Die Maß ist voll - Stefan Limmer - E-Book

Die Maß ist voll E-Book

Stefan Limmer

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Beschreibung

Heroin statt Hostien: Ein Fall für Hauptkommissar Dimpfelmoser Hauptkommissar Dimpfelmoser sitzt mal wieder beim Schorsch-Wirt über seinen Bratwürstln, als seine Schwester Marianne mit zerrissener Kleidung zur Tür reinstürmt. Bevor sie zusammenbricht, flüstert sie noch: »Er ist hinter mir her!« Dimpfelmoser lässt die Würstl Würstl sein und beginnt sofort zu ermitteln, denn auch im Krankenhaus scheint seine Schwester nicht sicher zu sein. Dann wird ein Toter gefunden, und Marianne ist plötzlich verschwunden. Es geht um Drogen und um Mord, und Dimpfelmoser steckt tief drin ...

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Das Buch

Hauptkommissar Dimpfelmoser sitzt – wie so oft – beim Schorsch-Wirt über seinen Bratwürstln, als seine Schwester Marianne, die er seit Jahren nicht gesehen hat, zur Tür hereinstürmt. Bevor sie direkt vor Dimpfelmoser ohnmächtig zusammenbricht, flüstert sie noch: »Er ist hinter mir her!« Dimpfelmoser will sofort alle Hebel in Bewegung setzen, um die Hintergründe zu klären, doch sein Chef nimmt ihn nicht ernst. Erst als Marianne spurlos aus dem Krankenhaus verschwindet und noch dazu ein Toter gefunden wird, findet Kommissar Dimpfelmoser bei seinem Chef Gehör. Allerdings bleibt ihm kaum Zeit zum Ermitteln, denn plötzlich wird ihm der Fall vom BKA entzogen. Merkwürdig. Liegt das vielleicht an der Tatsache, dass der Pfarrer des Ortes große Mengen Heroin in der Kirche gefunden hat? Und was hat Marianne damit zu tun? Plötzlich wirkt das sonst so idyllische Städtchen im Bayerischen Wald wie ein großstädtischer Verbrechenspfuhl. So geht das nicht weiter, Dimpfelmoser kann den Fall doch nicht dem BKA überlassen, wenn es um die Ehre seiner Stadt geht! Er wird das Ganze aufklären – notfalls auch im Alleingang …

Der Autor

Stefan Limmer ist verheiratet und hat vier Kinder. Er wohnt zwischen Regensburg und Cham, in der Gegend, in der auch der Kommissar Dimpfelmoser ermittelt. Hauptberuflich ist er als Heilpraktiker, Seminarleiter und Dozent tätig.

Von Stefan Limmer ist in unserem Hause bereits erschienen:

Mordswatschn

Stefan Limmer

Die Maß ist voll

Kriminalroman

Ullstein

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ISBN 978-3-8437-1389-4

Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch

1. Auflage März 2017

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2017

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München

Titelabbildung: © FinePic®, München;

© Getty Images/Ron Erwin (Murmeltier)

E-Book: LVD GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Prolog

Die Umgebung ist inzwischen gänzlich uninteressant geworden. Sie starren nur noch auf das weiße Pulver im Löffel, das sich unter der Kerzenflamme langsam verflüssigt. Sie ziehen ihre Spritzen auf, binden sich die Arme ab und setzen sich endlich den erlösenden Schuss, der sie in den Himmel katapultiert. Wundervolle Klänge und Farben tauchen in ihren Köpfen auf und nehmen Gestalt an, hüllen sie ein und tanzen mit ihnen den Tanz des Teufels. Nach einiger Zeit stehen die beiden Frauen auf, schnappen sich die Tüte mit dem Heroin und verschwinden aus der alten Lagerhalle. Den Toten, der mit einem Messer im Herz am Boden liegt, haben sie schon längst vergessen.

Kapitel 1

Sonntag, 11.00 Uhr

»Das Übliche, Dimpfelmoser?«

Die Heidi, die Bedienung beim Schorsch-Wirt, dreht sich schon weg, ohne meine Antwort abzuwarten. Sie kennt mich halt und weiß, dass ich jeden Sonntag das Gleiche bestelle.

»Ein großes Mineralwasser hätt ich gerne zum Essen dazu«, nuschle ich vor mich hin und wage gar nicht, sie anzuschauen.

Sie bleibt abrupt stehen, und die Kinnlade fällt ihr runter. Mit weit aufgerissenen Augen starrt sie mich an, als wär ich nicht mehr ganz richtig im Kopf. Dann beginnt sie lauthals zu lachen, so dass das halbe Wirtshaus neugierig zu uns rüberschaut.

»Geh Xaver, heut ist der 1. April. Auf so einen Schmarrn falle ich nicht herein! Ein Bier wie immer halt, oder?«

»Mineralwasser, groß mit Kohlensäure.«

Verwundert schaut mich die Heidi an.

»Bist hoffentlich nicht krank, oder schmeckt dir des Bier bei uns nicht mehr?«

Als ob mir das Bier beim Schorsch-Wirt nicht mehr schmecken würde. Aber es hilft halt nix.

»Geh Heidi, bring mir halt einfach ein Wasser, des ist gesund und tut gut.«

»Meinst des ernst, Xaver? Bist krank?«

Sie schaut ganz besorgt, aber nachdem ich nicht reagiere, schüttelt sie nur den Kopf und zieht ab, um meine Bestellung weiterzuleiten. An den Nebentischen tuscheln alle ganz aufgeregt miteinander. Da muss ich wohl für Klarheit sorgen, nicht dass mein guter Ruf als passionierter Biertrinker noch leidet.

»Ich hab eine Wette verloren mit meinem Kollegen, und da muss ich halt jetzt für die nächsten Wochen auf’s Bier verzichten. So einfach ist des, und jetzt kümmert’s euch wieder um eure eigenen Angelegenheiten.«

»Eine Wette verloren«, prustet der Pfarrer Eberdinger am Nachbartisch los. »Mei Xaver, da wird sich deine Leber aber freuen, wenn’s endlich einmal eine Pause bekommt. Da kannst ja auch wieder zu mir in die Kirche kommen, wennst am Sonntag nix mehr trinken darfst.«

»Da kannst lang drauf warten, da muss schon mehr passieren als eine verlorene Wette, bevor ich zu dir komm, Eberdinger«, brumme ich nur.

