Die Molche - Volker Widmann - E-Book

Die Molche E-Book

Volker Widmann

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Beschreibung

Ohne Freunde sind Max und vor allem sein friedfertiger, etwas mädchenhafter Bruder der Bande um den älteren Tschernik hilflos ausgeliefert. Und so schauen alle zu, wie Max‘ Bruder eines Tages in die Enge getrieben wird, der Erste einen Stein wirft, dann ein Stein nach dem anderen fliegt. Der Junge stirbt. Auch Max hat zugesehen und aus Angst nicht geholfen. Von den Erwachsenen wird die Tat schnell als Unfall abgetan. Wieder ist Max mit seinen Gefühlen allein. Wie die anderen Kinder versteht auch Max die Erwachsenen nicht: die tüchtigen Mütter, die unnahbaren Väter, ihre unberechenbare Härte gegenüber den Kindern, ihr Schweigen, wenn es um die Vergangenheit geht, ihr Wegschauen bei Konflikten. Geplagt von seiner Schuld flüchtet er sich in seine Streifzüge in die Umgebung des Dorfes, in seine Beobachtungen der Natur, deren Schönheit ihm Trost spendet. So wie Die Molche. Seine Entdeckungen lenken Max ab, bis er schließlich doch zwei Freunde findet – und Marga. Gemeinsam beschließen sie, gegen die Bande vorzugehen. »Eine fast magische Erzählung über die erste Erfahrung mit dem Tod und das Aufblühen der allerersten Liebe. Die wunderbar kraftvolle, dunkle Naturpoesie hat mich sofort in das Buch gesogen und nicht mehr losgelassen.« Ewald Arenz, Autor von »Alte Sorten« und »Der große Sommer«

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Ein bayerisches Dorf im Nachkriegsdeutschland: Als Zugezogener hat der 11-jährige Max es schwer, Freunde zu finden. Daher sind er und sein verträumter Bruder die idealen Opfer für eine Bande derber Dorfjungen. Und so schauen alle zu, wie Max’ Bruder eines Tages in die Enge getrieben wird, der Erste einen Stein wirft, dann ein Stein nach dem anderen fliegt. Der Junge stirbt. Auch Max hat zugesehen und aus Angst nicht geholfen. Von den Erwachsenen wird die Tat schnell als Unfall abgetan Wieder ist Max, der mit niemandem über seine Einsamkeit und die Quälereien sprechen kann, mit seinen Gefühlen allein. Wie die anderen Kinder versteht auch Max die Erwachsenen nicht: die tüchtigen Mütter, die unnahbaren Väter, ihre unberechenbare Härte gegenüber den Kindern, ihr Schweigen, wenn es um die Vergangenheit geht, ihr Wegschauen bei Konflikten. Geplagt von seiner Schuld und dem Schmerz über den Verlust seines Bruders, flüchtet er sich in seine Streifzüge in die Umgebung des Dorfes, in seine Beobachtungen der Natur, deren Schönheit ihm Trost spendet. So wie die Molche. Seine Entdeckungen lenken Max ab, bis er schließlich doch zwei Freunde findet – und Marga. Gemeinsam beschließen sie, gegen die Bande vorzugehen.

Atmosphärisch dicht erzählt ›Die Molche‹ von der Befreiung eines Jungen von Duckmäuserei und Verdrängung.

© Bernhard Sturm

Volker Widmann, 1954 geboren, ist Schriftsteller, Berater von sozialen Unternehmen und Veranstalter von Konzerten mit zeitgenössischer improvisierter Musik. Er lebt im Dachauer Hinterland.

VOLKER WIDMANN

DIE MOLCHE

ROMAN

eBook 2022

© 2022 DuMont Buchverlag, Köln

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln

Umschlagabbildung: © Krasimira Petrova Shishkova /

Trevillion Images

Satz: Fagott, Ffm

eBook-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck

ISBN eBook 978-3-8321-7129-2

www.dumont-buchverlag.de

1

Der erste Ziegelstein traf meinen Bruder am Oberarm. Er weinte nicht, er schrie nicht. In seinen Augen lag ein Ausdruck, als ob er immer schon erwartet hätte, dass dieses Unheil über ihn hereinbrechen würde.

Sie hatten ihn unter den hohen Nussbäumen des winterlichen Parks langsam eingekreist. Vergeblich hatte er Schutz gesucht im Schatten der mächtigen grauen Stämme, in dem schwarzen Schattengeflecht auf dem stumpfen da und dort in der Sonne blitzenden Schnee und war immer weiter in den vorderen Teil des Parks abgedrängt worden.

Den Park begrenzten zwei in einem spitzen Winkel aufeinander zulaufende Straßen, deren eine auf der Ebene der Flussaue zum Elektrizitätswerk führte, während die andere langsam zum Tor des düsteren alten Gebäudes anstieg, wo die Alten des Dorfes verwahrt waren, sodass der Park umso steiler geneigt war und gleichzeitig breiter wurde, je näher man dem verfaulten Holzgatter des Altersheims kam, das ihn am hinteren Ende einfasste. Dort war die Schlittenbahn.

Es bereitete ihnen großes Vergnügen, die Wehrlosigkeit des Jüngeren, seine verzweifelte Ratlosigkeit, seine vergeblichen Versuche, einen Ausweg zu finden, anzusehen. Er hatte seine Mütze verloren, und seine blonden Haare klebten ihm an der Stirn, sein helles verschwitztes Gesicht war voller roter Panikflecken. Sie öffneten die Umkreisung und trieben ihn grölend mit Schneeball- und Astwürfen vor sich her und näherten sich dabei immer mehr der kleinen, sehr steilen Schlittenbahn, wo einige Kinder schon lange nicht mehr Schlitten fuhren, sondern teils voller Entsetzen, teils mit der gleichen Freude, die die Horde der Treiber erfüllte, der Jagd zusahen. Eines von ihnen war ich.

