen Schran­ken hielt, von der Ka­nail­le über den Hau­fen ge­stürzt ist, sprich mir von kei­ner Rück­kehr da­hin! Ich sage dir, das gan­ze schö­ne Frank­reich ist ein Toll­haus ge­wor­den, in wel­chem die Nar­ren frei find und die Ver­nünf­ti­gen zu Tode het­zen, die sich nicht ha­ben bei­zei­ten ret­ten kön­nen. Ich gehe nicht da­hin zu­rück.«

Die Dame ant­wor­te­te et­was, das nicht laut ge­nug ge­spro­chen wur­de, um es ver­ste­hen zu kön­nen.

»Sie über­schät­zen mei­nen Ein­fluss, Wil­brand,« sag­te die Dame dann nach ei­ner Pau­se.

»Aber der Tol­le ...«

»Der Tol­le hasst mich, weil ich zwi­schen ihn und eins sei­ner Op­fer ge­tre­ten bin.«

»So tritt zu­rück aus die­ser ge­fähr­li­chen Po­si­ti­on, und be­din­ge dir da­bei aus, dass er dir dei­nen Wil­len tue.«

Die Dame stütz­te ihre Stirn auf ihre Hand, so­dass ihre grau­en Lo­cken über ihre Wei­ßen schma­len Fin­ger nie­der­fie­len; so blick­te sie eine Zeit­lang nach­denk­lich in die Flam­men des Ka­mins.

»Es wäre ein See­len­ver­kauf!«, sag­te sie end­lich.

Der Mann ihr ge­gen­über zuck­te die Ach­seln.

»Ah bah! Las­sen wir es. Ich wer­de nach zwei oder drei Wo­chen mich dem Tol­len vor­stel­len, und du wirst dann al­les ge­ord­net ha­ben«, sag­te er mit großer Be­stimmt­heit.

»Es ist auch nicht das al­lein,« fuhr die Dame mit ei­nem Seuf­zer fort, »es ängs­tigt mich der Ge­dan­ke ...«

»Doch nicht etwa, dass man mich er­ken­nen könn­te?«

»Und wenn es so wäre?«

»Tor­heit! Die Zeit, das Le­ben und mei­ne Schram­me ha­ben mich voll­stän­dig ver­wan­delt. Und wie­viel lebt denn noch von mei­nen al­ten Kum­pa­nen und Be­kann­ten dort? Es wer­den ih­rer ver­zwei­felt we­nig sein! Dem al­ten Stier, dem Eg­gen­ro­de kann ich aus dem Wege ge­hen. -- -- Der Ge­dan­ke, dass man mich er­ken­nen könn­te, ist es auch ei­gent­lich nicht, was dich ängs­tigt«, fuhr der Mann nach ei­ner Pau­se fort. »Es ist et­was an­de­res!«

»Und was soll­te es sein?«, frag­te sie mit re­si­gnier­tem Tone.

»Der Ge­dan­ke, mich in dei­ner Nähe zu wis­sen.«

Sie ant­wor­te­te nicht.

»Ge­ste­he, Geb­har­de, ist es nicht das?«

»Wenn es Ih­nen Ver­gnü­gen macht, es zu hö­ren -- nun ja, al­ler­dings.«