Wenn der wüsste, wie recht er hat mit seinem Kommentar zu meiner Leber. Ich habe tatsächlich eine Wette verloren, was mich immer noch maßlos ärgert. Aber da bin ich halt selber schuld, dass ich mich da hinreißen hab lassen. Der Reindl hat behauptet, wenn wir gemeinsam Bier trinken, dann hält er es länger aus als ich, bevor er zum Bieseln muss. Und weil er ein Preiß ist, hab ich ihm das nicht geglaubt. Wir haben uns dann mit einem Kasten Bier an die Donau gesetzt, und nach der achten Halben hab ich es nicht mehr ausgehalten. Bevor die Ladung in die Hose ging, hab ich in die Donau gestrullert. Der Reindl hat mich nur ausgelacht und hat sich noch ein Bier aufgemacht. Erst nach der neunten Halben musste er dann auch. Ich bin mir ja sicher, dass er mich beschissen hat, aber das kann ich ihm nicht beweisen. Jetzt muss ich halt sechs Wochen ohne Bier auskommen, was mir zugegebenermaßen nicht leichtfällt. Ich träume sogar vom Bier, das irritiert mich schon ein bisserl.

»Deine Bratwürstl, Xaver. Mit doppelter Portion Kraut«, flötet die Heidi und stellt mir mein Essen unter die Nase. »Und magst dann noch gleich ein Wasser? Des passt aber irgendwie gar nicht zu dir, des kannst mir glauben.«

»Gib mir noch eins von eurem Wasser her, und dann lass mich in Ruhe«, brumme ich nur.

Die Heidi zieht schmollend ab. Aber da kannst doch trotz der Bratwürste keine wirklich gute Laune mehr ­haben. Ich schaue ihr heute nicht einmal auf ihren wunderbaren Vorbau, weil ich mit meinen Gedanken ganz wo­anders bin. Irgendwie muss ich seit dem Arztbesuch vor drei Tagen immer an die Eva denken. Die Eva ist meine Haushälterin. Sie ist seit unseren unerfreulichen Kind­heits­­erlebnissen in der bescheuerten Sekte von meinen Eltern wie eine Schwester für mich, aber so ganz sicher bin ich mir da in letzter Zeit nicht mehr, ob sie das auch so sieht. Seit den letzten Mordfällen, die sie wieder an unsere Kindheit in der Sekte erinnert haben, geht sie regelmäßig zu so einem Psychologen. Und seitdem schaut sie mich immer öfter mit so einem Augenaufschlag an und drückt sich her, da könnt dir ganz anders werden. Und nach meinem niederschmetternden Amtsarztbesuch ist sie kreidebleich geworden, wie ich ihr das von den Leberwerten erzählt hab. Sie ist mir gleich um den Hals gefallen und hat sich schluchzend an mich geklammert, als ob es schon vorbei wär mit mir. Und das verunsichert mich. Ich verstehe einfach nicht, warum sich die Eva gar so komisch benimmt. Egal, jetzt lade ich mir erst einmal die Gabel voll Kraut und schiebe noch eine ganze Bratwurst drauf. Wenn schon kein Bier, dann wenigstens ein gescheites Essen. Es ist ja schließlich Sonntag, und ich habe wieder einmal mit meinem Kollegen, dem Reindl, Bereitschaftsdienst. Der geht ja in letzter Zeit immer öfter mit zum Schorsch-Wirt. Das hat er früher nie gemacht, aber inzwischen hat er sich echt gut gemacht, dafür, dass er ein Preiß ist. Aber heute wollte er unbedingt noch kurz in der Dienststelle bleiben, wahrscheinlich sucht er wieder einmal nach einer Frau im Internet. Gerade als ich mir die erste Gabel in den Mund schieben will und mir die Heidi mit abfälligem Blick mein neues Mineralwasser herstellt, geht die Türe auf. Der Reindl kommt rein und setzt sich bestens gelaunt zu mir.

»Bringen Sie mir bitte ein Bier, schöne Frau«, schleimt er der Heidi hin, aber die ist gegen so was resistent.

»Xaver, was für ein wundervoller Anblick. Du mit einem Wasser. Das freut mich, dass du eine verlorene Wette ernst nimmst.«

Ja, was bleibt mir auch anderes übrig, ich bin halt ein Ehrenmann. Zähneknirschend schau ich dem Reindl zu, wie er extra langsam sein Bier hebt, das ihm die Heidi sofort gebracht hat, und genussvoll daraus trinkt. Er beobachtet mich dabei ganz genau aus den Augenwinkeln, der elendige Sauhund. Aber ich lass mir nix anmerken, hebe genauso langsam mein Wasser und nehme einen kräftigen Schluck, so dass das Glas gleich leer ist. Dazu rülpse ich genüsslich und mache ein zufriedenes Gesicht, obwohl ich in dem Moment dem Reindl lieber in seine selbstgefällige Fresse hauen würde.

»Und, wann hast eine neue Verabredung, Reindl?«

»Gleich heute Abend, Dimpfelmoser. Stell dir vor, in einem der Partnervermittlungsportale, bei denen ich angemeldet bin, habe ich heute meine Traumfrau kennengelernt. Und heute Abend führe ich sie in Regensburg aus. Ich bin mir sicher, diesmal ist es die Richtige.«

Er zückt ein Bild, das er ausgedruckt hat, und hält es mir selig unter die Nase. Ich werfe einen kurzen Blick darauf und verschlucke mich gleich an der Bratwurst, an der ich gerade gekaut habe.