Ich war erstarrt, zu keiner Bewegung fähig, etwas Eisiges füllte mich von der Stirn bis zur Magengrube aus. Was sollte ich tun? Die schreiende Horde, die sich jetzt immer enger um meinen Bruder schloss, das waren die größeren dreizehn- bis vierzehnjährigen Jungen, und der größte von ihnen, das war Tschernik, den jedes Kind im Dorf wegen seiner Brutalität und Verschlagenheit fürchtete. Ich hatte selbst gesehen, wie er einmal auf dem Schulhof ein Spatzenjunges, das aus dem Nest gefallen war, in seiner Faust zerquetschte und über die Mauer warf. Sein Vater schlug ihn jeden Tag. Er war ihr Anführer, und ich stand hier mit kaltem Schweiß auf der Stirn unter den Kleinen und einigen Mädchen, starr, von diesem Eisblock ganz ausgefüllt, aber mit jagendem Herzen. Wie konnte mein Bruder auch nur so ungeschickt sein und sich von diesen Kerlen einkreisen lassen? Hatte er denn alleine, ganz für sich im vorderen spitz zulaufenden Teil des Parks auf seinem Schlitten sitzen müssen, den Kopf im Nacken, um den Schneeflocken zuzusehen, die für Momente durch das schwarze Geäst der Nussbäume sanken? Hatte er denn nicht bemerkt, wie sie zu ihm hinsahen und sich grinsend in die Ohren flüsterten? Er machte immer alles falsch, war immer auf seltsame, unbegreifliche Weise weit jenseits der ungeschriebenen Gesetze der Dorfkinder.

Am oberen Ende der Schlittenbahn war ein gemauerter Bunker aus dem Krieg in den Hang gegraben. Halb verfallen, gähnte seine Öffnung aus dem Schnee, ein schartiges, halbrundes schwarzes Loch, das einst mit einem seiner Form angepassten Flügeltor gesichert gewesen war. Doch die Flügel waren längst vermodert, nur einzelne Bretter hingen noch an den verrosteten Beschlägen, die weit geöffnet schief in den Angeln hingen. Keines der Kinder hätte gewagt, diese Höhle zu betreten. Dorthin trieben sie meinen Bruder. Seine Bewegungen ließen keinen Zweifel daran, dass er jetzt ganz von panischem Schrecken erfüllt war. Ich sah seinen Augen an, dass sie nichts Bestimmtes mehr wahrnahmen. In seiner Verzweiflung lief er jetzt selbst auf das Loch zu. Vielleicht hoffte er, sich dort irgendwie in Sicherheit bringen zu können.

Mit wenigen Sätzen erreichte er das Tor, und das Dunkel verschluckte ihn. Sie hielten nicht inne, johlend folgten sie ihm, die Ersten drangen bereits in den alten Bunker ein. Ich lief hinterher. Zwischen den Rücken der Horde hindurch, im Licht, das durch den Torbogen fiel, sah ich meinen Bruder. Er hatte sich in die hinterste Ecke verkrochen, vor ihm türmten sich bis zum Eingang trockener, staubiger Schutt, Ziegelsteine, Balkenreste, Abfall. Mit geweiteten Augen drückte er sich an die Ziegelwand ganz hinten in der gemauerten Höhlung. Jenseits des hereindringenden Lichtscheins, der ihn aus der Dunkelheit heraushob, konnte man nichts erkennen. Sein Brustkorb hob und senkte sich, Schweiß lief an seinen Schläfen herab. Die Jagd war zu Ende, sie hatten ihn. Sie hätten sich jetzt umdrehen und gehen können. Doch sie hatten noch nicht genug. Es war Tschernik, der einen Ziegelstein aufhob und ihn auf meinen Bruder schleuderte.

»Da, du Schisser.«

Er traf meinen Bruder am Arm. Andere hoben ebenfalls Steine auf. »Seid ihr verrückt geworden?«, schrie ich. Die großen Jungen stießen mich weg. Noch ein Stein flog und noch einer.

»Hört bitte auf! Hört doch auf!«

Ein Stein traf ihn am Kopf. Mein Bruder stand auf, als wollte er einen Schritt nach vorne machen. Plötzlich wurde sein Gesicht vollkommen weiß, dann fiel er in den Staub wie eine Puppe und blieb reglos liegen.

Mit einem Schlag herrschte gellende Stille. Mir war, als verbreitete sich diese Stille von dem Bunkerloch aus in Ringen über das ganze Dorf, als quellte eine Dunkelheit, ein tiefes Entsetzen, eine Verstummung aus der Mitte dieses Lochs, sickerte tief in die Kinder, rollte in Wellen über den Nussgarten hinaus die Straßen hinunter, liefe durch die Zimmer der Menschen, durch die Ställe, die Läden und kleinen Geschäfte und verebbte am Ende irgendwo in den dunklen Wäldern, die das Dorf in drei Himmelsrichtungen fast einschlossen.

Die Jungen, die Tschernik gefolgt waren, drehten sich um und liefen davon. In alle Himmelsrichtungen rannten die Kinder davon, davon vor diesem Entsetzen, das sie dennoch nie mehr verlassen sollte, manche mit der Hand vor dem Mund, andere weinend, alle so schnell sie konnten, Schlitten hinter sich herziehend, weg, nur weg. Sie durchquerten die Schattenbahnen hinter den grauen Stämmen, traten aus den Schatten in milchiges Licht und wieder in den Schatten. All das geschah nahezu lautlos, keine Rufe, kein Flüstern waren zu hören. Auch ich lief davon.