»Rattenscharf ist die, das sage ich dir. Da verschluckst dich gleich bei so viel Schönheit auf einmal.«

Rattenscharf und wunderschön, da hat er recht, der Reindl. Aber deswegen hab ich mich nicht verschluckt. Ich kenne die Dame auf dem Bild nur zu gut. Aber wie soll ich das dem Reindl erklären, was das für eine ist? Immer wenn er glaubt, er hat endlich seine Traumfrau gefunden, und wenn er dann in so einem Zustand der Euphorie ist, dann hört und sieht er nichts mehr, sondern ist völlig ­verblendet und blind für die Realität. Seine Hormone spielen völlig verrückt, das habe ich inzwischen immer wieder erlebt. Trotzdem muss ich es zumindest versuchen. Nicht dass er mir hinterher vorwirft, ich hätte ihn nicht gewarnt. Aber da ist Diplomatie gefragt, nicht dass er gleich wieder wie eine beleidigte Leberwurst reagiert.

»Du, die kenn ich, Reindl. Da musst vorsichtig sein.«

»Du kennst die Dame?«, fragt er versonnen und glotzt weiter auf das Bild.

»Reindl, die war im Gefängnis wegen schwerer Körperverletzung und illegalem Drogenbesitz. Ich war dabei, wie sie die Kollegen festgenommen haben. Eine wahre Furie, sag ich nur.«

»Du wieder, Dimpfelmoser. Bist neidisch, weil sie so gut aussieht? Die brauchst mir nicht schlechtreden, und überhaupt verwechselst du die. Sie hat geschrieben, dass sie erst vor einer Woche nach Regensburg gezogen und so einsam ist.«

Die lügt wie gedruckt, aber es war ja klar, dass der Reindl bei der ihrem Anblick völlig durchdreht. Die hat ihren letzten Liebhaber unter Drogeneinfluss krankenhausreif geschlagen, weil sie sich so dermaßen in einen Eifersuchtswahn reingesteigert hat. Ihr Liebhaber hat nach ihrer Verhaftung beteuert, dass er absolut treu war, aber wenn er auch nur eine andere angeschaut hat, ist sie schon ausgerastet und hat ihn geschlagen, den armen Hund. Und das würde ich dem Reindl gerne ersparen. Also setze ich noch mal an, um ihn zu warnen.

Genau in diesem Moment bricht an der Eingangstüre ein Höllenspektakel los. Mir fällt vor Schreck die ganze Ladung Kraut auf den Boden, die ich mir gerade in den Mund schieben wollte. Ich starre nach vorne, und da bleibt mir doch das Maul offen stehen. Langsam lasse ich die Gabel sinken, und wie in Zeitlupe stehe ich auf.

Vorne ist inzwischen die Frau, die polternd mit der ganzen Türe in die Gaststube gefallen ist, wieder auf­gestanden. Alle Wirtshausbesucher glotzen sie an, als wär sie eine Außerirdische. Besonders ansehnlich ist sie wirklich nicht. Ihre Hose und die Jacke sind verdreckt, und irgendwie schaut sie völlig verwahrlost aus. Die Haare stehen kreuz und quer von ihrem Kopf weg, und über ihr ausgemergeltes Gesicht läuft die Wimpertusche in schwarzen Rinnsalen herunter. Da könntest richtig Angst kriegen, und dementsprechend hat es auch allen im Wirtshaus die Sprache verschlagen.

»Xaver …«

»Marianne, wie schaust du denn aus?«, ist das Einzige, was mir einfällt, während ich wie in Zeitlupe auf sie zugehe.

Alle Augenpaare wandern zwischen ihr und mir hin und her. Noch bevor ich bei ihr bin, verdreht sie plötzlich die Augen und bricht dann direkt vor mir zusammen. Mir bleibt die Luft weg, und das ganze Wirtshaus erstarrt kurzzeitig. Zum Glück fange ich mich gleich wieder und laufe die letzten Meter zu ihr hin.

»Holt’s einen Notarzt, schnell!«, schreie ich die Gaffer an, während ich die Vitalfunktionen von meiner Schwester überprüfe. Zum Glück atmet sie noch. Ihr Puls flackert zwar etwas, ist aber deutlich zu spüren.

Ich will sie in die stabile Seitenlage drehen, da fängt sie an zu würgen. Ich springe gerade noch rechtzeitig auf die Seite, bevor sie auf den Boden kotzt. Sofort breitet sich ein scharfer Geruch im Gastraum aus. Jetzt kommt endlich Bewegung in die Gäste. Der Schorsch reißt das Telefon von der Ladestation und ruft den Notarzt an, und einige öffnen schleunigst die Fenster und die Türen. Die Heidi kommt mit dem Putzlappen und wischt um die Marianne rum. Ich setze mich zur Marianne auf den Boden. Vorsichtig streiche ich ihr über den Kopf.

»Kennst die?«, fragt mich der Schorsch neugierig, während mich alle sensationslüstern anstarren.

»Des ist meine verschollene Schwester, die Mari­anne«, murmle ich.

Bevor noch einer weiterfragen kann, stürmt der Notarzt mit zwei Sanitätern herein. Irgendwie kriege ich den ganzen Tumult um mich herum gar nicht mit. Erst als mich der Rindenacher, einer der Sanitäter, sanft von der Marianne wegzieht, erwache ich wieder aus meiner Erstarrung.

»Lass sie halt los und uns ran, wir können doch sonst gar nicht unsere Arbeit machen«, redet er auf mich ein, als wäre ich ein kleines Kind.

Aber so fühle ich mich momentan auch. Ganz langsam dringt es in mein Bewusstsein, was hier gerade los ist. Meine Schwester, von der ich seit Jahren nichts mehr gehört und gesehen habe, liegt hier vor mir völlig verwahrlost und ausgemergelt am Wirtshausboden. Wie ich sie da so sehe, gibt es mir einen Stich, und die alten Bilder tauchen auf, wie sie sich immer gekrümmt hat unter den Schlägen vom erleuchteten Erwin, dem Sektenguru. Da ist sie danach auch immer so zusammengekauert und leblos am Boden gelegen und hat sich nicht mehr gerührt. Ich schiebe die Schatten der Vergangenheit schnell zur Seite, die kann ich im Moment gar nicht gebrauchen. Inzwischen ist im Wirtshaus ein Höllenspektakel ausgebrochen. Alle schreien und diskutieren wild durcheinander, während der Doktor seelenruhig seine Untersuchungen durchführt.

»Kennst du die Frau, Dimpfelmoser?«

»Des ist meine Schwester.«

»Oha, deine Schwester also. Weißt schon, dass die total auf Drogen ist.«

Plötzlich ist es wieder totenstill im Wirtshaus. Der sensationslüsterne Mob hält sich ganz ruhig, um ja nichts zu verpassen.

»Drogensüchtig …? Ja was …«

Mir verschlägt es vollends die Sprache, was mir normalerweise so gut wie nie passiert.

»Da schau, lauter Einstichstellen hat’s in den Armbeugen, und die sind richtig entzündet. Des kann fast nur vom Drogenspritzen kommen, so wie des ausschaut. Und wenn ich mir ihren Allgemeinzustand so anschaue, dann ist alles klar.«

Ich kann nur stumm nicken.

»Fahrt’s sie gleich ins Klinikum nach Regensburg, die sind auf so was besser vorbereitet als unser Krankenhaus«, weist er die Sanitäter an. »Und du fährst am besten gleich mit, Dimpfelmoser.«

»Ich fahr mit dem Polizeiauto hinterher, ich hab Bereitschaftsdienst. Reindl, bring mir den Wagen her, aber dalli.«

Der Reindl setzt sich in Bewegung und rast aus dem Gastraum rüber zur Polizeistation, während die Sani­täter die Marianne in den Krankenwagen verfrachten. Keine Minute später steht das Auto vor der Türe.

»Kümmer du dich um deine Schwester, ich halte hier die Stellung. Hier ist ja eh nie was los. Und wenn ein Einsatz reinkommt, dann melde ich mich über das Diensthandy, Dimpfelmoser.«

Auf den Reindl ist halt Verlass, wenn es darauf ankommt.

Mit Blaulicht und Sirene geht es ab nach Regensburg und in die Notaufnahme. Der Sanitäter rast wie ein Geisteskranker über die Autobahn, und ich bleibe ihm dicht auf den Fersen. Normalerweise wäre das ein pfundiger Einsatz, ich würde die Scheibe mit der Helene Fischer in den CD-Player schieben und auf volle Lautstärke aufdrehen. Aber heute bleibt es stumm im Auto. Ich spüre nur Angst in dem gähnenden Abgrund, der sich in mir aufgetan hat. Hoffentlich stirbt sie nicht, die Ma­rianne. Meine Gedanken kehren zurück zu jener Zeit, als sie unsere Heimatstadt verlassen hat. Gerade mal siebzehn Jahre war sie, als sie hier alles hinter sich gelassen hat – die Erinnerungen an unsere beschissene Kindheit in der Sekte unserer Eltern, die Erinnerungen an die Schläge, an die Gehirnwäsche und vor allem die Erinnerung an die Zeit im Keller mit den Toten, wo sie uns zurückgelassen haben, als sie alle nach Indien abgehauen sind. Die Marianne hat es von uns allen am schlechtesten verarbeitet. Auch nach Jahren war sie still und in sich gekehrt. Sie wollte dann raus aus dem Kleinstadtmief und ein neues Leben jenseits aller Erinnerungen beginnen. Am Anfang hat sie sich noch manchmal gemeldet und immer so getan, als würde es ihr richtig gutgehen, aber ich hab ihr das nie wirklich geglaubt. Und jetzt ist sie plötzlich wieder hier und vollgepumpt mit irgendwelchen Drogen.

Inzwischen haben wir die Zufahrt zur Notaufnahme erreicht. Ich springe aus dem Auto und laufe zum Krankenwagen, aus dem die Sanitäter gerade die Trage mit meiner Schwester darauf herausheben.

»Sie kommt gerade zu Bewusstsein, Dimpfelmoser«, erklärt mir der Rindenacher.

Ich nehme ihre Hand, während ihre Augenlider flackern und sie mich dann mit großen, glasigen Augen anstarrt.

»Xaver … Da bist du ja endlich«, lächelt sie schwach.

Mir fällt ein Stein vom Herzen. Sie lebt, und sie erkennt mich, das ist doch in Anbetracht der Umstände zumindest schon mal was. Ich lächle zurück und drücke vorsichtig ihre Hand. Sagen kann ich gar nichts, und so laufe ich nur neben der Trage her, die die Sanitäter in die Notaufnahme bringen.

»Ich hab dich gesucht, Xaver. Jetzt bist du ja da, jetzt wird alles gut«, murmelt sie, während ein Zittern durch ihren Körper geht, dass du meinst, sie wäre am Erfrieren.

»Marianne, wie … Was machst … Gesucht?«

Ich kann keinen einzigen vernünftigen Satz formu­lieren. Wie ich sie da so hilflos auf der Liege sehe, ausgemergelt und völlig fertig, da zerreißt es mir fast das Herz. Endlich sind wir in der Notaufnahme angekommen. Die Sanitäter heben die Marianne vorsichtig in einen Rollstuhl, dann geht es gleich weiter durch die Kranken­hausgänge. Ich laufe einfach orientierungslos mit und halte weiter ihre Hand.

Endlich schiebt der Rindenacher den Rollstuhl in ein Behandlungszimmer, und wir legen die Marianne auf die Behandlungsliege.

»Der Arzt kommt gleich und macht eine Eingangsuntersuchung. Ich muss dann wieder los, Dimpfelmoser, viel Glück«, verabschiedet sich der Rindenacher, und dann bin ich mit meiner Schwester alleine. Wir schauen uns zunächst nur an, und keiner spricht ein Wort. Ein Gemisch aus unterschiedlichsten Gefühlen und alten Erinnerungen bricht über mich herein, da brauch ich erst wieder einen klaren Kopf. Also atme ich ein paar Mal tief durch und verdränge alle Gedanken an früher. Das kann ich gut, das habe ich im Laufe der Jahre gelernt, wie ich den ganzen Mist in mir gut wegsperren kann.