2

Mein Bruder war ein zartes, ratloses, wie aus Gold gesponnenes Geschöpf. Er hatte die großen grünblauen Augen unserer Mutter. Auf seinem blonden Haar glänzte ein rötlicher Schimmer, und er trug es länger als wir übrigen Jungen mit unserem Kahlschnitt, den uns der Dorffriseur alle vier Wochen verpasste. Ihm dagegen hing es gerade über die Augen bis zu seiner sommersprossigen Nase. Mit einer Handbewegung, an der ich ihn unter Tausenden erkannt hätte, wischte er sich das Haar seitlich aus den Augen. Sein Haar schnitt meine Mutter selbst. Sie waren dazu allein im Badezimmer mit den meergrünen Kacheln. Durch die Tür konnte ich die vor Zärtlichkeit tiefe Stimme meiner Mutter hören und sein helles Lachen. Nicht, dass die Tür zum Badezimmer abgeschlossen gewesen wäre, aber ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, es an so einem sonnigen Vormittag zu betreten.

Er war nur dreizehn Monate jünger als ich und gleich groß. Wenn wir uns im Garten vor dem Haus prügelten, schlug ich ihm von Anfang an hart ins Gesicht, damit er schnell aufgab und ich keine schmerzhaften Schläge abbekam. »Du gemeine Sau!«, zischte er dann und rannte mit Tränen in den Augen davon.

Mein Bruder hielt sich an keines der Gesetze der Kinderwelt, die von der der Erwachsenen völlig abgeschlossen war, oder er kannte sie einfach nicht und niemand versuchte je, sie ihm nahezubringen. Auf dem Schulhof stand er bei den Mädchen und verfolgte aufmerksam und sachverständig ihre Tänze beim Gummitwist, dem Hüpfspiel, für das man einen langen, zusammengeknoteten Hosengummi brauchte und das immer drei Mädchen zusammen spielten. Zwei hatten den Gummi um ihre Knöchel, dann um ihre Knie und am Schluss fast um die Hüften, während ein Mädchen hüpfte, höher und höher. In der Pause konnte es vorkommen, dass er auf dem Mäuerchen an der Treppe saß, die zum Friedhof hinaufstieg, und ein Junge aus den beiden unteren Klassen zu ihm hinlief, ihn mit der flachen Hand mitten ins Gesicht schlug, um dann so schnell er konnte zurück in den Haufen der Größeren zu rennen, die ihn anerkennend grinsend erwarteten. Mein Bruder hob dann nur leicht den Kopf, legte eine Hand auf die schmerzende Stelle und vergaß den Schlag offenbar augenblicklich. Manchmal lächelte er auch noch, statt finster um sich zu blicken. Beim Fußball am Nachmittag standen er und der dicke Gregor immer als Letzte in der Mitte des Feldes, bis sich einer der beiden Mannschaftsführer erbarmte und ihn in seine Mannschaft wählte, nicht ohne einen Blick mit dem gegnerischen Kapitän zu wechseln, der in etwa besagte: Oder willst du ihn? Bekam er im Spiel tatsächlich einmal einen Ball, blieben manche Spieler stehen, um zuzusehen, wie er sich mit seinen langen Beinen sofort verhaspelte, alles versuchte, um den Ball unter Kontrolle zu bringen, was ihm nie völlig gelang. Der Ball sprang schließlich irgendwie weg, und die anderen Spieler nahmen den verunglückten Ball als Pass. Während des Spiels rannte er immer hinter dem Ball her wie ein kleiner Junge, offenbar ganz zufrieden mit sich. Er schien das für den Sinn des Spiels zu halten. An manchen Tagen stolzierte er im Garten in Kleidern unserer Mutter umher und tanzte im Schatten des Birnbaumes fröhlich lachend mit jemand Unsichtbarem.

Wir verloren ihn bei einer Wanderung im Gebirge und fanden ihn wieder auf einer Bank sitzend in ein Gespräch in Zeichensprache mit einem riesigen schwarzen amerikanischen Soldaten vertieft.

»Worüber habt ihr euch unterhalten?«

»Wie man die Zukunft vorhersehen kann.«

Einmal kletterte er auf den Steinhaufen einer Burgruine herum, als ihn die Angst packte. Er konnte nicht vor und nicht zurück. Sein schwaches Herz! Zwei fremde Männer in Sonntagsanzügen mussten ihn aus seiner verzweifelten Lage retten.

Oft fand ich ihn an dem kleinen Tisch unseres Zimmers reglos zum Fenster hinausblickend.

»Was tust du?«

Das war unsere Standardfrage, die ich mehrmals am Tag stellte, auch wenn ich gar nicht wissen wollte, was er gerade tat. Ich bekam immer eine Antwort.

»Ich schaue meinen Gedanken nach. Sie sind wie Seifenblasen. Schillern sogar ein bisschen.«

Oder ich sah ihn unter dem von Bienen summenden Apfelbaum. »Was tust du?«

»Zuerst hab ich meine Augenlider nicht mehr zugemacht. Man sieht dann überall silberne Tropfen ganz langsam von oben nach unten gleiten. Versuch’s mal. Dann habe ich gemerkt, dass die Luft aus lauter durchsichtigen Würfeln besteht. Man kann sie mit der Hand durcheinanderbringen, aber sie ordnen sich sofort wieder. Sie haben eine Außenhaut, dünner als Libellenflügel.«

Beim geringsten Anzeichen einer Zwistigkeit zwischen meinen Eltern ging er aus dem Zimmer. Oft lief ich ihm nach. »Was tust du?«

»Wenn man an den Frieden denkt, dann kommt er.«

»Was tust du?«

»Ich lerne die Sprache der Bäume. Wie sie zornig fuchteln, zärtlich fächeln, wie sie dir winken, wie sie dahin zeigen und dorthin weisen, so ernst, so sehr auf uns bedacht. Wie sie mit dem Wind spielen, träumerisch hin- und herschwanken, ihre Äste heben wie Gefieder und anmutig senken wie Tänzer die Arme, wie sie über etwas erschauern, du kannst sehen worüber, wie sie zittern vor Erregung und sich schütteln vor Lust im Regen. Wie sie fluten und wehen in einem ungeheuren Unsichtbaren. Wie sie lässig wippen, wenn keine Gefahr droht, wie sie dir freundlich zunicken, um dich zu bestärken, um dir recht zu geben, und wie sie mit allen Ästen sich spreizen und verneinen, wenn du schiefliegst.«

Er hatte ein schwaches Herz. Er musste nicht am Turnunterricht teilnehmen, aber dabeisitzen. Er durfte die Wäschekörbe meiner Mutter nicht tragen und wurde nie zum Einkaufen geschickt. Er sollte sich nicht anstrengen. Immerzu fasste meine Mutter an seine Stirn, ob er Fieber habe. Vor der Schule spuckte sie auf ihre Finger und rieb ihm die Augen aus. Sonne war nicht gut für ihn. Hatte er sich die Knie aufgeschlagen, war meine Mutter drauf und dran, ihn das Bett hüten zu lassen.

»Was tust du?«

»Schau dort. Wenn ein welkes Blatt aufs Wasser fällt, spürt man den sanften Druck des Aufpralls auf die Wasserfläche an den Schläfen, eine winzige Anspannung, die sich löst mit dem ersten Ring, der sich im Wasser ausbreitet. Spürst du es?«

Mein Bruder war an seinem schwachen Herzen gestorben. Darüber waren sich alle Erwachsenen im Dorf einig. Er hatte sich beim Spielen zu sehr erhitzt und aufgeregt. Sein Herz hatte versagt, und beim Sturz hatte er sich eine Verletzung an der Stirn und blaue Flecke am Körper zugezogen. Es war genau das geschehen, was meine Mutter immer befürchtet hatte. Nur wir Kinder wussten, dass er ermordet worden war.

Ich hasste Ameisen. In der Küche rührte ich Scheuerpulver, Essig und Salz zusammen und schüttete das tödliche Gift in die Ritzen und Spalten der Gehwegplatten draußen im Garten vor den Fenstern des Wohnzimmers, wo sie ihre widerlichen Erdhaufen aufgetürmt hatten. Ich kontrollierte am nächsten Tag, ob sie wieder erschienen waren. Sie waren weg. Am übernächsten waren sie wieder da. Was konnte noch giftiger sein? Vielleicht Kloreiniger? Am erbarmungslosesten wütete ich gegen die Haufen der roten Ameisen im Gras nahe den Johannisbeersträuchern. Ich zerknüllte ein Blatt Zeitungspapier, stopfte es in den Bau und wartete geduldig, bis es fast rot war von aufgeregten Ameisen, die ihre Hinterleiber hoben und Ameisensäure in die Luft spritzten, ein widerlicher Geruch. Dann zündete ich es an. Die Flammen fraßen sich erst bläulich und klein vom Rand hin zur Mitte des Papiers, wo sie gelb und grün und durchsichtig hoch aufschlugen. Die Leiber der Ameisen krümmten sich, verschmorten zu kleinen schwarzen Kugeln. Zu Hunderten starben sie, Fassaden stürzten ein, Feuerzungen schlugen aus den Fensterhöhlen, sie suchten Schutz in den Höhlungen des Papiers und starben zusammen in einem Augenblick. Mein Gesicht war heiß vom Feuer. Ich hörte die Stimme meines Bruders. »Du Ungeheuer.« Ich hieb nach ihm. Noch nach Tagen konnte ich mich der Stätte der Verheerung nicht nähern.

Im Sandkasten im hintersten Eck des Gartens schlug ich Schlachten. Ich brach aus einer trockenen dünnen Haselnussrute Stöckchen, Heerscharen von Soldaten. Mit den Händen formte ich Wälle und Gräben, auf denen ich dicht an dicht meine Soldaten postierte. Mit Steinen bombardierte ich die Stellungen, die Soldaten flogen durch die Luft, Stöckchen zerbrachen und zersplitterten. Diese Gemetzel konnten sich über Stunden hinziehen, während derer ich ganz in die Schlacht versunken war. Ich hörte das Pfeifen der Granaten, spürte die Explosionen im Magen, roch Angst und Blut. Manchmal trat mein Bruder neben mich und umarmte mich. Dann war die Schlacht zu Ende.

Seit mein Bruder tot war, lag ich nachts allein in unserem Zimmer. Meine Mutter hatte seine Sachen, seine Socken und Unterhosen, seine Hemden und Hosen, in unserem Schrank etwas zusammengeräumt, wie sie es auch zu tun pflegte, als er noch lebte. Seine Bücher standen ordentlich im Regal über dem Bett, zwei davon lagen Kante auf Kante auf seinem Nachttisch. Niemand hatte diese Dinge seitdem berührt. Jederzeit hätte seine Nachttischlampe angehen und seine Hand nach einem der Bücher greifen können, die ja überhaupt noch nicht zu Ende gelesen waren. Doch das geschah nicht. Es konnte nicht geschehen. Es war auch nicht wahr, dass ich mitten im Schlaf auffuhr, weil ich das Gefühl hatte, mein Bruder schaue mir beim Schlafen zu, wie er es manchmal getan hatte, als er noch lebte. Es war nicht wahr, dass er da stand am Fußende meines Bettes in seinem blau und hellblau gestreiften Schlafanzug.