»Marianne, du hast mich gesucht? Brauchst Hilfe, so wie du ausschaust? Und die Einstichstellen …?«

»Xaver, ich hab nicht freiwillig Heroin gespritzt. Die haben mich dazu gezwungen. Ich wollte das nicht.«

»Heroin? Wie lange pumpst das Zeug schon in dich rein?«

»Seit einem halben Jahr, da hat das alles angefangen.«

Ihr Körper beginnt zu zittern, und ihre Augen verdrehen sich wieder so komisch. Da geht zum Glück die Türe auf, und ein Arzt betritt mit einer Krankenschwester den Raum. Er ist mir vom ersten Moment an unsympathisch, der saubere Herr Doktor. Der hat doch tatsächlich so ein Gel in den Haaren, und irgendwie schaut er aus, als wäre der feine Herr auch noch leicht geschminkt. Er wirft nur einen kurzen Blick auf die Marianne, und ohne sie überhaupt zu untersuchen, dreht er sich zu mir um.

»Eine Verwandte von Ihnen?«

»Meine Schwester, ja. Und Sie sind …?«

Er schaut mich nur angewidert an, als wäre ich ein lästiges Insekt, bevor er den Raum wieder verlassen will.

»Veranlassen Sie eine Blutentnahme, damit wir wissen, was sich dieses Subjekt gespritzt hat.«

Sofort läuft die Krankenschwester los.

»Das ist nun wirklich unter meinem Niveau«, murmelt der Doktor und will tatsächlich einfach wieder verschwinden.

Aber da kennt er mich schlecht. Ich greif in seinen Gelschopf und ziehe ihn unsanft zurück in den Raum.

»Und jetzt machst eine gescheite Untersuchung, sonst lernst mich richtig kennen, aber dalli.«

Er will sich mir entwinden, aber ich fasse noch fester zu, so dass es ihm seine geschminkten Augen gleich aus den Höhlen drückt.

»Das ist eine polizeiliche Anordnung, verstehst des, du affektierter Depp?«

Vorsichtshalber halte ich ihm noch schnell meinen Dienstausweis unter die Nase, aber er hat schon verstanden, dass mit mir nicht zu spaßen ist.

»Ich werde diese Frau unter Protest untersuchen und mich dann über Sie beschweren, da können Sie sich darauf verlassen.«

»Beschwer dich, wennst meinst. Aber jetzt an die Arbeit, sonst passiert was, hast des endlich kapiert?«

Ich ziehe noch so nebenbei meine Dienstwaffe und spiele ein bisschen damit herum. Plötzlich wird er schnell, der saubere Herr Doktor. Er packt sein Stethoskop und hört die Marianne ab, fühlt den Puls und überprüft die Reflexe, so wie sich das gehört für eine vernünftige Untersuchung.

»Sie ist stabil. Keine akute Gefahr mehr. Die Frau braucht Ruhe und dann eine Entgiftung. Sie ist körperlich in einem schlechten Zustand, aber das sehen Sie ja selbst. Das ist bei Drogenabhängigen der Normalzustand. Wenn ich die Blutwerte habe, dann veranlasse ich die nötigen Schritte, um sie zu stabilisieren, und dann braucht diese Frau einen Entzug. Da sollten Sie sich schnellstmöglich darum kümmern.«

»Geht doch, warum nicht gleich so?«, grinse ich ihn an.

»Und jetzt nehmen Sie endlich Ihre Waffe runter, und lassen Sie mich gehen, ich habe noch mehr zu tun, als mich um Ihre verwahrloste Schwester zu kümmern. Es müsste gleich jemand für die Blutentnahme kommen.«

Ich mache ihm also den Weg frei und lass ihn raus aus dem Zimmer. Die Marianne wirkt inzwischen wieder etwas wacher.

»Xaver, ich erklär dir alles, wenn Zeit dazu ist. Jetzt brauch ich erst einmal dringend deine Hilfe. Ich bin nicht alleine hier, und meine Bekannte, die steckt in ernsthaften Schwierigkeiten. Da müsstest mir unbedingt helfen.«

Noch bevor ich etwas erwidern kann, geht die Türe auf, und ein anderer Arzt kommt herein. Als die Marianne ihn sieht, reißt sie die Augen auf und springt mit einem Affenzahn von der Liege, das hätte ich ihr in ihrem Zustand gar nicht zugetraut. Aus den Augenwinkeln sehe ich etwas Metallisches aufblitzen. Reflexartig drehe ich mich um und schaue geradewegs in den Lauf einer Pistole, die der Arzt auf mich gerichtet hat. Blitzschnell schieße ich nach vorne und ramme dem Arzt mein Knie mit voller Wucht zwischen die Beine. Er schreit auf vor Schmerzen und lässt seine blöde Pistole fallen, während er zu Boden geht. Ich schubse die Waffe mit einem Fuß weg und stürze mich dann erneut auf den Arzt, der sich schon wieder aufrappeln will. Er ist wie eine Furie und haut wild um sich. Als ich endlich einen Arm zu fassen kriege, da beißt mich der tollwütige Hund doch tatsächlich in die Hand, so dass ich ihn wieder loslassen muss. Er nutzt den Moment schamlos aus und rennt einfach davon, der elendige Feigling. Ich rapple mich auf und will ihm hinterher, aber als ich auf den Gang spurte, ist von ihm weit und breit nichts mehr zu sehen. Gerade kommen zwei Krankenschwestern ums Eck, vielleicht haben die ihn bemerkt.

»Habt’s ihr gerade einen Arzt davonlaufen sehen?«

Sie schauen mich nur verständnislos an und schütteln den Kopf.

»Lassen Sie sich mal Ihre Hand verbinden, Sie bluten ja den ganzen Gang voll.«

Erst jetzt bemerke ich, dass der Biss des Arztes tatsächlich eine tiefe Wunde in meiner Hand hinterlassen hat und ich wie wild blute. Aber dafür hab ich keine Zeit. Ich wickle schnell mein Taschentuch darum und laufe zurück in den Behandlungsraum, um mich um die Marianne zu kümmern. Den falschen Arzt muss ich momentan wohl laufen lassen. Im Zimmer bemerke ich, dass auch meine Schwester verschwunden ist. Ich suche alles ab, aber sie ist wie vom Erdboden verschluckt. Auch die Pistole ist weg, und nichts deutet mehr auf die Ereignisse von gerade eben hin. Panik erfasst mich. Wo ist sie nur hin, die Marianne? Und hat sie die Pistole mitgenommen? Sie hatte jedenfalls Angst vor dem falschen Arzt, und das wohl zu Recht. Wenn der mit einer scharfen Pistole hier herumfuchtelt, dann muss die Lage wirklich ernst sein. Wo hat sie sich da nur hineingeritten? Hoffentlich entdeckt sie der Mann nicht vor mir, wer weiß, was der dann mit ihr macht. Ich muss sie einfach so schnell wie möglich finden und eine Fahndung nach dem Arzt einleiten, damit nicht noch ein Unglück passiert. Also rufe ich die Kollegen von der Bereitschaft in Regensburg an und schildere ihnen den Fall.