»Was tust du?«

»Ich schaue dir beim Schlafen zu.«

Mein Bruder war. Tot. Tot, tot, tot. Am Tag seiner Beerdigung, einem sonnigen Wintertag voll silberhellem Licht, hatte ich mich auf den Friedhof geschlichen, und er lag da in einer weiß lackierten Holzkiste, die mit weißem Stoff ausgeschlagen war, draußen vor dem Totenhaus. Er war bis zur Brust in ein weißes Tuch gehüllt, auf dem seine Arme lagen. Seine Hände waren verschränkt. Sein Gesicht war weiß wie im Schlaf, aber ein wächserner Hauch lag auf seiner Stirn. Die Augenlider waren geschlossen, der Abglanz eines Lächelns spielte auf seinen Lippen. Die Totenfrau hatte sein Haar gewaschen, es glänzte frisch und rötlich, aber dann bemerkte ich etwas Entsetzliches. Die Totenfrau hatte den Scheitel auf der falschen Seite gezogen, vielleicht um die kleine Wunde an der Stirn zu verdecken. Seine Lippen waren dunkelblau, die Nagelbetten seiner Finger dunkelgraublau und die Fingernägel lang wie Krallen. Seine Stirn war kalt wie ein Eisblock.

Mein Bruder war tot, weil ich ihn im Stich gelassen hatte.

»Was tust du jetzt?«

3

Ein wisperndes Knistern, für einen Moment graues Flimmern, ein gleichbleibender sehr hoher, sehr leiser Ton, den man im Freien niemals hätte hören können, und das Fernsehgerät sprang an. Mein Vater hatte die Flügeltüren aufgesperrt und auseinandergeklappt, das Gerät, das wie ein kleiner Schrank aus dunklem Holz aussah, eingeschaltet, die Rollläden heruntergelassen und sich zurückgezogen, um sein Sonntagsschläfchen in seinem Arbeitszimmer zu halten.

Im flimmernden bläulichen Licht, das aus dem Gerät hervordrang, hatte sich eine Kinderschar aus der Nachbarschaft zusammen mit mir um den Apparat versammelt, verteilt auf herangeschafften Stühlen, einem Polstersessel, auf Kissen, die über den Teppich verstreut lagen, gespannt und erwartungsfroh flüsternd. Der Ölofen bullerte und erfüllte den dunklen, nur von dem Gerät erleuchteten Raum mit behaglicher Wärme. Die Lampe in Form eines Segelschiffes mit echten Segeln aus Pergament, die ein großes Kreuz trugen, stand auf einem gehäkelten Deckchen und spendete wenig, aber dafür goldenes Licht. Ihr Schatten auf der Wand hinter dem Fernsehgerät, schwarze geblähte Segel, der schlanke Rumpf, die feine Takelage, war ein Versprechen von Abenteuer und Gefahr.

Es gab erst wenige solcher Fernsehgeräte im Dorf, und für die Kinder war diese knappe Stunde am Sonntagnachmittag ein Ereignis, dem sie die ganze Woche über entgegenfieberten. Noch erzählte ein Sprecher mit schwarzer Hornbrille irgendetwas, die Kleineren fingen schon an herumzubalgen, als endlich die Titelmelodie erklang.

Männer mit breiten Hüten ritten, Staub aufwirbelnd, durch eine endlose Landschaft, riesige Wolken schwebten über ihnen. Das waren Cowboys. Sie trugen Colts und Sporen, und sie waren Kerle. Mit einem Satz sprangen sie aus dem Sattel auf den Boden, hielten die Pferde am Halfter und ließen sie in einem Bach saufen. Sie machten Scherze, hatten ganz weiße Zähne, und die Pferde schnaubten. Ihre Welt war grau, schwarz und weiß.

Die Kinder verhielten sich vollkommen still, kein Laut, kein Wort sollten ihnen entgehen. Bläulich weißer Schimmer lag auf ihren Gesichtern, die Augen waren weit aufgerissen, hie und da stand ein Mund offen. Aller Augen verfolgten das Geschehen auf dem Bildschirm. Wir saßen in dieser manchmal heller, manchmal dunkler flackernden Lichtblase, rings um uns her war Dunkel.

Ein halb nackter Mann mit langen Haaren, nur ein Tuch um die Hüften, robbte auf dem Bauch zwischen den Felsen auf das Lagerfeuer zu. Ein Indianer! Er trug ein großes Messer an der Seite, das in einem geflochtenen Schaft steckte. Die kleinen rückten zu den größeren Kindern, die großen gaben beruhigende Kommentare: »Der hat ja nicht mal einen Revolver.« Ich hielt mich an den hölzernen Lehnen des Sessels fest, den ich ergattert hatte. Zum Glück konnte niemand sehen, wie fest ich sie mit meinen Fingern umklammerte und wie angespannt ich mich aus dem Sessel nach vorn beugte.

Da spürte ich, wie ein Rücken meine Knie berührte. Dann stand Ellie blitzschnell auf und verkroch sich auf meinen Schoß. Niemand hatte sie beachtet. Der Sessel stand etwas außerhalb des Lichtkreises. Ich konnte ihren spitzen Hintern auf meinen Oberschenkeln spüren. Der Indianer lugte hinter dem Felsen hervor. Jetzt sah man im Widerschein des Lagerfeuers seine Kriegsbemalung. Die Cowboys schliefen. Einer döste abseits über seinem Gewehr. Ellie zog ihre Beine an und legte sich seitlich auf mich wie auf ein Polster. Sie war leicht. Sie war sehr dünn. Ich spürte ihre Rippen auf meinen und ihre Hüfte in meinem Schoß. Ihre Schulter war unter meinem Kinn.

Ellie war ein Nachbarsmädchen, das ich kaum kannte, denn sie war die Älteste von uns und ging schon in die Schulklasse für die größeren Kinder. Jetzt schlich sich der Indianer zu den Pferden, die im Schatten der Bäume angeleint waren. Sein Messer blitzte im Mondlicht. Die Kinder schrien auf, der Kleinste rief: »Ihr müsst aufwachen!«, und Ellie presste sich fester an mich. Ich roch ihren scharfen Geruch, er strömte aus ihrem Haar, unter ihren Achseln und zwischen ihren Beinen hervor, obwohl sie doch gestern gebadet haben musste, so wie ich. Ich spürte die Wärme ihres mageren Körpers auf meinen Schenkeln und an meiner Brust. Mein Herz schlug schneller, nicht nur weil der Indianer inzwischen die Pferde losgeschnitten und mit einem Schnalzen verjagt hatte. In gebeugter Haltung lief er lautlos von hinten im Schatten auf die weiterdösende Wache zu.

Ich schob meine Hand unter Ellies Strumpfhose. Ich weiß nicht, warum ich das tat. Es gab keinen Grund dafür, aber meine Schläfen pochten. Ellie wandte ihren Kopf und blickte mich erstaunt mit ihren schwarzen Augen an. Ich sah ein dunkles Glimmen, das ich noch nie in jemandes Augen gesehen hatte, und war darauf gefasst, dass sie im nächsten Augenblick wütend aufspringen würde. Doch sie tat nichts und schaute wieder in Richtung Fernseher. Der Indianer legte der Wache in einer einzigen raschen Bewegung die Ellenbeuge um den Hals, zog sein Messer, und die Wache sank in sich zusammen. Ich umfasste eine Backe ihres Hinterns mit der Hand und drückte meine Finger in Ellies Fleisch. Warum atmeten wir beide schneller, aber doch so, dass den anderen Kindern nichts auffallen konnte?

Der Indianer gab den anderen Kriegern ein Zeichen. Die Cowboys schliefen. Die Kinder hatten jetzt Angst, eine seltsame Angst, die einen nur vor diesem Gerät überkam, eine Angst, die merkwürdig mit Erregung vermischt war und die untrennbar war von der Geborgenheit in diesem dunklen Raum, wo der große braun emaillierte Ölofen gemütliche Wärme abstrahlte. Ein junger Indianer trat einen Stein los, der Häuptling blickte ihn grimmig an, der Stein kullerte laut den Abhang hinunter, und das Pferd des Anführers der Cowboys wieherte und klopfte warnend mit den Vorderhufen auf den Boden. Endlich, endlich erwachte der Anführer, schob den Hut aus den Augen und sah sofort, was geschah. Er rief etwas, alle Cowboys sprangen auf und verschanzten sich mit gezogenen Revolvern hinter ihren Sätteln und den Felsen. Die Kinder jubelten.

Ellie und ich atmeten jetzt in einer gemeinsamen Hitze, in der mein Herz flatterte wie ein Sittich im Käfig, ihr knochiger Leib auf meinem. Meine Hand schien zu glühen, und Ellie bewegte vorsichtig, vorsichtig ihre Hüften. Wir trieben auf dieser Hitze wie auf einem Floß, in Ellies scharfen Geruch gehüllt, einen unerforschten Strom hinunter.

Der Film verschwand langsam in einem Nebel. Wie aus weiter Ferne drangen die Kriegsschreie der Indianer, die Revolverschüsse, die Rufe der Cowboys an meine Ohren. Ein Indianer kippte langsam nach vorne, in die Brust getroffen, ohne dass ein Tropfen Blut zu sehen gewesen wäre, aber das Geschehen erreichte mich nicht mehr. Die Handlung, weit weg in diesem braunen Kasten mit seinem grauen Guckfenster, wies mit einem Mal große Lücken auf. Indianer ritten über die Prärie, Cowboys sammelten sich am Fluss. Irgendwann strahlte die blonde Farmersfrau, und die Cowboys, diese Kerle, mit ihren verwegenen Hüten, ihren engen blauen Hosen und den Sporen an den Stiefeln ritten lachend auf ihre Ranch zurück.

Die Titelmelodie erklang, der Abspann lief über den Bildschirm. Ellie war längst wieder auf den Teppich geglitten, als eines der Kinder die Rollläden hochzog, das graue Winterlicht durch die Scheiben drang und die Verzauberung in tausend unsichtbare Scherben zersprang. Die Kinder zogen sich ihre dicken Jacken über und tobten hinaus in den verschneiten Garten. Ellie und ich liefen weit voneinander entfernt mit hinaus. »Ich bin Slim. Du bist Jerry«, rief Rudi, der Nachbarsjunge mit den roten Locken, und hielt mir einen Stock wie einen Revolver unter die Nase. »Und ich bin Nscho-tschi«, rief die Kleinste, und alle lachten: »Die spielt ja gar nicht mit!«

Auf meinen Handflächen brannte die Wärme von Ellies Hintern, und in meinem Pullover hing ihr Geruch, als mich ein Schneeball traf und mir kaltes Schmelzwasser den Nacken hinunterrann.

4

Meine Mutter zupfte die engen Sonntagssachen zurecht und gab mir einen Kuss auf die Nase. »Du bist spät dran.« Ich trat hinaus in den Wintersonntagmorgen. Der Himmel war ein weißer Abgrund, der schon knapp über den Dächern zu beginnen schien. Die Drähte und Stangen des an unser Grundstück grenzenden Hopfengartens hoben sich schwarz von den schneebedeckten Furchen des Ackers ab. Ich stapfte in einer ungeheuren Stille unter dem schlaff zwischen den Pfosten hängenden Telefondraht, der zu unserem Haus führte, hoch zum Weg ins Dorf. Nur das Knirschen meiner Stiefel im Schnee war zu hören. Wind hatte den Schnee auf dem Dorfweg glatt geblasen und große vereiste Pfützen freigelegt. Lustlos versuchte ich, mit meinen Stiefeln auf dem Eis zu schliddern. Ich rutschte ein Stück, und ein dunkler Krähenschwarm flog aus den weißen Furchen auf, überquerte die Straße in geringer Höhe – ich sah die harten, großen Schnäbel und die schwarzen, bösen Augen – und drehte in Richtung Bahnhof ab, während die Formation sich auflöste und der Wattehimmel das Krächzen und die leisen Trii-Rufe der Vögel verschluckte. Kein Mensch war zu sehen. Ich war wirklich zu spät.