Sie versprechen, sofort zwei Kollegen vorbeizuschicken.

Kapitel 2

Sonntag, 14.00 Uhr

Die beiden Kollegen, die nach zehn Minuten aufgetaucht sind, schauen mich misstrauisch an.

»Also, jetzt schilderst noch einmal genau, was passiert ist, Dimpfelmoser.«

»Ja zefix, ich hab’s euch Hornochsen doch schon erklärt! Ein falscher Arzt hat mit einer Pistole meine Schwester bedroht. Er wollte sie wahrscheinlich umbringen. Und als ich dazwischen gegangen bin, hat er mich in die Hand gebissen und ist abgehauen. Und dann war auch meine Schwester plötzlich verschwunden. Und jetzt unternehmt’s endlich was. Wir müssen das ganze Krankenhaus durchsuchen und alle Leute befragen. Irgendwer muss den falschen Arzt und meine Schwester ja gesehen haben.«

Die zwei Hornochsen schauen sich skeptisch an.

»Dimpfelmoser, das ist ein wirklich schlechter Aprilscherz. Du beorderst uns hierher und erzählst uns so eine abenteuerliche Geschichte? Hast irgendwelche Zeugen, die das bestätigen können?«

»Ja fragt’s halt in der Anmeldung, die können bestätigen, dass meine Schwester hier eingeliefert wurde.«

Einer der beiden zieht kopfschüttelnd ab, um sich zu erkundigen, ob meine Angaben stimmen.

»Dimpfelmoser, wennst uns verarschst, dann hat das dienstliche Konsequenzen für dich, das garantier ich dir. Wir kennen dich schon und deine fragwürdigen Methoden.«

»Gar nicht kennt’s ihr mich. Wir hatten bisher noch nicht das zweifelhafte Vergnügen zusammenzuarbeiten. Fragt’s doch den Huber, euren Chef, der kann euch bestätigen, dass ich nicht dazu neige zu lügen.«

»Genau der hat ja der ganzen Regensburger Polizei von deinen Alleingängen und Verfehlungen erzählt und uns alle gewarnt, dass wir uns vor dir in Acht nehmen sollen.«

Ja ich glaub’s einfach nicht. Der Huber sollte wirklich einfach einmal sein Maul halten, anstatt mich so anzuschwärzen. Das nächste Mal, wenn er wieder meine Hilfe braucht, dann kann er mich mal, der Trottel. Mobbing nennt man so was, was der Huber da betreibt. Inzwischen ist der Kollege von der Anmeldung zurück.

»Deine Schwester ist hier eingeliefert worden, das stimmt, Dimpfelmoser. Aber warum hast uns verschwiegen, dass die drogensüchtig ist und einen Zusammenbruch hatte?«

»Ihr lasst’s mich ja nicht fertigreden, Kollegen«, brause ich auf, aber die beiden winken nur müde lächelnd ab.

»War es nicht so, dass deine Schwester in ihrem Rauschzustand dich gebissen hat und dann abgehauen ist, weil sie dringend wieder Drogen braucht? Wollte sie sich dem Klinikaufenthalt einfach entziehen?«

»Ja seid’s narrisch, ihr zwei Volldeppen? Es war genauso, wie ich es gesagt hab.«

»April, April. Und dass du einen Arzt bedroht hast, des hast uns einfach mal verschwiegen, Dimpfelmoser? Da kannst froh sein, wenn der dich nicht anzeigt. Wir gehen jedenfalls wieder. Wir haben wirklich was Besseres zu tun, als uns hier von dir auf so eine bescheuerte Art in den April schicken zu lassen. Und wir überlegen uns noch, ob wir da eine offizielle Meldung machen. So schnell schaust gar nicht, dann bist deine Dienststelle wieder los, und deine Beförderung zum Hauptkommissar ist dahin.«

In mir kocht die Wut auf einen neuen Höchststand hoch, aber als ich mich auf die zwei Deppen stürzen will, da besinne ich mich gerade noch und bleibe einfach stehen. Von denen kann ich keine Hilfe erwarten, und ich hab was Wichtigeres zu tun, als mich mit denen zu streiten. Mein Hirn rattert auf Hochtouren. Ich rufe zuerst den Reindl an, dass er mir den Oberberger und den Viereck schicken soll. Die sitzen sicher im Jägerstüberl, spielen Schafkopf und schütten literweise Weißbier in sich hinein, so wie sie es halt jeden Sonntag machen. Aber um diese Zeit habe ich vielleicht noch Glück und sie sind noch einigermaßen nüchtern. Sie sind vielleicht nicht die hellsten im Kopf, aber auf die kann ich mich wenigstens verlassen. Als Nächstes rufe ich noch mal bei der Bereitschaft an, um meine Schwester als vermisst zu melden und den vermeintlichen Arzt zur Fahndung auszuschreiben.