Der Weg führte am Altersheim und am Nussgarten vorbei langsam abwärts und verbreiterte sich, bis ihn schließlich grauschwarze Häuser aus Sandstein säumten, mit zugezogenen Gardinen, windschiefen Gattern und Toreinfahrten, die wie für immer geschlossen wirkten. Eine Gänseschar war aus dem Garten des Dorffriseurs entkommen, der vorderste Gänserich kam fauchend mit lang gestrecktem Hals und geöffnetem Schnabel auf mich zugewatschelt. Ich trat nach ihm. Das machte ihn noch wütender. Ich begann zu laufen und erreichte schnell den Durchgang hinauf zur Kirche. Ich öffnete das schmiedeeiserne Türchen zum Friedhof, aus dem sich düster die Kirche mit ihrem ungeheuer hohen Kirchturm erhob. An manchen Tagen bewegten sich die goldene Kugel und der Wetterhahn auf seiner Spitze langsam durch den Himmel, als wollten sie jeden Moment auf einen herabstürzen. Heute standen sie glücklicherweise still, als die Glocken zu dröhnen begannen.

Vor dem Hauptportal hatten sich die Frauen und Mädchen versammelt, stampfend in der Kälte, in einem Nebel von Atemfahnen. Sie sahen wie ausgestopft aus in ihren dicken dunklen Mänteln, ihren Handschuhen, Mützen und doppelt gefalteten Kopftüchern. Gleichgültig blickten sie herüber. Ich hatte es doch noch rechtzeitig geschafft.

Am kleineren Nebeneingang standen die Männer und Jungen, die Männer weiter hinten in ihren schwarzen Sonntagsanzügen, unter denen sie dicke Strickwesten trugen, mit den glänzenden Stellen am Hintern und an den Ellenbogen, vorne am Eingang der Haufen der Jungen, vom langen Warten schon unruhig, kurz vor dem Beginn einer Schneeballschlacht, aber das war auf dem Friedhof verboten. Einzelne Männer rauchten zwischen den Grabsteinen und drückten verstohlen ihre Zigaretten an den Grabeinfassungen aus und steckten sie in die Schachteln zurück. Ich drängte mich zwischen den dumpf nach Mann riechenden Leibern hindurch nach vorne zu dem Jungenhaufen.

»Schau, schau, der Max, wieder mal zu spät«, flüsterte Tschernik mir ins Ohr, und seine Augen leuchteten auf, weil er sich eine Abwechslung versprach. Zuerst kniff er mich und dann auch ein paar der Jungen um ihn herum schmerzhaft durch die Kleidung, und alle sahen dabei unbeteiligt in die Luft. Die Männer sollten nichts bemerken, obwohl sie nicht aussahen, als ob es sie interessiert hätte. Ich unterdrückte Schmerzenslaute, ich würde mich hier vor diesen gelangweilten, frierenden Männern nicht blamieren. Jetzt grinste Tschernik. Er riss ein Büschel Stechpalmenblätter vom Beet neben dem Eingang ab und stopfte sie mir mit einer raschen unauffälligen Bewegung in den Hemdkragen tief in den Rücken. In der Kirche erklang die Orgel, der Messner schob den Riegel nach oben, die schweren Türen aus zinnfarbenem Holz mit ihren geschmiedeten Beschlägen schwangen auf, und die Jungen stürmten in die Kirche, sofort von einer tiefen Männerstimme ermahnt, nicht zu rennen. Der Pulk um mich herum sorgte dafür, dass ich mich von den Blättern nicht mehr befreien konnte, bis wir in dem harten eckigen Gestühl saßen.

Die spitzen Stacheln der Blätter stachen mir ins Fleisch, ich schwitzte zwischen den Schulterblättern, obwohl der hohe Kirchenraum eiskalt war. Während wir das erste Lied sangen, passten zwei Jungen links und rechts neben mir auf, dass ich mir nicht in den Kragen greifen konnte, was ich hier in der Kirche zwischen all den Menschen im Sonntagsstaat und vor dem Pfarrer, der gerade in seinem schwarzen langen Kittel, aus dem am Kragen zwei weiße frisch gebügelte Stoffrechtecke lugten, ohnehin niemals gewagt hätte. Die Orgel jaulte ein letztes Mal auf, und es herrschte mit einem Mal eine angespannte, vom Geräusch einzelner Huster und vom Füßescharren noch verstärkte Stille. Der Pfarrer hatte die Kanzel auf einer steinernen Wendeltreppe leicht keuchend erklommen und legte beide Hände auf die goldverzierte Balustrade neben die aufgeschlagene Bibel. Er ließ die Stille noch einen Augenblick lang in der von mehlgrauem, schräg durch die hohen Bogenfenster einfallendem Licht erhellten Kirche stehen. Ernst blickte er auf die durch einen breiten Mittelgang getrennten Frauen und Männer herab. Dann hob er an zu sprechen.

Er sprach vom Frieden und der baldigen Ankunft eines Herrn. Der Schweiß zwischen meinen Schulterblättern schien den Schmerz, den die Stacheln mir zufügten, noch zu steigern. Zufrieden grinsend versuchten die beiden neben mir, eine halbwegs bequeme Stellung zu finden. Ihm sei zu Ohren gekommen, dass im Dorf nicht immer unter allen Gläubigen Frieden herrsche, sondern vielmehr Zwietracht und Streit, auch und gerade unter ihren jüngeren Gliedern. Angesichts des tragischen Todes eines jungen Gemeindemitglieds, das wir erst vor Kurzem beerdigt hätten und das Gott zu sich genommen habe, sollten wir alle uns daran erinnern, dass Jesus uns von der Liebe zu unserem Nächsten gesprochen habe.

Wenn ich ganz gerade saß und die Rücklehne der Bank nicht berührte, die ohnedies nicht zum Anlehnen gemacht war, gelang es mir, die Stacheln, die langsam immer weiter nach unten rutschten, nicht so deutlich zu spüren. Ich blickte über die Köpfe der Frauen hinweg auf das dunkle Altarbild, das an dem gegenüberliegenden grauen Sandsteingemäuer hing. Ein Großteil des Bildes war in Schwärze gesunken, aber ich konnte noch deutlich einen nackten Mann erkennen, der in einem Bottich stand, unter dem grinsende Schergen ein Feuer geschürt hatten. Der Pfarrer las mit geübter Stimme aus der Bibel: »Der Psalmist sagt: Meide das Böse und tue das Gute; suche Frieden und jage ihm nach! Und Petrus: Seid gütig zueinander, seid barmherzig, vergebt einander, weil auch Gott euch durch Christus vergeben hat.« Wieder sangen alle. Ich sang nicht mit. Ich traute mich nicht, ich fürchtete, meine Stimme klänge zu verzerrt. Die beiden neben mir sangen fröhlich besonders laut und besonders falsch mit.

Irgendwann war der Gottesdienst zu Ende. Die Orgel spielte, ich drängte mich aus der Bank, Tschernik gab mir zum Abschied einen harten Schlag zwischen die Schulterblätter mit. Ich rannte über den Friedhof, die Stufen zum Schulhof hinunter in den stinkenden Abort der Schule. In dem Gestank, der mir den Atem nahm, zog ich mich bis zum Gürtel aus und befreite mich von den quälenden Blättern. Ich trat hinaus in die dumpfe Helligkeit und sah die gebeugten krummen Rücken der langsamsten Kirchgänger, die Nachhut der schwarz gekleideten alten Weiber, die vorsichtig auf ihre Stöcke gestützt den mit Sand bestreuten Weg zum Dorfplatz hinuntertappten.

Ich versuchte gerade, mich an ihnen vorbeizuschlängeln, als ich sah, wie Ellie unter dem Torbogen über dem Durchgang zum Dorfplatz aus dem Schatten trat. Sie hatte auf mich gewartet. Sie konnte von meiner Demütigung in der Kirche nichts bemerkt haben, aber ich war ihr trotzdem dankbar, dass ich den langen Weg zurück in der Kälte nicht allein gehen musste. Wir trotteten schweigend nebeneinander her. Es war tatsächlich dunkler als am Morgen, der Himmel dunkelgrau mit hellen Rissen und Schlünden. Die Hauswände schienen näher an die Straße herangerückt zu sein und waren fast schwarz. Da und dort brannte Licht hinter den dicken Gardinen. Es würde bald zu schneien beginnen.

Wir erreichten das vereiste niedrige Tor am Nachbarsgarten. Ich hatte Hunger, und es war an der Zeit, sich zu verabschieden. Doch Ellie machte keine Anstalten, die Klinke zu drücken. Sie blickte auf unser geöffnetes Garagentor.

»Er ist weg. Sie ist leer.« Das stimmte, Vater fuhr Sonntagvormittags in seinen Schachclub, Mutter war in der Küche mit den Kleinen und bereitete das Mittagessen. »Komm.«

Sie nahm meine behandschuhte Hand in ihre behandschuhte Hand und zog mich zur Garage. Wir schlüpften hinein. Es war fast dunkel hier drinnen, etwas Licht drang durch ein Seitenfenster voller Spinnweben, ein staubiges Ölkännchen war auf dem Sims vergessen worden, und es war sehr kalt, kaum wärmer als draußen.

Ellie warf ihre Handschuhe auf den Betonboden und begann wortlos, ihre dicke wollene Strumpfhose auszuziehen. Das Spinnweblicht hob die Schlieren ihrer Atemwolke hervor, ihr Gesicht war im Schatten. Sie streifte die Unterhose ab, schlug den Rock hoch und zeigte mir ihre Möse. Ich sah ein Dreieck zwischen ihren langen weißen mageren Oberschenkeln, in der Mitte einen Schlitz, der sich hinter einem dünnen Flaum schwarzer Haare verbarg. Mein Atem ging schnell. Ich war nicht sicher, aber das hier war sicher etwas Verbotenes, Vater konnte jeden Moment zurückkommen. Unsere Atemwolken vermischten sich.

»Jetzt du.«

»Mach ich nicht.«

Sie hob ihr Gesicht ein wenig aus dem Schatten. Wieder sah ich das Glimmen in ihren schwarzen Augen. Es war plötzlich klar, dass ich tun musste, was sie verlangte. Ich warf wie sie die Handschuhe auf den Boden und öffnete hastig meinen Gürtel, ließ die Hose und die lange graue Unterhose auf die Knöchel fallen. Einen Moment lang starrte ich auf ihr dunkles Dreieck, und sie betrachtete mein Schwänzlein. wie man eine Raupe betrachtet oder einen Engerling, dann zog sie eilig ihre Strumpfhose samt Unterhose wieder hoch, und ich schlüpfte so schnell ich konnte in meine Hosen.

Der Nebel war aus den Flussauen heraufgekrochen bis zu den höher gelegenen Häusern am Hopfengarten, bis hin zu den schwarzen Telefonmasten, die eine einzelne Leitung zu einem der Häuser trugen. Auch der Schlittenberg lag ganz im Nebel, fahl blakte die Sonnenscheibe. Die Sonne war nicht stark genug, den Nebel zu vertreiben, aber sie füllte den Dunst ganz mit diffusem gelbem Licht, als ob der Nebel ihr Licht aufsaugte. Die schlechte Sicht hielt uns Kinder nicht vom Schlittenfahren ab.

Die Kinder aus dem Tiefenbornviertel neben dem Hopfengarten mit seinen vier, fünf kleinen Häusern hatten am Abend zuvor eimerweise Wasser zum Rodelhang geschleppt und ausgekippt. Über Nacht war alles, auch die kleine Schanze aus festgetretenem Schnee, beinhart gefroren.