»Ich weiß, dass das offiziell erst nach 48 Stunden geht. Aber dann mach halt für einen Kollegen eine Ausnahme. Es geht schließlich um meine Schwester, und ich weiß schon, was ich tue.«

»Nix gibt’s Dimpfelmoser«, erklärt mir der dienst­habende Beamte. »Für dich gelten immer noch dieselben Gesetze wie für alle anderen auch. Deine Schwester taucht schon wieder auf. Man weiß ja, wie das bei Junkies ist. Wenn sie sich den nächsten Schuss gesetzt haben und wieder neuen Stoff brauchen, dann kriechen sie aus ihren Löchern und setzen Himmel und Hölle in Bewegung, um an das Zeug ranzukommen. Aber das brauch ich dir ja nicht zu erzählen, wennst eine drogenabhängige Schwester hast.«

»Hast mir eigentlich zugehört? Ich hab sie heute das erste Mal nach zig Jahren wieder gesehen. Ich hab nicht gewusst, dass sie Drogen nimmt.«

»Auf jeden Fall kommst in 48 Stunden wieder, wenn sie bis dahin nicht aufgetaucht ist. Dann können wir sie in die Vermisstendatei aufnehmen. Und eine Fahndung nach einem Phantom, das außer dir keiner gesehen hat, da mach ich nicht mit. Da verbrenn ich mir nicht die Finger, das klärst mit dem Huber ab. Und jetzt lass mich endlich in Ruhe. Geh heim, und genieß den Sonntag, Dimpfelmoser.«

Ja bin ich deppert oder was? Das kann doch nicht sein, dass ich von lauter Ignoranten umgeben bin. Ich beende das Telefonat, da klingelt schon wieder mein Handy.

»Reindl, hast den Oberberger und den Viereck erreicht und hergeschickt?«

»Tut mir leid, Dimpfelmoser. Die gehen beide nicht an ihr Handy. Ich probier es weiter, aber momentan kann ich sie nicht erreichen.«

Dann muss ich halt in den sauren Apfel beißen und den Huber um Hilfe bitten. Der muss mir einfach helfen, auch wenn er so einen Schmarrn über mich verbreitet. Ich hab nach der letzten Aktion, bei der ich ihm und dem Landrat Hinterbirner den Arsch gerettet habe, einfach noch was gut. Also rufe ich den Huber an. Der geht zum Glück an sein Handy, ist aber ziemlich ungehalten, als er meine Stimme hört.

»Beeilen Sie sich, Dimpfelmoser. Ich muss in fünf Minuten wieder auf dem Golfplatz sein. Sie müssen wissen, ich bin mit dem Landrat Hinterbirner und der ganzen Politprominenz in der Angermühle heraußen. Wir haben eine wichtige Konferenz hier auf dem Golfplatz.«

»Auf dem Golfplatz?«, entfleucht es mir. »Da spielt man meines Wissens Golf, Huber.«

»Das tun wir natürlich auch, Dimpfelmoser. Bei so einem Spiel lässt es sich gleichzeitig vorzüglich beraten, aber davon haben Sie eh keine Ahnung. Wir besprechen eine schärfere Vorgehensweise gegen die Drogenkriminalität. Das geht ja so nicht mehr weiter. Überall lungern Junkies rum, und der Markt wird überschwemmt mit dem Zeug. Sie glauben gar nicht, wie viele Beschwerden ich von anständigen Bürgern auf dem Tisch liegen habe, die Angst um ihr Leben haben. Nicht dass da so ein Junkie noch jemandem etwas antut, das müssen wir im Keim ersticken. Aber was wollen’S jetzt eigentlich von mir?«

Ich schildere ihm den Fall, aber anstatt mir seine Hilfe anzubieten, ist er ziemlich ungehalten.

»Haben’S schon im Dienst getrunken, Dimpfelmoser? Oder haben’S vielleicht Halluzinationen, weil Ihre Schwester aufgetaucht ist? Drogenabhängig, sagen Sie? Da sind’S ja quasi in einem Loyalitätskonflikt, so privat und als Polizist. Da müssen’S gleich zum Psychologen gehen.«

Ich bin erst einmal sprachlos über so viel Ignoranz vom Huber.

»Ich trinke nicht, wenn ich Bereitschaft habe oder im Dienst bin, des sollten’S eigentlich wissen, und ich …«

Die paar Halbe, die ich am Sonntag bisher auch immer getrunken habe, wenn ich Bereitschaft hab, die lasse ich vorsichtshalber unerwähnt. Das ist halt bei uns ganz normal, wir sind ja schließlich in Bayern. Da ist das so, wie wenn die woanders Mineralwasser trinken. Und im Übrigen stimmt es ja momentan sogar, dass ich gar nix trinke.

»Mir ist schon zu Ohren gekommen, dass Sie mit Verdächtigen in Ihrem Dienstzimmer Prosecco trinken, da brauchen’S jetzt nicht so tun, als ob Sie nie was trinken würden.«

Oha, hat der Oberberger oder der Viereck nach un­serem letzten Fall mal wieder das Maul nicht halten können. Das ist zwar schon ein paar Monate her, aber dabei war es gar nicht ich, sondern der Viereck, der meinen ganzen sauteuren Prosecco ausgesoffen hat. Da muss ich mit den beiden mal wieder ein ernstes Wort reden. Was die mir schon für Probleme gemacht haben, weil sie wie zwei alte Waschweiber einfach nix für sich behalten können. Kaum haben sie acht oder neun halbe Bier intus, sind die nicht mehr zu bremsen. Da brauchst keine Nachrichten mehr, weil da erfährst dann einfach alle Interna und Dienstgeheimnisse quasi aus erster Hand.

»Ich bin vollkommen nüchtern, zefix. Huber, jetzt schicken’S mir ein paar Leute, dann nehmen mia das Krankenhaus auseinander. Des stinkt doch zum Himmel.«

»Nix gibt es, Dimpfelmoser. Sie gehen jetzt erst einmal nach Hause und beruhigen sich. Sie glauben doch nicht im Ernst, dass ich den ganzen Polizeiapparat in Bewegung setze wegen Ihrer Privatangelegenheiten, und jetzt lassen Sie mich in Ruhe, ich habe schließlich noch wichtige Besprechungen hier.«

Er legt einfach auf, das Arschloch. Ich koche innerlich vor Wut und merke, wie sich Angst und Sorge um meine Schwester in meinem Gehirn festfressen.

Dann muss ich halt selber handeln, wenn ich keine offizielle Unterstützung kriege. Ich überlege noch einmal, wen ich noch um Hilfe bitten könnte, und greife erneut zum Telefon.

»Servus Heulerich, hast auch Bereitschaft, oder bist zu Hause?«

Er schweigt erst einmal lauernd. Er weiß, dass ich nach seinem Patzer bei unserem letzten gemeinsamen Einsatz noch was guthabe und er mir einen Gefallen schuldet, weil ich da großzügig darüber weggesehen und ihn nicht hingehängt habe.

»Ich bin daheim, Dimpfelmoser, und ich hab Ruf­bereitschaft. Aber was willst du am Sonntag von mir? Sicher nicht mit mir plaudern.«

»Ich brauch dringend deine Hilfe, und zwar sofort. Du musst mit ein paar Leuten ins Klinikum kommen und mir helfen, meine Schwester zu finden.«

»Ins Klinikum? Wie stellst dir das vor? Sollen wir da einfach reinmarschieren und alles durchsuchen? Weißt du eigentlich, wie groß das ist? Und wer hat den Einsatzbefehl dazu erteilt?«

»Brauchen wir nicht. Es ist Gefahr in Verzug, das nehm ich auf meine Kappe, Heulerich. Und jetzt komm her, bevor noch mehr Zeit verstreicht.«

Tatsächlich erklärt er sich bereit, mit ein paar seiner Leute von seinem Sondereinsatzkommando zu kommen und mir bei der Suche nach meiner Schwester zu helfen. Weit kann sie in ihrem Zustand ja nicht gekommen sein. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass die es schafft, alleine das Klinikum zu verlassen. Wahrscheinlich hat sie das Auftauchen des bewaffneten Arztes so verstört, dass sie sich mit letzter Kraft ein Versteck gesucht hat und dort hilflos im Koma liegt. Ich muss sie einfach schnellstmöglich finden, nicht dass sie mir noch stirbt in ihrem desolaten Zustand. Also fange ich schon einmal alleine an, einen Raum nach dem anderen zu durchsuchen und alle Ärzte, Patienten, Pfleger und Krankenschwestern, die mir begegnen, zu befragen.

Als ich gerade wieder auf dem Gang stehe, höre ich schon den Tumult im Eingangsbereich der Notaufnahme. Dass der Heulerich nicht einfach unauffällig und ohne großes Aufsehen hier aufmarschiert, das hätte ich mir eigentlich denken können. Also laufe ich in die Eingangshalle, da steht er doch tatsächlich in voller Kampfmontur, und hinter ihm zwanzig seiner Männer, die betreten zu Boden schauen, während sich der Heulerich lautstark mit einem Arzt und der Empfangsdame streitet. Das ist ja wieder typisch, immer muss er es gleich so übertreiben. Der Heulerich steht da wie ein aufgeblähter Gockel mit aufgestelltem Kamm, aber der Arzt und die Empfangsdame sind nicht weniger in Kampfeslaune. Mit hochrotem Gesicht stehen sie sich gegenüber.

»Das ist ein Krankenhaus und kein Schießplatz, Sie tollwütiger Trottel.«

Die Empfangsdame ist zugegebenermaßen zu Recht aufgebracht, so wie der Heulerich sich wieder aufführt.

»Ich muss hier alles durchsuchen, und wenn ich Ihnen sage, es ist Gefahr in Verzug, dann kann ich das einfach machen. Da brauche ich nichts weiter, und jetzt lassen Sie mich meine Arbeit machen, sonst verhafte ich Sie wegen Behinderung eines Polizeieinsatzes.«

»Verlassen Sie sofort das Klinikum, ansonsten rufe ich die Polizei. Sie sind doch vollkommen irre.«

Oha, da muss ich schnell eingreifen, bevor das Ganze vollkommen aus dem Ruder läuft. Wenn der Heulerich beleidigt wird, dann verliert er nur allzu schnell jegliche Beherrschung und benimmt sich wie eine Bestie, das habe ich schon mehrmals erleben müssen. Also gehe ich schnell dazwischen, bevor noch ernsthaft etwas passiert. Inzwischen sind immer mehr Menschen auf den Radau aufmerksam geworden, und es versammelt sich eine schnell wachsende Schar Schaulustiger neugierig um die Gruppe.

»Heulerich, du gehst erst einmal mit deinen Männern raus und ziehst deine Kampfmontur wieder aus. Ich brauche euch sozusagen inkognito hier. Des musst doch verstehen, dass du da nicht Rambo spielen kannst.«

Er ist für einen Moment so perplex, dass er gar nicht reagieren kann. Ich nutze den Moment aus und schiebe ihn nach draußen.

»Dimpfelmoser, wenn ich dir schon helfen soll, dann machen wir das auf meine Art, ist das klar? Ansonsten kannst gleich alleine deine verschollene Person suchen.«

»Heulerich, jetzt fahr halt einmal drei Gänge runter. Des musst doch selbst du einsehen, dass mia hier diplomatisch vorgehen müssen. Hast des nicht gelernt, wie man sich sozusagen unerkannt in fremdem Gebiet bewegt? Des ist doch die Herausforderung hier, dass mia möglichst unauffällig, ohne Aufsehen zu erregen, das Gebäude durchkämmen. Du bist doch ein richtiger Stratege, da wird dir doch was einfallen, wie mia des umsetzen können, oder täusch ich mich da in dir?«

Gott sei Dank erreicht das sein völlig übersteigertes Ego genau an der richtigen Stelle. Seine Gesichtszüge entspannen sich jedenfalls, und er setzt ein breites Grinsen auf.

»Das, lieber Dimpfelmoser, ist sozusagen unsere Spezialität. Unerkannt hinter den feindlichen Linien agieren und arbeiten, das haben wir natürlich gelernt. Und wenn du mir diese uneinsichtigen Wachhunde da drinnen vom Hals hältst, dann zeigen wir dir einmal, wie unauffällig wir sein können.«

Na also, geht doch. Während sie sich in ihren Einsatzfahrzeugen, die sie direkt vor dem Eingang der Notaufnahme geparkt haben, umziehen, erkläre ich dem Heulerich kurz, um was es geht.

»Oha, Dimpfelmoser, eine Privatangelegenheit so­zusagen. Da wird der Huber aber nicht begeistert sein, wenn er davon erfahren sollte. Aber wir werden unerkannt durch die Hallen wandeln, da wirst staunen. Da kriegt keiner was mit.«

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